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"Ausgeheuchelt!", rief Stefan Jürgens in seinem Bestseller der Kirche zu, das Echo war gewaltig. Und seitdem kommen ständig immer mehr Scheinheiligkeit, Systemversagen und persönliche Fehler zum Vorschein, die Folgen sind dramatisch. Erschütternd? Ja. Zum Aufgeben? Nicht unbedingt. In seinem neuen Buch "Dranbleiben" nimmt Jürgens nun wieder kein Blatt vor den Mund. Er weiß, dass viele die Nase voll und nichts mehr mit Kirche zu tun haben wollen. Offen spricht Jürgens über seine Enttäuschung und erklärt, weshalb er selbst trotzdem bleibt. Er geht über Denkverbote hinweg und zeigt, was sich wirklich ändern muss – und vor allem ändern kann. Nicht naiv, sondern realistisch und mutig. Eine entschiedene Forderung und Vision für eine andere Kirche, bei der es sich lohnt, dranzubleiben. Eine Kirche, die wieder den Menschen gehört und deshalb eine Zukunft hat. "Ich lebe ja nicht für die Kirche, sondern von Gott her für die Menschen. Wer von Gott groß denkt, muss sich um den Fortbestand der Kirche keine Sorgen machen. Deren Untergang kann auch eine Chance zum Neuanfang sein." (Stefan Jürgens)
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Seitenzahl: 275
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Stefan Jürgens
Dranbleiben!
Glauben mit und trotz der Kirche
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2021
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Die Bibelverse wurden, soweit nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:
Die Bibel. Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Bundes. Vollständige Ausgabe
© Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2005
Weiter wurden verwendet:
Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, vollständige durchgesehene und überarbeitete Ausgabe © 2016 Katholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart, Alle Rechte vorbehalten (EÜ)
Umschlagmotiv: Enis Aksoy / iStock / GettyImages
Umschlaggestaltung: Verlag Herder
Autorenfoto: © Christof Haverkamp
E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern
ISBN E-Book (Epub) 978-3-451-82567-5
ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-82566-8
ISBN Print 978-3-451-03315-5
Dranbleiben – aber wie?
Erfahrungen mit der Kirchenreform
Noch einmal: Ausgeheuchelt
Götterdämmerung in Köln
Die synodale Sackgasse
Binden und Lösen
Palliative Pastoral
Über Irrwege auf Umwegen
Corona – die alles bestimmende Wirklichkeit
Klerikalismus – der Flaschenhals der Kirche
Vatikan – die korrumpierte Wahrheit
Diözesen – die bürokratische Erstarrung
Pfarreien – das Ende der Kuschelecke
Das Christentum neu denken und leben
Meine Erfahrung mit Gott
Jesus, sei mir Jesus!
Anker und Herausforderung
Leiden und Leidenschaft
Das Beste kommt noch
Treue geht vor Qualität
Wenn das Gebet feststeht ...
Die katholische Sturheit
Ein Altar zum Festhalten
Von offenen und geschlossenen Türen
Sich unabhängig machen
Downsizing der Monarchie
Spiritualität der Gemeinschaft
Geistliche Entwicklung und mutige Emanzipation
Die Angepassten ignorieren
Don Quichotte und die Wirksamkeit
Selig die Ungehorsamen
Halt und Haltung
Engagierte Gelassenheit
Geglückte Halbheit
Humus (die Erde) und das Lachen Jesu
Demut und Selbstbewusstsein
Vor aller Leistung und nach aller Schuld
Hab doch keine Angst!
Aufräumen und aufgeräumt sein
Einfach leben
Die Kirche lieben?
Resilienz
Mut zur kreativen Ketzerei
Die Erlösung aller Menschen
Die geheimnisvolle Kraft unseres Lebens
Das Ende der Erbsünde
Abschied vom Opfertod
Kirchenrecht am Ende
Bergpredigt statt Legende
Liturgie statt Kult
Glauben ohne Kirche?
Warum nicht einfach austreten?
Warum nicht die Konfession wechseln?
Das österlich-störrische Trotzdem
Herausforderungen
Immer noch und immer wieder: Frieden
Universale Nächstenliebe statt Anbetung der Gene
Nur etwas für Gutmenschen?
Gott ist parteiisch: Politisch bleiben
Gemeinsame Sache machen
Das Kerngeschäft: Den Himmel offenhalten
Dranbleiben – warum?
Quellennachweise
Über den Autor
Viele Christinnen und Christen verlassen derzeit die Kirche. Die Gründe dafür mögen verschieden sein, der Anlass ist fast immer das Versagen der Kirchenleitung. Wer geht, muss sich kaum noch rechtfertigen; rechtfertigen muss sich der, der bleibt. Ich bleibe in der Kirche und möchte mit »Dranbleiben« aufzeigen, warum und wie ich dranbleibe an Jesus, im Gebet und auch an der Kirche, was mich dazu bewegt und mich dabei hält und trägt. Zugegeben, die Lage ist ernst, es gibt nichts zu verharmlosen oder gar zu beschönigen. Dennoch werde ich die Kirche weder lieblos demontieren noch im Chor des allgemeinen Kirchen-Bashings mitsingen. Ich glaube an Gott – mit und trotz der Kirche.
Jesus sagt im Abendmahlssaal: »Bleibt in mir, dann bleibe ich in euch. Wie die Rebe aus sich keine Frucht bringen kann, sondern nur, wenn sie am Weinstock bleibt, so könnt auch ihr es nicht, wenn ihr nicht in mir bleibt« (Johannes 15,4). Dranzubleiben gehört demnach zum Auftrag Jesu, zu seinem Testament an die Jüngerinnen und Jünger. Es geht mir in diesem Buch nicht darum, mich als jemand zu präsentieren, der allen Widrigkeiten trotzt. Ich möchte stattdessen meinen christlichen Glaubensgeschwistern Mut machen, ebenfalls dranzubleiben an Jesus, im Gebet und an der Kirche. Denn auch mir fällt das oft alles andere als leicht.
Mit dem ersten Kapitel »Erfahrungen mit der Kirchenreform« knüpfe ich an die Reaktionen auf mein Buch »Ausgeheuchelt! So geht es aufwärts mit der Kirche« (Herder 2019) an. Man könnte meinen, ich hätte zahlreiche Proteststürme oder gar Rügen von offizieller Stelle erlebt. Habe ich nicht. Das zeigt mir noch mehr: Aus dem Kirchen-Behörden-Apparat ist keine Reform zu erwarten, er kommt aus seiner wagenburgartigen Selbstbezüglichkeit nicht heraus. Deshalb müssen die Christen den Glauben und ihre Kirche selbst in die Hand nehmen, sie notfalls innerlich auch einmal loslassen, wenn sie dem Evangelium im Weg steht. Der von Rom und romtreuen Bischöfen befürchtete deutsche synodale Alleingang dient dem Evangelium möglicherweise sogar besser als eine unbewegliche Universalkirche, einfach weil er mehr Heimat bietet und von daher motiviert. Auch die Ortskirchen anderer Kontinente wären wirkungsvoller, wenn sie mehr Eigenständigkeit und Freiheit hätten. Wir sollten den Katholizismus im Plural denken.
Mit »Über Irrwege auf Umwegen« gehe ich auf die derzeitigen Probleme der Kirche ein. Was bedeutet System- bzw. Existenzrelevanz konkret? Die Kirche wird nach der Corona-Pandemie nicht mehr so sein wie vorher, vielmehr hat Corona gezeigt, wie selbstbezüglich und phantasielos sie geworden ist, und wie zurückgezogen viele Verantwortungsträger bereits sind: »Nach mir die Sintflut«, scheinen einige zu denken. Corona hat drastisch vor Augen geführt, dass die meisten Christen ganz gut ohne Kirche auskommen können, zumindest ohne eine Kirche, die auf Liturgie und Hierarchie beschränkt ist. Es ist an der Zeit, dass die Kirche ihre Themen wiederfindet, nachdem der klerikale Behördenapparat sich durch vielfaches Versagen als untauglich erwiesen hat. Aus dem Vatikan hört man von immer neuen Korruptionsfällen, die Diözesen sind bürokratisch erstarrt, die Pfarreien bieten kaum noch Heimat, weil sie größtenteils nicht zum Aufbruch bereit oder fähig sind. Wir trauern schon viel zu lange einer bestimmten Sozialform von Kirche hinterher, wir müssen das Christentum endlich neu denken und leben, und zwar von Jesus her: Kirche als Jesusbewegung, Christen als Jesusjünger.
Im nächsten Kapitel »Erfahrung mit Gott« wird es daher existenziell. Es geht um meine eigene Beziehung zu Gott. Ich habe die Erfahrung gemacht: Wer bei seiner eigenen Gottesbeziehung anknüpft, wird vom Apparat weniger frustriert werden können. Durch innere Freiheit bleiben wir näher dran als durch die Abhängigkeit vom System. Wir werden leidensfähig und leidenschaftlich wie Hiob und Jesus. Das Beste kommt noch – die Ewigkeit. Daran halte ich fest, denn sonst hätte alles keinen Sinn.
Das wird im Kapitel »Treue geht vor Qualität« vertieft. Ich beschreibe, wie ich es konkret anstelle, trotz aller Zweifel und auch Misserfolge Jesus die Treue zu halten. Ich bin eben ein katholischer Sturkopf von Kindheit an. Wenn der Papst vom Glauben abfällt, bleibe ich katholisch. Was für jede menschliche Beziehung gilt, das gilt eben auch für den Glauben: Treue geht vor Qualität. Manchmal muss man einfach durchhalten, bis die der Form innewohnende Erfahrung zurückkehrt. Wir beten immer von außen nach innen. Herz und Hand, Spiritualität und Solidarität müssen auch persönlich nahe beieinanderbleiben, man kann die Caritas nicht komplett an einen Verein delegieren, denn der »Jesus zwischen uns« ist wichtiger als der »Jesus in uns«. Steht jedoch allein der Systemerhalt obenan, kann es passieren, dass auch eine Kirche gottlos wird.
Wie aber können Christen ihren Glauben und ihre Kirche selbst gestalten? Das geht nur, wenn man sich mit Gleichgesinnten zusammentut. Im Kapitel »Sich unabhängig machen« geht es um die existenzielle Seite des Ungehorsams, um eine Selbstermächtigung nicht aus Übermut und Kritiksucht, sondern aufgrund der eigenen und gemeinsamen Berufung und Sendung. Daraus erwächst eine Selbstwirksamkeit, die nichts mit Narzissmus und Selbstdarstellung zu tun hat, sondern die eigenen Charismen sieht und in den Dienst Gottes stellt. »Selig die Ungehorsamen« galt schon immer: Reformbedarf wird oft von denen erkannt, die außerhalb des Systems sind, unabhängig und begeistert; sie bilden den archimedischen Punkt, von dem aus man auch die Kirchenwelt verändern kann.
Was sind die Haltungen, die mich dabei prägen? Darum geht es im Kapitel »Halt und Haltung«, mit dem ich wieder zu einer persönlichen Ebene zurückkehre. Es geht eben nicht nur darum, was »wir« oder »die Kirche« ändern müssen, sondern was ich konkret tue, woran ich mich halte: Gelassenheit und Humor, geglückte Halbheit und Demut (als Mut zum Dienen, nicht als Demütigung), Liebe, Zuversicht, Ordnung und Einfachheit. Dadurch entsteht Resilienz, die Fähigkeit, in Krisen standzuhalten und daran zu wachsen.
Das nächste Kapitel »Mut zur kreativen Ketzerei« geht einige theologische Probleme an, mit denen sich Christen – und die Kirche – meines Erachtens selbst ein Bein stellen, über die sie immer wieder stolpern. Auch die Theologie ist mitunter festgefahren, sie hat Angst vor bestimmten Themen und traut dem Glaubenssinn des Volkes Gottes doch nicht so recht über den Weg. Ja, schlimmer noch: Die akademische Theologie gibt derzeit für die Pastoral nicht viel her, selbst die Pastoraltheologie erschöpft sich in soziologischen Beobachtungen. Hier plädiere ich dafür, die Angst zu überwinden und darauf zu schauen, was die Menschen wirklich vernünftigerweise (noch und wieder) glauben können. Ich plädiere dafür, manches bisher als Häresie Geltendes wieder aufzugreifen, um theologisch weiterzukommen: Allversöhnung (nimmt einem endgültig die Angst), Panentheismus (versöhnt die Theologie mit den Naturwissenschaften), ein nüchterner Umgang mit Traditionen (nimmt dem Papst die Unfehlbarkeit), die Erneuerung des Kirchenrechts (befreit vom Zentralismus), das Erstnehmen exegetischer und theologischer Erkenntnisse (macht die Kirche dialogfähig), die Bergpredigt als Maßstab gerechten Handelns (macht Christen erst glaubwürdig), sowie eine Liturgie der Freiheit (befreit von der Magie zur Mystik).
Warum trete ich nicht einfach aus oder wechsele die Konfession? Manche reaktionären Hardliner haben mir dies bereits nahegelegt. Darum geht es im Kapitel »Glaube ohne Kirche?« Kirche ist eine Heimat, die man nicht emotionslos aufgibt, ähnlich dem Elternhaus, sie ist der Wurzelgrund des Glaubens. Als Katholik lebe ich im österlichen Trotzdem, der Glaube an Jesus hat etwas Trotziges, das ich nicht so einfach aufgebe. Ich ziehe mich nicht kampflos zurück, gehe nicht in die innere Emigration.
Das letzte Kapitel stellt einige Herausforderungen dar, zugleich Arbeitsthemen, denen sich die Gemeinschaft aller Christen stellen muss. Immer wieder ist es das Friedens- und Gerechtigkeitsthema, denn damit kann die Kirche dem globalen und gesellschaftlichen Zusammenhalt einen echten Dienst erweisen. In »Universale Nächstenliebe statt Anbetung der Gene« stelle ich einige gesellschaftliche Beobachtungen zur Debatte, die so noch nicht formuliert worden sind, es wird also politisch. Daraus ergeben sich Aufgaben für eine Weltgestaltung aus dem Glauben, die den Kirchenhorizont sprengen und den Blick für die Verantwortung aller Menschen guten Willens weiten. Die Kirche wird sich wie von selbst mitverändern, wenn Christen in Jesu Namen die Welt verändern.
Ein Buch über die Art und Weise, wie ich dranbleibe an Jesus und wie mir das hilft, an der Kirche nicht zu verzweifeln.
Stefan Jürgens
Um eine bessere Lesbarkeit zu ermöglichen, verzichte ich zumeist auf die Nennung beider Geschlechter sowie auf das Gender*sternchen. Gemeint sind aber immer alle (w/m/d). Wenn ich dennoch einmal beide Geschlechter nenne, tue ich es um der angedachten Kirchenreform willen: Christinnen und Christen, Diakoninnen und Diakone, Priesterinnen und Priester, Bischöfinnen und Bischöfe, die gemeinsam an Jesus dranbleiben.
Im Herbst 2019 hatte ich mich schon einmal in Buchform zu Wort gemeldet. »Ausgeheuchelt! So geht es aufwärts mit der Kirche« stand zeitlich am Beginn des Synodalen Weges und unmittelbar vor der Amazonas-Synode. Zwei Kapitel widmeten sich meinem eigenen Werdegang und meiner Motivation, Christ und Priester zu sein und von daher die Kirche reformieren zu helfen. Die weiteren Kapitel behandelten den konkreten Reformbedarf, angefangen mit den pastoralen Dauerbrennern bis hin zu den heißen Eisen, den Reizthemen von der Frauenweihe bis zum Pflichtzölibat. Das Buch endete mit einer Katechese zum Glaubensbekenntnis, die ich nicht ohne Ironie »anstelle einer Rechtgläubigkeitserklärung« verstanden wissen wollte.
Gute Freunde hatten mir zugeredet, das Buch nicht zu veröffentlichen, da ich sicherlich mit Konsequenzen zu rechnen hätte. Insbesondere der Titel sei doch sehr reißerisch und könnte missverstanden werden. Ich habe es trotzdem gewagt. Womit weder ich noch der Verlag gerechnet hatten: Das Buch war nach wenigen Tagen ausverkauft, es musste schnell nachgedruckt werden und stand drei Wochen lang in der Spiegel-Bestsellerliste. Offenbar hatte ich den richtigen Ton getroffen, nicht mit persönlichen Erfahrungen gespart und das geschrieben, was viele denken. Dass ein Priester, der doch Teil des Systems und damit abhängig ist, zu schreiben wagt, was viele denken, war für manche wie ein Befreiungsschlag. Tatsächlich kam von der Kirchenbasis her ausschließlich Zustimmung, es gab eine lange Reihe von Lesungen, fast alle in großen Sälen oder Kirchen. Ohne den zwischenzeitlich mehrfachen Corona-Lockdown wären es noch weitaus mehr gewesen.
Der reißerische Titel hatte tatsächlich zunächst einige engagierte Getaufte und kirchliche Insider davon abgehalten, das Buch zu lesen. Im Nachhinein jedoch sagten mir viele Leserinnen und Leser, es sei »ja doch ein frommes Buch«, denn bei aller Kritik käme »ein sehr loyaler Christ und Priester« zum Vorschein, der sich die Sache Jesu zu eigen gemacht habe. Wenn ich im Folgenden aus einigen Rückmeldungen zitiere, dann nur deshalb, um den krassen Unterschied zwischen Basis und Leitung, zwischen Laien und Klerikern bei der Wahrnehmung und Einordnung eines kirchenkritischen Buches zu verdeutlichen.
Eine Theologieprofessorin schrieb: »Vielen herzlichen Dank! Für Ihre klare, unprätentiöse Sprache und Argumentation, Ihr Engagement und Ihre beherzte Themenwahl. Sie sprechen mir in vielem aus der Seele und ich bin froh, dass es da und dort den einen und die andere gibt, die sich nicht mehr kopfschüttelnd in die innere Emigration oder ganz aus diesem Laden herausbewegen, sondern Klartext reden – voller Freimut. Danke. Ich will das meine dazu tun, in diesem gemeinsamen Sinne weiterzuarbeiten in der Hoffnung, dass genügend Hoffnung bleibt, um solches Engagement für lohnend und zukunftsweisend zu erleben.« Eine Ordensfrau, benediktinisch geprägt und auf Maria 2.0-Kurs: »Einfach spannend, ehrlich, schonungslos und zugleich befreiend und aufbauend. Das Buch ist ein Meilenstein. Gerade, weil es so persönlich ist und ins Wort bringt, was vermutlich viele schon lange geahnt haben. Ein Geistesblitz!« Ein Rundfunkbeauftragter schreibt über das Buch, es sei »praktisch, persönlich, poetisch, konkret, theologisch, knallhart kritisch und dann wieder erquickend fromm.« Ein kritischer Christ, der längst aus der Kirche ausgetreten war, schrieb mir: »Bis vor nicht allzu langer Zeit hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass ich mal ein Buch dieser Art lesen werde. Hätte ich es nicht gelesen, so wäre mir jedoch ein sehr kluges, fortschrittliches, teilweise anklagendes, aber auch inspirierendes Werk vorenthalten geblieben. Von der Kirche als Institution fühle ich mich in gewisser Hinsicht abgehängt. Das bedeutet aber nicht, dass ich nicht gläubig bin bzw. mich nicht an bestimmten Grundsätzen der christlichen Lehre orientiere.« Einer meiner ehemaligen Lehrer sagte: »Du sprichst mir aus der Seele. So wie Du sehe ich es auch. Jetzt erst recht. Auch ich würde deswegen nie aus der Kirche austreten. Schade, dass nicht noch mehr Priester ihre Meinung sagen oder aufschreiben.«
Eine Pastoralreferentin: »Ich habe nun zum zweiten Mal ihr Buch ›Ausgeheuchelt‹ mit wachsender Begeisterung gelesen. Es ist einfach zu köstlich! Sie beschreiben genau das, was ich so oft während meines Theologiestudiums und meiner Zeit als Pastoralreferentin erlebt habe, aber noch nicht in Worte fassen konnte. Ich hoffe, dass es zunehmend mehr geweihte Männer in der katholischen Kirche geben wird, die sich einen derart unverstellten Blick auf die eigenen misslichen Strukturen bewahren konnten. Sie haben mir viel Mut gemacht, meinen Glauben an Jesus Christus trotz allem weiterzuleben und für diese Kirche weiterzuarbeiten. Vielen Dank dafür!« Ein Kapuzinerpater meldet sich zu Wort: »Ein frecher Junge schreibt da ein Buch – Ausgeheuchelt – frech, intelligent, mutig hängt er sich aus dem Fenster, er kennt sich aus, nimmt kein Blatt vor den Mund. Der beste ›Krimi‹, den ich in den letzten Jahren gelesen habe. Das ist ein Klasse-Buch in seiner Offenheit, die viele ärgern wird (gut so). Wir sind heute auf solche Anstöße angewiesen, auch wenn sie vielen aufstoßen.« Ein Ständiger Diakon äußert sich: »Ich darf Ihnen versichern, dass meine Erfahrungen in meiner Diözese absolut zu Ihren Erfahrungen passen. Vielen Dank für Ihren Mut zur Veröffentlichung des Buchs! Gehen Sie weiter auf Ihrem guten Weg und halten Sie die Ohren steif!« Und schließlich ein kritischer Katholik aus den neuen Bundesländern, der seine Kirche mit stoischem Gleichmut erträgt: »So, jetzt habe ich Ihr ›Ausgeheuchelt‹ gelesen, und es hat mir nicht nur gefallen, sondern imponiert. Ich habe viel Kirchenkritisches gelesen, aber kaum etwas so ›Grenz-Häretisches‹ von einem, der sich dezidiert seine Kirchenzugehörigkeit nicht absprechen lassen will. Was Sie fordern, ist mit der gegenwärtigen Kirche nicht zu machen, auch nicht mit dem gegenwärtigen Papst, das wird Ihnen klar sein. Es ist aber ein gewaltiger Gewinn, dass es gesagt wurde und dass es jetzt ein Pfahl im Fleische ist, auch dass es die ›Amtskirche‹ hinnimmt, offenbar zähneknirschend. Bleiben Sie bei der Stange, möchte ich Sie bitten.«
Von Kolleginnen und Kollegen jedoch – Bischöfe, Priester, Diakone, Pastoralreferentinnen und Pastoralreferenten meiner Heimatdiözese – waren die Rückmeldungen spärlich. Dabei hatten viele das Buch gelesen, einige mich zu Lesungen in ihre Gemeinde eingeladen, aber ein persönliches Wort blieb aus. Ob die von der Kirchenbürokratie Abhängigen dermaßen verängstigt sind? Es wäre doch jetzt an der Zeit, seine Meinung ehrlich zu sagen, zumal niemand mehr mit Repressalien von Seiten der Kirchenleitung zu rechnen hat. Oder haben sie vielleicht schon innerlich gekündigt, so dass sie an überhaupt keinem Thema mehr interessiert sind? In Diskussionen rund um das Thema Kirchenreform ist mir viel Resignation begegnet. Die meisten Haupt- und Ehrenamtlichen haben die Hoffnung aufgegeben, und die Schlagzeilen angesichts weiterer Kirchenskandale scheinen ihnen recht zu geben. Die Reformer werden schlichtweg überhört, nicht wahrgenommen. Und die meisten Mitraträger genügen sich offenbar selbst.
Die Leitungsebene wiederum schwieg sich völlig aus. Niemand sprach mich auf das Buch an, obwohl in Unterhaltungen häufig durchschien, dass es viele gelesen haben mussten. Ignoranz ist ein scharfes Schwert. Die Kirche ist und bleibt eine absolutistische Monarchie, deren Oberhirten zu einem Teil immer noch wie Ludwig XIV. regieren: »L’Eglise c’est moi«, und deren Behörden nach dem DDR-Modell funktionieren, denn die Apparatschiks müssen bei Reformen befürchten, dass der Bürostuhl wackelt, auf dem sie sitzen, und manches einfach aussitzen. Immerhin gab man mir den Tipp, mich nicht allzu oft zu Wort zu melden, denn die Klerikerkirche sei »Festung«, und wer darin als »Nervzwerg« aufträte, stünde unter Beobachtung und würde »zunächst ignoriert und dann abgeschossen«.
Ein ehemaliger Mitschüler schrieb mir: »Jene, die Probleme klar aussprechen, bekommen zwar von außen oft Applaus, werden aber im Innenverhältnis nicht sonderlich wertgeschätzt. Sie gelten als Nestbeschmutzer, wenn nicht gar als Verräter. Der Umgang mit Kritik scheint mir die Achillesferse einer jeden Institution zu sein. Aber ohne Kritik kein Fortschritt, und im Kern ist der beleidigte Umgang mit Kritik verletzte Eitelkeit.« Das entspricht meiner Erfahrung: Fortschritt kommt nur durch eine differenzierte Außensicht, sozusagen mit dem archimedischen Punkt. Die Systemimmanenten gehen ja doch irgendwann nach getanem Nichtstun in den Ruhestand.
Eine besonders lustige Reaktion auf das Buch bekam ich im Zusammenhang mit Ansprachen im Hörfunk. Ich hatte kurzfristig eine Woche Morgenandachten übernommen, weil der Kollege, der zuerst auf dem Dienstplan stand, angesichts des ersten Corona-Lockdowns abgesagt hatte. Ich erstellte die Texte und reichte sie beim Rundfunkreferat ein. Es ging alles glatt durch, mit Ausnahme einer Passage, in der ich meinen Bischof kritisierte, dass er seine Priester aufgefordert hatte, die heilige Messe ganz allein zu zelebrieren. Ich empfand dies als unsolidarisch und klerikal. Diese Passage musste am Tag vor der Aufnahme gestrichen werden, angeblich aus Zeitgründen, der Text wäre sonst zu lang. Erst nach dem Termin im Aufnahmestudio gab der freundliche Kollege zu, er hätte »Befehl von oben« erhalten, mich nur dann im Hörfunk sprechen zu lassen, wenn es dabei keine Kirchenkritik gäbe. Und dabei wird das Evangelium erst lebendig durch die Freiheit des Wortes. Ein System jedoch, das man durch Angst zusammenzuhalten versucht, kann keinen Bestand haben.
Autoritäre Systeme können in unserer modernen westlich geprägten Welt keinen Bestand haben. Die Entwicklungen der letzten Jahre und vor allem Monate zeigen: Das klerikale System hat endgültig ausgedient. Es gibt innerhalb des jetzigen Systems auch fähige Leitungspersönlichkeiten, die glaubwürdig sind und einen guten Job machen. Angepasste, charakterlich und fachlich unfähige sowie autoritäre Leitungspersönlichkeiten jedoch haben ein System aus Macht und Angst um sich aufgebaut, sie werden von der Gesellschaft, den Medien und neuerdings auch von vormals treuen Katholiken nicht mehr ernst genommen, wenn nicht sogar ausgelacht. Solche Leitungspersönlichkeiten haben Beraterinnen und Berater sowie ein ganzes Heer von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Sind diese etwa alle unfähig? Das kann nicht sein. Also liegt es nicht nur an einzelnen Klerikern, an aus der Zeit gefallenen Monarchen, sondern am System. Und genau dieses System ist jetzt am Ende.
Keinen Bestand kann beispielsweise ein autoritäres System wie im Erzbistum Köln haben. Die Erzdiözese hatte bei einer Münchener Anwaltskanzlei ein Gutachten über sexuelle Gewalt und deren Aufklärung in Auftrag gegeben. Als das Gutachten der Bistumsleitung missfiel – offiziell aus methodischen Gründen, das Gutachten sei »nicht rechtssicher« – wurde es nicht veröffentlicht. Der Beirat der von Missbrauch Betroffenen wurde zwar schnell mit einbezogen, aber nur, um dessen Zustimmung zum Prozedere zu erhalten und ihn vor den klerikalen Karren zu spannen, ihn also zu instrumentalisieren. Wie andere Beiratsmitglieder fühlt sich Karl Haucke, Sprecher des Beirats für Betroffene im Erzbistum Köln, vom Erzbistum bei der Entscheidung, die fertige Untersuchung einer Münchner Rechtsanwaltskanzlei nicht zu veröffentlichen, instrumentalisiert: »Ich schlafe kaum noch, ich hab’ wieder Albträume, ich musste meine Medikation ändern.« »Ich kann diesen Rücktritt nicht vermeiden in dem Augenblick, wo ich fühle, dass ich beschädigt werde«, so Haucke gegenüber MONITOR. Rücktritte innerhalb des Betoffenenbeirats sowie dessen kompletter Rückzug folgten. Man gab ein zweites Gutachten in Auftrag. Ein riesiger Pressewirbel um Schuld und Transparenz brach aus, bei dem es um Kardinal Rainer Maria Woelki herum immer enger wurde, man legte ihm öffentlich den Rücktritt nahe.
Ein weiteres Trauerspiel ereignete sich in der Kölner Studierendengemeinde. Diese hatte ein Papier verfasst, das innerkirchlich mehr Transparenz und Partizipation sowie ein Überdenken der Sexualmoral im Hinblick auf das eigene Gewissen forderte. Die Homepage, auf der das Papier veröffentlicht war, wurde vom Erzbistum Köln kurzerhand abgeschaltet, offiziell, weil eine »beauftragte Veränderung auf der Homepage nicht vorgenommen werden konnte«. Ein solches Verhalten erinnerte an diktatorische Führungsstile wie in der ehemaligen DDR und an autoritäre Staaten wie die Türkei oder Belarus. Das Positionspapier verbreitete sich auch ohne die Homepage, was für Woelki ein glattes Eigentor und ein weiteres Eingeständnis seiner Weltfremdheit bedeutete. Wer kann sich heute noch erlauben, so direktiv in die Meinungsbildung einzugreifen? In liberalen Demokratien eigentlich niemand.
Zwischenzeitlich kam eine weitere Vertuschung ans Licht. Woelki hatte den Missbrauch durch einen Priester nicht wie vorgeschrieben nach Rom gemeldet, angeblich, weil der Täter schon sehr alt und nicht mehr vernehmungsfähig gewesen sei. Schnell kamen Vermutungen auf: Geschah dies etwa auch, weil sich Woelki dem Täter kollegial und freundschaftlich verbunden fühlte? Immerhin war dieser einmal sein väterlicher Kollege und Ausbildungspfarrer gewesen, ein Weggefährte also.
Zu Weihnachten 2020 bat der Erzbischof von Köln um Vergebung, aber nicht für seinen unprofessionellen Umgang mit dem Gutachten oder die nachgewiesene Vertuschung, sondern nur für die Unruhe, die seiner Meinung nach in den Seelen seiner angeblichen Schäfchen entstanden war. Anstatt die eigene Schuld einzugestehen, wurden die Medien angegriffen, ihnen wurde die Verantwortung für Ärgernis und Empörung in die Schuhe geschoben. Als wenn die Christen einer Diözese nichts anderes im Sinn hätten, als ihrem Bischof blind zu gehorchen, keinen weiteren Ärger zu machen oder wenigstens mit dem armen Kerl solidarisch zu sein und Mitleid zu haben. Ruhe ist die erste Christenpflicht? Woelki bat wörtlich dafür um Entschuldigung, »was die von sexueller Gewalt Betroffenen und Sie in den letzten Tagen und Wochen vor Weihnachten im Zusammenhang mit dem Umgang des Gutachtens zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt in unserem Erzbistum, was sie an der Kritik darüber und insbesondere auch an der Kritik an meiner Person ertragen mussten.« Schlimmer geht’s nimmer.
Acht Journalisten waren zu einem Hintergrundgespräch über das erste Missbrauchsgutachten, das im Giftschrank verschwunden war, eingeladen, sollten jedoch vom Erzbistum Köln juristisch verpflichtet werden, über das Gesagte zu schweigen, was sie zu Recht und um ihrer Wahrhaftigkeit und Berufsehre wegen einmütig verweigerten, es erinnerte nur allzu sehr an Stasimethoden. Ein Kollege von der WELT war unter den acht Journalisten und berichtete danach, dass die vorgelegte Verschwiegenheitserklärung von einer Anwaltskanzlei erarbeitet worden sei, die bereits den türkischen Präsidenten Erdoğan und die AfD beraten und juristisch vertreten habe und auf ihrer Homepage damit werbe, »mit Zuckerbrot und Peitsche« dafür zu sorgen, dass unliebsame Informationen die Medien erst gar nicht erreichten. Es ist bemerkenswert, dass das Erzbistum Köln sich überhaupt von einer solchen Kanzlei beraten lässt, und mit was für Leuten man sich hier gemein macht.
Ein Pfarrer aus Dormagen legte aus Sorge um die Glaubwürdigkeit der Kirche seinem Erzbischof öffentlich den Rücktritt nahe, woraufhin der Personalchef ihm prompt mit dienstrechtlichen Konsequenzen drohte. In kirchlichen Kollegenkreisen herrscht die Devise: »Gehe nur zum Fürsten, wenn du gerufen wirst.« Die katholische Kirche ist eine Monarchie, und in einer Monarchie ist jede Kritik sofort Majestätsbeleidigung. Wenn Angst und Macht eine Koalition eingehen, dann gnade uns Gott! Nur zehn Tage später wurde der Pfarrer rehabilitiert, nachdem viele Medien über den Fall berichtet und damit öffentlichen Druck aufgebaut hatten. Eine Solidaritätsaktion der Priesterräte der benachbarten Diözesen verlief im Sande; E-Mails, die ich in dieser Sache an Kollegen geschrieben hatte, blieben schlichtweg unbeantwortet. Meines Erachtens zeigte sich hier erneut eine Mischung aus Loyalität und Korpsgeist, Karrierismus und Angst. Wenn es hart auf hart kommt, werden aus gestandenen Pfarrern wieder fromme Kirchensöhne. Wenig später zeigten Tausende von Christinnen und Christen ihren Unmut über Woelki, darunter endlich auch viele Pfarrer. Der Diözesanrat kündigte die Zusammenarbeit mit dem Kardinal auf. So etwas gab es noch niemals zuvor.
Woelki gab zu, »Fehler gemacht«, aber sein »Gewissen geprüft« zu haben. Er vertraute seine Sache dem Vatikan an. Laut geltendem Kirchenrecht hatte der dienstälteste Bischof der Kölner Kirchenprovinz über die Nuntiatur bereits das vorgeschriebene Verfahren beim Vatikan beantragt, wofür er kräftig gelobt wurde. Seltsam, dass es in Kirchenkreisen schon lobenswert ist, wenn jemand seine Pflicht tut und gegen einen ranghohen Kleriker und Kollegen überhaupt etwas unternimmt. Der Vatikan jedoch ließ die dreißigtägige Frist verstreichen und tat zunächst einfach nichts. Nur im Absolutismus und in Diktaturen steht der Gesetzgeber über dem Gesetz, er muss sich selbst nicht daran halten. Man denkt an die sprichwörtlichen Krähen, die einander kein Auge aushacken, und an die klerikalen Seilschaften, die miteinander etwas aushecken. Sie machen alles unter sich aus. Woelki selbst sprach von einem »System aus Schweigen, Geheimhaltung, mangelnder Kontrolle und unklarer Verantwortung.« Der Vatikan wiederum konnte keine Pflichtverletzung feststellen – wenig überraschend. Im Gegenteil, alles andere wäre in diesem System überraschend gewesen.
Kollegen wie der Hamburger Erzbischof Stefan Heße sprachen ebenfalls niemals von persönlicher Schuld, sondern immer nur von Mitverantwortung und Fehlern, der ehemalige Aachener Bischof Heinrich Mussinghoff gab Überforderung zu. Also Schwamm drüber, weil man es halt nicht besser gewusst hat oder nicht besser konnte? Nach außen wird ein Desaster als Malheurchen präsentiert. Hauptsache, die Monarchen bleiben auf ihrem Thrönchen sitzen – oder nehmen eine Auszeit.
Das Erzbistum Köln hat für die beiden Gutachten sowie die PR-Beratung rund um diese Angelegenheit weitaus mehr Geld ausgegeben als für die Zahlungen an Opfer sexuellen Missbrauchs (»Anerkennung des Leids«). Hierarchie kostet Geld, viel Geld. Wenn ein Kardinal seinen Kopf aus der Schlinge ziehen will, rollt der Rubel schnell und reichlich, aus welchen Kassen auch immer. Woelki und manche seiner Kollegen haben offenbar kein Schuldbewusstsein, und das hat seinen Grund: Sie waren von Anfang an in einem System, das auf Anpassung angelegt ist. Sie sind nicht böse, sondern das System ist krank, und diejenigen, die sich darin bewegen, sind infiziert. Viele in diesem System glauben mit fester Naivität daran, von Gott erwählt zu sein und deshalb gar nicht abdanken zu können.
Woelki hatte also sein Gewissen befragt und war zu dem Schluss gekommen, richtig gehandelt zu haben. »Prima«, habe ich gedacht, »ein Kirchenmonarch kann also per Gewissensentscheid bestimmen, was Recht ist und was nicht. Seine Intuition, sein Empfinden steht über allem, man muss nur irgendetwas behaupten, wie praktisch!« Am 23. Februar 2021 kommentierten die Tagesthemen, die katholische Kirche sei »eine gnadenlose Kirche, die ihre Gläubigen um Gnade bittet«. Das war ein Volltreffer: Gerade im Erzbistum Köln, in dem gnadenlos in den Betten und Herzen angehender junger Theologinnen und Theologen geschnüffelt wird, Chefärzte und Erzieherinnen gekündigt werden, wirbt ein Kardinal um Gnade und Verständnis, ohne auch nur im Ansatz irgendein Fehlverhalten konkret zuzugeben. Diese Form der Kirche ist zum Sterben verdammt.
Ich kenne einen Kollegen, der zwanzig Jahre lang in der Priesterausbildung tätig war. Als Bischof sagte er später, er habe »zwanzig Jahre lang Priester erzogen«. Die Wortwahl ist treffend. Es kommt gar nicht darauf an, erwachsene und reife Seelsorger auszubilden, sondern Priester zu »erziehen«, sie in eine bestimmte Frömmigkeit zu zwingen und bestimmten Autoritäten unterzuordnen. Das System ist auf Unreife angelegt, die Leitungspersönlichkeiten sind wie Kinder, die zeitlebens am Nabel von Mutter Kirche hängen und ehrfürchtig zu Vater Bischof bzw. Papa Papst aufschauen.
Kurz vor der Veröffentlichung des zweiten Gutachtens wechselte der Interventionsbeauftragte des Erzbistums Köln, Oliver Vogt, seine Arbeitsstelle und trat daraufhin aus der Kirche aus. Er und die langjährige Opferbeauftragte Christa Pesch konnten die Unwahrhaftigkeit und den klerikalen, auf die Institution bezogenen Umgang mit der Wahrheit nicht mehr ertragen. Sie waren für das zweite Gutachten trotz ihrer genauen Faktenkenntnis erst gar nicht befragt worden, man schaute stattdessen nur in die schlecht geführten Akten. Einer der für das erste Gutachten verantwortlichen Rechtsanwälte bemerkte, die Kirche kümmere sich nur dann um die Opfer, wenn die Presse hinschaue, in Wirklichkeit stehe stets der Schutz der Institution im Vordergrund.
Das ersehnte zweite, nun offenbar rechtssichere Kölner Gutachten erschien am 18. März 2021. Die darin genannten Zahlen von Opfern und Tätern waren höher als erwartet, die Namen derer, die verschiedenste Pflichtverstöße begangen hatten, wurden schonungslos aufgeführt. Die Kanzlei zählte dezidiert die Anzahl der Verstöße gegen die Aufklärungspflicht, gegen die Verhinderungspflicht oder gegen die Opferfürsorge und sprach gar von einer »systembedingten Vertuschung«. Einige der Personen aus dem Gutachten wurden prompt außer Dienst gestellt, andere, mittlerweile im bischöflichen Amt, boten dem Vatikan umgehend ihren Rücktritt an, darunter der Hamburger Erzbischof Heße, ehemals Personalchef und dann Generalvikar, sowie zwei Kölner Weihbischöfe. Womit niemand gerechnet hatte: Woelki selbst wurde vollständig entlastet. Schwer belastet hingegen wurden seine beiden Vorgänger Joseph Höffner und Joachim Meisner; letzterer hatte besonders viele Pflichtverstöße auf dem Kerbholz und die Vorfälle in einer »Gift-Akte« mit dem Titel »Brüder im Nebel« gesammelt. Was für ein bitterer Euphemismus, der entlarvt, dass es schon immer um den Schutz des Klerus und der Institution gegangen war, und nicht um die Sorge für die Opfer. Bei der Pressekonferenz zur Vorstellung des Gutachtens wurde angemerkt, dass man Täter unter den Laien stets sofort angezeigt, bei Klerikern jedoch damit gezögert habe.
Das zweite Gutachten war eine reine Rechtskontrollprüfung auf Basis der Akten, es ging um Fälle und Zahlen, als wenn man persönliche Schuld an der Anzahl von Rechtsbrüchen festmachen könnte und nur derjenige um sein Amt fürchten muss, der genug Missetaten auf dem Kerbholz hat. Das Gutachten ging nur am Rande auf die Opfer und Betroffenen ein und verzichtete gänzlich auf moralische Bewertungen. Man mag einwenden, dass Juristen für das Recht und nicht für die Moral zuständig sind, doch: Viele der Vertuscher – nicht nur in Köln – kannten die Moral, hatten sie aber um der Institution willen vernachlässigt. Der Betroffenenbeirat der Deutschen Bischofskonferenz kommentierte voller Schmerz unter der Überschrift »Brüder im Nebel – Betroffene im Dunkeln«: »Wie für viele andere Betroffene auch, so waren die Ereignisse im Kontext der Veröffentlichung des Kölner Gutachtens für uns Mitglieder des Betroffenenbeirats bei der Deutschen Bischofskonferenz irritierend und schmerzhaft.« Und: »Im vorliegenden Gercke-Gutachten werden sicherlich die juristischen Pflichtverletzungen in ausreichendem Maße in den Blick genommen. Die systemischen Ursachen wie Sexualmoral, Zölibat, Klerikalismus, Männerbündigkeit oder fehlende Partizipation von Frauen sind aber weitestgehend ausgeblendet oder werden gar nicht betrachtet. Dies steht ganz im Gegensatz zur Herangehensweise der MHG-Studie und anderer Gutachten. Kardinal Woelki hat die systemischen Ursachen in seinem Pressestatement zur Veröffentlichung des Gutachtens nochmals infrage gestellt, indem er ein weiteres Mal den Zusammenhang zwischen Missbrauchs-Aufarbeitung und den kirchenpolitischen Fragen relativiert bzw. abgelehnt hat.«
Warum nun hat Woelki das erste Gutachten nicht veröffentlicht? Es war, anders als das zweite, nicht ausschließlich juristisch geblieben, sondern enthielt konkrete Reformvorschläge angesichts der systemischen Ursachen sexueller Gewalt, unter anderem in Bezug auf eine veränderte Sexualmoral, zur Priesterausbildung und zur Gleichstellung der Frau. Das jedoch ging dem konservativen Woelki zu weit. Er wollte die Vergangenheit juristisch aufgearbeitet haben, sein monarchisches und frauenfeindliches System jedoch im Kern aufrechterhalten, lediglich Veränderungen im Kirchenrecht anstoßen. Der Kirche jedoch muss das Heil der Seelen oberstes Gesetz sein (CIC can. 1752), nicht nur die korrekte juristische Aufarbeitung einer Vergangenheit, aus der man für die Zukunft nicht lernen will. Im Mai 2021 lud eine Düsseldorfer Pfarrei Kardinal Woelki als Firmspender aus, im selben Monat schickte Papst Franziskus zwei Visitatoren ins Erzbistum, die für Klarheit sorgen sollten. Beides fand ein starkes Medienecho, viele Beobachter ahnten, dass der Bischofsstuhl nun doch wackeln könnte.
Wieder taucht die Frage auf, auf welchen Wegen man in der katholischen Kirche überhaupt Leitungsverantwortung erhält. Nämlich nicht, indem man selbst denkt und womöglich das System in Frage stellt, sondern, indem man es stützt, sich ihm unterordnet und in allem anpasst. Es sollte nun so aussehen, als ob Woelki unschuldig sei und sogar schonungslos durchgegriffen hätte. Ganz sicher wird ihm der Vatikan recht geben und ihn innerkirchlich reinwaschen. Ich glaube ihm trotzdem nicht.
Vielmehr frage ich: Warum hat man so unsagbar viele Kirchenaustritte in Kauf genommen, wo doch sowieso alles ans Licht kommen würde? Andere Diözesen hatten die für sie bestimmten Gutachten der Münchener Anwaltskanzlei bereits veröffentlicht, sie hatten einen Aufklärungswillen und eine Transparenz gezeigt, die von der Öffentlichkeit belohnt worden waren. Aber offenbar hatte man im Erzbistum Köln besonders viel Angst und war besonders abhängig von mächtigen innerkirchlichen Kreisen. Wie viele Ängste um die eigene Erwählung und Unantastbarkeit müssen bei der Ablehnung des ersten Gutachtens eine Rolle gespielt haben? Als Antwort auf diese Fragen fällt mir nur eines ein: Führungsschwäche.