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Als eines von vielen Kindern 1964 geboren, spüre ich früh eine undefinierbare Schwere, einen dunklen Schatten, der über unserer Familie liegt. Erst 25 Jahre später gibt sich dieser Schatten hemmungslos zu erkennen. Er offenbart sich als Todesangst und bleibt. Ab diesem Zeitpunkt verheimliche und bekämpfe ich die Angst mit allen Mitteln. Beim Besuch eines Vortrags über »Kriegskinder« steht plötzlich fest: »Meine Angst hat einen Grund!« Und dieser Grund liegt in der Vergangenheit. Und zwar weit vor meiner eigenen. Mein Vater und ich fahren zurück in Richtung Osten, in das Jahr 1945. Hier fängt mein Vater an zu erzählen. Aus seiner Angst vor dem Sterben wurde meine Angst vor dem Leben. Das Geschrei der Todesangst war der Hilferuf, dem Leben nachzugehen, um jetzt eine leise Stimme zu werden, die mir behutsam mitteilt, was für mich wichtig ist.
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Seitenzahl: 237
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Kapitel: Klare Frage – klare Antwort
Kapitel: Geboren 1964 – Einer von vielen
Kapitel: Namen sind mehr als Schall und Rauch
Kapitel: Erste unbeschwerte Jahre
Kapitel: Eingeschlossen von Bestien
Kapitel: Erst war das Huhn, dann das Ei
Kapitel: Der Ernst des Lebens
Kapitel: Ein Schatten kommt zu Besuch
Kapitel: Lieber Gott, mach mich fromm
Kapitel: Von wegen den ganzen Tag Eis essen
Kapitel: Der liebe Junge
Kapitel: Mittlere Reife – im umfänglichen Sinne des Wortes
Kapitel: 11. Klasse – 1. Bruch
Kapitel: Vom Gymnasium direkt ins Mittelalter
Kapitel: 12. Klasse – Fleiß und Disziplin
Kapitel: Tödliche Bisse des Gewissens
Kapitel: Zivildienst
Kapitel: Architekt müsste man sein
Kapitel: Auf der Suche nach Liebe und Geborgenheit
Kapitel: Ehrlich währt am längsten
Kapitel: Aus heiterem Himmel
Kapitel: Yoga und Saufen
Kapitel: Kämpfen gegen die Angst
Kapitel: Ein lauter Knall in dunkler Nacht
Kapitel: Die Sonne ging doch auf und die Angst war weg
Kapitel: Auf dem Weg der Besserung
Kapitel: Glücklich angestellter Architekt
Kapitel: Unglücklich angestellter Architekt
Kapitel: Licht ohne Schatten
Kapitel: Plötzlich war ich der Chef
Kapitel: Aufbruchstimmung
Kapitel: Das Seelische Plusquamperfekt
Kapitel: Die Vergangenheit war doch nicht vergangen
Kapitel: Ausflug in die Vergangenheit
Kapitel: 24. Januar 1945 – Aufbruch ins Ungewisse
Kapitel: Unterwegs im Ungewissen
Kapitel: Noch ein Wunder
Kapitel: Die Stunde Null
Kapitel: Endlich Klarheit
Kapitel: Angst ist doch ein guter Berater!
Kapitel: Aus dem Schrei wird eine leise Stimme
Kapitel: Ein neuer Anfang
Kapitel: Epilog
Kapitel: Danke
Es geschah am 22. Oktober 1991. Es regnete leicht gegen 4:00 Uhr auf der A2. Ich fuhr allein in meinem Führerhaus durch diese kalte dunkle Nacht. Bryan Adams leistete mir kurz mit seinem aktuellen Hit »Everything I Do I Do It for You« Gesellschaft. Die anschließende Wettervorhersage stellte für diesen heranbrechenden Tag keine einzige Sonnenstunde in Aussicht. Die riesigen Scheibenwischer gaben in regelmäßigen Abständen für einen kurzen Augenblick die ungetrübte Sicht auf die beleuchteten Straßenzüge Hannovers frei. In wenigen Häusern brannte bereits Licht. Der überwiegende Teil der Menschen schien allerdings noch tief und fest zu schlafen. Ich stellte mir glückliche Familien in ihren Wohnungen vor. Sehnte mich nach so einem behüteten Zuhause. Und auch nach jemandem, der alles für mich tun würde. Jemand, der für mich da war. Doch meine Sehnsucht nach Geborgenheit war seit über einem Jahr nicht mehr erfüllt worden – ganz im Gegenteil.
Denn in meiner Seele wütete seit Monaten ein unaufhörlicher Krieg. Eine unvorstellbare Todesangst hatte mich plötzlich überfallen, Besitz von mir ergriffen und mich gelähmt. Pausenlos schossen mir schreckliche Gedanken in den Kopf. Ich konnte seitdem keine Freude mehr empfinden. Ständig schrien mich die immer gleichen Fragen an, auf die ich keine Antwort fand.
»Warum habe ich so eine Angst?«
»Warum bin ich so allein?«
»Warum muss ich das hier ertragen?«
»Was passiert mit mir, wenn ich sterben muss?«
Mich quälte die Angst vor der Zukunft, Angst vor dem Leben, Angst vor dem Tod, Angst vor der Hölle. Ich konnte keinen einzigen klaren Gedanken mehr fassen. Ich war körperlich und seelisch vollkommen erschöpft durch die nicht enden wollenden Panikattacken und das aussichtslose Ankämpfen gegen dieses Leiden. Ich tappte völlig im Dunkeln, was dieses furchtbare Dilemma in mir überhaupt ausgelöst hatte. Ich spürte keinen Halt mehr. Ich war erst siebenundzwanzig Jahre alt und am Ende meiner Lebenskraft.
Wieder und wieder tauchten jetzt vor meinem geistigen Auge auch noch erschreckende Bilder auf. Ich musste fortwährend mitansehen, wie ein Reifen meiner Zugmaschine platzte, der gesamte 40-Tonnen-Sattelzug die Leitplanken durchbrach und mit mir die Böschung in einen dunklen Abgrund hinunterstürzte.
Ich hatte panische Angst, heute ganz allein hier an diesem Ort sterben zu müssen. Es war nicht einmal ein Ort. Es war nur ein trostloser Weg. Eine Strecke, die unzählige Menschen irgendwohin, im besten Fall auch wieder in ihr behütetes Zuhause führte. Ich aber hatte kein solches Zuhause. Ich war hoffnungslos eingeklemmt zwischen der Angst vor dem Leben und der Furcht vor dem Sterben.
Immer wieder diese bedrohlichen Bilder eines bevorstehenden Unfalls, immer wieder diese düsteren unaufhaltsamen Gedanken. Ich war zu traurig, um zu weinen, hatte nach diesen vielen trostlosen Monaten keine Hoffnung mehr, dass mein zerrissener Seelenzustand jemals wieder heilen könnte. Wäre es besser, hier und an diesem Tag zu sterben – ohne eine einzige Sonnenstunde?
Was würde mit mir geschehen, wenn jetzt diese todbringenden Bilder Wirklichkeit würden? Fände ich dann endlich meinen Frieden? Oder käme etwas noch Schlimmeres auf mich zu? Ich war verzweifelt.
»Lieber Gott, was passiert mit mir, wenn jetzt der Reifen platzt?«
Ein lauter Knall. Ein Vorderreifen explodiert. Der Lkw bricht sofort mit hoher Geschwindigkeit nach rechts weg. Ich trete mit voller Kraft auf die Bremse. Alle Reifen blockieren. Der Lkw zieht noch stärker in Richtung Leitplanken. Ich kann das zitternde Lenkrad nur noch verbissen festhalten, aber nicht mehr steuern. Der zerfetzte Reifen schlägt mit ungeheurer Wucht im Radkasten umher. Die Leitplanke kommt immer näher. Ich kann nur noch hoffen. Warte mit aufgerissenen Augen auf den Einschlag. Kann nicht mehr denken, nicht mehr atmen.
Ich schließe die Augen. Der Sattelzug wird langsamer. Das ohrenbetäubende metallische Scheppern im Radkasten wird leiser. Es dauert eine Ewigkeit. Aber dann steht der 40-Tonnen schwere Lkw. Direkt neben der Leitplanke. Es ist still. Totenstill.
Ich zittere vor Entkräftung. Es riecht nach verbranntem Gummi. Mein Herz fängt an, wie wild zu schlagen. Ich lebe. Ich bin nicht allein. Ich habe plötzlich eine klare Antwort auf meine brennende Frage. Sie lautet:
»Leb einfach, ich entscheide, was passiert!«
In diesem Moment fühlte ich mich wie der glücklichste Mensch auf der Erde. Ich war seit langer Zeit endlich wieder froh, dass ich lebe und meine Eltern mich geboren haben ...
»Viktor, schnell, schnell, es geht los!«
Es ist mitten in der Nacht. Mein Vater ist sofort wach und springt aus seinem Bett. »Esther, geht’s dir gut, hast du Schmerzen?«
»Nein, nein, hol den Wagen, schnell!«
Mein Vater reißt sich hastig seine Sachen über, rennt aus dem Schlafzimmer zur Garderobe, packt seinen Mantel, Autoschlüssel und verlässt das Haus in Richtung Stall. Doch er kann die beiden großen Garagentore nicht öffnen.
»Das darf nicht wahr sein, nicht jetzt, bitte nicht jetzt!«
Die Tore scheppern immer wieder gegen die Dachrinne. Genau für diesen Ernstfall hat er gestern extra die Regenrinne repariert und offensichtlich viel zu tief wieder angebaut. Er greift nach einem langen Brett, drückt die Dachrinne hoch und reißt zugleich mit aller Kraft nacheinander die Tore auf. Er springt in seinen dunkelblauen VW Käfer, startet den Motor und fährt aus dem Stall.
Mama wartet schon ungeduldig vor dem Haus, als endlich die grellen Scheinwerfer den Hof ausleuchten. Mit beiden Händen umfasst sie ihren Bauch, während ihr Gesichtsausdruck verrät, dass es keine Zeit mehr zu verlieren gilt. Hektisch und vorsichtig zugleich hilft mein Vater ihr beim Einsteigen in den Wagen. Sie rasen los, nach Hoya ins drei Kilometer entfernte Krankenhaus.
Am Ortseingang in Höhe »Reifen-Günther« hätte ich hier in dieser dunklen Oktobernacht schon fast das Licht der Welt erblickt. Wir schaffen es gerade noch vor das Krankenhaus. Die Nachtschwester Frau Obermeyer – nicht zu verwechseln mit Uschi Obermaier – besorgt sofort eine Trage. Mama kann sich endlich hinlegen und wird geradewegs in den Kreißsaal gebracht.
Wenige Minuten später, um 2:35 Uhr, am 13. Oktober, einem Dienstag, werde ich als eines von insgesamt 1.357.304 Kindern in Deutschland im Jahr 1964 geboren.
Schenkt man den Zusammenhängen von Raum und Zeit Glauben, ist mir in diesem Moment mit dem Sternzeichen Waage und dem Aszendenten Jungfrau nicht nur mein einzigartiges Leben, sondern auch eine wunderbare Gabe verliehen worden. Den Kindern, die unter diesen Zeichen geboren werden, wird die Eigenschaft zugesprochen, allen Anforderungen des Lebens gut gewachsen zu sein und geistig fit und jung zu bleiben. Ich war mir in dieser ersten Nacht auf Erden schon sicher, dass mir mit diesen gesegneten Besonderheiten alles in meinem zukünftigen Leben einfach so zufallen würde. In diesem Urvertrauen lehnte ich mich gemütlich zurück. Ich sollte erst nach einigen Jahren schmerzhaft erfahren, dass ich mich heute Nacht gewaltig geirrt hatte.
Von alledem ahnte mein Vater natürlich nichts. Er war zum Zeitpunkt meiner Geburt schon wieder auf dem Weg nach Hause. Meine beiden Brüder mit ihren sieben und vier Jahren sollten nicht zu lange allein bleiben. Er war erleichtert, weil er Mama jetzt in guten Händen wusste, aber noch nicht ganz gelöst, da immer etwas Unvorhergesehenes passieren konnte.
Auf seinem Heimweg schaute mein Vater auf die beleuchtete Reklame der Reifenfirma und für ihn stand plötzlich fest: »Wird es ein Junge, nennen wir ihn Günther.«
Ja, es ist ein Junge. Für diesen Fall hatten sich meine Eltern schon lange vor der Geburt einen schönen Vornamen für mich ausgedacht.
Mama hätte mich gerne Urs genannt. Es gibt bestimmt liebenswerte Menschen in der Schweiz, die Urs heißen, aber ich wollte auf gar keinen Fall Urs gerufen werden. Denke ich an einen Urs, dann sehe ich einen molligen Jungen in einer Breitcordhose vor mir, der ausschließlich mit seinem Bernhardiner spielt, weil er keine Freunde hat.
Mein Vater, ich hatte es schon erwähnt, wollte mich Günther nennen. Nichts gegen Günther, aber denke ich an Günther, sehe ich ein heruntergekommenes landwirtschaftliches Gehöft vor meinem geistigen Auge, auf dem die verwitwete Mutter mit ihrem einzigen und unverheirateten Sohn Günther wohnt.
Thomas und Sabine waren 1964 in der Bundesrepublik die beliebtesten Vornamen, gefolgt von Michael und Susanne. Ganz einfache, normale und unkomplizierte Vornamen. Zehntausende Jungen und Mädchen trugen diese unauffälligen Namen.
Entgegen dieser Selbstverständlichkeit wollte mich Mama Urs und mein Vater aus unerklärlichen Gründen Günther nennen. Jeder andere Vorname wäre für mich geeigneter gewesen. Selbst Sabine hätte besser zu mir gepasst als Urs oder Günther.
Meine Eltern hätten mir sicher keinen Namen geben wollen, mit dem ich mich ein ganzes Leben lang absolut unwohl fühle – sie wussten es einfach nicht besser oder hatten einen völlig anderen Geschmack als ich.
Ich weiß nicht, welche höhere Instanz sich doch noch eingeschaltet und meiner erbarmt hat, um mich vor diesen sonderbaren Vornamen zu bewahren. Doch meine Eltern haben sich besonnen und sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner verständigt. Sie tauften mich auf den Namen »Martin«. Jetzt konnte eine unbeschwerte Kindheit starten.
Ich bin aufgewachsen in Altenbücken, einem kleinen Nest mitten in Niedersachsen. Wir bewohnten ein altes Bauernhaus mit angrenzender Mühle, die von meinem Onkel zur Herstellung von Futtermitteln an einigen Tagen in der Woche bewirtschaftet wurde.
Mein Vater verließ früh morgens unser Haus und arbeitete als Bauingenieur beim Staatshochbauamt in Verden. Meine Mama blieb zu Hause und kümmerte sich um mich und meine beiden älteren Brüder.
Ich erinnere mich besonders gern an die gemeinsamen Einkaufstouren mit meiner Mama. Wir sind täglich mit dem Fahrrad ins Dorf gefahren. Mein Kindersitz war direkt hinter dem Fahrradlenker befestigt und damit hatte ich das Gefühl, das Steuer ebenfalls fest in der Hand zu halten, durfte von hier die Klingel bedienen und sah immer die Hände und Arme meiner Mutter. Mit Blick in Fahrtrichtung wehte mir der frische Wind ins Gesicht und Mama konnte mir alles, was uns begegnete, sofort erklären.
Unsere tägliche Tour führte uns oft zu Schlachter Thies. Hier musste ich unbedingt mit in das Geschäft, weil Thies’ Elisabeth – die Verwendung des Genitivs bei Eigennamen war bei uns für besonders nahestehende Menschen der normale Sprachgebrauch – mir immer eine aufgerollte Scheibe Wurst liebevoll über den gläsernen Tresen reichte.
Anschließend schauten wir bei Dohrmanns Tante rein, die direkt neben Schlachter Thies wohnte. Dohrmanns Tante bewohnte ein großes schönes Wohnhaus und die Fenster ihres Wohnzimmers gaben den Blick auf die Hauptstraße frei. Gegenüber den Fenstern stand ein grünes Sofa mit einer hohen geschwungenen Rückenlehne. Dohrmanns Tante war kräftig, hatte graue Haare, einen Dutt und trug eine braune Hornbrille mit dickem Rahmen. Meistens hatte sie ein kurzärmeliges graues Kleid an. Immer wenn wir sie besuchten, nahm sie mich zur Begrüßung herzlich in ihre Arme. Ich spürte den rauen Stoff ihres Kleides und die sanfte Haut ihrer dicken Oberarme. Bei ihr fühlte ich mich immer willkommen. Für Mama gab es eine Tasse Kaffee und für mich eine Süßigkeit, was eine echte Ausnahme in diesen Zeiten bedeutete.
Wenn wir auf unserer Einkaufsfahrt nicht Dohrmanns Tante besuchten, schauten wir kurz bei Frau Jungjohann oder bei Frau Gehbauer rein. Das Haus von Frau Jungjohann zwängte sich genau zwischen dem Marktplatz und einer schmalen Straße ein. Mitten im Haus gab es komischerweise zwei hohe Stufen. Frau Jungjohann hatte weiße gewellte Haare, die mit einem Haarnetz am Kopf gehalten wurden. Sie war sehr schmal und ging ein wenig gebeugt. Hier sollte ich immer ruhig auf meinem zugewiesenen Platz sitzen bleiben, bis wir wieder losfuhren. Früher war sie Krankenschwester gewesen. Ein Bild auf ihrer Anrichte zeigte sie in einer hellblauen Schwesterntracht mit einer weißen Haube auf dem Kopf.
Frau Gehbauer wohnte ebenfalls am Marktplatz, im Dachgeschoss eines etwas in die Jahre gekommenen Hauses. Wir betraten zunächst einen dunklen Flur, stiegen eine breite Treppe hinauf in das Dachgeschoss und mussten dann noch eine weitere schmale Stiege überwinden, um endlich in einer dunklen Küche Frau Gehbauer anzutreffen. Frau Gehbauer tat mir leid, weil sie immer einen sehr traurigen Eindruck machte. Sie war mit ihren achtzig Jahren kaum größer als ich mit meinen drei Jahren.
Unser nächstes Ziel war der Edeka-Markt von Onkel Fahrenholz. Die Regale waren vollgestopft mit Waren aller Art und es roch beim Betreten des Geschäfts immer nach Waschmittel. Onkel Fahrenholz sollte später noch eine gewichtige Rolle in meiner Kindheit spielen.
Unsere letzte Anlaufstation war Bäcker Kramer, um frisches Brot zu kaufen, bevor wir dann nach Hause fuhren und Mama sich um die Zubereitung des Mittagessens kümmerte.
In den folgenden Jahren war ich mit meiner Mutter dann weniger unterwegs und entdeckte dafür mit meinen Brüdern und den Kindern aus unserer Nachbarschaft gemeinsam die Umgebung. Gemeinsam auch deshalb, weil wir wirklich viele waren. In jedem unserer Nachbarhäuser, die übrigens tagsüber nie verschlossen waren, gab es mehrere Kinder. Wir spielten eigentlich immer draußen in der Natur. Stromerten durch den Wald oder bauten uns aus leeren Pflanzenschutzmittel-Kanistern und Brettern Boote, um auf einem nahe gelegenen Bach Strom abwärts zu schippern. Wir Kinder waren frei und probierten alles selbst aus. Kleinere Verletzungen gehörten zum Alltagsgeschehen dazu und waren nicht weiter erwähnenswert. Niemand, auch nicht unsere Eltern, wusste, wo wir uns während des ganzen Tages aufhielten. Trotzdem fühlten wir uns behütet. Wichtig war, dass wir zum Essen und wenn es dunkel wurde, wieder zu Hause auftauchten. Das Besondere an uns war, dass wir selbst nichts Besonderes waren. Wir vielen Kinder gehörten zum Leben einfach dazu. Wir trugen alle ähnliche Kleidung. Ich als Jüngster hatte meine zukünftigen Sachen schon eine ganze Weile an meinen beiden Brüdern sehen müssen. Niemand von uns oder unseren Spielkameraden hatte einen richtigen Haarschnitt. Die Haare wurden uns von meinem Vater abgeschnitten, um eine freie Sicht zu gewährleisten. Für Mode, einen besonderen Schick oder sonst einem derartigen Firlefanz gab es keinen Sinn und erst recht kein Geld.
Wie so viele im Jahr 1964 Geborenen lebten auch wir in einfachen wirtschaftlichen Verhältnissen. Uns fehlte es an nichts, es gab aber auch nichts extra, was uns irgendwie alle gleich machte. Wir spielten mit den gleichen Sachen, wie den Siku- oder Matchbox-Autos, die wir über Jahre behielten. In jedem Haushalt konnten wir TRI-TOP-Sirup aus der sich zylindrisch verjüngenden Flasche mit dem großen Schraubverschluss trinken. Selbst die wenigen Highlights ähnelten sich. Gab es sonntags nach dem Mittagessen mal ein Fürst-Pückler-Eis, rannte ich anschließend rüber zu einem unserer Nachbarn und fragte aufgeregt, ob es das dort ausnahmsweise auch gegeben hatte, was hin und wieder tatsächlich der Fall war.
Eine echte internationale Sternstunde durfte ich dann 1969 in unserem kleinen Dorf miterleben. Die erste bemannte Mondlandung der Apollo 11 am 20./21. Juli 1969. Da wir noch keinen eigenen Fernsehapparat hatten, gingen wir Kinder am folgenden Tag zu Oma Himpel und sahen dort eine Zusammenfassung der Landung. Beim Fernsehen hatten wir alle schon unsere angestammten Sitzplätze, da wir unsere Lieblingssendungen Lassie, Bonanza und Flipper hier gemeinsam mit ihr schauten. Oma Himpel wohnte im Dachgeschoss eines unserer Nachbarhäuser. Wir konnten sie, wann es uns gefiel, ohne Voranmeldung immer in ihrer Wohnung besuchen und sie hat sich sehr darüber gefreut. Sie lebte ganz allein, hatte keinen Mann und keine Kinder mehr. Auf einer Kommode standen Bilder von ihrem gefallenen Mann und ihren im Krieg gebliebenen Söhnen. Beim Betreten ihrer Küche klebten unsere Schuhe immer ein bisschen auf dem PVC-Fußboden fest und es roch dauernd nach Putzmittel. Sie hatte ein restlos zerknittertes Gesicht und sah für mich aus wie ein alter Indianer. Für uns hatte Oma Himpel grundsätzlich Apfelsaft zur Hand. Für mich war es hier wie in unserem eigenen Wohnzimmer, bloß ein paar Häuser weiter. Als ich mich nach diesem besonderen Ereignis von Oma Himpel verabschiedete, schaute ich noch Tage später hoch zum Mond und hoffte, dort die Astronauten zu entdecken.
Ein paar Jahre später bekamen wir dann endlich auch einen eigenen Fernsehapparat. Unsere Lieblingssendungen schauten wir Kinder dann zu Hause und am Samstagabend saßen wir alle frisch gebadet im Wohnzimmer. Mama schälte für uns Äpfel und mein Vater bot uns an besonders stimmungsvollen Abenden ein hauchdünnes Täfelchen »After Eight« an, aber nur eins. Oma Himpel musste ab jetzt leider oft allein bleiben.
Zunächst wollte ich die nähere Umgebung, dann die große weite Welt und danach erst den Mond entdecken. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie mir mein Vater das Fahrradfahren beigebracht hat. Ich bekam dazu ein eigenes Fahrrad. Das war allerdings kein neues Rad, wie es heute häufig der Fall und Standard ist. Nein, mir wurde aus vielen Einzelteilen ein Fahrrad von unserem Nachbarn, der eine Landmaschinenschlosserei hatte, zusammengeschweißt. Dementsprechend sah es auch aus. Das Fahrrad hatte dicke Reifen, kein Licht und verschiedene Farben. Es ähnelte einem Miststreuer auf zwei Rädern, aber es war meins.
Als er mir das Fahrradfahren beibrachte, lief mein Vater neben mir her und gab klare Kommandos, was ich zu tun hatte. Ich guckte aber immer nur nach unten auf die Pedale und meine Füße, nie nach vorne. Dabei spürte ich seine Hand auf meinem Rücken, die mich führte, hielt und bei einem plötzlichen Sturz auffangen würde. Auch als ich unverhofft allein fuhr und mein Vater entfernt zurückblieb, fühlte ich immer noch seine schützende Hand. Doch dann war ich weg. Ich war startklar und erkundete Schritt für Schritt die Welt.
Mit dem Entdecken dieser Welt musste ich jedoch tägliche Mutproben bestehen. Unser Grundstück hatte zwei Zufahrten. Der direkte Weg zur Hauptstraße führte am Haus von Familie Grund vorbei. Auf deren Hof wartete Fiffi auf mich, ein kleines hässliches, aggressives Vieh. Fuhr ich mit Mama oder meinem Vater daran vorbei, rührte sich Fiffi keinen Millimeter. Versuchte ich allein und halbwegs unversehrt unser Grundstück zu verlassen, schoss Fiffi mit kratzenden Krallen aus der Einfahrt, bellte wie ein Irrer und verfolgte mich bis zur Hauptstraße. Jeden Tag aufs Neue nahm ich schon weit vor Fiffis Einfahrt Schwung, um mich heil in die Altenbücker Umlaufbahn zu schießen.
Es gab Tage, da hatte ich große Angst, Fiffi würde mich heute schnappen und beißen. Für diesen nicht unwahrscheinlichen Fall gab es noch die zweite Zufahrt, die etwas länger war, aber auch zum Ziel führte. Doch hier lauerte der Hund unserer anderen Nachbarn Antje – gesprochen Ansche – hinter einem Maschendrahtzaun. Ansche war ein schwarzer Schäferhund, aufmerksam und nervenstark. Trotz des Zauns hatte ich richtig Angst. Ansche witterte mich schon von Weitem, stand hinterm Zaun und fing, sobald ich Geschwindigkeit aufgenommen hatte an zu bellen, wie eine Bestie, die seit Wochen kein Futter bekommen hatte. Ich raste mit meinem Rad vorbei und war froh, als ich an der Hauptstraße angekommen war und das furchtbare Bellen verebbte.
Eines schönen Tages war Onkel Helmut in der Mühle, um Tierfutter mit einem Lkw abzuholen.
»Willst du nachher mitfahren, Martin?«
Lastwagenfahren war eine meiner Lieblingsbeschäftigungen.
»Ja, auf jeden Fall.«
Eine Stunde später setzte mich mein Onkel auf den hohen Beifahrersitz des Lkw und wir fuhren los.
Fiffi schießt plötzlich kläffend und unerwartet aus der Einfahrt.
Ich spüre eine leichte Unebenheit auf der Straße.
Onkel Helmut stoppt sofort, zieht die Handbremse an und steigt hastig aus.
»Ich hab Fiffi totgefahren!«
Ich lehnte mich erleichtert zurück.
Jetzt war endlich der Weg frei.
»Wenn du willst, schenke ich dir ein Huhn«, sagte mein Vater, als er einige Kartons von einem Geflügelhändler, der mit seinem Lastwagen über unseren Hof fuhr, entgegennahm.
»Das Huhn gehört dann dir. Du musst dich aber darum kümmern, es füttern, ihm frisches Wasser geben und es abends in den Stall bringen.«
Er trug die Kartons in den Stall und ließ unsere neuen Mitbewohner frei. Die Hühner sahen alle gleich aus. Ich suchte mir ein Huhn aus und wartete auf das erste Ei. Jeden Morgen ging ich aufgeregt in den Stall, doch in den Nestern war nichts zu finden.
»Was wollen wir überhaupt mit den blöden Hühnern?«, fragte ich Mama enttäuscht.
»Von den Eiern backe ich einen leckeren Kuchen, wir essen Spiegeleier, Rührei, alles, was wir so mögen. Und wir müssen die Eier nicht mehr kaufen. Ein Ei kostet immerhin über 20 Pfennig!«, versuchte Mama mein Interesse wieder zu beleben.
Am nächsten Morgen rief Mama aus dem Stall: »Muckel, Muckel, komm schnell her, dein Huhn hat ein Ei gelegt.«
Ich rannte in den Stall und tatsächlich, das erste Ei lag unter meinem Huhn.
Es war ganz warm, ein paar kleine Federn klebten dran und es war meins.
»Soll ich einen Kuchen backen?«, fragte Mama.
„Nö, mein Ei behalte ich erst einmal«, erwiderte ich etwas unentschlossen.
Ein Ei kostete 20 Pfennig und die sauren Drops Prickel Pit, Brausespaß, den es seit 1952 gab, kostete 5 Pfennig, wägte ich in meinem Kinderhirn ab.
Ich steckte das Ei ganz vorsichtig in meine Anoraktasche und radelte – vor Fiffi brauchte ich ja keine Angst mehr haben – schnell zum Edeka-Markt.
Durch die Schaufensterscheibe sah ich schon Onkel Fahrenholz. Er hatte blonde dünne Haare, einen etwas rötlichen Kopf und lächelte seine Kunden stets gut gelaunt an. Er trug immer einen weißen Kittel, der ihm bis zu den Knien reichte.
»Onkel Fahrenholz, ich hab jetzt ein Huhn, das legt jeden Tag ein Ei und ein Ei kostet 20 Pfennig. Kann ich das bei dir verkaufen?«
Ich zog das Ei behutsam aus meiner Jackentasche, formte mit beiden Händen ein Nest und zeigte die zerbrechliche Ware meinem hoffentlich ersten Geschäftspartner.
»Natürlich, ich verkaufe ja täglich Eier. Komm mal mit.«
Wir gingen durch die mit Lebensmittel vollgestopften Gänge bis zum Tresen, an der hinter den Glasscheiben Käse, Wurst und eine fast volle Eierpalette zu sehen war. Onkel Fahrenholz nahm das Ei achtsam aus meinen Händen. Er prüfte die Qualität, zog neben dem Waschbecken ein rot-weiß kariertes Geschirrtuch vor, rieb das Ei liebevoll ab und stellte es in die erste Reihe der Eierpalette. Onkel Fahrenholz kam hinter dem Tresen hervor, nahm mich an die Hand und ging mit mir in Richtung Kasse. Beim Öffnen der mit Geld gefüllten Schublade ertönte ein erfreuliches Klingelgeräusch. Er holte 20 Pfennig aus der Kasse und zahlte mich aus.
»Kann ich noch etwas für Dich tun, Martin?«
»Ja, Prickel Pit für 20 Pfennig!«
Onkel Fahrenholz gab mir 4 Päckchen Prickel Pit und ich verließ in bester Laune sein Geschäft.
Diese Prozedur wiederholte sich täglich – außer sonntags, leider. Ich war, wie mein Huhn, beflügelt davon, jeden Tag etwas verkaufen zu können, ohne selbst dafür viel tun zu müssen. Ich hatte mich mit einem lukrativen Geschäftsmodell zum stolzen Jungunternehmer entwickelt. Das war ein gutes Gefühl. Die Geschäfte liefen praktisch von allein. In Zukunft sollte ich noch häufiger exakt dieses Gefühl verspüren, wenn ich eine neue Idee eines profitablen Geschäfts witterte.
Das Thema Taschengeld war für mich nur noch am Rande interessant. Ich verdiente schließlich mein eigenes Geld und ich wurde morgens von Onkel Fahrenholz begrüßt wie eine prominente Persönlichkeit. Musste ich mit diesem Startup überhaupt noch eine Schule besuchen? Doch meinen Eltern war diese lohnende geschäftliche Beziehung plötzlich ein Dorn im Auge.
»Martin, jetzt hast du ja schon viel Geld mit deinem Huhn verdient, du musst dich ab heute aber auch an den Futterkosten beteiligen«, offenbarte mir mein Vater aus heiterem Himmel.
»Ich habe gerade einen 50-Kilo-Sack Hühnerfutter für 21 DM gekauft. Für dein Huhn bekomme ich dann 2,10 DM, oder soll es etwa verhungern?«, fuhr er weiter fort.
Ich hatte überhaupt keine Rücklagen gebildet. Zwar konnte ich schon bis zwölfundzwanzig zählen, doch die Grundlagen einer Kreditvergabe wurden mir damals vermutlich bewusst verschwiegen. Mein Vater schlug selbstlos vor, mir meinen Kostenanteil zu erlassen und dafür die Eier Mama zu geben, damit sie daraus etwas für uns zu Essen zubereiten würde. Ich musste mich widerwillig fügen.
Ein letztes Mal radelte ich in meiner Funktion als Geschäftsmann zu Onkel Fahrenholz und beichtete ihm, dass mich die hohen Kosten für das Hühnerfutter bedauerlicherweise zur Aufgabe meines kompletten Eierhandels zwangen. Onkel Fahrenholz war ähnlich betrübt wie ich, bedankte sich für die gute und vertrauensvolle Geschäftsbeziehung und schenkte mir zum Abschied eine Packung Prickel Pit.
Mit der Aufgabe meines ersten Unternehmens musste ich mich auch damit abfinden, jetzt doch die Schulbank drücken zu müssen.
Am ersten Schultag meines Lebens schien die Sonne.
Mein Vater hatte an diesem Tag Urlaub, weil unsere bisherige Koksheizung durch eine Ölheizung ersetzt wurde und ab 7:00 Uhr morgens bereits einige Handwerker im Haus daran arbeiteten. Mama überreichte mir die große grüne Schultüte, die ich gestern schon gesehen hatte, und mein Vater nahm mich an die Hand und begleitete mich zur nahegelegenen Schule.
Auf dem Schulhof der Mittelpunktschule Bücken wurden wir von unserer Lehrerin Frau Greis begrüßt und mussten uns in zwei Reihen – Mädchen links und Jungen rechts – aufstellen. Mein Vater ging wieder nach Hause und wir hinter Frau Greis in unser Klassenzimmer. Wir waren bestimmt sechsunddreißig Kinder oder sogar mehr. Die meisten kannte ich bereits vom Spielen. Wir konnten uns aussuchen, neben wem wir gern sitzen würden. Heini und ich waren uns schon seit einigen Tagen einig, dass wir zusammen an einem Tisch sitzen wollten.
Frau Greis erklärte, wie der tägliche Schulbetrieb funktionierte, worauf wir unbedingt als Klasse 1b achten müssten und was der Pausengong für uns bedeutete. Anschließend stellten wir uns mit Vornamen vor und Frau Greis hat dann ein Namenskärtchen geschrieben und vor uns auf dem Tisch platziert. Während dieser Vorstellung packte Heini sein Butterbrot aus und fing genüsslich an zu essen. Frau Greis kam sofort angelaufen, wickelte das restliche Brot wieder in das Papier und sagte:
»Im Unterricht wird nicht gegessen, dafür sind die Pausen da.«
»Ich hab aber Hunger«, sagte Heini verwundert.
Das Erste, was wir heute in der Schule gelernt hatten, fühlte sich falsch an.
Uns war schlagartig klar, dass das unbeschwerte Leben zumindest vormittags ab sofort nicht mehr stattfinden würde.
Es muss in der dritten oder vierten Klasse gewesen sein. Wir sollten unsere Eltern fragen, wo sie geboren wurden und die entsprechenden Orte auf einer Landkarte markieren. Mama und mein Vater kamen aus Wietzen. Das liegt etwa zehn Kilometer von Altenbücken entfernt. Das war einfach. Ich brauchte nur noch irgendwo eine Landkarte finden und meine Hausaufgabe war für heute erledigt. Als mein Vater von der Arbeit nach Hause kam, erzählte ich ihm, dass ich eine Landkarte von Wietzen bräuchte, weil wir in der Schule zeigen sollten, wo unsere Eltern geboren wurden.
»Ich bin nicht in Wietzen geboren. Da haben wir erst mit unserer Familie nach der Flucht gewohnt.«
»Flucht?«, fragte ich mit großen Augen.
»Wir mussten im Krieg flüchten. Geboren bin ich in Albota, in Bessarabien am Schwarzen Meer.«
»Schwarzes Meer?«
Ich verstand kein einziges Wort von dem, was er da sagte.
Mein Vater holte ein Fotoalbum aus dem Wohnzimmerschrank und zeigte mir ein paar wenige Schwarz-Weiß-Fotos aus seiner Heimat, wie er es nannte. Zu sehen war das Haus, in dem er aufgewachsen war, sowie Bilder von Oma, Opa und seinen Geschwistern, allesamt mit eingefrorenem Lächeln.
»Ist das Schwarze Meer im Schwarzwald?«
Mein Vater schüttelte mit dem Kopf.
»Hol mal den Atlas von deinen Brüdern.«
Ich lief in das Zimmer zu Johannes und bugsierte den schweren braunen Diercke Weltatlas ins Wohnzimmer. Mein Vater blätterte den großen Wälzer durch und irgendwann fand er die Landkarte seiner Heimat.