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Katholisch aufgewachsen, Priester geworden, als Kaplan auf Wolke sieben: und dann? Dann erfährt Stefan Jürgens eine Kirche, die sich durch ihre Hierarchie selbst lähmt, die am Klerikalismus erstickt, die an einer Sprache festhält, die keiner mehr versteht, die Frauen, Homosexuelle und geschiedene Wiederverheiratete diskriminiert. All das beschreibt Jürgens – so pointiert und provokant wie kaum ein Amtsträger vor ihm, und zugleich verrät er, weshalb er noch immer in dieser Kirche ist. Was sich ändern muss und wie es aufwärtsgehen kann. So schmerzhaft Jürgens' Analyse ist, so hilfreich sind seine Vorschläge. Er weiß genau: Entweder es ist Schluss mit der Heuchelei. Oder es ist Schluss mit der Kirche. "Es ist Druck im Kirchenkessel. Die gut organisierte katholische Kirche in Deutschland ist auf dem Weg in eine gut organisierte Bedeutungslosigkeit. Die Kirche ist weltfremd geworden – und die Welt kirchenfremd. Oftmals steht die Kirche dem Evangelium geradezu im Weg. Und dabei fordert der Glaubenssinn des Volkes Gottes längst Reformen. Neue Zugangswege zum Amt, selbstverständlich auch für Frauen, sowie die Freistellung des Zölibats: Beides sind Dauerthemen und mittlerweile Ausdruck einer langen und lähmenden kollektiven Sexualneurose der katholischen Kirche mitsamt ihrer institutionellen Heuchelei. Ernstnehmen anderer Lebensmodelle und Biografien, Partizipation und Förderung des Engagements der Laien auf Augenhöhe, Ökumene und interreligiöser Dialog, die über symbolisches Händeschütteln hinausgehen: All das sind Reformen, die die Kirche endlich ernsthaft angehen muss, will sie nicht in jener gut organisierten Bedeutungslosigkeit enden."
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Seitenzahl: 220
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Stefan Jürgens
Ausgeheuchelt!
So geht es aufwärts mit der Kirche
Den Teilnehmenden am Synodalen Weg
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2019
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlagmotiv: Enis Aksoy – Getty Images
Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal
Autorenfoto: © Christof Haverkamp
Satz: Carsten Klein, Torgau
Herstellung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN Print 978-3-451-39054-8
ISBN E-Book 978-3-451-81895-0
Ausgeheuchelt! oder: Warum dieses Buch?
Wie ich Christ und warum ich Priester geworden bin
Glauben und Vertrauen
Entschluss und Ernüchterung
So geht es aufwärts mit der Kirche (1)
Wodurch ich mich entwickeln konnte
Auf Wolke sieben
Gemeinschaft erfahren
Ganz weltlich gesprochen
Landpfarrer mit Kirchenpolitik
Stadtpfarrer im postmodernen Umfeld
So geht es aufwärts mit der Kirche (2)
Wofür sich aller Einsatz lohnt
Christsein in säkularer Gesellschaft
Katechese ohne Erfolgsdruck
Anknüpfungspunkte im Leben
Gemeinde leiten mit Vertrauen
So geht es aufwärts mit der Kirche (3)
Was mir immer schon Sorgen gemacht hat
Theologieferne von Pastoral und Kirche
Erlösungsresistenz und Kinderglaube
Gelaber und Geleier
Ratlos macht rastlos
Kleriker und Laien
Symbolisches Händeschütteln
So geht es aufwärts mit der Kirche (4)
Wo Schein und Sein auseinanderklaffen
Ideal und Wirklichkeit
Gemeindefusionen: So bleibt die Kirche im Dorf
Finanzen: Diözesen sind keine Königreiche
Wiederverheiratete Geschiedene: Der Standpunkt der Selbstgerechten
Klerikalismus: Die katholische Ursünde
Frauen im geistlichen Amt: Die Macht der ängstlichen Männer
Zölibat und Priesterbild: Prozession um das Goldene Kalb
Homosexualität: Hinter den Kulissen der Angst
Sexueller Missbrauch: In der »DNA der Kirche«?
Ideal und Wirklichkeit
So geht es aufwärts mit der Kirche (5)
Wer und was sich in der Kirche ändern muss
Sie und ich, wir alle
Es gibt viel zu tun
Was würde Jesus tun?
Wie es mit der Kirche aufwärtsgeht
Nichts ist unmöglich
Die heiligen Kühe schlachten
Den Mut nicht verlieren
Mein Glaubensbekenntnis
Credo – Ich glaube
Eine Kurzformel des Glaubens
Über den Autor
Eigentlich sollte dieses Buch anders heißen: »Luft nach oben«. Der Titel sollte Mut machend mehrdeutig sein. »Luft nach oben« – hier geht der Blick in Richtung Himmel, zu Gott, dem geheimnisvollen Grund und Ziel allen Lebens. »Luft nach oben« sagt aber auch, dass da noch etwas möglich ist. Es mag in der Kirche »fünf nach zwölf« sein, aber das kann Gott nicht daran hindern, die Geschichte mit den Menschen fortzuschreiben, in und außerhalb der Kirche. Ich möchte meinen Blick »nach oben« richten, Luft holen und dabei zeigen, dass es auch »mit der Kirche aufwärtsgehen« kann, wenn sie ihre Chancen heute wahrnimmt. Das bedeutet vor allem, dass sie den Blick auf die Menschen nicht verliert.
Jetzt lautet der Titel: Ausgeheuchelt! Weil der Wind des Wandels weht. Es ist Druck im Kirchenkessel. Die Basis will Reformen, die Leitung spiritualisiert. Ich meine jedoch: Man darf die Kirchen- und die Glaubenskrise nicht gegeneinander ausspielen. Das wird wichtig sein für den Synodalen Weg, für die Amazonas-Synode, für die vielen Reformbewegungen und ihre hierarchiegehorsamen Alles-soll-beim-Alten-bleiben-Gegengruppen. Es hat sich ausgeheuchelt, die Kirche muss in der Realität ankommen und sich um ihrer Glaubwürdigkeit willen grundlegend erneuern. Sie muss von den modernen Demokratien lernen und synodal werden, sich auf die modernen Wissenschaften einlassen und die Erkenntnisse der Theologie endlich ernst nehmen. Das ängstliche Verharren im Klerikalismus des 19. Jahrhunderts ist mit viel Heuchelei erkauft worden. Damit muss endlich Schluss sein.
Ich ordne meine Gedanken biografisch an, weil mir in jeder Phase meines Christ- und Priesterseins Erfahrungen und Erkenntnisse geschenkt worden sind, in denen ich neue Chancen für die Kirche sehe. Dies ist also ein persönliches Buch, ein seelsorglich motiviertes Buch, dessen Gedanken durchs Leben gegangen sind. Theologie ist Biografie. Und weil es auch ein sehr kritisches und ehrliches Buch ist, mit dem ich mich kirchenpolitisch durchaus auf Glatteis begebe, stelle ich sehr bewusst meine eigene Interpretation des Glaubensbekenntnisses an den Schluss. Ich bin kritisch, aber loyal.
Priestersein ist mein Traumjob. Und noch mehr: meine Berufung! Ich habe darin mein Lebensglück gefunden. Ich möchte nichts anderes sein und tun als das, was ich jetzt bin und tun darf. Das bedeutet: Ich begreife mich mehr als Verkünder einer Botschaft und Begleiter von Menschen denn als Vertreter einer Institution. Deshalb war ich auch von Anfang an kritisch: Allein die archaisch-magische Sakralisierung des Amtes und den daraus resultierenden klerikalen Umgang mit Macht habe ich schon immer für die Ursünde der katholischen Kirche gehalten. Wer mich kennt oder von mir gelesen hat, der weiß, dass ich diese Meinung nie verhehlt und auch offen ausgesprochen habe. Jetzt bin ich in der Mitte des Lebens; ich bin einundfünfzig Jahre alt, wurde vor etwas mehr als fünfzig Jahren getauft und bin fünfundzwanzig Jahre im Dienst als Priester. Ich habe die Erfahrung gemacht: Wer sich an Gott bindet, wird unabhängig von allem anderen. Wer sich an Jesus orientiert, gewinnt eine ganz tiefe innere Freiheit. Deshalb wage ich in diesem Buch manche Provokation, nicht um anzuklagen oder zu zerstören, sondern mitzuhelfen eine Kirche um- und aufzubauen, der ich mein Leben gewidmet habe und die ich trotz all ihrer Fehler immer noch lieben kann. Papst Franziskus lädt zu mehr Freimut ein, diese Einladung habe ich angenommen, offen und offensiv. Mancher wird beim Lesen denken: »Das mag ja alles stimmen, aber muss man das so ehrlich sagen, gerade als Mann der Kirche?« Das habe ich mich auch gefragt, mich aber dann dafür entschieden, das Schweigen zu brechen – um Gottes und seiner Kirche willen. Manches habe ich tatsächlich sehr drastisch formuliert, aber nicht aus persönlicher Frustration oder gar Groll, sondern aus Liebe zur Kirche. Die Lage ist zu ernst für verschwurbelte Sonntagsreden, es wird Zeit für einen klaren und klärenden Blick. Ungeheuchelt!
Was ich mit diesem Buch vor allem erreichen will: Ich möchte meinen Mitchristen Mut machen, in der Kirche zu bleiben. Und ich möchte meine Kolleginnen und Kollegen in der Seelsorge dazu auffordern, der Resignation zu widerstehen und weiterhin selbstverantwortet Kirche mitzugestalten. Sie sind nicht nur die Totengräber der Volkskirche, ihre Arbeit ist mehr als Palliativpastoral. Meine Erfahrung zeigt: Die Kirche ist nach wie vor gesellschaftsrelevant, und auch die Gemeinde vor Ort ist als soziale Größe nicht ausgestorben. Die Feier der Eucharistie ist nach wie vor an vielen Orten und für viele Menschen Quelle und Gipfel ihres geistlichen Lebens. In der Katechese mag man von fortlaufendem Erfolg sprechen, denn nach der Erstkommunion oder Firmung laufen die meisten tatsächlich fort und kommen vorerst nicht wieder; ich erlebe jedoch, dass die Sehnsucht nach Gott ungebrochen ist. Und mit der Caritas kann die Kirche auch Menschen außerhalb einer Kerngemeinde erreichen. Schließlich ist da noch das weite Feld der Kasualienpastoral – Taufe, Trauung, Beerdigung: Die Sinnsuche aufzugreifen, die hier verborgen liegt, ist eine hochprofessionelle Aufgabe und wirksame Verkündigung.
Trotz all dieser Chancen und Bedeutungen muss man diagnostizieren: Die gut organisierte katholische Kirche in Deutschland ist auf dem Weg in eine gut organisierte Bedeutungslosigkeit. Die Kirche ist weltfremd geworden – und die Welt kirchenfremd. Oftmals steht die Kirche dem Evangelium geradezu im Weg. Und dabei fordert der Glaubenssinn des Volkes Gottes längst Reformen. Neue Zugangswege zum Amt, selbstverständlich auch für Frauen, sowie die Freistellung des Zölibats: Beides sind Dauerthemen und mittlerweile Ausdruck einer langen und lähmenden kollektiven Sexualneurose der katholischen Kirche mitsamt ihrer institutionellen Heuchelei. Ernstnehmen anderer Lebensmodelle und Biografien, Partizipation und Förderung des Engagements der Laien auf Augenhöhe, Ökumene und interreligiöser Dialog, die über symbolisches Händeschütteln hinausgehen: All das sind Reformen, die die Kirche endlich ernsthaft angehen muss, will sie nicht in jener gut organisierten Bedeutungslosigkeit enden.
Trotz dieser Probleme und Anfragen bin und bleibe ich ein glücklicher Christ und Priester, denn ich kann voll und ganz nach meinem Gewissen handeln und im Rahmen der Kirche das sagen und tun, was ich für richtig und wichtig halte. Priestersein ist mein Traumjob, weil ich den Menschen nahe sein und alle Situationen ihres Lebens begleiten darf. Das Vertrauen, das einem dabei immer noch entgegengebracht wird, ist fantastisch, eine riesengroße Chance. Christsein ist eine Berufung, weil ich Jesus liebe und mich von ihm vorbehaltlos geliebt weiß, vor aller Leistung und nach aller Schuld. Für ihn und seine Botschaft lohnt sich jeder Einsatz, denn sie ist nach wie vor das Beste, was Gott und Welt zu bieten haben. Ich bin trotz allem im Großen und Ganzen zufrieden. Wenn ich auch meine: Die Welt braucht weniger Kirche und mehr Jesus. Gott ist größer als die Kirche, er ist längst bei den Menschen, wir müssen ihn da nicht erst hinbringen. Nicht nur die Kirche hat eine Mission, sondern Gottes Mission hat – auch – eine Kirche.
Ich bin 1994 zum Priester geweiht worden, aber das ist mir mittlerweile gar nicht mehr so wichtig; ich begreife ich mich innerlich gar nicht so sehr als Priester in der Kirche, sondern viel eher als Christ in der Welt. Wenn ich das wirklich ernst nehme, ist alles getan, was ich tun kann. Gerne nenne ich mich selbst einen Spielmann Gottes, denn da steckt Musik drin, Gottvertrauen – und eine geballte Portion Humor, die man dringend braucht, wenn man hauptberuflich bei der Kirche beschäftigt ist. Musik und Humor sind für mich Quellen für Resilienz, das heißt für die Fähigkeit, durch Krisen zu wachsen, darin Haltung zu bewahren und sogar an persönlicher Reife zu gewinnen. Ich glaube Jesus seinen Gott, und zwar dank, mit und trotz der Kirche.
Eine editorische Anmerkung sei gestattet: Um eine bessere Lesbarkeit zu ermöglichen, verzichte ich an den meisten Stellen im Buch bewusst auf die Nennung beider Geschlechter sowie auf das Gender*sternchen. Gemeint sind aber immer alle (w/m/d). Wenn ich dennoch einmal beide Geschlechter nenne, tue ich es um der angedachten Kirchenreform willen: Christinnen und Christen, Pastoral- und Gemeindereferent*innen, Diakoninnen und Diakone, Priesterinnen und Priester, Bischöfinnen und Bischöfe. Eine Päpstin kommt auch noch, aber wahrscheinlich erst später.
Glauben heißt Vertrauen. Und die Gabe, jemandem vertrauen zu können, entsteht durch Urvertrauen ganz am Anfang des Lebens. Dabei wissen Eltern von ihrem neugeborenen Kind nicht viel. Sie wissen, ob es ein Mädchen oder Junge ist, welchen Namen sie ausgewählt haben, dass es schreit, Hunger hat und die Windeln vollmacht. Ziemlich wenig wissen die Eltern von ihrem Kind, und doch lieben sie es über alles. Und noch mehr: Sie opfern einen großen Teil ihres Lebens und ihrer Kraft, damit ihr Kind sich entwickeln kann, und das mit dem sicheren Wissen, dass ihnen das niemals vergolten werden wird. Jeder Mensch, der in Geborgenheit aufwachsen durfte, hat also gleich am Anfang seines Lebens erfahren dürfen, was Liebe und Hingabe bedeuten.
Geliebt sein heißt, unbedingt erwünscht zu sein, vor aller Leistung und nach aller Schuld. Wer Liebe erfahren hat, kann lieben – in diesem einfachen Satz lässt sich wohl alle Pädagogik zusammenfassen. Eine solche Liebe habe ich als Kind erfahren dürfen, eine Geborgenheit, und die Hingabe meiner Eltern, die wirklich alles gegeben haben, damit ich mich in aller Freiheit entwickeln konnte. Aus diesem Urvertrauen ist wohl meine Gabe entstanden, überhaupt glauben zu können. Immer mehr erkenne ich, dass Glaubenkönnen ein riesengroßes Geschenk ist. Ein Geschenk kann man sich nicht erarbeiten, nicht herbeizaubern und schon gar nicht erzwingen. Ich habe heute mehr denn je Verständnis für Menschen, die nicht glauben können. Sie sind nicht anders als ich, aber vielleicht hatten sie es anders.
Ich hatte also Glück. Und dabei haben meine Eltern nicht einmal sehr reflektiert an Gott geglaubt. Sie haben ihren Glauben geerbt und einfach weitergegeben, ein Christsein aus Geburt und Tradition, das sie niemals infrage gestellt haben. Mein Vater schwärmte von dem Kaplan, der mit ihm Doppelkopf spielte, meine Mutter von der netten Pfarrhaushälterin, die ihr im kalten Winter einen heißen Kakao anbot. Wären meine Eltern nicht im katholischen Emsland, sondern vielleicht in Moskau aufgewachsen, so hätten sie mich wohl sozialistisch erzogen; sie haben also einfach aufgegriffen und gelebt, was in ihrer Umgebung üblich war, es bedurfte keiner besonderen Entschiedenheit oder Auseinandersetzung. Die Religiosität, mit der sie aufgewachsen waren, kannte drei Hauptgebote: immer lieb und artig sein, sonntags zur Kirche gehen und vor der Ehe keinen Sex haben (das wäre das Allerschlimmste gewesen). Ihr Christsein bestand hauptsächlich aus Ritualen und Gewohnheiten, aber die mit hoher Verbindlichkeit: die Messe am Sonntag, ein Gebet am Morgen und eines am Abend und selbstverständlich das Tischgebet. Es waren auswendig gelernte Gebete, die über all die Jahrzehnte nicht verändert worden sind. Das wichtigste dabei waren wohl nicht die Worte, sondern war die Treue, mit der diese Rituale einfach beibehalten wurden.
Ansonsten haben sich meine Eltern in der Pfarrgemeinde engagiert, nicht übertrieben, wie mein Vater immer betonte, aber stetig. Man machte »bei Kirchens« mit, machte sich aber weiter keine Gedanken. Wir haben nur ganz selten von Gott gesprochen, an ihm gab es keine Zweifel, deshalb bedurfte es keiner weiteren Fragen. Gesprochen haben wir über den Pfarrer. Nein, nicht gesprochen: Geschimpft haben wir. Wir mochten seine Predigten nicht und auch nicht seinen Umgangsstil, aber wir respektierten seine Autorität. Schließlich waren wir mit und ohne Pfarrer eine lebendige Gemeinde und gingen zum Gottesdienst in einer Treue und Sturheit, die keiner guten Predigt bedurfte.
Es war ein geschlossenes katholisches Milieu. Meine Heimatgemeinde bestimmte meine Schul- und Freizeit zu hundert Prozent: katholischer Kindergarten, katholische Grundschule, katholische Bücherei (hier wurde buchstäblich vor-gelesen, also ausgewählt, was katholische Christen lesen durften); Messdienergruppe, Kinder- und Kirchenchor, später Küster- und Organistendienst. Auch hier überwog wie schon im Elternhaus die Geborgenheit, das Vertrauen und das Zuhausesein. Das ist der Grund, warum ich heute die Kirche bisweilen mit einem Elternhaus vergleiche: Auch wenn man sich davon emanzipiert und weiterentwickelt hat, ist einem zeitlebens nicht egal, was damit geschieht. Diese Gefühlslage mag manche bestimmen, die zwar mit der Kirche nichts mehr zu tun haben wollen, aber dennoch nicht austreten. Sie bestimmt auch diejenigen, deren Kirche geschlossen oder deren Gemeinde fusioniert werden soll. Es ist das Elternhaus, das verscherbelt man nicht so leicht; es bleibt das Symbol einer Herkunft, einer Heimat, selbst wenn man nicht mehr darin wohnt.
Besondere Priestervorbilder hatte ich nicht, und das war gut so. Meinen Heimatpfarrer würde ich heute, bei allem Respekt, als verschroben bezeichnen. Er warnte uns vor der modernen Welt, vor modernen Religionslehrern und, noch schlimmer, vor allen Kaplänen, die sowieso nicht fromm genug und politisch viel zu weit links waren. Er hatte keine Umgangsformen, zog sich in spirituelle Nischen zurück, stand der heiligen Messe vor mit frömmelndem Pathos und brüllte in der Predigt alles nieder, was ihm nicht passte. Dafür, das muss ich zugeben, war er auf seine Weise beeindruckend fromm. In der Jugendarbeit ging es hauptsächlich darum, jene Prioritäten zu setzen, die von ihm diktatorisch vorgegeben wurden. Das hierarchische und intrigante System, mit dem er die ganze Gemeinde durchzog, hatte faschistoide Züge, denn es ließ den Menschen keine Freiheit. Andersdenkende waren faktisch exkommuniziert.
Der Nachbarpfarrer war ein Machtmensch, der ständig nur von sich selber sprach und von seinen vielen superwichtigen Ämtern. Zuhören jedenfalls konnte er nicht. Klerikalismus ist ein archaisch-magisches Machtgefälle, insofern war die Kirchenwelt meiner Kindheit eine klerikale, die als selbstverständlich hingenommen wurde. Es gab eben nichts anderes. Ein dritter Priester in meiner Heimat war übrigens völlig verwahrlost, ein vierter alkoholkrank, ein fünfter depressiv und kaum handlungsfähig, ein sechster sprang mit den ihm anvertrauten Ordensschwestern um, als wären sie seine Sklavinnen, ein siebter lebte als Kaplan im Dauerkrach mit dem Ortspfarrer. Ein achter und neunter schließlich kamen in der Seelsorge gut zurecht, sie waren geschätzt und menschennah; diese beiden Priester haben später geheiratet. Pastoralreferenten gab es damals in meiner Heimatgemeinde noch nicht, wohl einige Ständige Diakone, die sich redlich mühten. Die bange Frage, die ich mir schon damals gestellt habe, lautete: »Muss man, um Priester zu werden, komisch sein, oder wird man mit der Zeit komisch, wenn man Priester ist?«
Für meine Eltern waren, bei aller sichtbaren menschlichen Schwäche, auch ihre Ortspfarrer wenigstens ein bisschen unfehlbar, sie respektierten ihre Autorität. Andererseits konnten sie kräftig kritisieren und mit einem unverwechselbaren Humor sowie einer großen Sensibilität für Gerechtigkeit jedes hierarchische Gefälle karikieren. Mein Vater sagte nach einem guten Essen, selbstverständlich auf Plattdeutsch: »Das tut dir besser, als wenn der Herr Pastor dir die Hand gibt.« Und das Brimborium, das in seiner Kindheit anlässlich einer bischöflichen Visitation veranstaltet wurde, kommentierte er mit zwei schlichten Fragen: »Ist das denn nötig? Muss das so sein? Das sind doch auch nur Menschen wie du und ich!« Von eingebildeten Pinseln ließen sich meine Eltern jedenfalls nicht anschmieren, auch nicht von selbsternannten geistlichen Gefäßen. Das Glaubenszeugnis meiner Eltern war nicht besonders reflektiert, aber dennoch tief beeindruckend. Ich kann mich daran erinnern, wie meine Eltern bei der Wandlung andächtig in der Kirche knieten, nichts hätte sie jetzt aus ihrer inneren Ruhe und Versenkung reißen können. An Kinder- und Familiengottesdienste hingegen kann ich mich nur insofern erinnern, als dass ich sie immer schon langweilig fand. Das andauernde Pädagogisieren empfand ich als abschreckend und banal. Das Evangelium kommt eben auf zwei Beinen daher, nicht als Methode. Und auch nicht als Anspiel oder Bastelarbeit.
Unvergesslich ist mir auch der Weihbischof, der manchmal zur Visitation in die Gemeinde kam und der mich später auch gefirmt hat. Seine einzige Botschaft lautete: »Guckt mal, wie schön ich bin und wie weit ich es gebracht habe«, sein ganzes Selbstbewusstsein steckte in der Mitra, dem riesigen bunten Hut, den er sich während der Liturgie häufig auf- und dann wieder absetzen ließ; ein Ritual, das man in der Verhaltensbiologie wohl als Imponiergehabe bezeichnen würde und über das an der Kirchenbasis immer wieder gewitzelt wird. Zum Beispiel so: Der besagte Weihbischof besuchte einen Kindergarten und fragte die Kinder, ob sie wüssten, wer er sei. Niemand wusste es. Dann zeigte er seinen Stab. Wieder keine Antwort. Darauf setzte er seine Mitra auf und wiederholte seine Frage. Keines von den Kindern konnte damit etwas anfangen. Zuletzt verwies er auf seinen Ring und fragte wiederum: »Na, wer weiß denn jetzt, wer ich bin?« Da polterte es aus einem Kind heraus: »Ein Angeber!« Kindermund tut Wahrheit kund. Diese frühe Erfahrung jedenfalls muss meine Sicht auf die Hierarchie nachhaltig geprägt haben.
Warum zähle ich diese Beispiele auf? Nicht, um einfach darüber herzuziehen oder mich lustig zu machen. Ich will damit verdeutlichen, dass der Klerikalismus die gesamte Kirche prägte, dass die Gläubigen das hinnahmen, und ich schon damals für mich einen kritischen Blick auf die Hierarchie entwickelt habe und zugleich all das als Geborgenheit erleben konnte. Von Geborgenheit war auch meine Schulzeit geprägt, natürlich eng verbunden mit Kirche. Die erste Religionslehrerin war zugleich Seelsorgehelferin, der nächste Religionslehrer wäre selbst gerne Priester geworden und war zeitlebens ein beeindruckend frommer und verständnisvoller Pädagoge. Erst im Gymnasium lernte ich den problemorientierten Religionsunterricht kennen, bei dem die Schüler ihre Themen selbst festlegen konnten. Wir mussten immer tun, was wir wollten, gelernt haben wir dabei so gut wie nichts. Fortan ging es überhaupt nicht mehr um Gott, sondern um soziale Themen. Die Bibel spielte keine Rolle, es war ein oberflächliches Gelaber, aufgrund dessen ich mit vierzehn Jahren beschloss, mich vom Religionsunterricht abzumelden. Die Freistunden, die ich dadurch plötzlich zur Verfügung hatte, habe ich zum Orgelüben genutzt, durch das ich jetzt meine spirituelle Mitte fand.
Meine wichtigsten Glaubenszeugen und Gesprächspartner in Sachen Gott waren denn auch meine Musiklehrer. Musik hat spirituelle Kraft, weil sie ohne Worte auskommt und einen Menschen ganz in der Gegenwart sein lässt wie bei der kontemplativen Meditation. Mein erster Orgellehrer war der Küster und Organist meiner Heimatgemeinde. Er hat mir vorgelebt, wie man trotz aller negativen Erfahrung mit der Kirche gläubig bleiben kann, einfach indem man treu ist und durchhält. Mit ihm konnte ich über vieles sprechen. Er hat die Musikstücke, die ich bei ihm lernen durfte, kaum jemals selbst fehlerfrei spielen können; sein Konzert war die Ermutigung für die nächste Generation. Kein Organist aus den benachbarten Gemeinden, auch die künstlerisch begabteren, hatte so viele Schüler wie er. Heute würde ich sagen: Er hat durch seine Menschlichkeit die Verschrobenheit des Pfarrers voll und ganz ausgleichen können, er war durch sein großes musikalisches Netzwerk aus verschiedenen Chören der eigentliche Seelsorger der Gemeinde. Bei ihm habe ich gelernt, dass man, um wahrhaft Seelsorger zu sein, keine Priesterweihe braucht. Wohl deshalb habe ich mich niemals als Priester gefühlt, sondern immer als ein Christ, der einen Dienst innerhalb der Gemeinde tut. Die Weihe gibt der Sendung durch Christus und die Kirche einen starken Rückhalt, gleicht aber keinen Mangel an Begabung, Charakter und Bildung aus. Alles andere wäre Magie. Vielleicht kann die Priesterweihe die Identität stärken, ohne die es keine persönliche Ausstrahlung gibt.
In der Oberstufe meldete ich mich wieder zum Grundkurs Religion an, aber eigentlich nur aus der Angst heraus, das Fehlen der Religionsnote könnte ein Grund dafür sein, dass man mich im Priesterseminar ablehnen würde. Denn Priester werden wollte ich bereits mit zehn Jahren. Das war selbstverständlich mehr eine Ahnung als ein Entschluss. Es gab zwischenzeitlich noch andere Berufswünsche: Kirchenmusiker, Lehrer, Apotheker. Außerdem hatte ich schon damals in der konkreten Verantwortung, die Ehe und Familie mit sich bringen würden, ein höheres Ideal gesehen als im möglicherweise abgehobenen und selbstbezogenen ehelosen Leben. Dass der Zölibat einsam und egozentrisch machen konnte, hatte ich ja durch die Priester meiner Heimatstadt stets vor Augen. Priesterwerden blieb dennoch das geheime Ziel, von dem ich allerdings niemandem etwas erzählt hätte, am wenigsten meinem Heimatpfarrer, weil ich befürchten musste, er würde mich dann zu stark beeinflussen wollen mit seinem frommen Geschwafel. Er war ja schon seit frühester Kindheit mein Gegenbild: So wollte ich niemals werden! Durch meinen Dienst als Organist lernte ich als Jugendlicher dann doch einige Priester kennen, die ich authentisch fand. Sie waren freundlich und aufgeschlossen, hatten Interesse an Menschen und konnten zuhören.
Etwa ein Jahr vor meinem Abitur habe ich mich definitiv entschlossen, Priester werden zu wollen. Da ich jedoch noch sehr zurückhaltend und schüchtern war, konnte ich mir nicht vorstellen, vor einer Gemeinde zu stehen und zu predigen. Außerdem fühlte ich mich nicht fromm genug für ein solches Leben. Ich konnte nicht reden und nicht beten. So habe ich mich lange gefragt, ob die Diözese mich überhaupt als Priesteramtskandidat annehmen würde. Durch die C-Ausbildung zum nebenamtlichen Kirchenmusiker und einen Kontakt zur Diözesanstelle Berufe der Kirche hatte ich zwar eine Ahnung vom Priesterseminar, aber die Vorbehalte waren größer. Mir kam ein solches Haus weltfremd und verschlossen vor.
Tatsächlich lernte ich eine ganz eigene Welt kennen, als ich ins Collegium Borromäum, dem damaligen Theologenkonvikt des Bistums Münster, einzog. Dieses Haus gegenüber dem Dom ist ein riesiges neobarockes Schloss, anziehend und abschreckend zugleich. Damals lebten in diesem »Kasten«, wie wir das Borromäum nannten, hundertdreißig Priesteramtskandidaten in vier Kursen, ein weiterer Kurs befand sich jeweils im Außensemester. Es waren die Söhne der geburtenstarken Jahrgänge aus nach wie vor überwiegend kirchennahen Familien. Der regelmäßige Tagesablauf, die Gebetszeiten, die festlichen Gottesdienste und das alltägliche Miteinander, das in zehn Wohngemeinschaften organisiert war, gefielen mir gut. Ich konnte mich einfügen, fühlte mich nicht eingeengt, sondern gut aufgehoben. Wie in meiner Familie habe ich einfach mitgemacht, was dort üblich war. Ich war ja selbst noch Christ aus Geburt und Tradition, noch nicht aus Einsicht und Entscheidung. Die kamen erst viel später. Ein Revoluzzer war ich deshalb nicht. Was mir jedoch schon immer auf die Nerven ging, waren das geistlich getarnte Getue und das fromme Gelaber sowie die archaisch-magische Überhöhung des kirchlichen Amtes mitsamt den daraus resultierenden kindisch-klerikalen Rangeleien unter den Kommilitonen mit Karriereabsichten. Da habe ich einfach nicht mitgemacht.
Und noch etwas ist mir von vornherein aufgefallen: Es gab dort ziemlich viele schräge Typen, es wimmelte von selbstbezogenen jungen Männern, die nicht nur auf der Suche waren nach Gott, sondern auch nach einer Bühne. Manche haben während ihres Studiums das fromme Schaf gespielt und nach der Priesterweihe die Sau herausgelassen. Als Studenten waren sie angepasst, doch bereits mit der Primiz begann die Zeit ihrer privaten, meist ultrakonservativen Theologie und autoritären Pastoral. Denn jetzt konnte ihnen ja keiner mehr etwas, nicht einmal der eigene Bischof, und sie konnten sich auserwählt und erhaben fühlen. Heute, mit dem Wissen um die Missbrauchsfälle, wird mir klarer, was ich damals dort miterlebt habe: Ein Theologenkonvikt oder Priesterseminar war über Jahrhunderte eine ideale Zufluchtsstätte für unreif gebliebene Männer, die vor sich selbst fromm davonlaufen, besonders vor ihrer eigenen Sexualität. Wer mit sich selbst nicht klarkommt, weil er vielleicht homosexuell ist, dazu aber aufgrund seiner katholischen Sozialisation nicht stehen kann, oder wer sogar krankhafte Neigungen spürt, die er selbst nicht wahrhaben will, konnte all dies im Priesterseminar über lange Zeit ausklammern, weil es generell aufgrund des Pflichtzölibats im Priesterseminar ausgeklammert wurde. Zwar ist das Thema Sexualität angesprochen worden, aber noch nicht so deutlich wie dies ganz sicher heute der Fall ist; es blieb dem Gespräch mit dem Spiritual vorbehalten, das nicht verpflichtend war und deshalb häufig gar nicht stattfand, befand sich aber strukturell noch in der Schmuddelecke des Unaussprechlichen.
Im Theologenkonvikt Collegium Borromäum waren die meisten jungen Männer von Jesus begeistert, sie wollten mit dem Evangelium die Welt verändern. Es gab dort wirklich vorbildliche Priester, spürbare und sehr authentische Priesterberufungen unter den Kommilitonen und Kurskollegen, ein geistliches und freundschaftliches Miteinander. Wir hatten einander viel zu sagen, konnten voneinander lernen und uns menschlich, theologisch und geistlich weiterentwickeln. Dennoch haben sich Erinnerungen in mein Gedächtnis eingebrannt, die man eher in einem Boulevardmagazin als in einem Buch des Herder-Verlages vermuten würde. So wirkten manche meiner Mitstudenten, als könnten sie nicht bis drei zählen. Schon damals habe ich gedacht: »Wenn die Ehelosigkeit weiterhin die wichtigste Zulassungsbedingung zum Priesteramt ist, weit vor der menschlichen Reife oder der theologisch-pastoralen Kompetenz, dann muss man sich nicht wundern, dass wir so viele seltsame Priester haben.« Einige wenige wurden sogar regelmäßig übergriffig, zumindest verbal, um herauszufinden, wer von den Kommilitonen wohl ihrer eigenen sexuellen Neigung entsprach. Irgendwer schlich sich immer in irgendwelche Zimmer oder wollte mit irgendwem duschen. Mancher Heimatpfarrer besuchte und befummelte seinen »Schützling«, mancher hochrangige Geistliche schleppte Priesteramtskandidaten ab, darunter Ahnungslose und Karrierebewusste.