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In dieser ebenso fundierten wie erschütternden Darstellung gelingt es Laurence Rees, dem Leser die unfaßbaren Geschehnisse des Holocaust nachvollziehbar vor Augen zu führen – mit einem beunruhigenden Fazit: Der Holocaust ist kein düsterer Alptraum, kein singulärer Exzeß, sondern Ergebnis der menschlichen Veranlagung.
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Das Buch
»Auschwitz« steht für ein einmaliges, unfaßbares Verbrechen. Doch es steht nicht außerhalb von Raum und Zeit. Die dortige Ermordung von etwa 1,3 Millionen Menschen – überwiegend Juden – war Abschluß und Höhepunkt der nationalsozialistischen Umsiedlungs- und Vernichtungspolitik, die auf verschiedenen Entscheidungsebenen mehrere Stadien durchlief. Laurence Rees hat in 15 Jahren Recherche Zeitzeugen in ganz Europa befragen können, die hier erstmals über ihr Erleben sprechen. In seinem ausgewogenen, fundierten und erschütternden Buch gelingt es ihm, dem Leser das unfaßbare Geschehen begreifbar zu machen.
Der Autor
Laurence Rees ist einer der führenden Regisseure und Produzenten historischer Dokumentationen. Seine Serien für die BBC erreichen weltweit ein Millionenpublikum. Er ist Autor mehrerer Bücher.
Aus dem Englischen vonPetra Post, Udo Rennert, Ilse Strasmanund Andrea von Struve
Einführung
1. Die Anfänge
2. Befehle und Initiativen
3. Todesfabriken
4. Korruption
5. Hemmungsloses Morden
6. Befreiung und Vergeltung
Danksagung
Anmerkungen
Es steht viel Verstörendes in diesem Buch; trotzdem meine ich, daß die Arbeit notwendig war. Nicht nur, weil Umfragen1 gezeigt haben, daß im allgemeinen Bewußtsein noch Verwirrung über die Geschichte von Auschwitz herrscht, sondern auch weil ich hoffe, daß dieses Buch etwas Spezifisches beiträgt.
Es ist das Resultat von 15 Jahren der Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus in Fernsehsendungen und Büchern, und es ist ein Versuch zu zeigen, daß man eines der schlimmsten Verbrechen in der Geschichte am besten versteht, wenn man es durch das Prisma eines Ortes betrachtet: Auschwitz. Für Auschwitz gibt es, anders als für den Antisemitismus, ein ganz bestimmtes Anfangsdatum (die ersten polnischen Gefangenen kamen am 14. Juni 1940 hierher), und ebenso gibt es, anders als für die Geschichte des Völkermords, ein genau definiertes Ende (das Lager wurde am 27. Januar 1945 befreit). Zwischen diesen zwei Daten erlebte Auschwitz eine komplexe und befremdliche Geschichte, die in vielerlei Hinsicht die Undurchschaubarkeit der Rassen- und Volkspolitik der Nationalsozialisten spiegelte. Auschwitz war nicht als ein Lager geplant, in dem Juden vernichtet werden sollten, es war ja auch nicht nur mit der »Endlösung« befaßt – obwohl die zum beherrschenden Merkmal wurde –, und es veränderte sich ständig, oft als Reaktion auf das wechselnde Kriegsglück der Deutschen anderswo. Auschwitz war mit seiner destruktiven Dynamik die Verkörperung der Grundwerte des NS-Staates.
Die Beschäftigung mit Auschwitz bietet uns noch etwas anderes als Einsichten in den Nationalsozialismus; sie gibt uns die Möglichkeit zu verstehen, wie Menschen sich unter extremsten Bedingungen verhalten haben. Aus dieser Geschichte erfahren wir viel über uns selbst.
Dieses Buch beruht auf ungewöhnlichen Forschungen – etwa einhundert hierfür geführten Interviews mit ehemaligen NS-Tätern und mit Überlebenden des Lagers –, und stützt sich darüber hinaus auf Hunderte von weiteren Gesprächen aus meiner früheren Arbeit über das »Dritte Reich«, darunter mit vielen ehemaligen Mitgliedern der NSDAP.2 Wenn man Überlebende und Täter persönlich trifft und mit ihnen sprechen kann, ist das von größtem Vorteil. Es bietet Möglichkeiten zu einem Niveau an Einsichten, die sich kaum aus geschriebenen Quellen allein erschließen würden. Ich bin eigentlich seit meiner Schulzeit an dieser historischen Epoche interessiert, aber den tiefsten Eindruck, den ich vom »Dritten Reich« bekam, kann ich an einem ganz bestimmten Gespräch mit einem früheren Mitglied der NSDAP im Jahr 1990 festmachen. Ich arbeitete an einem Film über Joseph Goebbels und sprach deshalb mit Wilfred von Oven, der eng mit dem berüchtigten Reichspropagandaminister zusammengearbeitet hatte. Als wir nach dem eigentlichen Interview noch bei einer Tasse Tee zusammensaßen, fragte ich diesen intelligenten und charmanten Menschen: »Wenn Sie Ihre Erfahrungen aus dem ›Dritten Reich‹ in einem einzigen Wort zusammenfassen könnten, wie würde das lauten?« Während Herr von Oven einen Augenblick über die Frage nachdachte, vermutete ich, daß sich seine Antwort auf die schrecklichen Verbrechen des Regimes beziehen würde – Verbrechen, die er offen zugegeben hatte – und auf das Elend, das der Nationalsozialismus über die Welt gebracht hatte. »Na ja«, sagte er schließlich, »wenn ich meine eigenen Erfahrungen mit dem ›Dritten Reich‹ in ein Wort fassen soll, dann ist es das Wort – paradiesisch.«
»Paradiesisch«? Das vertrug sich nicht mit dem, was ich in meinen Geschichtsbüchern gelesen hatte. Es paßte auch nicht zu diesem eleganten, gebildeten Mann, der da vor mir saß und der übrigens auch nicht so aussah und nicht so sprach, wie ich mir einen alten Nationalsozialisten vorgestellt hatte. Aber »paradiesisch«? Wie konnte er so etwas sagen? Wie konnte ein intelligenter Mensch auf diese Weise an das »Dritte Reich« und seine Greuel denken? Überhaupt, wie war es möglich, daß im 20. Jahrhundert Menschen aus Deutschland, Angehörige eines Kulturvolks im Herzen Europas, solche Verbrechen begangen hatten? Das waren die Fragen, die an diesem Nachmittag vor Jahren in meinem Kopf Gestalt annahmen und die mich noch heute beschäftigen.
Bei meiner Suche nach Antworten halfen mir zwei historische Zufälle. Zum einen machte ich mich an die Befragung ehemaliger Nationalsozialisten genau zu dem richtigen Zeitpunkt, an dem nämlich die meisten nichts mehr zu verlieren hatten, wenn sie offen sprachen. Fünfzehn Jahre zuvor hatten sie einflußreiche Stellungen bekleidet und waren Stützen der Gesellschaft gewesen und hätten deshalb nicht geredet. Heute sind die meisten von ihnen, auch der charmante Herr von Oven, tot.
Wir brauchten oft Monate, in einigen Fällen Jahre, ehe sie uns gestatteten, ein Interview aufzuzeichnen. Man weiß nie genau, was die Waagschale zu unseren Gunsten senkte und Menschen veranlaßte, sich mit dem Filmen einverstanden zu erklären, aber in vielen Fällen wollten sie offenbar, da sie dem Ende des Lebens näher rückten, ihre Erfahrungen aus dieser bedeutenden Zeit – mit allen Fehlern und Schwächen – protokollieren lassen. Außerdem glaubten sie, daß die BBC ihren Beitrag nicht verzerren würde. Ich möchte hinzufügen, daß nur die BBC uns die notwendige Unterstützung bei diesem Unternehmen bieten konnte. Die Durchführung des Projekts nahm so viel Zeit in Anspruch, daß nur eine öffentlich-rechtliche Anstalt dieses Engagement auf sich nehmen konnte.
Zum anderen hatte ich das Glück, daß mein Interesse mit dem Fall der Berliner Mauer und der Öffnung Osteuropas zusammentraf; nicht nur die Archive, auch die Menschen wurden der Forschung zugänglich. Ich hatte 1989 unter dem Kommunismus in der Sowjetunion gefilmt, und damals war es schwer gewesen, jemanden dazu zu bringen, daß er sich anders als in Propagandasprüchen über die Geschichte seines Landes äußerte. Jetzt, in den neunziger Jahren, war es plötzlich, als sei ein Damm gebrochen, und all die unterdrückten Erinnerungen und Meinungen purzelten heraus. In den baltischen Staaten erzählten mir Menschen, wie sie die Nationalsozialisten als Befreier willkommen geheißen hätten; auf den wilden Kalmückensteppen hörte ich aus erster Hand von Stalins rachsüchtigen Deportationen ganzer Volksgruppen; in Sibirien traf ich ehemalige Kriegsteilnehmer, die zweimal eingesperrt worden waren – einmal von Hitler und einmal von dem sowjetischen Diktator, und in einem Dorf bei Minsk begegnete ich einer Frau, die mitten in den scheußlichsten Partisanenkrieg der neueren Geschichte geraten war und nach einigem Nachdenken fand, daß die Partisanen der Roten Armee schlimmer gewesen wären als die Deutschen. Alle diese Überzeugungen wären mit den Menschen gestorben, wenn der Kommunismus nicht zusammengebrochen wäre.
Ich traf auf noch Erschreckenderes, als ich durch diese kurz zuvor befreiten Länder reiste, von Litauen bis zur Ukraine und von Serbien bis Weißrußland: auf bösartigen Antisemitismus. Ich hatte damit gerechnet, daß mir die Menschen erzählen würden, wie sehr sie den Kommunismus haßten; das schien nur natürlich. Aber daß sie Juden haßten? Das schien mir grotesk, zumal an den Orten, die ich aufsuchte, kaum noch Juden lebten – dafür hatten Hitler und die Nationalsozialisten gesorgt. Dennoch fand der alte Mann im Baltikum, der 1941 den Deutschen geholfen hatte, Juden zu erschießen, daß er 60 Jahre zuvor richtig gehandelt hätte. Und selbst einige von denen, die gegen die Deutschen gekämpft hatten, vertraten antisemitische Überzeugungen. Ich weiß noch, was mich ein ukrainischer ehemaliger Kämpfer beim Essen fragte. Der Mann hatte tapfer mit den ukrainischen nationalistischen Partisanen sowohl gegen die deutsche Wehrmacht als auch gegen die Rote Armee gekämpft und war dementsprechend drangsaliert worden. »Was halten Sie von der Ansicht«, fragte er mich, »daß es eine von New York ausgehende internationale Verschwörung des Finanzjudentums gibt, die alle nichtjüdischen Regierungen zu vernichten versucht?« Ich starrte ihn einen Augenblick an. Ich selbst bin kein Jude, und es ist für mich immer ein Schock, wenn ich unerwartet auf nackten Antisemitismus stoße. »Was ich davon halte?«, antwortete ich schließlich. »Ich halte das für absoluten Quatsch.« Der alten Partisan trank einen Schluck Wodka. »Tatsächlich«, sagte er, »ist das Ihre Meinung. Sehr interessant …«
Besonders erschreckend fand ich, daß diese antisemitischen Anschauungen nicht auf die ältere Generation beschränkt waren. Ich erinnere mich an eine Frau am Flugschalter der Lithuanian Airways, die, als sie hörte, was für einen Film wir machen wollten, sagte: »Sie interessieren sich also für die Juden, ja? Aber denken Sie daran – Marx war Jude!« Ebenfalls in Litauen zeigte mir ein Armeeoffizier von Mitte Zwanzig das ehemalige Fort bei Kaunas, wo 1941 Massaker an den Juden verübt worden waren, und sagte: »Sie haben das Wesentliche nicht erfaßt, wissen Sie? Es geht nicht um das, was wir den Juden angetan haben. Es geht um das, was die Juden uns angetan haben.« Ich würde nicht behaupten, daß alle Menschen – oder auch nur die Mehrheit – in den Ländern Osteuropas, die ich besucht habe, diese Ansichten teilen. Aber daß diese Art Vorurteil überhaupt so offen geäußert wird, ist beunruhigend.
Daran sollten die Menschen denken, die der Meinung sind, daß die Geschichte in diesem Buch heute keine Bedeutung mehr hat. Und auch diejenigen, die glauben, der ätzende Antisemitismus sei irgendwie auf die Nationalsozialisten oder gar Hitler beschränkt gewesen. Tatsächlich ist die Ansicht, die Vernichtung der Juden sei irgendwie von ein paar Verrückten einem widerstrebenden Europa aufgezwungen worden, eine der gefährlichsten überhaupt. Die deutsche Gesellschaft war auch nicht »einzigartig« in ihrer Mordlust, bevor die Nationalsozialisten an die Macht gelangten. Wie denn auch, wo doch viele Juden noch in den zwanziger Jahren vor dem Antisemitismus in Osteuropa flohen und in Deutschland Zuflucht suchten?
Trotzdem ist etwas an der Denkart der Nationalsozialisten, das nicht in Übereinstimmung mit der anderer Täter in anderen totalitären Regimen steht. Zu diesem Schluß kam ich jedenfalls, nachdem ich mich dreimal mit dem Thema Zweiter Weltkrieg befaßt hatte, jeweils mit einem Buch und einer Fernsehserie: zuerst Nazis: A Warning from History (»Nazis – eine Warnung der Geschichte«), dann War of the Century (»Jahrhundertkrieg«) über den Krieg zwischen Stalin und Hitler und schließlich Horror in the East (»Grauen im Osten«), ein Versuch, die japanische Psyche in den dreißiger Jahren und während des Zweiten Weltkriegs zu verstehen. Eine nicht geplante Folge war, daß ich meines Wissens der einzige Mensch bin, der eine wesentliche Zahl von Tätern aller drei großen totalitären Kriegsmächte getroffen und befragt hat: Deutschlands, Japans und der Sowjetunion. Und ich kann sagen, daß die NS-Kriegsverbrecher, denen ich begegnet bin, anders waren.
In der Sowjetunion unter Stalin war das Klima der Angst so alles beherrschend, wie es das in Deutschland unter Hitler bis zu den letzten Kriegstagen nicht gewesen ist. Die Beschreibung eines ehemaligen sowjetischen Luftwaffenoffiziers von öffentlichen Versammlungen in den dreißiger Jahren, wo jeder als »Volksfeind« denunziert werden konnte, verfolgt mich noch heute. Niemand konnte sicher sein, daß es nicht um Mitternacht bei ihm klopfte. Egal wie man sich bemühte, alles richtig zu machen, egal wie viel Schlagworte man herunterrasselte, Stalins Bösartigkeit war so groß, daß nichts, was man sagte oder tat, einen retten konnte, wenn man einmal ins Scheinwerferlicht geraten war. Im nationalsozialistischen Deutschland dagegen konntest du, wenn du nicht gerade zu einer Risikogruppe gehörtest – Juden, Kommunisten, »Zigeuner«, Homosexuelle, »Arbeitsscheue« und natürlich alle, die das Regime bekämpften –, relativ angstfrei leben. Trotz der neueren wissenschaftlichen Arbeiten, die zu Recht betonen, daß die Gestapo bei ihrer Arbeit sehr auf Denunziationen aus der Bevölkerung angewiesen war3, bleibt doch die Tatsache bestehen, daß die Mehrheit der deutschen Bevölkerung bis zu dem Augenblick, in dem Deutschland den Krieg zu verlieren begann, sich so geborgen und glücklich fühlte, daß sie auch dann dafür gestimmt hätte, Hitler an der Macht zu halten, wenn es freie und faire Wahlen gegeben hätte. In der Sowjetunion dagegen hatten nicht einmal Stalins engste und treueste Mitarbeiter das Gefühl, sie dürften ruhig schlafen.
Diejenigen, die auf Stalins Befehl Verbrechen begingen, kannten oft die Gründe dafür nicht; die Leiden, die sie anderen zufügten, waren reine Akte der Willkür. Der ehemalige sowjetische Geheimpolizist zum Beispiel, der Kalmükken in Züge mit dem Ziel Sibirien verfrachtet hatte, wußte auch heute noch nicht genau, was hinter dieser Politik gesteckt hatte. Er hatte eine stereotype Antwort parat, wenn er gefragt wurde, weshalb er sich daran beteiligt hatte – pikanterweise die, die allgemein den Nationalsozialisten immer zugeschrieben wird. Er sagte, er habe »auf Befehl« gehandelt. Er hatte ein Verbrechen begangen, weil man es ihm befohlen hatte und weil er wußte, daß er erschossen werden würde, wenn er es nicht ausführte, und er verließ sich darauf, daß seine Vorgesetzten schon wüßten, was sie taten. Das bedeutete natürlich, daß er, als Stalin gestorben war und der Kommunismus im Niedergang war, befreit weitermachen und die Vergangenheit hinter sich lassen konnte. Es kennzeichnet Stalin auch als grausamen, tyrannischen Diktator, für den es viele Parallelen in der Geschichte gibt, nicht zuletzt in unserer Zeit Saddam Hussein.
Und dann bin ich japanischen Kriegsverbrechern begegnet, die einige der entsetzlichsten Greueltaten der neueren Geschichte begangen haben. Japanische Soldaten schlitzten in China schwangeren Frauen den Bauch auf und erstachen die Föten mit dem Bajonett, sie fesselten Bauern und benutzten sie zum Scheibenschießen; sie folterten Tausende von unschuldigen Menschen auf eine Weise, die den schlimmsten Praktiken der Gestapo gleichkommen, und sie führten lange vor Dr. Mengele und Auschwitz mörderische medizinische Experimente durch. Diese Menschen wurden für undurchschaubar gehalten. Aber bei näherer Betrachtung waren sie es nicht. Sie waren in einer höchst militaristischen Gesellschaft aufgewachsen und dann einer militärischen Ausbildung brutalster Art unterworfen worden; man hatte ihnen, seit sie Kinder waren, befohlen, ihren Kaiser (der auch ihr Oberkommandierender war) zu vergöttern, und sie lebten in einer Kultur, die den allzu menschlichen Wunsch, sich anzupassen, quasi zur Religion erhob. All das steckte in einem ehemaligen Soldaten, der mir erzählte, wie er aufgefordert worden war, an der Massenvergewaltigung einer chinesischen Frau teilzunehmen: Er hatte das weniger als Sexualakt betrachtet, denn als Zeichen, daß er endlich von der Gruppe akzeptiert worden war, deren Mitglieder ihn bis dahin zum Teil gnadenlos schikaniert hatten. Wie die sowjetischen Geheimpolizisten, die ich getroffen hatte, hatten diese Japaner versucht, ihre Taten fast ausschließlich mit Hinweisen auf von außen einwirkende Gründe zu rechtfertigen – das Regime selbst.
Im Denken vieler NS-Kriegsverbrecher zeigt sich etwas anderes, und es ist in diesem Buch verkörpert in dem Interview mit Hans Friedrich, der zugibt, daß er als Mitglied einer SS-Einheit im Osten selbst Juden erschossen hat. Noch heute, wo das NS-Regime seit langem besiegt ist, tut ihm nicht leid, was er getan hat. Es wäre leicht für ihn, sich hinter dem »Befehlsnotstand« zu verstecken oder zu sagen: »Ich stand zu sehr unter dem Einfluß der Propaganda«, aber seine innersten Überzeugungen sind so stark, daß er das nicht tut. Er hat es damals für richtig gehalten, Juden zu erschießen, und tut es allem Anschein nach auch heute noch. Es ist eine ekelhafte, verabscheuungswürdige Haltung – aber sie fasziniert mich. Und zeitgenössische Aussagen zeigen, daß er damit nicht allein ist. In den Unterlagen von Auschwitz ist zum Beispiel nicht ein einziger Fall belegt, wo ein SS-Mann belangt worden wäre, weil er sich geweigert hätte, an den Tötungen teilzunehmen. Dagegen gibt es viel Material, das zeigt, daß das eigentliche Problem mit der Disziplin im Lager – aus der Sicht der SS-Führung – Diebstahl war. Gewöhnliche SS-Männer scheinen mit der NS-Führung einig gewesen zu sein, daß es richtig war, die Juden zu töten, aber mit diesem Grundsatz Himmlers, der ihnen persönliche Bereicherung versagte, waren sie nicht einverstanden. Und die Strafen für einen SS-Mann, der beim Stehlen erwischt worden war, konnten drakonisch sein – sicherlich schlimmer als dafür, daß sich jemand weigerte, sich aktiv am Töten zu beteiligen.
So bin ich, nicht nur durch die Interviews, sondern auch durch nachfolgende Forschungen4 in den Archiven und Gespräche mit Wissenschaftlern zu dem Schluß gekommen, daß einzelne, die innerhalb des NS-Systems Verbrechen begangen hatten, eher die persönliche Verantwortung für ihre Taten übernahmen, als es bei Kriegsverbrechern, die Stalin oder Hirohito dienten, der Fall war. Natürlich ist das eine Verallgemeinerung, und es wird in jedem Regime Menschen geben, die diesem Muster nicht entsprechen. Diesen Regimen war ja auch viel gemeinsam – nicht zuletzt die Abhängigkeit von einer intensiven ideologischen Propaganda von oben. Aber als Verallgemeinerung ist das brauchbar, was um so merkwürdiger ist, als die SS streng trainiert wurde und das Klischee vom deutschen Soldaten als Roboter weit verbreitet ist. Wie wir sehen werden, trug die Neigung einzelner Nationalsozialisten, die Verbrechen begangen haben, um persönlich Herr der Lage zu bleiben, zur Entwicklung sowohl von Auschwitz als auch der »Endlösung« bei.
Sinnvoll ist es auch, wenn man zu verstehen versucht, warum so viele der ehemaligen Nationalsozialisten, denen ich in den letzten 15 Jahren begegnet bin, lieber eine innere Rechtfertigung für ihre Verbrechen suchen (»ich fand das richtig«) als eine äußere (»es wurde mir befohlen«). Eine Erklärung ist sicher, daß die Nationalsozialisten sich bewußt auf längst bestehende Überzeugungen stützten. Antisemitismus existierte in Deutschland lange vor Adolf Hitler, und sehr viele Menschen gaben den Juden – zu Unrecht – die Schuld an Deutschlands Niederlage im Ersten Weltkrieg. Tatsächlich war das politische Programm der Nationalsozialisten Anfang der zwanziger Jahre schlicht nicht von dem zahlloser anderer nationalistischer rechter Gruppierungen zu unterscheiden. Hitler war kein originaler politischer Denker, was er mitbrachte, war die Originalität seiner Führerschaft. Als zu Beginn der dreißiger Jahre die Weltwirtschaftskrise Deutschland erfaßte, wandten sich Millionen Deutsche freiwillig den Nationalsozialisten zu, weil sie von ihnen eine Beseitigung der Mißstände erhofften. Bei den Wahlen 1932 wurde niemand gezwungen, für die Nationalsozialisten zu stimmen, trotzdem gelangten sie an die Macht und bauten diese im Rahmen der bestehenden Gesetze aus.
Ein weiterer Grund dafür, daß so viele Menschen das NS-Glaubenssystem verinnerlichten, war die Arbeit von Joseph Goebbels5, dem erfolgreichsten Propagandisten des 20. Jahrhunderts. Im allgemeinen Bewußtsein wird er oft als plumper Polemiker abgetan, berüchtigt wegen des infamen Films Der ewige Jude, in dem Szenen mit Juden unterbrochen waren von Aufnahmen von Ratten. In Wirklichkeit war seine Arbeit großenteils viel raffinierter und hinterlistiger. Hitler war es, der sich für solche Haßfilme wie Der ewige Jude begeisterte; Goebbels mochte diese kümmerliche Methode nicht und zog den viel subtileren Jud Süß vor, ein Drama, in dem die schöne »arische« Jungfrau von einem Juden vergewaltigt wurde. Goebbels eigene Publikumsforschung (er war von dieser Wissenschaft besessen) zeigte, daß er recht hatte: Die Kinobesucher zogen Propagandafilme vor, in denen, wie er es ausdrückte, die Kunst nicht so sichtbar würde.
Goebbels fand es besser, vorhandene Vorurteile des Publikums zu verstärken, als zu versuchen, jemandes Meinung zu ändern. Wenn es aber nötig war, die Ansichten der Deutschen zu verändern, war seine Methode die, »im Konvoi zu fahren – immer in der Geschwindigkeit des langsamsten Schiffes«6, und dann die Botschaft, die er dem Publikum nahebringen wollte, ständig zu wiederholen, in immer neuer Weise. Dabei versuchte er selten, die Zuschauer unter Druck zu setzen: Er zeigte Bilder und erzählte Geschichten, die gewöhnliche Deutsche zu den gewünschten Schlußfolgerungen führten; so ließ er sie in dem Glauben, sie seien von selbst darauf gekommen.
In den dreißiger Jahren versuchte Hitler nicht oft, der Bevölkerung seine Politik gegen ihren Willen aufzuzwingen, und fand damit Goebbels’ Beifall. Sicher, es war ein radikales Regime, aber doch eines, das auf die Zustimmung der Mehrheit Wert legte und bei der Dynamik, die es sich wünschte, in großem Maß auf persönliche Initiativen von unten angewiesen war. Und das hieß wiederum, daß die Nationalsozialisten bei der Verfolgung der Juden vorsichtig vorgingen. Obwohl der Judenhaß für Hitler eine zentrale Rolle spielte, stellte er ihn bei den Wahlen Anfang 1933 nicht unverhohlen in den Vordergrund. Er verbarg seinen Antisemitismus nicht, aber er und die Nationalsozialisten betonten bewußt andere Dinge, so etwa den Wunsch, das »Unrecht von Versailles« wiedergutzumachen, den Arbeitslosen Arbeit zu verschaffen und ein Gefühl von Nationalstolz wiederherzustellen. Kurz nachdem Hitler Reichskanzler geworden war, gab es den ersten Ausbruch von Gewalttätigkeit gegen die deutschen Juden, großenteils inszeniert von der SA. Dann kam der Boykott jüdischer Geschäfte (den der glühende Antisemit Goebbels unterstützte), aber der dauerte nur einen Tag. Die NSFührung sorgte sich um die öffentliche Meinung im In- wie im Ausland; vor allem wollte sie vermeiden, daß Deutschland wegen seines Antisemitismus zum Paria wurde. 1935 wurden dann die »Nürnberger Gesetze« erlassen, mit denen den Juden die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen wurde, und 1938 wurden in der Pogromnacht, der sogenannten Kristallnacht, Synagogen in Brand gesteckt und Tausende von Juden eingesperrt – das waren die auffallendsten weiteren Maßnahmen gegen die Juden vor dem Krieg. Aber insgesamt wurde die antisemitische Politik in vielen kleinen Schritten entwickelt, und viele Juden versuchten in den dreißiger Jahren in Hitler-Deutschland durchzuhalten. Die antijüdische Propaganda wurde (ausgenommen fanatische Randerscheinungen wie Julius Streicher mit seinem schändlichen Schmutzblatt Der Stürmer) mit Goebbels’ Geschwindigkeit des »langsamsten Schiffes« fortgesetzt, und keiner der offen antisemitischen Filme wie Der ewige Jude oder Jud Süß erschien vor dem Krieg.
Die Vorstellung, daß die Nationalsozialisten in vielen kleinen Schritten gegen die Juden vorgingen, läuft dem verständlichen Wunsch zuwider, für die wesentliche Entscheidung für die »Endlösung« und die Gaskammern von Auschwitz einen bestimmten Zeitpunkt herauszustellen. Aber so einfach ist das nicht. Es dauerte Jahre, bis die Tötungsmaschinerie so perfektioniert war, daß Eisenbahnverbindungen jüdische Familien fast bis ans Krematorium brachten. Ein Historiker hat das Verhalten des NS-Regimes als »kumulative Radikalisierung«7 bezeichnet, wo eine Entscheidung oft in eine Krise führte, die noch radikalere Entscheidungen verlangte. Ein Beispiel dafür, wie sich Ereignisse zu einer Katastrophe aufschaukeln können, war der Nahrungsmangel im Ghetto von Łódz im Sommer 1941. Die Lage war so, daß ein NS-Funktionär anfragte: »Es ist ernsthaft zu erwägen, ob es nicht die humanste Lösung ist, die Juden, soweit sie nicht arbeitseinsatzfähig sind, durch irgendein schnellwirkendes Mittel zu erledigen. Auf jeden Fall wäre dies angenehmer, als sie verhungern zu lassen.«8 So wird der Gedanke der Vernichtung als Akt der Menschlichkeit vorgestellt. Wobei man natürlich nicht vergessen sollte, daß die Politik der NS-Führung diese Lebensmittelkrise im Ghetto von Łódz überhaupt erst heraufbeschworen hatte.
Das soll nicht heißen, daß Hitler nicht für das Verbrechen verantwortlich war – das war er! –, aber er war verantwortlich in viel unheilvollerer Weise als der, daß er etwa seine Untergebenen an einem bestimmten Tag zusammengerufen und ihnen seinen Beschluß aufgezwungen hätte. Alle maßgeblichen Nationalsozialisten wußten, daß ihr »Führer« eines bei der politischen Arbeit besonders schätzte: Radikalismus. Hitler hat einmal gesagt, er hätte es gern, wenn seine Generäle wie Hunde an der Leine zerrten (aber genau da enttäuschten sie ihn meist). Seine Vorliebe für die Radikalität sowie seine Methode, innerhalb der nationalsozialistischen Führung die Konkurrenz zu fördern, indem er oft zwei Leuten mehr oder weniger dieselbe Aufgabe stellte, bewirkten eine erhebliche Dynamik in Politik und Verwaltung – und eine starke innere Instabilität. Jeder wußte, wie Hitler die Juden haßte, jeder hatte 1939 seine Rede im Reichstag gehört, in der er die »Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa« androhte für den Fall, daß es ihnen gelingen sollte, »die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen«. Jeder in der NS-Führung wußte, welche Art von Maßnahmen gegenüber den Juden er vorschlagen mußte – je radikaler, desto besser.
Hitler war während des Zweiten Weltkriegs sehr in Anspruch genommen von einer Aufgabe: dem Versuch, ihn zu gewinnen. Er beschäftigte sich weniger mit der »Judenfrage« als mit der komplizierten militärischen Strategie. Seine Haltung in der Judenpolitik entsprach wahrscheinlich den Instruktionen, die er den Gauleitern von Danzig, Westpreußen und dem Warthegau gab, als er sagte, er wünschte ihre Gebiete »germanisiert« zu sehen, und wenn sie diese Aufgabe erledigt hätten, würde er keine Fragen stellen, wie sie das bewerkstelligt hätten. Man kann sich leicht vorstellen, daß Hitler im Dezember 1941 zu Himmler gesagt hat, er wünschte die »Vernichtung« der Juden, und er würde hinterher nicht nachfragen, wie er das gemacht hätte. Wir wissen nicht, ob so ein Gespräch so stattgefunden hat, denn Hitler bemühte sich während des Krieges, Himmler als Puffer zwischen sich und der Durchführung der »Endlösung« zu benutzen. Hitler kannte das Ausmaß des Verbrechens, das die Nationalsozialisten vorhatten, und wollte nicht, daß irgendein Schriftstück ihn damit in Verbindung brachte. Aber seine Handschrift ist überall zu erkennen – von seinen Haßreden bis zu dem engen Zusammenhang zwischen Himmlers Treffen mit Hitler in seinem ostpreußischen Hauptquartier Wolfsschanze und der folgenden Radikalisierung der Verfolgung und Ermordung der Juden.
Es ist kaum zu vermitteln, mit welcher Begeisterung führende Nationalsozialisten einem Mann dienten, der in solchen Dimensionen zu träumen wagte. Hitler hatte davon geträumt, Frankreich innerhalb von Wochen niederzuwerfen – das Land, in dem die deutsche Armee im Ersten Weltkrieg jahrelang steckengeblieben war –, und es war ihm gelungen. Er hatte davon geträumt, die Sowjetunion zu erobern, und im Sommer und Herbst 1941 sah es fast so aus, als würde er gewinnen. Und er träumte davon, die Juden zu vernichten, was sich in gewisser Weise als die einfachste dieser Aufgaben erweisen sollte.
Hitlers Ambitionen bewegten sich in imposanten Größenordnungen – aber sie waren alle destruktiv, die »Endlösung« von der Idee her ganz besonders. Es ist von Bedeutung, daß 1940 zwei Nationalsozialisten, die in der Folge zu Führungspersönlichkeiten bei der Entwicklung und Durchführung der »Endlösung« werden sollten, jeder für sich bekannten, daß der Massenmord den »kulturellen Werten«, auf die beide Wert legten, zuwiderliefe. Heinrich Himmler schrieb, die »physische Ausrottung eines Volkes« sei »undeutsch«, und Reinhard Heydrich hielt fest, die biologische Vernichtung wäre »des deutschen Volkes als einer Kulturnation unwürdig«.9 Aber im Lauf der folgenden 18 Monate wurde die »physische Ausrottung eines Volkes« genau die politische Linie, die sie sich zu eigen machten.
Wenn man verfolgt, wie Hitler, Himmler, Heydrich und andere Führungspersönlichkeiten die »Endlösung« und Auschwitz schufen, bietet das Gelegenheit, einen dynamischen und radikalen Entscheidungsprozeß von großer Komplexität zu sehen. Es war kein ausgearbeiteter Plan von oben für das Verbrechen durchgesetzt worden und auch keiner von unten erdacht und nur von der Spitze akzeptiert worden. Es wurden nicht einzelne Nationalsozialisten durch grobe Drohungen genötigt, selbst zu morden. Nein, dies war ein gemeinsames Unternehmen von Tausenden von Menschen, die sich entschlossen, nicht nur teilzunehmen, sondern Initiativen zur Lösung des Problems beizutragen, wie man in nie zuvor versuchtem Ausmaß Menschen töten und ihre Leichen beseitigen könnte.
Wenn wir den Weg nachvollziehen, den einerseits die Nationalsozialisten gingen und andererseits diejenigen, die sie verfolgten, gewinnen wir tiefe Einsicht in die Conditio humana. Und was wir da erfahren, ist meist nicht schön. In dieser Geschichte hat Leiden fast nie mit Erlösung zu tun. Obwohl es in einigen seltenen Fällen außergewöhnliche Menschen gegeben hat, die sich großartig verhalten haben, ist dies doch überwiegend eine Geschichte der Erniedrigungen. Man kann kaum umhin, sich dem Urteil von Else Baker anzuschließen, die im Alter von acht Jahren nach Auschwitz geschickt wurde: »Das Maß menschlicher Verderbtheit ist unendlich.« Wenn es aber einen Funken Hoffnung gibt, dann liegt er in der Familie als der stützenden Kraft. Heldentaten wurden von Menschen im Lager zugunsten von Vater, Mutter, Bruder, Schwester oder Kind vollbracht.
Vielleicht zeigen Auschwitz und die »Endlösung« vor allem, mit welcher Macht die Umstände das Verhalten beeinflussen, in stärkerem Maße, als wir vielleicht wahrhaben wollen. Diese Auffassung bestätigt einer der zähesten und mutigsten Überlebenden der Todeslager, Toivi Blatt, der in Sobibór zur Arbeit gezwungen wurde und dann die Flucht wagte: »Ich bin gefragt worden«, sagt er, »›Was hast du gelernt?‹, und ich denke, für mich steht nur eines fest – niemand kennt sich selbst. Der nette Mensch auf der Straße, den du fragst, ›Wo ist die Nordstraße?‹, und der einen halben Block mit dir geht und sie dir zeigt und nett und freundlich ist. Dieser selbe Mensch könnte unter anderen Umständen ein richtiger Sadist sein. Niemand kennt sich selbst. Wir können alle gut oder schlecht sein in unterschiedlichen Situationen. Manchmal denke ich, wenn jemand richtig nett zu mir ist, ›Wie ist der in Sobibór?‹.«10
Diese Überlebenden (und wenn ich ehrlich sein soll, die Täter ebenso) haben mich gelehrt, daß menschliches Verhalten brüchig und unberechenbar ist und oft von den Umständen abhängt. Natürlich hat jeder einzelne die Wahl, wie er sich verhalten will, aber für viele Menschen sind die Umstände der entscheidende Faktor bei dieser Wahl. Sogar ungewöhnliche Persönlichkeiten – Adolf Hitler selbst zum Beispiel –, die Herren des eigenen Schicksals zu sein scheinen, waren in erheblichem Maße bestimmt von ihrer Reaktion auf frühere Lebenslagen. Der Adolf Hitler der Geschichte war wesentlich geformt von der Wechselwirkung zwischen dem Vorkriegs-Hitler, einem ziellos treibenden Nichtsnutz, und den Geschehnissen des Ersten Weltkriegs, eines globalen Konflikts, über den er keine Kontrolle hatte. Ich kenne keinen seriösen Fachmann, der glaubt, daß Hitler ohne die Veränderung, die er in jenem Krieg durchmachte, und die tiefe Bitterkeit, die er fühlte, als Deutschland verlor, zur Bedeutung aufgestiegen wäre. Wir können also über die Aussage »Ohne Ersten Weltkrieg kein Hitler als Reichskanzler« hinausgehen und sagen: »Ohne Ersten Weltkrieg keine Persönlichkeit, die zu dem Hitler wurde, den die Geschichte kennt.« Und während natürlich Hitler selbst entschied, wie er sich verhalten wollte (und dabei eine Reihe von Entscheidungen traf, mit denen er sich all die Schmähungen verdiente, die man auf ihn häuft), wurde er doch erst durch diese spezifische historische Situation möglich.
Diese Geschichte zeigt uns jedoch auch, daß, wo einzelne einem Schicksal ausgeliefert sind, in Gemeinschaften zusammenwirkende Menschen eine höhere Kultur schaffen können, die es ihrerseits einzelnen erlaubt, sich anständiger zu verhalten. Wie die Dänen ihre Juden retteten und, als sie bei Kriegsende zurückkehrten, dafür sorgten, daß sie herzlich empfangen wurden, ist dafür ein eindrucksvolles Beispiel. Die dänische Kultur eines starken und weitverbreiteten Glaubens an die Menschenrechte trug dazu bei, daß die Mehrheit der Menschen sich uneigennützig verhielt. Aber man sollte auch wieder nicht übermäßig ins Schwärmen geraten ob dieser dänischen Erfahrung. Auch die Dänen standen unter dem starken Einfluß von Faktoren außerhalb ihrer Kontrolle: dem Zeitpunkt des nationalsozialistischen Angriffs auf die Juden (als nämlich deutlich wurde, daß die Deutschen den Krieg verloren), der Geographie ihres Landes (das die relativ geradlinige Flucht über einen schmalen Meeresarm ins neutrale Schweden gestattete) und dem Fehlen konzertierter Bemühungen der SS, die Deportation zu erzwingen. Dennoch darf man vernünftigerweise davon ausgehen, daß es einen Schutzmechanismus gegen Greuel wie Auschwitz in einzelnen Menschen gibt, die dann miteinander dafür sorgen, daß der kulturelle Sittenkodex ihrer Gesellschaft sich solchem Unrecht entgegenstellt. Die offen darwinistischen Ideale des Nationalsozialismus, die jedem »arischen« Deutschen sagten, er oder sie seien rassisch überlegen, standen natürlich dazu im Widerspruch.
Schließlich liegt aber doch tiefe Traurigkeit über diesem Thema, die sich nicht besiegen läßt. Während der ganzen Zeit, die ich daran arbeitete, kamen die Stimmen, die ich am deutlichsten hörte, von denen, die wir nicht befragen konnten: von den 1,1 Million Menschen, die in Auschwitz ermordet wurden, und ganz besonders von den mehr als 200 000 Kindern, die dort umkamen, denen man das Recht aufzuwachsen und zu leben verweigert hat. Ein Bild vor allem haftet mir im Gedächtnis, seit ich davon gehört habe. Es ist das von den leeren Kinderwagen. »Eine der im KL inhaftierten Frauen sagte später aus, daß sie Zeugin war, wie eine große Anzahl Kinderwagen vom Lager in Richtung des Bahnhofs Auschwitz geschoben wurde. Jeweils fünf Kinderwagen wurden in einer Reihe geschoben, und der Vorbeimarsch dauerte über eine Stunde.«11
Die Kinder, die in diesen Kinderwagen mit ihren Müttern, Vätern, Brüdern, Schwestern, Onkeln und Tanten in Auschwitz ankamen – und die alle dort starben –, sind es, die wir nicht vergessen dürfen; ihrem Gedächtnis ist dieses Buch gewidmet.
Laurence Rees,
London, Juli 2004
Am 30.April 1940 erreichte Hauptsturmführer Rudolf Höß ein ehrgeiziges Ziel. Er war nach sechs Jahren im aktiven Dienst der SS im Alter von 39 Jahren zum Kommandanten eines der ersten deutschen Konzentrationslager in den neu eingegliederten Ostgebieten ernannt worden. Anfang Mai nahm er seine Arbeit in einer kleinen Stadt in einer Gegend auf, die 8 Monate zuvor noch Südwestpolen gewesen und jetzt Teil von Oberschlesien war. Der Name des Ortes lautete polnisch Oświęcim – deutsch Auschwitz.
Höß war zwar zum Kommandanten befördert worden – aber ein Lager existierte noch nicht. Es gab nur einen »verwahrlosten und von Ungeziefer wimmelnden Komplex« ehemaliger polnischer Kasernen am Rande der Stadt, und dort sollte er nun die Errichtung eines Lagers überwachen. Die Umgebung hätte kaum deprimierender sein können. Die Landschaft zwischen Sola und Weichsel war flach und trist, das Klima feucht und ungesund.
Niemand, einschließlich Rudolf Höß, hätte an jenem Tag vorhersagen könne, daß dieses Lager in den folgenden Jahren zum Schauplatz des größten Massenmords der Geschichte werden würde. Der Entscheidungsprozeß, der zu dieser Umgestaltung führte, gehört zum Schockierendsten, das die Welt je gesehen hat, und bietet tiefe Einsichten in die Arbeitsweise des NS-Staats.
Adolf Hitler, Heinrich Himmler, Reinhard Heydrich, Hermann Göring – diese und andere führende Nationalsozialisten fällten Entscheidungen, die zur Vernichtung von mehr als einer Million Menschen in Auschwitz führten. Aber wesentliche Voraussetzung für dieses Verbrechen war auch die Denkart der vielen kleineren Funktionäre wie etwa Höß. Ohne Höß’ Führung durch das bis dahin unerforschte Gebiet des Massenmords in einem solchen Ausmaß hätte Auschwitz nie so reibungslos funktionieren können.
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