Auslese zum Jahreswechsel -  - E-Book

Auslese zum Jahreswechsel E-Book

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Beschreibung

Auslese zum Jahreswechsel - dieses erlesene Jahrbuch präsentiert eine Auswahl unterschiedlicher Autoren, die mit ihren vielfältigen Werken durch ein ganzes Jahr führen. Ob Erzählungen und Kurzgeschichten, Betrachtungen, Gedichte oder poetische Gedanken - die bunten Texte eignen sich gleichermaßen für Jung und Alt und passen besonders gut zur besinnlichen Zeit um Weihnachten und den Jahreswechsel. Gleichzeitig dienen sie als literarische Begleiter auf dem Weg in ein neues Jahr. Dieser Band bietet sich als ganz persönliches Geschenk für jeden an, der gern liest oder schreibt. Er schenkt Stunden der Muße und Erholung und ist zudem ein hervorragendes Mittel, um dem Stress des Alltags auf positive Weise zu entfliehen.

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Seitenzahl: 212

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Von

Was die geneigten Leser vorab wissen sollten:

Wir geben unseren Autoren die Freiheit, selbst über den Gebrauch von alter, neuer oder Schweizer Rechtschreibung zu entscheiden, daher variiert auch die Schreibweise in dieser Anthologie.

INHALTSVERZEICHNIS

H

IL

B

ARAST

Paris, wo Unmögliches möglich wird …

C

HRISTEL

M. B

ERG

Das Vorhaben Satans

K

LAUS

B

UTENSCHÖN

Nach dem letzten Kriege

M

ARTIN

E

GIDIUS

Schafe

M

ANFRED

E

LSÄSSER

In Tirol

R

EGINA

F

RANZISKA

F

ISCHER

Es ist ein Ros entsprungen

WIR – DAS EBENBILD GOTTES BETEN UM DEN FRIEDEN DIESER WELT

DAS EVANGELIUM NACH MATTHÄUS

Die „Stadt des Brotes“ in der Gegenwart hier: „wie neugeboren“

Das Lächeln seiner Bernsteinaugen

über starrem wald

WINTERWOCHEN

C

LAUDIA

H

ERBER

PharmaZieh die Dummheit heraus!

P

ETER

K

LEINE

Abgründe: Leben im Jahr 2050

B

RUNHILDE

K

REHER

Mit 80 Jahren zum Führerschein

B

RIGITTE

L

OHAN

Herr Glücklich hebt ab

J

OANNA

M

ASSELI

Vergebung

G

ÜNTHER

M

ELCHERT

ADELE

Reiselust und Reisefrust II

Ein kleiner Junge im Kindersitz eines Fahrrads

Kinderkreuzzug durch den Kosmos?

G

ERLINDE

M

ÜLLER

Auszüge aus dem Roman „Lisa Sanders“

R

OLF VON

P

ANDER

Herausforderung für effektive Hilfe erlebt

M

ONIKA

R

ANKERS

Wer weiß, wozu es gut ist …

E

VERT

S

ANDERS

Die drei unsterblichen Zeugen

K

ARL-

R

EINER

S

CHMIDT

Frieden für die Ukraine

A

NNELIESE

W

AGMÜLLER

Weihnachten 2021

I

NNA

Z

AGRAJEWSKI

Jahreszeiten

März, Monat des Frühlings

Autorenspiegel

Hil Barast

Paris, wo Unmögliches möglich wird …

Ganz zufällig entdeckte ich in unserem kleinen Vorort einen privaten Kursus chinesischer Literatur. Professoren der Hochschule für orientalische Sprachen lösten sich da ab.

Schnell habe ich mich entschlossen, an diesen Kursen teilzunehmen, und nie habe ich das bereut. Eine ganz neue Welt erschloss sich mir da. Wir lasen in erster Linie Autoren vor Mao, Autoren von einer großen Sensibilität, die die Kunst des Erzählens meisterten.

Bisher kannte ich von der chinesischen Kultur nur einige einzigartige Stücke Porzellan, die ich in einer Ausstellung im Museum IENA bewundern konnte. Und natürlich gibt es in Paris eine große Anzahl von chinesischen Restaurants, mit denen ich erst dort Bekanntschaft machte, wie auch mit dem chinesischen Viertel, wo sich ein chinesisches Geschäft an das nächste reiht.

Mein Mann entdeckte eines Tages im Figaro die Annonce eines Chinesen, der einen Kochkursus vorschlug. Gabriel fand, das wäre doch etwas für mich, das heißt für uns, da er so gern chinesische Gerichte aß.

So fand ich mich jeden Samstag in einem entlegenen Stadtteil in der Küche eines Hinterhauses um Punkt 10 Uhr ein. Die Ehemänner oder -frauen waren um 12 Uhr eingeladen, die verschieden Gaumenfreuden zu probieren.

Zunächst mussten wir alle lernen, den Reis auf chinesische Weise zu kochen, das heißt, ihn fünfmal zu spülen, bevor er in den Kochtopf kommt. Bestecke gab es da nicht; wir mussten uns also bemühen, mit den Essstäbchen fertig zu werden, was wir ganz langsam am Ende meisterten. Auch lernten wir, dass man sich in China mit verschiedenen Gerichten im Herbst auf den Winter vorbereitet, wie zum Beispiel ab Herbst mit dem starken Honig vom Kastanienbaum.

Einige Herren aus chinesischen Nachbarländern nahmen an diesen Kursen teil, ebenso eine Vietnamesin, die wir in dem Film „Der Duft der grünen Papaya“ sahen. Sie war keine Schauspielerin, sondern die Frau eines Diplomaten. Eigentlich sollte ihr Sohn in dem Film mitspielen, aber dann wurde die Mutter engagiert.

Die Mittagsgäste waren begeistert von unserer frisch erworbenen Kochkunst. Natürlich mussten wir aufräumen, abwaschen und so weiter.

Als das chinesische Neujahrsfest nahte, lud uns Tim – so hieß unser Koch – ein, am Neujahrstag in einem chinesischen Restaurant gemeinsam zu essen. Er würde ein typisches chinesisches Festessen bestellen. Natürlich waren wir dabei.

Mein Tischherr war Tims Vater. Er war jetzt im Ruhestand, nachdem er jahrelang ein Restaurant geführt hatte. Tim hatte zehn Geschwister, er selbst war erst zehn Monate alt, als die Familie sich in Paris angesiedelt hatte. Seine Mutter sagte mir, sie würde lieber französisch kochen, das mache weniger Arbeit!

Bei diesem Essen waren auch Cousinen und Vettern der Familie anwesend, die aus Hongkong angereist waren. Wir fragten sie, ob sie nicht besorgt wären, wenn Hongkong an China zurückginge. Das rührte sie wenig, sie hätten ja einen englischen Pass. Aber sie wären unglücklich, nur ein Kind haben zu dürfen! –

Das Menü war einzigartig: zu Beginn gegrillter Hummer, den Tim mit seinen Stäbchen aß, sein Vater aber wie die Franzosen. Bei dieser Gelegenheit erzählte mir seine Mutter, dass es früher üblich war in China, dem jungen Paar am Tag der Hochzeit ein paar sehr edle Stäbchen zu schenken, zum Beispiel aus Elfenbein. Dabei zog sie ein Paar Essstäbchen aus ihrer Handtasche und zeigte sie mir: eben aus Elfenbein! Diese waren nach all den langen Jahren des Gebrauchs um einige Zentimeter kürzer als die normalen Stäbchen.

Nach etlichen Gängen gab es eine Suppe zum Abschluss, für uns natürlich ungewohnt.

Eine neue Welt hat sich uns da aufgetan. Hin und wieder, wenn ich so recht Mut habe, koche ich chinesisch. Es folgt ein recht einfaches Rezept, das uns aber immer wieder gut geschmeckt hat.

Canton-Reis für 2 Personen

125 g Reis

1 Scheibe gekochter Schinken

2 Eier

2 Essl. fein geschnittener Schnittlauch oder mehr

Reis kochen, warm halten.

Eierstich oder ein Omelett von den beiden Eiern, in Rauten geschnitten, warm halten, salzen.

1 oder 2 Scheiben gekochten Schinken in Rauten schneiden.

Die drei Zutaten miteinander mischen.

Empfohlen wird ein guter Roséwein dazu.

Christel M. Berg

Das Vorhaben Satans

Und wieder beginnen die Söhne Gottes, des wahren und einzigen Gottes, ihre Posten vor dem Thron des Höchsten einzunehmen. Unter ihnen befindet sich auch Satan, um Gott erneut herauszufordern.

Gott ist nicht erfreut, diesen Engel der Verdammnis vor Seinem Angesicht zu sehen, und ist äußert erzürnt über diese Maßname: „Was willst du diesmal? Hast du dein schlechtes und verderbtes Augenmaß erneut auf einen meiner Lieben und Getreuen gesetzt? Trachtest ihn zu zermalmen? Geh! Hinfort mit dir!“

Doch Satan, verdammt, verachtet, ausgestoßen aus der Schar dienender Engel, bleibt – frechen Blickes, und stellt, wiederum, eine ungeheure Anmaßung in die lauschenden Himmel hinein.

„Du bist der wahre Gott. Erschaffer aller Himmel, aller Aufenthalte diesseits und jenseits der Schöpfung“, beginnt er, listig, langsam, er will seinen Auftritt, voraussichtlich seinen letzten, genießen, die Ungehörigkeit in ihrer Ungeheuerlichkeit, in ihrer Vermessenheit, vor aller Schöpfung auskosten. – „Du bist der einzige Gott“ – Pause – „schau dir die Menschen an! Sind sie nicht winzig, ungläubig, ja, geradezu deiner Erhabenheit unwürdig?“ – Pause –

Satan kostet, schiebt diese langen Pausen ein, will jedes Wort zum haltigen Schwingen bringen, stehen lassen – bis zum Triumph. Seinem Triumph – „Du hast ihnen das Leben gegeben. Hast ihnen Wohnraum, Nahrung, Liebe, Freude und das Lachen gegeben“ – Pause – „und was tun sie?“

Satan weiß, dass er hier einen Nachweis erbringen kann. Keiner der hier anwesenden Himmelsbewohner kann diese, seine, Argumente bestreiten. Betretene Mienen. Ja, der Mensch hat sich niemals dankbar gezeigt, niemals, treu und leise, GOTT geliebt! Satan weiß auch; er verachtet den Menschen deswegen. Wird er, ein Sohn Gottes, nicht in die ewige Verdammnis gehen? Er empfindet das Urteil als zu hart, ungerecht – ungeteilt. ER verlangt Genugtuung. Will noch einmal die Herausforderung – den Menschen prüfen, eine Prüfung, die dem Leben oder, wenn unbestanden, dem Tode vorausgehen soll. So spricht er denn weiter und nennt seine Bedingungen.

„Die Menschen geben vor, dich zu lieben, Juden, Christen, Moslems – sie alle berufen sich auf ihre Liebe zu dir“, spricht er weiter. „Sie alle sind eifrig in ihren religiösen Annahmen und Aufgaben, haben diese Regeln, jene Gesetze, die sie dann aber wieder und wieder gegeneinander aufwiegen, um sie dann auch wieder zu brechen. Deine Gebote werden nur selten, oft gar nicht, befolgt“ – die bösen Augen blicken düster, zornig um sich – „und die Mehrzahl der Menschheit lehnt jede Mitverantwortung für das Leben und somit den Glauben an die Wahrheit einer, Deiner, göttlichen Existenz ab.“

Schweigen. Schweigen.

Satans Groll schleudert sich in die Frequenzen eines universellen Raumes hinein …

Gott schweigt. Schweigt zu Vorwürfen und Anklagen. Der Höchste, Gott, allmächtig auf seinem Thron, von Ewigkeit zu Ewigkeit, in seiner nicht zu erfassenden energetischen Macht, schweigt. ER kennt Satan. Hat ihn verurteilt. Das Urteil wird nicht revidiert. Gott setzt die Maßstäbe. Gott allein richtet!

Satan spricht weiter: „Du hast mich gerichtet, mich und mit mir die Brüder, deine Söhne, die deine Souveränität antasteten, den von dir so geliebten Menschen testen. Ich werde unter die Menschen gehen, als reißendes Tier, und erbarmungslos jeden zerreißen und zermalmen, der sich mir anschließt. Dieser Mensch soll dann von dir gerichtet werden, in gleichem Maße, in gleichen Ausmaßen.

Ich werde die Menschen versuchen, sie wieder und wieder verwirren, in ihren Verständnissen, ihrer sich auferlegten Moral, sie hintergehen – sie hinterfragen. Christen verunsichern, deinen Sohn belächeln, verspotten. Von Juden. Juden werde ich von einem Moslem befragen lassen.

Brudermord!

Seit dem Anbeginn deiner Liebe. Immer und immer wieder. Sie werden sich testen lassen, sie sind winzig in ihrem Verständnis, klein in ihrer ‚Liebe‘, unermessen in ihrem religiösen Hass. Ihrer Eifersucht. Die Welt wird mir zur Bühne werden. Ich werde sie tanzen lassen. Wie Puppen. Und sie werden tanzen. Sie können nicht wissen. Der Hass wird ihnen die Augen verschließen, die Eitelkeit ihre Ohren verstopfen.

Ich habe sie in geplante Kriege gestürzt. Unruhen, Kriege, Weltkriege! Voll Tränen, Hass und Lüge. Und doch – sie haben immer noch nicht genug! Sie sind wie junge Raubtiere; zänkisch und eifersüchtig wird die Beute geteilt. Sie wollen mehr, immer mehr. Haben nie genug.“

Es tritt eine lange Pause ein. Stimmen verstummen, Groll, Zorn, Bitterkeit. Ist es Erschöpfung? Genugtuung?

Satan: „Lass’ uns Geschichte machen.“ Das Böse richtet sich auf: „Ich werde mich totlachen. Werde, von den Tausenden Religionen und Bekenntnissen – den religiösen Getuern mal abgesehen – die drei Religionen, die sich auf dich berufen, die aus deinen Weisungen und Worten entsprungen sind, sich ineinander verwickeln und verzetteln lassen. Die Familie, die von dir eingerichtete, geheiligte Institution, wird von mir einen Angriff erfahren, dem nur deine Treuesten standhalten werden. Die Liebe des Menschen zu sich selbst, zueinander, zu seinem Wohnraum, zu dir – und – zerstrittene Moral- und Rechtsverständnisse – zerstört, zersetzt … Wer kann sich retten? Lass’ mich die Geschichte erzählen – in einem Geiste, einem Körper, verkörpert. Der Mensch muss wählen, du wirst richten, auch die, die dir lieb sind. Gerade die, die dir lieb sind, werde ich versuchen, will sie zerstören, werde böse sein. Wer sich mir widersetzt, mir widersteht, von deinem Geiste, in deinem Schutz lebt – den werde ich lassen …

So lass’ mich nun gehen und Geschichte machen …“

Klaus Butenschön

Nach dem letzten Kriege

Wie einmal bei Wilhelm Busch … eine Jugenderinnerung

Die Stimmung im Lande, sie war noch trübe. Die lichten Wellen der Erneuerung, welche mit dem Ende der 60er-Jahre einsetzen würden, diese ließen noch auf sich warten.

Das Alte Rathaus in meiner Heimatstadt, ein ergrautes, keinesfalls mehr ansprechendes Gebäude, dieses stand leer, es war zu klein geworden. Die Fenster und die Türen, sie waren bereits herausgebrochen. Dieses Haus, es wurde zum Abriss vorbereitet. Es sollte einer neuen, großzügigen Straßenführung weichen.

Neben diesem nun schon ehemaligen Rathaus, neben diesem Haus, dort stand bereits ein Neubau. Zwischen diesem Neubau, einer fensterlosen Seitenwand und dem alten, ehemaligen Rathaus, dort gab es einen schmalen Gang. Dieser Gang, er war begehbar, allerdings ohne eine Beleuchtung.

Einer Eingebung folgend, postierten wir uns eines Abends – ein Abend mit einer trüben Novemberstimmung, wie ich mich erinnern kann – , ein mir bekannter Spielkamerad und ich, in meiner jugendlichen Unbekümmertheit, an zwei dieser rahmenlosen Fensteröffnungen. Ein jeder mit einem Stock in der Hand, auf eine Gelegenheit wartend.

Es kam ein Mann, mit Hut, in seiner dicken Jacke. Er bog um die Ecke, zielstrebig dem anderen Ende des düsteren Ganges entgegen. Solche Leute, die gab es damals zuhauf.

Traulich und mit einem gewissen Geschick verpasste nun der andere diesem „Herren“ einen deftigen Streich über den Rücken, womit dieser wohl keinesfalls gerechnet hatte.

Berechnend drehte sich dieser Herr nun um und stand erbost verharrend, lauernd, auf eine Gelegenheit wartend unter einem eben über seinem Kopf befindlichen Fenstersims, von wo dieser Streich erfolgt sein musste. Er hielt das Ganze wohl für einen Scherz.

Somit, da er mir den leicht und elegant gekrümmten Rücken zuwandte, nutzte ich wiederum die Gelegenheit, ihm auch noch von der andren Seite mit meinem Stock einen weiteren Streich zu versetzen.

Danach, es wurde jetzt schlagartig hundsgemein gefährlich, erschien es uns ratsam, dieses Gebäude zu verlassen. Schleunigst verließen wir beide, zwei Knaben, diesen verwunschenen Ort durch einen türlosen Eingang, ohne dem eine Bedeutung zu geben.

Mit einem gehörigen Schrecken entkamen wir diesem düsterlichen, verstaubten, zum Abriss vorgesehenen Gebäude.

Martin Egidius

Schafe

Nebelschwaden umlagerten noch Haus und Hof. Selbst während der heißesten Monate stülpte sich diese milchige Masse wie hergezaubert so um vier, fünf Uhr in der Früh plötzlich über das enge, gewundene Tal, das womöglich nur wenig zuvor noch wie entkleidet in einer kristallklaren, silbernen Vollmondnacht gelegen hatte. Es ist gegen Norden hin offen und saugt, eigenartigerweise vor allem im Sommer, wie ein Trichter allerhand Feuchtkühles widerstandslos in sich auf. Dessen Pegel erreicht und nimmt natürlich auch den Buckel, auf dem das Gehöft liegt, mit links. Zwar verschwindet alles kurz vor oder nach Sonnenaufgang ebenso plötzlich wieder, wie es gekommen ist – doch das half Manfredo wenig; denn genau während dieser dumpfen, frostigen Zeit musste er zu den Schafen. Er, der Älteste – er allein. Seine Eltern schliefen meist noch, ebenso seine beiden Brüder. Diese hätte er am liebsten eigenhändig aus den Federn gerissen und gleich noch gewaltig abgespritzt, so unbekümmert schlummerten sie trotz des gnadenlosen Gepiepses seines Weckers weiter, ja ihre tiefen, regelmäßigen Atemzüge schienen ihn richtig zu verhöhnen. Immer nur er musste hinaus, hinaus zum Schafgehege, musste mühsam ein paar wenige Liter Milch aus Wollknäueln pressen, die vor Müdigkeit noch kaum auf allen Vieren zu stehen vermochten. Die ungelenken Damen stupsten sich dauernd, stolperten, purzelten beinahe übereinander, während er, über sie gekrümmt, an ihren schwabbligen Eutern mehr zerrte als zog. Zum Heulen war das, zum Davonrennen! Doch wohin, wohin zum Teufel sollte er denn rennen? Er hatte ja keinen andern Beruf erlernt, und der Vater würde erbärmlich fluchen, wenn die Arbeit nicht rechtzeitig erledigt war. Also band er halt sein starkes, welliges, schwarzes Haar, das ihm gut bis auf die Schultern reichte, wie üblich zu einem Pferdeschwanz zusammen und schlich aus dem Zimmer.

Draußen klingelte ihm seine Arbeit nun vollends schonungslos entgegen; sie drängelte und pustete bereits im Unterstand. Ein liebliches Bild wohl, wenn man nicht gerade zu melken hatte. Die Schweizer und Deutschen, die alle Jahre hierher kamen, würden wohl, sollten sie doch einmal zufällig zu dieser Unzeit erwachen, durch dieses sanfte Geläut gleich wieder eingelullt und prall mit Begeisterung gefüllte Ansichtskarten aus dem „toskanischen Paradies“ nach Hause schreiben. Sie kannten es ja nur im Sommer. Von Schlottern draußen wie im hohen, schlecht geheizten Schlafzimmer hatten die keine Ahnung! Am Abend, wenn sie, noch feucht vom erfrischenden Bad, vom nahen Bewässerungsweiher herunterkamen, schauten sie ihm jeweils zu, interessierten sich leidenschaftlich für die Käseherstellung, fanden seine Plackerei oft nicht weniger idyllisch als den zwar einst künstlich angelegten, jetzt aber üppig eingewucherten kleinen See. Manchmal grinsten sie gar noch, wenn er wegen der zahllosen Bremsen, Flöhe und Mücken Gott und die Welt verfluchte. Am liebsten würde er ihnen dann an die Gurgel springen, allen zusammen und gleich mehrmals – aber dafür war er bei weitem zu schüchtern. Auch taugte sein schmächtiger Körperbau zu derlei Kraftakten nicht, und die Folgen wären ohnehin nichts als Scherereien.

Sogar beim Fluchen schimpfte er ja fast nur in sich hinein, holte die unwirschen Silben wieder wie in seinen Schlund zurück. Darüber wiederum regte er sich maßlos auf, zog er doch so Giacomo, seinem mittleren Bruder, gegenüber, der auf diesem Gebiet nicht die geringsten Hemmungen hatte, immer und immer wieder den Kürzeren. Damit hatte er natürlich noch mehr Grund, in sich hineinzufluchen. Weil er einfach nicht fluchen konnte, nicht wirklich fluchen konnte, auch diesmal nicht – und schon schloss sich inmitten der Schafe unter leichten Krämpfen, aber ohne Aufhebens ein wunderschöner, allerhöchstens etwas schweißtriefender Teufelskreis.

Die Kessel schepperten. Die Luft war eigentlich würzig und nur um zwei, drei geringe Morgengrädchen zu kühl; die Nebel hatten sich verzogen und der Himmel wölbte sich schwarzblau zu seinen orange-grünen Rändern hin – doch was half das, wenn man in dem engen Gehege kauerte, wo nur die zwei, drei kühlfeuchten Morgengrädchen blieben? Giacomo würde heute ohnehin nach Sardinien abreisen, und Gabriele, der Jüngste, auf dem besten Wege, tatsächlich Geometra (Vermesser) zu werden, war mit seinen Abschlussprüfungen vollauf beschäftigt. Er half ohnehin schon längst nicht mehr auf dem Bauernhof. Zurück blieb nur Manfredo. Allein.

Allein mit dem Vater, der sich wegen seines willfährigen Asthmas nicht bücken konnte. Schuld daran waren die Minen – überhaupt der Norden, das Ausland. Aber wenn es ums Kommandieren oder ums Abkanzeln ging, dann fehlte ihm die Luft nie. Allein auch mit der feingliedrigen Mutter, die andauernd wegen jedem und allem in Sorge war, oft nicht ohne Grund – aber ohne dass ihre Kümmernis dem Sohn auch nur um ein Jota weitergeholfen hätte.

Lange würde er es hier nicht mehr aushalten. Nein, ganz bestimmt nicht! Die große weite Welt jenseits der Hügelzüge lockte. Arezzo lockte. Schließlich fehlte es in dieser südtoskanischen Hunderttausendseelenstadt an nichts, was eine Stadt zu Stadt, ja zu Welt macht. Kinos, Geschäfte mit prallvollen Auslagen, Unmengen Verkehr zu Stoßzeiten, Gesetze, die zu übertreten sich lohnte, In-Lokale mit In-Mädchen, Drogen, Nutten nicht nur wie hier am Straßenrand oder wie in den Filmen im Fernsehen in jenen Nachtlokalen, wo sie dich, irgendwelche kolumbianische oder asiatische Schönheiten, zum Champagnersaufen verführen und nachher, wenn das Lokal schließt … Doch auch diese nahe große weite Welt war nur für Geld zu haben, für nicht eben wenig Geld. Und mit dem, was man vom Schafskäse, den Lämmern und den paar Knäueln Wolle und vor allem aus dem Geldbeutel des Vaters abbekam, war halbwegs Staat nur in Palazzo del Pero, dem nächsten Kaff, zu machen. Daran änderte auch nichts, dass der Käse als der beste weitherum galt und die Lämmer zu Ostern oder Weihnachten schnell zu Mangelware wurden und tatsächlich überaus lecker schmeckten, besonders wenn man sie am Kaminfeuer schmorte. Schafe sind dumm, und dumm sind jene, die sich um sie kümmern. Zudem ist man zwar von hier, hier in der Nähe geboren, hier aufgewachsen – und doch nicht von hier. Sardinien gehört zu Italien, bekanntlich, aber Sardinien ist Sardinien, und die Toskana ist die Toskana: Sardo-bastardo und so. Ihr redet ja zu Hause eine andere Sprache, und so. Fresst hauchdünnes Fladenbrot, carta musica, schöner Name zwar, aber die Schafskeulen schauen euch schon zu den Ohren hinaus. Seid klein wie Südländer und Diebe obendrein, ganz besonders die aus der Provinz Nuoro … – Mal, da waren wir in Sardinien, am Meer natürlich, da haben wir einen Ausflug ins Innere gemacht, haben den Wagen nur eben mal hingestellt, um uns die Aussicht ein wenig anzusehen; eine Dreiviertelstunde später kommen wir zurück, und – dass sie uns die Fensterscheiben und die Räder noch gelassen haben, das war ja grad ein Wunder! Alles andere war weg, aber wirklich alles! Zum Glück hatten wir noch einiges im Bungalow am Meer zurückgelassen, aber trotzdem: die Fotoausrüstung – futsch! Futsch auch das Fischerzeug …, sowas erzählen sie sich sogar hier! – Als ob die in Florenz nicht noch viel, viel mehr Ärger hätten! Da wird dir doch das ganze Auto auch gleich noch mitgeklaut, ratzekahl, nur noch der Straßenteer bleibt da – und die wenigsten der Ganoven sind Sardi-bastardi! Und unter ihnen gibt es nicht weniger Drogensüchtige und Verbrecher als bei uns dort in Nuoro – im Gegenteil. Und überhaupt ist das alles ja eh maßlos … und überhaupt …

Ja, Sardinien, da war man immer hingefahren, als kleines Kind schon. Schlecht war es einem immer geworden und man hatte gekotzt im Auto; dann die lange Überfahrt mit der Fähre, acht Stunden und mehr, dann wieder Auto. Doch dann das Dorf. Man war dort zu Hause, das heißt, die Eltern waren dort zu Hause, stammten sie doch beide aus demselben Nest in den Bergen. Jeder kannte sie, und jeder kannte ihre Geschichte, wenn auch jeder wieder auf eine andere Weise. Man munkelte einiges, vor allem über den Vater. Erst Mitte dreißig kehrt er zurück nach Hause, zurück eben aus dem Norden, aus dem Ausland, wie ja so viele, bestimmt, aber jetzt erst kommt er und macht einer aus dem Dorf den Hof. Ehrenhaft, weil er erst in ein gemachtes Nest die Taube setzen will? Flatterhaft, weil er sich erst bindet, nachdem er sein Vergnügen anderswo längst schon gehabt hat? Wer weiß; er selbst jedenfalls verbreitet nach Kräften eine gewaltig schöngefärbte Fassung der ersten Version. Immerhin ist die Hochzeit gefeiert worden, wie es sich gehört; mit vielen Geladenen und tagelangem Festen, und man war nicht kleinlich gewesen. Warmes Wetter und laue Nächte hätten, so sagen die Eltern, dazu geführt, dass manch einer draußen auf Feld und Wiese nächtigte, was zu zwei, drei weiteren Hochzeiten geführt habe. Und immerhin ist der Vater doch wieder zurückgekehrt und hat eine Hiesige genommen, hat also all die Deutschen und Holländerinnen sitzenlassen, alle zusammen. Gekommen ist er, wenn auch, um gleich, gleich nach der Hochzeit, wieder zu gehen und sein Glück mit Schaf und Weib in der Toskana zu suchen. So war man denn, wenn man dort war, fast nur „figlio di papà“ oder „figlio di mamma“, aber man selbst war man höchstens hin und wieder bei den „nonne“, seltener bei den „nonni“, vielleicht noch bei den einen oder anderen Tanten oder Onkeln. Immerhin: Dort war es schön, wirklich, einfach schön war es; dort galt man etwas, und weil man nur für die Ferien und daher Gast blieb, galten für einen andere Gesetze als für die eigene Familie; man durfte, ja sollte sich vergnügen, ausgehen am Abend, und wenn man dafür zwei-, dreimal beim Tageswerk mit Hand anlegen musste, so war das beileibe nicht zu viel verlangt.

Hier aber, hier in der Toskana, hier arbeitete man, und der Vater befahl. Hier war man nicht Gast der Familie, sondern Teil davon. Hier wurde einem bedeutet, dass man schließlich erwachsen sei und ohne Weiteres andere Bleibe und Arbeit suchen könne, wenn einem diese hier nicht passe. Doch man hatte ja eben nichts anderes gelernt als Schafe melken und Lämmer schlachten, vielleicht noch traktorfahren und mit Landwirtschaftsgerät herumhantieren. Dass man dieses Gerät auch sehr gelenk zu reparieren wusste, das mochte dem eigenen Vater zwar zupass kommen, aber als ausgebildeten Mechaniker konnte man sich gleichwohl nirgendwo verdingen. Ach hätte man doch …! Aber nach acht Jahren Schule, wo man, trotz teils wirklich verständiger Lehrer, dauernd verlacht wurde, nur schon weil man so klein war – nach acht Jahren nochmals diese endlose Plackerei! Leute, die auf einen andauernd einschwatzten; Leute, die alles besser wussten, meistens wirklich besser wussten; Kollegen, die einen nicht gelten ließen, weil sie von hier und erst noch tatsächlich größer und stärker waren – und wieder Prüfungen, wieder Lehrer! Doch gerade durch diese Weigerung saß man unweigerlich hier fest, nur hier; hier über den Schafsrücken, hier, wo man ständig befürchten musste, dass einem diese Schafsrücken das kostbare, mastige Weiß verkackten, hier auf der Scholle, hier als der Fremde, auch wenn man sein Italienisch genauso sprach wie nur irgendeiner aus der Umgebung von Arezzo.

Voll und stark schoss der Strahl in den Kessel, sodass selbst die fettschwere Schafsmilch zu schäumen anfing. Die Tiere waren außerordentlich gütig heute Morgen, gaben viel mehr her, als man von ihnen erwartete. Doch selbst bei wenig mehr als einer Minute Melkzeit pro Tier ergaben etwas über hundert Schafe gut zwei Stunden Arbeit, zwei Stunden Milch aus unstetem Untergrund herausmassieren, mit immer stärker schmerzendem Rücken, zwei Stunden morgens und abends, vier Stunden fortgedacht in eine unendliche, gnadenlose Zukunft. Da halfen das Auto und das Motorrad wenig, welches man vom Vater gleich nach der bestandenen Prüfung geschenkt bekommen hatte. Wohin sollte man damit fahren? Abends zur Bar, schön. Zu irgendwelchen Abmachungen mit irgendwelchen amici oder jenem Mädchen, dessen Verhalten Zuneigung nicht ausschloss und das bei den Eltern deswegen bereits als „fidanzata“ gehandelt wurde, mit der dabei so bezeichnenden Mischung aus Vorwurf und Stolz. Aber trickste man mit diesen Vehikeln die zentnerschwere Ewigkeit der Zukunft aus, fuhr ihr einfach auf einer besseren Straße auf und davon –?! Manfredo lächelte nur müde bei solchen Anwandlungen. Allerdings, man hatte es, dieses bisschen Freiheit aus Benzin, Kolben und Rädern, hatte es und hatte es gefälligst zu schätzen. Hatte es und floh, floh damit wenigstens auf Zeit. Floh in jene große Welt, in der alles so treffsicher geschah; wo tausend Bildschirme und Millionen auf engstem Raum wirkende elektronische Regelkreise emsig für eine gewaltige, alles überspülende Zuverlässigkeit der Ereignisse sorgten und damit dafür, dass auch zügelloseste Wildnis sich in die ebenmäßigen, keimfreien Bahnen logischer Kaskaden hineinschmiegte; in Sendegefäße, Moderatorensprache, in die abstrakten Gesetze mediengerechter Regsamkeit; „Action“, verbreite sie nun Angst und Schrecken oder Liebe, sei die Seifenoper nun ein dürftig angepasstes amerikanisches Kunstprodukt ab der Kilometer