Fromme Gefühle sind nicht genug - Stefan Jürgens - E-Book

Fromme Gefühle sind nicht genug E-Book

Stefan Jürgens

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Beschreibung

Stefan Jürgens ist bekannt dafür, dass er Position bezieht. Als Pfarrer muss er das auch: Eine Frau bittet ihn, Taufpatin werden zu dürfen. Da gibt es nur ein Problem. Sie ist aus der Kirche ausgetreten. Aber das darf ihr Papa auf keinen Fall erfahren. Stefan Jürgens sagt ganz klar: Nein. Aber nicht, weil sie der Kirche den Rücken gekehrt hat, sondern weil sie o ensichtlich nicht erwachsen genug ist, dies vor ihrem Vater zu vertreten. Gott und die Welt, Jesus Christus und den eigenen Glauben ernst nehmen – das ist sein großes Thema. In persönlichen Essays erzählt Stefan Jürgens, an was er glaubt. Und er verschweigt auch nicht, was er für falsch hält. Eine starke Stimme, wenn es um Glaube und Kirche geht!

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Stefan Jürgens

Fromme Gefühle sind nicht genug

Warum Glaubeerwachsenwerden muss

Ein camino.-Buch aus der

© Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart 2018

Alle Rechte vorbehalten

Für die Texte der Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift

vollständig durchgesehene und überarbeitete Ausgabe

© Katholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart 2016

Alle Rechte vorbehalten

Satz und Gestaltung: wunderlichundweigand

Druck und Bindung: finidr s.r.o., Český Těšín,

Tschechische Republik

www.caminobuch.de

ISBN 978-3-96157-063-8

Auch als E-Book erhältlich unter ISBN 978-3-96157-985-3

Inhalt

Vorwort: Zwergenglaube

Standpunkte – Nach dem Weg fragen

Mein Zeugnis

Warum ich glaube

Vertrauen

Das Gegenteil von Angst

Zu groß

Von erwachsenen Eltern

Entscheidung

Führe uns in der Versuchung

Aufbruch

Kein frommer Heimatverein

In den Himmel

Mal katholisch, mal evangelisch

In der Welt

Gott ist parteiisch, Glaube politisch

Mein Traum

Warum ich Priester bin

Denkanstöße – Aus dem Glauben leben

Begegnungen

Kumpanen oder Eigenbrötler

Geistliche Übungen

Wege und Ziele

Heiliger Alltag

Entkirchlichung

Zehn Prozent Erfolg

Zum Schluss: Das Ende der Religion

Der Autor

Vorwort:

Zwergenglaube

Wenn ein Kind nicht wächst, ist es irgendwann ein Zwerg. Und der viel beschworene Kinderglaube ist in Wirklichkeit wohl nur ein Zwergenglaube, der bei der erstbesten Lebenskrise wie ein Kartenhaus zusammenfällt. Die religiösen Kinderschuhe sind einfach zu klein, um damit echte Glaubenswege gehen zu können.

Tatsächlich ist die Glaubensbildung der meisten Christinnen und Christen über eine gewisse religiöse Sozialisation nicht hinausgekommen. Deshalb erwarten sie auch nicht viel mehr als fromme Gefühle, besonders an den Rändern des Lebens und bei den kirchlich verzierten biografischen Feierlichkeiten, die immer noch gerne angenommen werden.

Fromme Gefühle sind aber nicht genug, der Glaube muss erwachsen werden. Denn beim Glauben geht es ums Ganze. Um alles. Es geht um Sinn und Unsinn, Leere und Erfüllung, Tod und Leben. Ein Leben ohne den Gott und Vater Jesu Christi kann ich mir deshalb nicht vorstellen.

Auch nicht ein Leben ohne Kirche. Und das, obwohl ich kritisch bin. Ich gehöre zu den Kirchenreformern, die sich eine glaubwürdige Kirche anders vorstellen. Ich arbeite mit an einer Kirche, die sich nicht ängstlich vor der Postmoderne verkriecht. Kirche – das sind für mich diejenigen, die glauben, während ich zweifle, und die beten, wenn ich es nicht kann.

Als Pfarrer gehört es zu meinem Job, in gebotener Kürze über Glaube und Religion, Welt und Kirche zu sprechen. Aber was kann ich in ein paar Minuten schon über diese zentralen Dinge unseres Lebens sagen? Es muss erzählend sein, damit man an der Geschichte dranbleibt. Es muss persönlich sein, weil persönliche Glaubwürdigkeit das Evangelium besser transportiert als theologische Richtigkeit oder kirchliches Dogma. Es muss kurz und prägnant sein, darf keine theologischen Vokabeln oder Floskeln enthalten und kann nur einen einzigen Aspekt der christlichen Botschaft aufzeigen – und das selbst auf die Gefahr hin, dass hier verkürzt oder vereinfacht wird.

Die Essays und Gedanken in diesem Buch sind ursprünglich fürs Zuhören entstanden und wurden in verschiedenen Formaten des WDR gesendet. Zusammen spiegeln sie wider, was ich über Glaube, Religion und Kirche denke und welche Erfahrungen ich in den letzten Jahren damit machen durfte. Im ersten Teil findet man grundlegende Positionen, im zweiten kurze Denkanstöße für den Glaubensalltag. Mit dem abschließenden Beitrag »Das Ende der Religion« gehe ich aufs Ganze, an die Wurzel und an das Wesen des Christentums.

Stefan Jürgens

Standpunkte

Nach dem Weg fragen

Mein Zeugnis

Warum ich glaube

Warum ich glaube – das ist ein sehr persönliches Thema. Warum glaube ich überhaupt? Und warum glaube ich immer noch? Warum schließlich fällt es vielen heute so schwer? Ich will einige Antworten versuchen. Kein Katechismus, eher ein Zeugnis.

Eine erste Antwort: Ich glaube, weil ich den Glauben geerbt habe. Meine Eltern glauben. Ich habe mir diesen Glauben einfach abgeguckt. Ich habe nachgeahmt, was ihnen wichtig war. In meiner Heimatgemeinde fand ich Christen, die glaubwürdig waren. Ich habe zunächst nicht in Frage gestellt, was dort üblich war, habe einfach mitgemacht. Aber: Wenn das schon alles gewesen wäre, dann würde ich jetzt nicht mehr glauben. Die Tradition, in der ich aufgewachsen bin, war wichtig, aber sie konnte nicht alles sein.

Daraus ergibt sich meine zweite Antwort: Ich glaube, weil ich mich irgendwann dafür entschieden habe. Diese Grundentscheidung nennt die Bibel: Bekehrung. Das griechische Wort für »Bekehrung« lautet: Metanoia. »Metanoiete« heißt aber nicht: »bekehrt euch«, wie es meistens etwas moralisierend übersetzt wird, sondern es heißt wörtlich: »denkt um« bzw. »denkt größer«. Denkt größer von Gott! Denkt so, wie Jesus von ihm gedacht hat. Also kann ich sagen: Als Erwachsener habe ich mich bekehrt. Mich für Jesus Christus entschieden.

Aus dieser Erfahrung ergibt sich eine dritte Antwort auf die Frage, warum ich glaube.

Ich glaube, weil es vernünftig ist. Wer einmal seinen Kinderglauben in Frage gestellt hat, sucht nach Argumenten. Sicher, es gibt für Gott keine Beweise. Niemand kann Gott beweisen, so wenig wie man Liebe beweisen kann. Aber es gibt gute Gründe zu glauben. Diese Gründe habe ich für mich geklärt.

Dennoch, ich muss es ganz deutlich sagen: Wenn es das Christentum in seiner westeuropäisch-aufgeklärten Form nicht gäbe, wenn ich also glauben müsste, ohne zu verstehen, oder wenn ich – schlimmer noch – nur Autoritäten zu gehorchen hätte, dann wäre ich lieber Agnostiker. Wohlgemerkt: nicht Atheist, sondern nur unentschieden. Ohne vernünftige Argumente würde ich mich heraushalten.

Warum ich glaube. Eine vierte Antwort auf die Frage, die ich mir gestellt habe: Ich glaube, weil es Jesus gibt. Denn ich bin davon überzeugt: Wir können nicht von Gott reden, ohne von Jesus zu sprechen. Denn der Name »Gott« ist ambivalent, er kann eine Chiffre sein für alles Mögliche, für jeden Fanatismus und fast jede Dummheit. Der Name »Jesus« aber kann das nicht!

Auf den Koppelschlössern der Soldaten im Ersten Weltkrieg stand noch: »Gott mit uns«. Niemand hätte – auch schon damals! – gewagt, darauf zu schreiben: »Jesus mit uns«. Weil in Jesus Gott so nahe ist, so voller Liebe und Erbarmen, so eindeutig, dass man seinen Namen nicht mehr missbrauchen kann.

Manche fragen: Was hat uns Jesus eigentlich gebracht? Ist die Welt durch ihn etwa besser geworden? Darauf möchte ich ganz einfach antworten: Jesus hat Gott gebracht! Er hat den nahen, barmherzigen Gott gebracht, der keine Opfer will, sondern Barmherzigkeit. Den liebenden Gott, der mir jede Angst nimmt: die Angst vor dem Tod genauso wie die Angst vor dem Leben. Jesus nennt ihn »Abba, lieber Vater« und deshalb nenne ich ihn auch so.

Daraus ergibt sich eine neue Antwort auf die Frage, warum ich glaube. Ich glaube, weil ich ewig leben werde. Ich glaube fest daran, dass Jesus vom Tod auferstanden ist. Sonst wären seine Jünger für diese Botschaft nicht in den Tod gegangen. Das bedeutet für mich: Mein Leben kann nicht mehr scheitern. Ich kann mich einsetzen für andere, ohne Angst zu haben, dabei etwas zu verlieren oder zu verpassen. Ich bin gelassen im Vorletzten, weil ich geborgen bin im Letzten.

Und deshalb glaube ich auch: um dieser Erde willen, um der Menschen willen. Wenn man sich für nichts und niemanden mehr einsetzen mag, wozu ist man dann noch auf der Welt? Ich bin fest davon überzeugt: Es ist Gottes Erde, die wir bewohnen, und es sind seine Menschen, mit denen wir leben. Deshalb ist es Gott nicht egal, was aus seiner Erde wird. Und darum ist es auch mir nicht egal. Ich möchte mich da einbringen, möchte mitmischen. Wenn ich vielleicht auch nur ganz wenig verändern kann – ich will es versuchen. Wenn auch das Reich Gottes für mich eine Nummer zu groß ist – ich vertraue darauf, dass Gott mich braucht.

Deshalb also glaube ich: Weil ich es so erfahren und gelernt habe. Weil ich mich irgendwann dafür entschieden habe. Weil es vernünftig ist. Weil es Jesus gibt. Weil ich auferstehen werde, und weil ich davon überzeugt bin, dass ich hier auf der Erde gebraucht werde.

Mein Glaubensbekenntnis heißt: Ich glaube Jesus seinen Gott. Das klingt zuerst wie falsches Deutsch, so, als wäre der Dativ wirklich dem Genitiv sein Tod. Aber ich meine es anders. Ich glaube ihm – diesem Jesus im Dativ – seinen Gott. Ich glaube ihm seinen Gott, das heißt: Ich glaube, dass der Gott und Vater Jesu wirklich der Schöpfer der Welt ist. Und ich glaube, dass Gott wirklich so ist, wie Jesus von ihm gesprochen hat. Wie er mit ihm gelebt hat. Wie er ihn geliebt hat.

Aus jeder meiner Antworten folgen neue Fragen über den Glauben. Als Pfarrer muss ich mich ihnen immer wieder stellen. Und darüber mit anderen Christinnen und Christen im Gespräch bleiben. Deshalb wähle ich für weitere Gedanken die Form des Dialogs.

Ich finde, du sprichst überzeugend von deinem Glauben, sehr persönlich auch. Aber: Kennst du denn gar keine Zweifel? Ist für dich immer alles so sonnenklar?

Nein, selbstverständlich nicht. Ich habe auch meine Zweifel. Außer der Existenz Gottes habe ich schon alles in Zweifel gezogen, was die Kirche lehrt. Wirklich alles außer der Existenz Gottes und dem ewigen Leben. Beides war mir immer gewiss. Glauben ist eben kein Zustand, sondern ein Weg. Dazu gehört das Auf und Ab, das Finden und Verlieren, die Leere und die Fülle. Auch für mich.

Was meinst du, warum fällt es vielen heute so schwer, zu glauben? Hat Religion nicht alle Selbstverständlichkeiten verloren? Für mich war früher auch alles klar. Aber heute?

Die Menschen waren nicht religiöser als heute, aber ihre Welt war religiöser, sie war voller Rituale, Zeichen und Geläufigkeiten. Kultur und Religion waren noch ganz nahe beieinander, sie sahen einander zum Verwechseln ähnlich. Und »bei Kirchens« machte man einfach mit, aber man machte sich weiter keine Gedanken. Das aber funktioniert nicht mehr. Die Menschen glauben nicht mehr wie von selbst. Man glaubt, weil man sich für Gott entschieden hat. Oder wenigstens, weil man Leute kennt, die sich entschieden haben und von denen man sich irgendwie mitziehen lässt.

Du hast gesagt: »Das funktioniert nicht mehr«. Hat Religion denn früher funktioniert? Kann man das überhaupt sagen, dass Religion eine Funktion hat?

Na klar. Seit ihrer Entstehung war Religion vor allem eine seelische Krücke, die man sich unter den Arm klemmt, um mit der Angst fertigzuwerden, der Angst vor dem Leben und der Angst vor dem Tod. Religion war ein Mittel gegen Daseinsangst.

Und was glaubst du, warum ist Religion funktionslos geworden?

In archaischen Religionen war das Göttliche anziehend und schrecklich zugleich. Deshalb musste man sich absichern gegen Unheil, indem man die Götter gnädig stimmt und für seine Sünden Sühne leistet. Man hatte Angst vor Unwetter, Krankheit und Krieg. Um sich mit dem Göttlichen gut zu stellen, brachte man Opfer dar. Alles, was Menschen nicht erklären konnten, fühlte sich irgendwie göttlich an.

Und heute?

Heute ist das Leben hundertprozentig entzaubert, vor allem durch Wissenschaft und Technik. Es scheint für fast alles eine Erklärung zu geben. Deshalb muss vor dem Göttlichen niemand mehr zittern und niemand mehr staunen. Auch die Naturgewalten sind entzaubert. Deshalb muss niemand mehr vor einem Gewitter Angst haben und niemand muss um eine gute Ernte bitten. Alles wächst, weil die Genetik es so will, nicht aber das Göttliche. Vor allem sind Sünde und Schuld kein Problem mehr. Nicht der einzelne Mensch sündigt. Immer sind die Umstände, die Gesellschaft oder die Erziehung schuld. So kann man sich guten Gewissens selber leidtun – und braucht niemanden um Verzeihung zu bitten, am wenigsten Gott. Unschuldswahn nennt man das.

Du meinst also, man macht alles nur noch mit sich selbst aus?

Genau. Der Mensch fühlt sich heute nicht mehr abhängig, sondern selbstständig. Er hat sich mit seinen »existenziellen Beleidigungen« abgefunden: Er hat sich damit abgefunden, nicht mehr Mittelpunkt des Weltalls zu sein, Zufall der Evolution zu sein, ja nicht einmal mehr Herr seiner selbst. Wozu bedarf es eines letzten Lebenssinns, wenn der Mensch sich selbst als bedeutungslos empfindet?

Wie ist Religion überhaupt entstanden?

Religion entstand mit der Sesshaftwerdung, also mit Ackerbau und Bevorratung. Dadurch hatten die Menschen Zeit zum Nachdenken, Zeit für Kult und Kultur. Bestattungsriten waren die ersten kultischen Handlungen. Aber auch hier spielte die Angst die größte Rolle. Man hatte Angst vor dem Tod und Angst vor den Toten. Heute haben sich die meisten mit ihrer Endlichkeit abgefunden.

Und wie ist es mit den verfassten Religionen, mit der Hierarchie?

In archaischen Gesellschaften stellte man sich das gesamte Weltgefüge hierarchisch vor: Da musste es einfach eine »oberste Instanz« geben, das Göttliche, damit sich die Autoritäten von diesem her legitimieren konnten. Heute misstraut man jeder Autorität, auch der religiösen und kirchlichen, oft aus gutem Grund.

Aber ich finde, der Mensch braucht auch Werte, und die werden doch von der Religion begründet und geschützt.

Mag sein. Aber heute meinen die meisten, man könne auch ohne Religion ein guter Mensch sein. Das mag stimmen, wenn es auch am Ende hoffnungslos wäre. Manche sehen in der Religion eine Werteinstanz, aber das wird morgen vorbei sein.

Was wäre Europas Humanität ohne das Christentum? Die Kirche war doch von Anfang an für die Armen da. Sie hat Spitäler gebaut und Armenküchen unterhalten. Sie hat die Arbeiter gesammelt und für Bildung gesorgt.

Heute sind alle diese Funktionen in öffentlicher Hand. Viel Evangelium ist schon drin in der Welt, es geht ganz gut ohne Kirche. Die Welt wird davon nicht schlechter.

Und die Menschen heute haben einfach einen größeren Horizont!

Früher war das eigene Dorf die Welt. Heute ist die Welt ein globales Dorf. Man weiß: Auch der religiöse Ausdruck, ja, die Religion selbst ist ein Kulturprodukt und stark von der jeweiligen Mentalität geprägt. Damit wird auch das Absolute mit einem Mal relativ und vergleichbar. Andere Religionen glauben anders. Warum soll dann ausgerechnet meine Religion recht haben? Damit ist alles relativ. Das Heilige ist nicht mehr heilig, weil es vergleichbar geworden ist.

Irgendwie klingt das alles aussichtslos. Frustriert dich das nicht?

Nein. Wenn Religion keine Funktion mehr hat, wenn sie also nicht mehr unbedingt notwendig ist, so ist das eine riesengroße Chance für den Glauben. Denn beim Glauben kommt es nicht auf Nützlichkeit an, sondern auf Schönheit. Nicht auf Unterwerfung, sondern auf Freiheit. Und diese Freiheit empfange ich in der Beziehung zu Jesus. Durch ihn verstehe ich erst, wer Gott wirklich ist. Religion ist eine seelische Krücke, der Glaube an Jesus aber ist für mich eine Herausforderung. Ja, noch mehr: Dieser Glaube ist für mich das tiefste Geheimnis und die größte Provokation, der ich mich stellen muss. Mein Leben lang. Ich glaube Jesus seinen Gott.

Du meinst also, früher war man religiös aus Angst, und heute glauben Christen nur noch wegen Jesus?

Oder eben nicht. Die Entscheidung liegt bei dir.

Vertrauen

Das Gegenteil von Angst

»Hab doch keine Angst!« Das sagt sich so leicht. Geht das überhaupt? Angst kommt von lateinisch »angustia«, die Enge. Damit zu tun hat auch das Wort »angor«, das bedeutet »würgen«. Vertraute Bilder sind das: im Würgegriff der Angst. Da bekommt man keine Luft mehr, die Angst schnürt einem die Kehle und die Seele zu, es wird einem alles zu eng. Angst ist sehr diffus, ich komme nicht so schnell dagegen an. Denn sie lässt mich im Ungewissen über ihre Ursache, sie bleibt ein negatives Grundgefühl, das mich im Ganzen trifft. Die Angst macht mich unfähig zu handeln, ja, sie kann sogar krank machen.

»Fürchte dich nicht« oder »Fürchtet euch nicht« – dieser Appell, so sagt man, komme in der Bibel sinngemäß 365-mal vor. So, als müsste man sich jeden Tag wenigstens einmal sagen lassen, dass wir keinen Grund zum Fürchten haben. Ist ein Christ vielleicht jemand, der sich vor nichts und niemandem fürchtet? »Fürchte dich nicht«, heißt es immer dann in der Bibel, wenn Gott etwas Neues macht, zum Beispiel wenn Propheten oder Engel auf den Plan treten. Oder wenn der auferstandene Jesus plötzlich vor seinen Jüngern steht.

Wenn ich mich vor etwas fürchte, dann weiß ich genau, wovor. Ich kenne die Bedrohung und kann etwas dagegen tun. Furcht richtet sich gegen etwas ganz Bestimmtes, sich zu fürchten hat eine fassbare Ursache und führt zu konkretem Handeln. Angst dagegen ist diffuser. In der Umgangssprache unterscheiden wir nicht zwischen Angst und Furcht. Aber es gibt einen Unterschied. Und den finde ich sehr wichtig.

Denn Furcht ist durchaus hilfreich, sie motiviert zum Handeln. Das Sich-Fürchten ist geradezu ein Überlebensvorteil für den Menschen. Ohne Furcht wäre die Menschheit längst ausgestorben. So hatte es schon vor Jahrtausenden durchaus Sinn, wild gewordene Säbelzahntiger zu fürchten. Und möglichst schnell zu verschwinden, wenn man einen davon zu sehen bekam. Furcht mahnt zur Vorsicht vor unbedachten Handlungen. Sie kann uns davor bewahren, übermütig und waghalsig zu werden.

Furcht schützt also vor Selbstüberschätzung, sie ist ein Signal für Gefahr. Man spricht erst von Angst, wenn die Bedrohung gar nicht da ist, sondern nur eingebildet, wenn sie sich in die Seele eingebrannt hat und zur Grundstimmung geworden ist. So fürchte ich mich vor dem Sprung vom Drei-Meter-Brett, vorm Autofahren in einer fremden Stadt, aber auch vor großen Hunden. Angst habe ich da eher vor Leere, Sinnlosigkeit, vor unheilbaren Krankheiten und vor dem Sterben.

Furcht ist etwas, worauf ich mich einstellen kann, wo ich agieren kann, womit ich lernen kann umzugehen. Angst habe ich vor allem, dem ich ohnmächtig ausgeliefert bin, was ich nicht beeinflussen kann. Mit der Angst kann ich nicht mehr umgehen, denn die Angst geht mit mir um, sie treibt mich um, hat mich im Griff. Der Furcht kann ich ins Gesicht sehen, die Angst greift mich von hinten an, ich kann nur noch vor ihr davonlaufen – und entkomme ihr doch nicht.

Ganz ehrlich: Ich habe Angst vor dem Kranksein und dem Sterben, weil ich ja nicht wissen kann, wie es einmal sein wird, ja weil ich es mir mühsam und schmerzhaft vorstelle. Aber vor dem Tod habe ich keine Angst. Ich fürchte den Tod nur, weil ich ja jetzt schon weiß, dass er eines Tages kommen wird, ich kann mich also darauf einstellen, kann damit umgehen. Meine Zeit wird ja dadurch erst kostbar, dass sie begrenzt ist. Deshalb habe ich – auch als Christ – Angst vor dem Sterben, aber nicht vor dem Tod.

Eine besondere Form der Furcht ist die Ehrfurcht. Ich empfinde Ehrfurcht vor jemandem, den ich ernst nehme und der mich ernst nimmt. Wir akzeptieren und respektieren einander, schätzen einander wert. Und deshalb erweisen wir einander die Ehre. Achtung und Ehrfurcht sind Grundlagen einer jeden Beziehung und Gemeinschaft. »Ich will dich lieben, achten und ehren«, sagen Brautleute bei der kirchlichen Trauung. Ehrfurcht und Achtung gehören zur Liebe dazu.

Vor Gott habe ich Ehrfurcht, aber Angst vor ihm habe ich nicht. Immer wieder begegne ich Menschen, denen es anders geht. Vor allem den Älteren hat man in ihrer Kindheit Angst eingejagt. Vor einem Gott, der geradezu unberechenbar schien. Angst machende Gottesbilder sind das: Gott als neugieriger Schnüffler, als Kapitalist und Buchhalter, der nur auszahlt, was man zu Lebzeiten bei ihm eingezahlt hat an guten Taten. Religion als Ewigkeits-Versicherung, Leben als großer Stress-Test fürs Seelenheil, Frömmigkeit als billiger Kuh-Handel mit Gott, Beten mit himmlischer Dividende. Alles in allem ein schlimmer Aberglaube. So ein Gott ist nicht nur zum Fürchten – so ein Gott macht geradezu Angst. Höllen-Angst! Diese Angst macht nicht nur Menschen krank und klein, sie macht letzten Endes auch Gott klein. Denn ein Gott, der sich nur für Kleinigkeiten interessiert, mit dem man Geschäfte machen muss, kann nicht groß sein, nicht barmherzig. Ein Gott, der mit der Angst spielt, der uns zeitlebens fürs Jenseits testet, ist ein Sadist, aber nicht der Vater Jesu Christi.

Spätere Generationen – meine auch – haben die Angst vor Gott verloren, Gott sei Dank. Die Drohbotschaft ist der Frohbotschaft gewichen, der Glaube an Jesus Christus hat ganz neu den Gott der Liebe aufscheinen lassen. Aber mit der Angst ist vielen auch die Ehrfurcht abhandengekommen. Gott – oder wen man dafür hielt – wurde zusehends verharmlost, wurde ein zahnloser Tiger, den man nicht mehr ernst nehmen kann. Und dem man deshalb auch keine Ehre mehr erweist, keine Achtung, keine Liebe.

Angst macht krank, Furcht jedoch kann durchaus motivieren. Ehrfurcht ist eine Haltung der Wertschätzung. Wir akzeptieren einander, wir nehmen einander ernst.

Wenn jemand Probleme hat, die unlösbar scheinen, wenn einer im Sterben liegt oder gerade gestorben ist, dann kriegen wir es oft mit der Angst zu tun. Ich denke dann häufig an eine Geschichte, die mir Mut macht: Die Seesturmgeschichte aus der Bibel (Mk 4,35–41). Jesus ist mit den Jüngern im Boot. Trotz des heftigen Sturms: Er schläft seelenruhig. Die Jünger wecken ihn, er stillt den Sturm. Und er stellt dann eine wichtige Frage: »Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben?«

Die Deutung ist einfach: Jesus sitzt mit uns im Boot des Lebens. Auch wenn wir uns manchmal fragen: Wo ist er denn? Warum lässt Gott das zu? – Jesus ist da. Er ist da in den Stürmen, die wir zu bestehen haben: Schicksalsschläge, Krankheit, Tod und Trauer. Jene Zufälligkeiten also, die man nicht vorhersehen, auf die man sich nicht einstellen kann und die einem deshalb nicht nur das Fürchten lehren, sondern geradezu Angst einjagen. Jesus aber ist die Ruhe im Sturm. Wer auf ihn vertraut, fühlt sich nicht mehr allein mit seiner Angst. Jesus beruhigt den Sturm, gibt dem Leben neuen Halt. Und dann fragt er auch uns: »Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben?«

Manche Leute meinen, Glauben sei das Gegenteil von Wissen. Man habe eben keine Beweise und deshalb müsse man halt glauben. Man müsse glauben, was man nicht wissen könne. Sie haben einen »Dass-Glauben«: Sie glauben – oder glauben eben nicht –, dass Gott existiert. So, wie sie vielleicht glauben, dass morgen schönes Wetter wird. Beides ist nicht mehr als eine Vermutung. Tatsächlich gibt es für Gott keine Beweise. Es gibt gute Gründe zu glauben, Hinweise vielleicht. Aber man kann weder beweisen, dass es Gott gibt, noch kann man beweisen, dass es ihn nicht gibt. Da stehen die Chancen fifty-fifty. Deshalb ist Glauben vor allem eine Sache der Erfahrung und Entscheidung.

Von der Bibel her bedeutet Glauben etwas ganz anderes. Kein »Dass-Glaube«, sondern ein »Du-Glaube«. Keine Mutmaßungen über die Existenz Gottes, sondern eine Beziehung zu ihm. Im Hebräischen heißt Glauben »sich festmachen in Gott«. Im Griechischen heißt es »vertrauen«. Das lateinische Credo – »ich glaube« – kommt von »cor dare«, sein Herz geben. Und selbst das deutsche »glauben« kommt von »geloben«, also so viel wie »ein Versprechen eingehen«, »eine Beziehung leben«, »in einem Treueverhältnis stehen«.

Wenn Glauben also vertrauen bedeutet, dann ist Glauben das Einzige, was hilft, wenn wir Angst haben – in den Stürmen des Lebens. Vertrauen hilft gegen Angst: Ich vertraue darauf, dass ich nicht allein bin, dass mich einer hält, wenn ich mein Leben nicht mehr im Griff habe, dass mich einer trägt, wenn der Boden unter den Füßen wankt. Wer an Gott glaubt, kann ihm alle Ängste überlassen, kann loslassen – auch sich selbst. Und darauf vertrauen: Er macht es gut! Auch wenn im Moment noch nichts gut ist.

»Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben?« Das ist die Frage Jesu auch an mich. Ich kann nicht immer nur auf mich selber setzen. Ich brauche jemanden, dem ich trauen, auf den ich vertrauen kann. Glauben ist für mich nicht das Gegenteil von Wissen, auch nicht von Unglauben oder Zweifel. Und schon gar nicht ein bloßes Fürwahrhalten irgendwelcher Wahrheiten. Glauben ist vielmehr das Gegenteil von Angst.

Ein guter Freund und Kollege hatte sich die Seesturmgeschichte ganz zu eigen gemacht. In den Stürmen des Lebens, auch in schwerer Krankheit, konnte er auf Jesus vertrauen. Immer wieder ging es in seinem Reden und Beten um diese Geschichte – als Sinnbild des Lebens. Und schließlich auch als Sinnbild des Sterbens. Auf seinem Grabstein sieht man eine Bronzetafel: Jesus sitzt mit seinen Jüngern im Boot und schläft. Es tobt ein heftiger Sturm. Und darüber, auf dem Grabstein, steht geschrieben: »Jesus, meine Zuversicht«.

Zuversicht ist etwas ganz anderes als Optimismus. Der Optimist denkt: »Ich kriege das schon hin, ich habe ja selbst Kraft genug.« Wer aber zuversichtlich ist, der weiß: »Meine Kraft kommt von woanders her. Von dieser Kraft bin ich gehalten. Und darf Vertrauen haben.« So hilft Vertrauen, mit der Angst fertigzuwerden, sie anzunehmen, besser damit umzugehen. Gottvertrauen!

Wie aber ist es mit der Furcht? Also mit der konkreten Bedrohung, auf die ich mich wirklichkeitsnah einstellen, gegen die ich etwas tun kann? Meine Erfahrung ist: Mit der Furcht kommen die meisten Menschen ganz gut klar, da sind sie optimistisch und trauen dem Verstand, den Gott ihnen gegeben hat. Was aber ihre Lebens- und Sterbensangst angeht, da versuchen sie, ganz und gar auf Gott zu vertrauen – darauf, dass er sie trägt und hält. Anders gesagt: Für meine Furcht finde ich selbst eine Lösung, für meine Angst wird mir Erlösung geschenkt. Und deshalb darf ich immer zuversichtlich bleiben.

Zu groß

Von erwachsenen Eltern