Autismus-Therapie in der Praxis -  - E-Book

Autismus-Therapie in der Praxis E-Book

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Beschreibung

Das Buch gibt einen umfassenden Überblick über den aktuellen Stand der Autismus-Therapie für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Facettenreich und anhand zahlreicher Falldarstellungen werden einzel- und gruppentherapeutische Methoden der Autismus-Therapiezentren in Deutschland dargestellt. Sie verbinden sich zu einem multimodalen therapeutischen Handeln auf einer klaren ethischen Grundlage. Darüber hinaus werden wichtige Praktiken der Arbeit mit dem Schul-, Familien- und Arbeitsumfeld geschildert. Ergänzend beschreibt eine Betroffene mit Asperger-Syndrom ihre Erfahrungen mit der Diagnose- und Versorgungssituation für Erwachsene. Eine rechtliche Einordnung der Autismus-Therapie, die Fachkräften und Eltern aufzeigt, auf welche Grundlagen sie sich bei der Beantragung der Therapie beziehen können, rundet die Artikelsammlung ab. Bei den Autoren des Bandes handelt es sich ausnahmslos um erfahrene Autismus-Experten.

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Barbara Rittmann Wolfgang Rickert-Bolg (Hrsg.)

Autismus-Therapie in der Praxis

Methoden, Vorgehensweisen, Falldarstellungen

Verlag W. Kohlhammer

 

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

 

 

 

 

1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-033048-1

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-033049-8

epub:    ISBN 978-3-17-033050-4

mobi:    ISBN 978-3-17-033051-1

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

 

Inhalt

 

 

Geleitwort von autismus Deutschland

Vorwort der Herausgeber

Teil I Grundlagen

Autismus verstehen – Autistische Symptome als Bewältigungsstrategie für eine abweichende kognitive Informationsverarbeitung

Wolfgang Rickert-Bolg

Ethische Grundlagen der Autismus-Therapie

Wolfgang Rickert-Bolg

»Der rote Faden«: Begleitung von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung in Autismus-Therapiezentren

Christiane Arens-Wiebel

Teil II Methodenvielfalt in der Autismus-Therapie

Multimodale Autismus- Therapie in verschiedenen Lebensphasen – ein Fallbeispiel

Christina Müller

Die Bedeutung verhaltenstherapeutischer Förderung in Autismus-Therapiezentren

Barbara Rittmann

Die Differenzielle Beziehungstherapie in der Autismus- Therapie

Barbara Rittmann

Lernen am Erleben – Erlebnispädagogische Methoden in der Autismus-Therapie

Leila Reineke

Bewegung und Ausdruck in der Autismus-Therapie

Brit Wilczek

Musiktherapie zur Unterstützung der »Schlüsselfähigkeiten« bei autistischen Kindern und Jugendlichen – ein Bericht aus der Praxis

Renate Wahrmund

Teil III Autismus und frühe Interventionen

Vom Methodenstreit zum Passungsgedanken: Zur Notwendigkeit von Methodenkombinationen in der Frühtherapie von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störung

Christina Müller

Familienorientierte Frühtherapie – Ein Praxisbericht

Susanne Lamaye

Das Early Start Denver Model (ESDM) – eine neue Methode bereichert die Frühinterventionskonzepte unserer Autismus-Therapiezentren

Barbara Rittmann unter Mitwirkung von Irmgard Döringer und Wolfgang Rickert-Bolg

Teil IV Autismus und Familie

Elternschaft von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störung Innere Hürden, Herausforderungen und Bewältigungsmöglichkeiten

Oliver Eberhardt

Multifamilientherapie für Asperger-Betroffene und deren Familien

Anas Nashef

Systemisches Elterncoaching und Gewaltfreier Widerstand – angewandte Praxis in einem Autismus-Therapiezentrum

Kathrin Mack

Teil V Autismus und Schule

Hand in Hand für eine gute Beschulung – die einrichtungsübergreifende Zusammenarbeit in Zeiten der Inklusion

Irmgard Herold

Kooperation von Autismus-Therapiezentren mit Beratungsstellen der Schulen

Maike Lohmann

Schule als »reizvolles« Lernfeld bei Autismus

Cordula Thiemann

Teil VI Autismus und Arbeit

Erster Arbeitsmarkt – Chancen und Hürden für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung

Kristina Beese

Beratung und Begleitung von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung in Ausbildung und Arbeit

Heinz Heit

Fähigkeiten und Potenziale auf dem Weg ins Berufsleben

Hajo Seng

Teil VII Besondere Themen

Dreifach besonders: Asperger-Syndrom, ADHS, Hochbegabung – Eine Falldarstellung

Barbara Rittmann

Therapie für Mädchen und Frauen mit Asperger-Syndrom

Martina Steinhaus

Ganz normal und doch anders. Liebe, Partnerschaft und Sexualität bei erwachsenen Menschen mit Asperger-Syndrom – Ein kurzer Einblick in eine besondere Welt

Martina Steinhaus

Teil VIII Qualitätssicherung der Arbeit der Autismus-Therapiezentren

Zur Diskussion der Wirksamkeit von Autismus-Therapien

Irmgard Döringer unter Mitwirkung von Christina Müller

Evaluation der Arbeit von Autismus-Zentren

Wolfgang Rickert-Bolg

Teil IX Rechtliche Grundlagen

Rechte von Menschen mit Autismus unter Berücksichtigung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG)

Christian Frese

Teil X Autismus-Therapie aus Betroffenenperspektive

Asperger-Diagnose. Und nun? Lerne oder leide!

Heide Cohrssen

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Stichwortverzeichnis

 

Geleitwort von autismus Deutschland

 

 

 

Im Jahr 1970 gründeten Eltern von Kindern mit Autismus den Bundesverband Autismus-Deutschland e. V.

Ziel war es, eine flächendeckende Versorgung von Diagnose- und Therapiezentren zu erreichen. Einmalig ist es, dass Eltern neben ihren familiären Aufgaben und dem Beruf auch noch Geschäftsführer von therapeutischen Einrichtungen und Wohnstätten wurden.

Im Mittelpunkt stand das Streben nach bestmöglicher Beschulung und Ausbildung bis hin zu einem adäquaten Arbeitsplatz.

Dabei waren und sind die Autismus-Therapiezentren der Dreh- und Angelpunkt.

Die Aufklärung der Eltern über Autismus und die therapeutische Förderung sowie die Begleitung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen ist ihre zentrale Aufgabe.

Nur durch gezielte auf die jeweilige Person individuell zugeschnittene Therapie und Sozialtraining kann Teilhabe an der Gesellschaft in vielen Bereichen gelingen.

Nachdem zunächst von Integration die Rede war, ist heute selbstbestimmtes Leben und Wohnen im Sinne von Inklusion politscher Wille.

Von Beginn an legten Eltern Wert auf Stärkung der Fähigkeiten, um dann die Defizite ausgleichen zu können. Dankbar blicken Betroffene und Angehörige auf den Paradigmenwechsel – weg von der Fürsorge hin zur Selbstbestimmung – zurück, sehen aber gleichzeitig noch weiteren Bedarf.

Die Autismus-Therapiezentren sind unersetzlich, um Menschen mit Autismus auf ein Leben in Würde und mit Qualität vorzubereiten.

Maria Kaminski

Vorsitzende von autismus Deutschland e. V.

 

Vorwort der Herausgeber

 

 

 

Das Buch gibt einen Überblick über den aktuellen Stand der Autismus-Therapie für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Facettenreich und anhand zahlreicher Falldarstellungen werden sowohl therapeutische als auch auf das Umfeld gerichtete Methoden geschildert, wie sie in den Autismus-Therapiezentren in Deutschland zur Anwendung kommen.

Seit 1972 in Hamburg das erste deutsche Autismus-Therapiezentrum eröffnet wurde, ist viel geschehen. Inzwischen sind dem Bundesverband Autismus-Deutschland fast 60 Therapiezentren und deren Außenstellen angegliedert, die zusammen etwa 12 000 Betroffene versorgen. Das bedeutet: Autismus-Therapie in der Praxis findet vor allem in diesen spezialisierten Zentren statt.

Durch die Bemühungen der Betroffenenverbände und der Therapiezentren ist die Problematik in der allgemeinen und der Fachöffentlichkeit immer bekannter geworden. Es gibt weit mehr Wissen über die Störung und den Umgang mit den Betroffenen, auch wenn noch vielfach Vorurteile das Bild prägen. Die Komplexität der autistischen Problematik erfordert in der Regel umfassende Interventionen, die alle Aspekte der betroffenen Person und deren Umfeld einbeziehen. Die Ausprägung der Autismus-Spektrum-Störungen zeigt sich bei jedem Betroffenen in unterschiedlicher Weise. Die in den Artikeln geschilderten Vorgehensweisen verdeutlichen, dass es einer Vielzahl von unterschiedlichen methodischen Herangehensweisen bedarf, um den individuellen Anforderungen der Betroffenen und Familien gerecht zu werden.

Die hohe Spezialisierung der Autismus-Therapiezentren gewährleistet, dass die hier tätigen Fachkräfte sich das notwendige komplexe Wissen angeeignet haben, um sich für die passende Vorgehensweise und Methode im Rahmen eines multimodalen Therapiemodells zu entscheiden. Dabei werden sie das Alter des Klienten, den Ausprägungsgrad der Störung und den Zeitpunkt der Intervention berücksichtigen. Die Therapeuten verfügen über ein umfangreiches Handwerkszeug, zu dem auch die Vielzahl spezialisierter und selbsthergestellter Therapiematerialien der Einrichtungen gehört. Sie kommen aus verschiedenen Professionen, wie zum Beispiel Psychologie, Heil- und Sozialpädagogik, und haben sich für den Autismusbereich spezialisiert. Durch die Multiprofessionalität entsteht in den Zentren eine Arbeitsatmosphäre, in der die Klienten und die betroffenen Familien von den unterschiedlichen Blickwinkeln der Fachkräfte profitieren. Die Arbeit im Teamverbund mit kontinuierlichen Supervisions- und Fortbildungsmöglichkeiten führt zu einer nachhaltigen Durchdringung mit Spezialwissen.

Auch räumlich bieten die Autismus-Therapiezentren eine besonders »autismusfreundliche« Atmosphäre. Sie gewähren Schutz vor Reizüberflutung, vor allem im Bereich der visuellen und akustischen Wahrnehmung. Eine eindeutige Beschilderung der Räume, Schränke und Materialien mit Hilfe von Piktogrammen trägt dem Bedürfnis der Betroffenen nach Strukturierung und Visualisierung Rechnung.

Die Kenntnis der Rahmenbedingungen für die Arbeit der Autismus-Therapiezentren erleichtert die Einordnung der in den verschiedenen Kapiteln des Buches beschriebenen Thematiken. Das weite Spektrum der Beiträge spiegelt die Vielseitigkeit und Methodenvielfalt der Autoren wider. Allen gemeinsam ist die annehmende und respektvolle Haltung gegenüber dem »Anderssein« von Menschen mit Autismus vor dem Hintergrund, dass uns alle mehr miteinander verbindet als uns voneinander trennt.

Im ersten Abschnitt des Buches werden grundlegende Aspekte der in den Therapiezentren angebotenen Interventionen dargestellt. Dazu gehören zunächst das Bemühen um ein umfassendes Verständnis der autistischen Problematik sowie die konzeptuelle Verbindung der verschiedenen therapeutischen Herangehensweisen auf der Grundlage eines klar definierten humanistischen Menschenbildes. Im Weiteren werden praxisbezogen typische Verläufe und Aspekte von Interventionsprozessen beschrieben.

Im zweiten Abschnitt steht die Methodenvielfalt in der Autismus-Therapie im Fokus: Nach einer Darstellung des grundlegenden multimodalen Ansatzes werden verschiedene in den Therapiezentren zur Anwendung kommende Methoden theoretisch skizziert und anhand von Praxisbeispielen beschrieben.

Der dritte Abschnitt ist den einzelnen Bereichen autismusspezifischer Interventionen gewidmet. Hier finden sich Beiträge zur Bereich der Frühtherapie, zur Familienorientierten Arbeit sowie der Umfeld- und Vernetzungsarbeit in Schule und Arbeitswelt. Die Darstellung dieser Unterstützungsbereiche, die eine notwendige Voraussetzung für die Inklusion der Betroffenen darstellen, wird ergänzt durch die in vielerlei Hinsicht exemplarische Fallbeschreibung eines Jungen mit dreifacher Besonderheit: Asperger-Syndrom, ADHS und eine extreme Hochbegabung, durch die Skizzierung des Konzepts eines frauenspezifischen gruppentherapeutischen Angebots sowie die Einführung in das Thema Partnerschaft und Sexualität vor dem Hintergrund der autistischen Besonderheit.

Der vierte Abschnitt stellt Aspekte der Qualitätssicherung der Arbeit der Therapiezentren vor. Nach der Diskussion der Forschungsergebnisse zur Wirksamkeit verschiedener therapeutischer Ansätze werden die Ergebnisse einer unlängst in mehreren Therapiezentren durchgeführten wissenschaftlichen Untersuchung vorgestellt.

Der fünfte Abschnitt bietet eine rechtliche Einordnung der Autismus-Therapie, die Fachkräften und Eltern aufzeigt, auf welche Grundlagen sie sich bei der Beantragung der Therapie beziehen können.

Die sehr persönliche Beschreibung der eigenen Lern- und Leidensgeschichte einer erwachsenen Betroffenen, ihre Erfahrungen und ihre Erwartungen an eine hilfreiche Intervention rundet die Artikelsammlung ab.

Aufgrund der besseren Lesbarkeit verzichten wir auf die Verwendung des Binnen-I oder von Schrägstrichen und benutzen im Text, soweit geschlechtsneutrale Formulierungen nicht praktikabel erscheinen, im Wechsel die männliche oder die weibliche Form. Wir bitten alle, die sich deswegen diskriminiert fühlen, hiermit um Entschuldigung!

Das Konzept zu diesem Buch ist in der Fachgruppe Therapie bei autismus Deutschland entwickelt worden, zu der wir als Herausgeber ebenfalls gehören. Wir möchten uns an dieser Stelle für die inspirierende Zusammenarbeit bei unseren Fachkolleginnen und Fachkollegen ganz herzlich bedanken, und zwar bei Christiane Arens-Wiebel, Irmgard Döringer, Irmgard Herold, Claus Lechmann, Boris Küppers-Pucher, Harald Matoni und Martina Steinhaus.

Barbara Rittmann

Wolfgang Rickert-Bolg

 

 

 

 

Teil IGrundlagen

 

Autismus verstehen1 Autistische Symptome als Bewältigungsstrategie für eine abweichende kognitive Informationsverarbeitung

Wolfgang Rickert-Bolg

Als ich gegen Ende der 1980er Jahre die Leitung des Autismus-Therapiezentrums in Osnabrück, damals noch Therapiezentrum für autistische Kinder, übernahm, wurde dort wie in anderen Einrichtungen dieser Art ausschließlich symptomorientiert gearbeitet. Ausgehend von der jeweiligen konkreten Symptomatik wurde, meist mit verhaltenstherapeutischen Methoden, versucht, Stereotypien und problematische Verhaltensweisen abzubauen und produktivere Verhaltensweisen zu verstärken. Der zentrale Blickwinkel war darauf gerichtet, die Kinder zum Lernen in Form der abrufbaren Erfassung vor allem kognitiver Inhalte zu bewegen.

Vor dem Hintergrund meiner Ausbildung in der integrativen Therapie nach Petzold (2003) war mir dieser Ansatz zu einseitig, zumal wir immer wieder erleben konnten, dass die Kinder die zu lernenden Inhalte wie beispielsweise die Unterscheidung von Farben und Formen längst beherrschten, aber nicht bereit waren, dieses Wissen auf Anforderung auch zu zeigen.

Wir begannen, uns Gedanken um die Hintergründe und Handlungsmotive zu machen: Warum verhielt sich ein Kind so merkwürdig? Gab es eine Verbindung zwischen all den seltsamen und höchst unterschiedlichen Symptomen, welche die Kinder produzierten? Diese Fragestellung wurde von den Anhängern einer ausschließlich verhaltenstherapeutisch orientierten Autismus-Therapie als unsinnig betrachtet, sie wird heute noch von ABA-Therapeuten als Fehler bezeichnet, nur das beobachtbare Verhalten sollte Relevanz für die Interventionsplanung haben.

Wie viele Eltern im Alltag machten aber auch wir immer wieder die Erfahrung, dass das Sich-Sträuben eines Kindes gegenüber der gestellten Anforderung oder seine Reaktion auf eine Veränderung der Regeln oder Gewohnheiten oft wie Panik aussah und in solchen Situationen die allseits gepriesene Konsequenz nur noch mehr in den Konflikt führte.

Was fehlte und bis heute fehlt war ein umfassendes Verständnismodell für die autistische Problematik. Die Frage nach den Ursachen brachte hier nicht weiter, ihre Beantwortung konnte und kann wenig Konkretes zur Frage nach dem Warum einzelner Symptome anbieten. Zwar gab es immer wieder Theorien zur Wahrnehmungsverarbeitungsstörung und später zu einzelnen Bereichen wie der Theory of Mind, der zentralen Kohärenz oder den exekutiven Funktionen, sie stehen aber immer noch weitgehend unverbunden nebeneinander und helfen uns nur begrenzt weiter.

Wir brauchten für unsere Arbeit unser eigenes, umfassenderes Erklärungsmodell und entwickelten dies ausgehend von den Phänomenen im Bereich der Wahrnehmung auf der Basis gestalttheoretischer Begriffe. Der Rückgriff auf die Modelle der Gestalttheorie, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts u. a. von Wertheimer (1925) entwickelt worden war und aktuell aus der Mode gekommen ist, erklärt sich aus unserem persönlichen theoretischen Hintergrund – die wesentlichen Grundaussagen unserer Theorie ließen sich auch in handlungstheoretische oder kybernetische Denkmodelle übersetzen.

 

Osnabrücker Erklärungsmodell der Autistischen Störung

 

Das Osnabrücker Modell zum Verständnis der autistischen Symptomatik wurde Ende der 1980er Jahre im Autismus-Therapiezentrum Osnabrück erarbeitet und seither über 25 Jahre lang weiterentwickelt und auf seine Praxistauglichkeit hin überprüft.

Das Modell verbindet die Theorien zur Beeinträchtigung der Theory of Mind, der zentralen Kohärenz und der exekutiven Funktionen miteinander und basiert auf der Annahme einer grundlegenden Störung der Vordergrund-Hintergrund-Differenzierung, deren unmittelbare und mittelbare Auswirkungen in den Bereichen der Wahrnehmung, des Denkens, des Fühlens, des Handelns, der Kommunikation und der sozialen Beziehungen die verschiedenen Ausprägungen der Autismus-Spektrum-Störung begründen.

Die autistische Symptomatik bzw. das konkrete autistische Verhalten verstehen wir als Bewältigungsstrategie, die es den Betroffenen ermöglicht, den Anforderungen des Alltags zu begegnen, in ihrer Dysfunktionalität aber permanent zu sekundären Problemen und vielfältigen Frustrationen führt. Als Bewältigungsstrategie, die im konkreten Einzelfall sehr unterschiedlich ausfallen kann.

Die autistische Grundproblematik: Störung der Gestaltbildung

Eine grundlegende Funktion unseres Gehirns ist die Fähigkeit, aus der Vielzahl von Wahrnehmungsreizen, von eigenen Gedanken, von den Informationen, die uns andere mitteilen, und von den Möglichkeiten zu handeln eine Auswahl zu treffen. Wir können nicht alles gleichzeitig aufnehmen, alles gleichzeitig (be)denken, alles gleichzeitig tun – immer wieder müssen wir uns entscheiden, was gerade wichtig oder richtig ist. Wir treffen diese Auswahl auch nicht immer bewusst – vieles regelt unser Gehirn, ohne dass es in unser Bewusstsein dringt, und schützt uns damit vor Überforderung.

Es gibt zahlreiche Beispiele, die belegen, dass es dieser Mechanismus ist, der bei Autismus anders bzw. zumindest für die Umwelt, wie wir sie uns eingerichtet haben, schlechter funktioniert. Bezogen auf die Wahrnehmung ist dies seit langem belegt – schon Anfang der 1980er Jahre wurde von einem mangelnden Filter bei der Wahrnehmungsverarbeitung gesprochen (Kehrer 1989, S. 70).

Wir bedienen uns bei der Erklärung der Frage, wie dieser Mechanismus genauer aussieht, der Begrifflichkeiten der Gestalttheorie (Walter 1994). Die Funktion der Gestaltbildung lässt sich am Beispiel der optischen Wahrnehmung folgendermaßen veranschaulichen:

Zu jeder Zeit befindet sich eine Vielzahl von Objekten in meinem Gesichtsfeld. Alle diese Objekte werden auf der Netzhaut abgebildet, in allen ihren Einzelheiten. Aber ich selbst treffe aus dieser Vielzahl von Eindrücken eine Auswahl. Es könnte beispielsweise sein, dass ich, wenn ich ein Klavierkonzert besuche, vor allen Dingen den Pianisten wahrnehme und der Rest des Raumes gleichsam als Hintergrund verschwimmt. Ich kann aber auch eine ganz andere Auswahl treffen und etwa die verwelkenden Blumen neben dem Flügel betrachten. Meist wird sich meine Wahrnehmung auf ein bestimmtes Element im Gesichtsfeld zentrieren. Dieses Element bildet dann eine Gestalt vor dem Hintergrund der anderen Sinneseindrücke. Das Beschriebene gilt für alle anderen Sinne in ähnlicher Weise, zudem treffen stets Reize auf mehreren Sinneskanälen im Gehirn ein. Auch hier findet Selektion durch Gestalt-Hintergrund-Differenzierung und damit gleichzeitig Integration der zusammengehörenden Reize verschiedener Sinneskanäle statt: z. B. der Flügel (optisch) und die davon ausgehenden Klänge (akustisch).

Damit zusammenhängend haben zahlreiche Untersuchungen gezeigt, dass die menschliche Wahrnehmung so strukturiert ist, dass unvollständige Informationen ohne bewusstes Nachdenken um die fehlenden Teile ergänzt werden. Man nennt dies die »Tendenz zur guten Gestalt«. Dadurch sind wir in der Lage, auch unter schwierigen Bedingungen sinnvolle Informationen aufzunehmen und entsprechend zu reagieren (a. a. O.).

Die beschriebenen Strukturierungsfunktionen der Wahrnehmung lassen sich auf die Bereiche des Denkens, des Fühlens, des Handelns, der Kommunikation und der Interaktion mit anderen Menschen übertragen: Auch hier ist es wichtig, das Wesentliche in einem Gedanken, einer sozialen Situation oder die zentralen Elemente einer Handlungsfolge zu erkennen und zu isolieren.

Eine Störung der Auswahl- und Integrationsfunktion, der Unterscheidung von Gestalt und Hintergrund, hat weitreichende Folgen: Im Extremfall sind die Betroffenen ständig einem Übermaß an Information ausgesetzt, die sie nicht einordnen und zu ihren früheren Erfahrungen in Beziehung setzen können. Das führt dann dazu, dass sie sich zu ihrem eigenen Schutz von diesen Reizen abwenden müssen, dass sie sich auf sich selbst zurückziehen müssen – »autistisch« werden.

Wahrnehmen

Bei der Wahrnehmung handelt es sich ja nicht allein um einen Prozess der passiven Reizaufnahme, sondern um ein aktives Einordnen neuer Informationen in die gespeicherten Erfahrungen. Bei den Sinnestäuschungen wird dies offensichtlich: Unsere Erwartung lässt uns etwa auch in der Innenseite einer Maske ein Gesicht sehen.

Aber dieser Abgleich mit den Erfahrungen führt nicht nur zu Täuschungen, sondern spart vor allen Dingen Zeit und Energie: Beim Buchstabensalat können wir den Text fast mühelos erkennen, obwohl er vor Fehlern strotzt.

Abb. 1: Buchstabensalat

Die Mechanismen unseres Gehirns stellen sicher, dass wir die für uns wichtigen Informationen zeitnah zur Verfügung haben. Ablenkende Kleinigkeiten werden uns erst gar nicht bewusst, wir blenden die laute Straße aus und können trotzdem arbeiten, wir können die Informationen auf verschiedenen Sinneskanälen mühelos miteinander verbinden.

Was jeweils in unser Bewusstsein gelangt, ist von unserer Motivation und dem jeweiligen Kontext abhängig: Im Dschungel achten wir ganz anders auf ein Rascheln im Gebüsch als im Stadtwald – vielleicht aber nur, bis wir im Radio hören, dass aus dem Zoo der Tiger ausgebrochen ist.

Mit der Zuordnung der Reize zu unserer Erfahrung entsteht zudem ein konsistentes Bild von der Welt und ihren Regeln, das nicht durch jede kleine Veränderung ins Wanken gerät: Ein Baum ist für uns ein Baum, ob mit Blättern oder ohne.

Bei Menschen mit Autismus ist das ganz offensichtlich anders. Das belegen eine Vielzahl von Berichten, die inzwischen von Betroffenen vorliegen. So berichtete mir eine erwachsene Klientin mit Asperger-Autismus, dass sie den Stuhl, auf dem sie sitze, permanent spüre, dass es für sie unvorstellbar sei, diese Wahrnehmung auszublenden. Eine andere Betroffene berichtet: »Mein Bett war ganz und gar von winzigen Pünktchen umgeben und eingeschlossen. Sie waren eine Art mystischer Glassarg. Inzwischen habe ich erfahren, dass das eigentlich Luftteilchen sind. Aber mein Gesichtssinn war so überempfindlich, dass sie oft zu einem hypnotisierenden Vordergrund wurden, hinter dem der Rest der Welt verblasste« (Williams 1992, S. 27). Und Temple Grandin, eine andere Betroffene, sagt: »Ich kann auf einem geräuschvollen Flugplatz kein Telefon benutzen. Obwohl meine Hörschärfe normal ist, kann ich am Telefon nichts verstehen, wozu fast alle anderen Leute in der Lage sind. Wenn ich versuche, das Hintergrundgeräusch auszublenden, blende ich auch die Stimme am Telefon aus« (Grandin 1992/2008). Dietmar Zöller schreibt: »Mir ist eingefallen, dass ich früher oft ein Sausen und Brausen im Ohr wahrgenommen habe. Das war ziemlich schlimm, und ich konnte mir nur Erleichterung verschaffen, indem ich mit dem Kopf auf einen Sessel aufschlug« (Zöller 1992, S. 13). Offenbar ist seine Hörwahrnehmung derart geschärft, dass er das Blut in seinen Adern fließen hört. Und dieses Dauergeräusch ist so schlimm für ihn, dass er einen intensiven Reiz dagegensetzen muss. Das gleiche Phänomen sehen wir, wenn er schreibt: »Scharfe Gewürze liebte ich sehr, nicht weil es gut schmeckt, sondern weil ich dann meinen Mund gut spüren kann« (a. a. O., S. 14). Eine Möglichkeit, mit dem Chaos von unklaren, nicht einzuordnenden Wahrnehmungsreizen umzugehen, ist es also, sich intensive oder auch gleichförmige Reize zu verschaffen, sich etwa selbst zu stimulieren.

Darüber hinaus müssen die Informationen aus den einzelnen Sinneskanälen zu einem konsistenten Bild zusammengefügt werden, ebenfalls eine Leistung unseres Gehirns, die in der Regel unbewusst abläuft. Aus mehreren Informationen wird so eine sinnvolle Gestalt. Schwierig nur, wenn das nicht richtig klappt, wie zwei Betroffene berichten: »Hören und Sehen stehen nicht im Einklang miteinander. Dass bedeutet, dass ich z. B. von einem Auto das Geräusch so verstärkt wahrnehme, als käme es geradewegs auf mich zu, während mir meine Augen das Auto weit entfernt zeigen« (Zöller 1992/2008, S. 14). »Mir fällt immer wieder auf, dass ich dabei Probleme habe, mich gleichzeitig auf Ton und Bilder zu konzentrieren. Entweder verfolge ich die Stimme des Sprechers, oder ich lasse die Bilder auf mich wirken. Beides gleichzeitig geht nicht« (Schuster 2007, S. 27).

Denken

Was wir für die Wahrnehmung gezeigt haben, lässt sich auch auf den Bereich des Denkens übertragen. Wir müssen aus den vielen Gedanken, die uns durch den Kopf schwirren, das auswählen, mit dem wir uns aktuell beschäftigen wollen. Wenn wir jeden Aspekt gleichzeitig erfassen und berücksichtigen wollen, verzetteln wir uns, »kommen zu keinen klaren Gedanken«. Wir müssen zudem flexibel Prioritäten setzen und Unwichtiges aus unserem Bewusstsein verbannen bzw. in den Hintergrund schieben. Mal ist der Kontext, in dem etwas steht, von Bedeutung, mal ist er es nicht. Die Regel, dass man bei einer roten Ampel stehen bleibt, gilt nicht, wenn wir uns bereits auf der Straße befinden2. In einem Text müssen wir herausfinden, was für die Erfassung des Inhalts wesentlich ist. Schulkindern mit Asperger-Autismus fällt es zum Beispiel schwer, sich bei einer Sachbeschreibung zu entscheiden, welche Details sie wiedergeben und welche sie weglassen können. Da sie sich nicht entscheiden können, schreiben sie entweder alles oder vielleicht auch gar nichts, wenn sie meinen, das gar nicht schaffen zu können. Die Extreme sind immer einfacher – so kommt es zu einem ausgeprägten Schwarz-Weiß-Denken. Häufig finden wir das Problem, dass insbesondere Ambivalenzen – etwas ist sowohl gut als auch in einer anderen Beziehung schlecht – nicht gut ausgehalten werden können.

Oft gerät ein Gedanke extrem in den Vordergrund – kaum spricht jemand vom Zugfahren, muss der Betroffene sich über Eisenbahnen oder Fahrpläne usw. auslassen und kommt von dem Thema nicht mehr los, obwohl alle anderen längst genervt sind. Oder der Gedanke an den Chef, der ihn einmal vor drei Wochen kritisiert hat, beschäftigt ihn so sehr, dass er ihm noch nach Wochen den Schlaf raubt. Wenn wir uns zwischen verschiedenen Alternativen entscheiden müssen, ist ebenfalls die Bildung von Vordergrund und Hintergrund gefordert. Einem jugendlichen Klienten mit Asperger-Autismus fiel es so schwer, sich in der Therapiestunde für ein bestimmtes gemeinsames Spiel zu entscheiden, dass wir die Lösung entwickelten, alle Möglichkeiten mit Zahlen zu versehen und dann zu würfeln.

Manchmal scheint das Hirn der Betroffenen geradezu auf Hochtouren zu laufen – sie »zerbrechen sich den Kopf«.

Abb. 2: Kopfzerbrechen (mit freundlicher Genehmigung von Andreas Pfeifle, www.grafik-etc.de)

Auch hier geht es wie bei der Wahrnehmung um die Bildung von Gestalten, um die flexible Differenzierung von Vordergrund und Hintergrund.

Fühlen

Unser Fühlen ist der Bereich, der am meisten von Ambivalenzen geprägt ist: Selten ist ein Gefühl wirklich eindeutig und einseitig – wir sind nur wütend oder nur traurig. Meist gibt es zum Beispiel hinter der Trauer, dass wir etwas nicht bekommen, noch einen Teil Ärger, dass uns unser Gegenüber unser Bedürfnis nicht erfüllt. Beschäftigt man sich mit dem in der Autismus-Therapie verbreiteten Bildmaterial, auf dem man Gefühle in Gesichtern erkennen soll, so stoßen auch wir immer wieder an Grenzen. Vieles ist nicht eindeutig – und wenn ich als Therapeut meiner Klientin beschreiben soll, was genau den Unterschied zwischen einem traurigen und einem ärgerlichen Gesichtsausdruck ausmacht, komme ich schnell auf Merkmale, die wie etwa die gekräuselte Stirn zu beiden Gefühlen passen. Wir verlassen uns auf unsere Intuition. Dieses Gemenge aus mehr oder weniger bewussten Wahrnehmungen, aus Mitschwingen (vgl. Bauer 2005) und aus Erfahrungswerten ist nur sehr schwer in Worte, in digitale Information zu übersetzen. Es verwundert also nicht, dass Menschen mit Autismus mit der Wahrnehmung und Beurteilung von Gefühlen anderer oft überfordert sind. Es gibt das weit verbreitete Vorurteil, Autisten würden Gefühle nicht wahrnehmen, auch selbst gefühllos sein. Unsere Erfahrungen widersprechen dem: Mehrere Klienten mit hochfunktionalem Autismus berichteten in unserer Praxis, dass sie sehr wohl die Gefühle anderer wahrnehmen, aber oft nicht richtig einordnen können und besonders oft nicht einschätzen könnten, inwieweit sie selbst betroffen sind. In einem Therapieprozess, in dem ich eine Mutter mit ihrem jugendlichen Sohn mit frühkindlichem Autismus regelmäßig auf Gängen durch die Stadt begleitete, wurde dieser jedes Mal sehr unruhig, wenn wir nebenher kontroverse Themen besprachen.

Mit dem Problem, das Relevante nicht vom Unwichtigen unterscheiden zu können, bleibt einem Betroffenen nur die Alternative, zum Spielball der Emotionen anderer zu werden oder sich ganz rigide abzugrenzen – fatal, wenn ihm das dann als Desinteresse oder Gefühllosigkeit ausgelegt wird. Über diese Problematik hinaus, die ja schon in den Bereich des sozialen Miteinanders gehört, wirkt sich die Grundstörung aber auch auf die eigenen Gefühle aus: Wenn Gefühle nicht situationsadäquat bewertet und austariert werden können, bleiben nur die Extreme, häufig im abrupten Wechsel – die Kontrolle der Impulse wird erschwert.

Handeln

Auch beim Handeln ist diese Differenzierung von großer Bedeutung. Denn erst durch die Unterscheidung, was an einer Handlung wesentlich und was beliebig bzw. variabel ist, wird es möglich, sich flexibel an die jeweiligen Erfordernisse anzupassen und automatische Abläufe zu entwickeln, die eine schnelle und ressourcensparende Aktion auch in verschiedenartigen Konstellationen erlauben.

Eine Betroffene schildert dies sehr eindrücklich und beschreibt auch die Folgen: »Einmal war ich zu Besuch in einer Fördereinrichtung für behinderte Erwachsene. Sie galten alle als autistisch. Ein junger Mann wurde in der Küche angewiesen, den Zucker vom Tisch in den Schrank zu stellen. Er nahm auch die Dose und ging auf den Schrank zu. Der Zucker gehörte in einen Hängeschrank, unter dem eine Spüle stand. Der junge Mann trug die Dose mit beiden Händen dem Schrank zu und – erstarrte dann. Er bewegte sich nicht mehr von der Stelle. Sein Verhalten war für die anderen an dem Punkt kein lesbares Programm. Für mich schon. Ich kannte diese Erstarrung genau. An diesem Punkt hätte er eine zerlegte Anweisung gebraucht, um ihn aus seiner Erstarrung zu wecken. Trag den Zucker mit beiden Händen weiter zur Spüle! Stell die Dose auf der Spüle ab! Lass die Dose mit beiden Händen los, wenn sie die Spüle berührt! Leg danach eine Hand auf den Türgriff! Zieh jetzt dran! Lass die Tür los! Heb mit beiden Händen die Dose wieder an! Heb sie so hoch bis an das Brett mit den Tassen! Tu sie dorthin, wo das freie Loch zwischen den Tassen ist! Lass los, wenn die Dose fest auf dem Brett steht! Fass den Schrankgriff wieder an! Mach die Tür zu! Nimm die Arme wieder runter! Dreh dich um und komm dann her!

Keinem »normalen« Menschen ist bei einer so einfachen Alltagshandlung noch bewusst, aus wie vielen Einzelteilen sie zusammengesetzt ist. Er stellt die Dose einfach dahin, wohin sie gehört, in einem einzigen, unaufwendigen Bewegungsfluss. Bei mir tritt das Problem mit der Erstarrung immer dann auf, wenn ich den Absprung von einer Teilbewegung in die nächste Bewegungsphase nicht finde. Dann ist die Verbindung abgerissen, der Zug verpasst. Um die Hilflosigkeit nicht zu spüren und die Verwirrung, die dann auftritt, mache ich manchmal dann eine Ersatzbewegung, die überhaupt nichts mit der Bewegung zu tun hat, die ich ausführen will. Dann will ich nur das Loch nicht im Bewegungsmuster spüren. Die Ersatzbewegung ist ein Lückenfüller« (Empt 1995/2008, S. 21).

Zudem wird es schwierig, etwas zu tun, ohne bewusst darüber nachzudenken. Man braucht nicht autistisch zu sein, um das zu kennen: Wenn wir beim Tanzen an die Schritte denken müssen, klappt es nicht oder nur sehr unbeholfen. Das Schalten im Auto geht erst reibungslos, wenn wir über das Wie nicht mehr nachdenken müssen. Menschen mit Autismus haben große Schwierigkeiten mit dieser Automatisierung. Eine Betroffene berichtet: »Ich muss jede Bewegung oder Handlung vorher denken, auch bei den Routinen. Ich kann Bewegungen und Handlungen nicht automatisch ausführen, wie die meisten Menschen das können« (Zöller 2001, S. 41).3 Und Gunilla Gerland schreibt: »Aber komplizierte Dinge zu tun und dabei reden zu müssen, das wurde entschieden zu viel. Ich konnte nicht spazieren gehen und mich gleichzeitig dabei unterhalten. Ich konnte nämlich nicht automatisch gehen, sondern musste unablässig an das Gehen denken, um überhaupt gehen zu können« (Gerland 1998, S. 235).

Der unbeholfene Gang von Menschen mit Asperger ist bekanntlich ein markantes Erkennungsmerkmal.

Kommunizieren

Was wir beim Denken gezeigt haben, gilt natürlich ebenso im Bereich der Kommunikation. Was ist von einem Satz, den ein anderer zu mir sagt, wesentlich? Zur weiteren Erschwernis kommen hier noch vielfältige Variationen dazu, die sich durch die Ausdrucksweise und die Betonung der Wörter, die Satzmelodie und die Satzstellung ergeben. An der Kombination all dieser Merkmale lesen wir ab, ob das Gesagte vielleicht ironisch oder metaphorisch gemeint ist, welche Botschaft der Sender übermitteln will.

Wir selbst sind gewohnt, dass die anderen ebenfalls in Bildern sprechen und in der Regel mit dem Inhalt einer Aussage immer noch eine Intention verbunden ist. Ein Mensch, der sich ausschließlich auf den Sachinhalt konzentriert, wird erleben, dass er immer wieder missverstanden wird.

Die nonverbalen Signale, welche die verbale Kommunikation begleiten, können zudem auch für sich stehen und sind in der Regel noch schwieriger zu interpretieren, da die wesentliche Information hier nicht digital, sondern analog übermittelt wird. Ein Gefühl zu einer Thematik wird auf diese Weise nicht in wenigen eindeutigen Einzelkategorien, sondern in unendlichen Abstufungen und Kombinationen mit anderen Aspekten kommuniziert. Besonders der Blickkontakt ist eine hochkomplexe Form der Kommunikation – es ist nicht verwunderlich, dass jemand Blickkontakt vermeidet, wenn er diese Komplexität nicht verarbeiten kann. Und es passt ebenfalls in diesen Erklärungsansatz, wenn Menschen mit Autismus besser mit der schriftlichen Kommunikation klarkommen, wenn viele gern das Internet nutzen und chatten, da hier ein guter Teil der verwirrenden Zusatzinformation wegfällt.

Als wäre es der Schwierigkeiten nicht genug, kommt noch eine weitere Ebene dazu: Die der sozialen Regeln der Kommunikation. In welcher Situation darf oder sollte etwas

Abb. 3: Die Fallen unpräziser Sprache

gesagt oder nicht gesagt werden? Im Allgemeinen müssen schon Kinder lernen, dass man nicht öffentlich über den dicken Mann im Bus redet. Menschen mit Autismus haben hier wieder einmal die Schwierigkeit mit der Komplexität solcher Gepflogenheiten, die ja auch noch mit der sozialen Subgruppe variieren: Was in der einen sozialen Gruppe üblich ist, kann woanders als Affront gelten.

Bei sehr starker Ausprägung der autistischen Störung wird der Sinn von Kommunikation gar nicht verstanden, die Möglichkeiten zur Befriedigung von Bedürfnissen, für die andere Personen notwendig sind, reduziert sich dann auf den »Werkzeuggebrauch«, also das Führen der Hand des Gegenübers zu dem gewünschten Gegenstand. Das echolalisch antwortende Kind hat verstanden, dass ich von ihm will, dass es etwas sagt, es hat aber keine Idee davon, dass Sprache mehr als eine Abfolge von Lauten ist und es damit auch seine Bedürfnisse ausdrücken könnte. Um diesen Sinn zu erfassen, muss schon das Baby einen Zusammenhang zwischen der eigenen Aktion und der Reaktion des Gegenübers erkennen, muss etwa merken, dass auf sein Schreien die Mutter kommt und sich ihm zuwendet. Auch hier wirkt sich also aus, wenn Reize nicht flexibel selektiert und zusammengefügt werden können.

Interagieren

Eng verknüpft mit der Kommunikation ist der Bereich der sozialen Interaktion. Über das hinaus, was Menschen uns mitteilen, machen wir uns ein Bild davon, was in ihnen vorgeht, wir denken uns in sie hinein. Diese sogenannte »Theory of Mind« erlaubt es uns, abzuschätzen, was jemand wohl tun wird, was wir von ihm erwarten können. Dafür ist es von zentraler Bedeutung zu erkennen, dass das, was wir selbst wissen, dem Gegenüber nicht unbedingt bekannt sein muss, dass es also verschiedene Perspektiven gibt, die wir berücksichtigen müssen4.

Diese Fähigkeit, sich in andere hineinzudenken, ermöglicht uns Leistungen, die bislang kein Computer erreichen kann. Bei den in immer mehr Autos eingebauten Fahrassistenzsystemen wie den Abstandstempomaten kann man unseren Vorsprung gut erkennen: Als menschlicher Fahrer kann ich aufgrund meiner Erfahrung eine Hypothese entwickeln, was der Fahrer des vor mir auf meine Fahrbahn einbiegenden Wagens wohl tun wird, und werde mich darauf einstellen können. Dabei werte ich möglicherweise eine Vielzahl von Informationen aus: Aus dem Fahrzeug und dessen Zustand und dem Aussehen und vielleicht auch dem Alter des Fahrers kann ich eine Idee entwickeln, ob das jemand ist, der noch schnell dazwischenprescht oder jemand, der zögert. Wie ist das andere Auto an die Kreuzung herangefahren? Gibt es andere Personen in der Nähe, die den Fahrer vielleicht ablenken könnten? Vielleicht suche ich auch den Blickkontakt und erkenne, ob der andere mich gesehen hat … Eine Menge Kontext, die meine Entscheidung, mich auf eine Vollbremsung einzustellen oder gelassen weiterzufahren, verbessern kann. Die Technik kann all das (noch) nicht, sie kann bislang per Radar oder Kameras nur Abstände und Geschwindigkeiten erfassen und reagiert deshalb zwar zuverlässig und präzise, aber eben nicht optimal.

Unsere Fähigkeit zur Erfassung und Einordnung hochkomplexer Situationen und insbesondere die Theory of Mind sind also äußerst hilfreich für unser alltägliches Leben.

Sich einzufühlen, zu mentalisieren, erfordert sogar noch mehr Fähigkeiten, mit Komplexität umzugehen, da man hier ausschließlich mit Logik nicht weiterkommt. Eine hochintelligente Klientin steht immer wieder fassungslos davor, wie widersprüchlich Menschen sind, wie sie a sagen und b tun oder wenn sie immer wieder die Unwahrheit sagen, sogar wenn das Motiv dafür nicht rational zu erschließen ist.

Und immer dann, wenn es um sozioemotionale Gegenseitigkeit geht, um das gemeinsame Erleben, das Teilen von Gefühlen und das damit verbundene Genießen von Gemeinsamkeit und Kontakt, wird es viel zu verwirrend und schwierig, wenn jemand keine Ordnung in derlei komplexe Sachverhalte bringen kann und seine Zuflucht in der Logik suchen muss. Schon das mit anderen spielende Kind muss Kompromisse zwischen den eigenen Interessen und denen der anderen Kinder finden: Was machen wir jetzt, was vielleicht später oder gar nicht? Kann es das nicht, ist es doch einfacher und sicherer, allein zu bleiben und sich mit sich selbst oder immer gleichen Dingen zu beschäftigen. Dort kennt es sich dann aus und kann nicht böse überrascht werden.

Und wenn ich als Mensch mit Autismus zum wiederholten Male am Verständnis sozialer Situationen verzweifelt bin und immer wieder Ärger und Ablehnung oder zumindest das Gefühl erlebe, dass mich niemand versteht und mir ständig Absichten unterstellt werden, die ich nie gehabt habe, dann werde ich kaum noch motiviert sein, mich auf Sozialkontakte einzulassen.

Zusammenfassung

Ich habe in den vorangegangenen Abschnitten dargestellt, dass die Fähigkeit der Gestaltbildung in allen Bereichen unserer kognitiven, affektiven, exekutiven und sozialen Aktivität notwendig ist und dass ihre Beeinträchtigung, wie sie dem Autismus nach unserer Auffassung zugrunde liegt, gravierende Auswirkungen hat. Ein Mensch, der nicht situationsangepasst und flexibel Vordergrund und Hintergrund zu differenzieren vermag, ist gezwungen, die Anforderungen des Alltags auf andere Weise zu bewältigen – er wird zu Verhaltensweisen greifen, die ihm helfen, möglichst gut mit den auf ihn einstürmenden Reizen und Informationen zurechtzukommen, sich also auf der Grundlage seiner Besonderheit an die Umwelt anpassen.

 

Formen der Anpassungsstrategien

 

Wir betrachten die autistischen Symptome, von denen viele beispielhaft in den Beschreibungen der Einzelbereiche genannt wurden, nicht als den eigentlichen Autismus, sondern als Anpassungsstrategien.

Abb. 4: Anpassungsstrategien

Offensichtlich ist die Problematik bei den einzelnen Betroffenen qualitativ und quantitativ sehr verschieden ausgeprägt5, sie verfügen wie alle Menschen darüber hinaus auch über sehr unterschiedliche weitere körperliche und geistige Potenziale. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass sich die Anpassungsstrategien unterscheiden, im Extrem vom Kind mit frühkindlichem Autismus, welches völlig auf sich selbst bezogen ist und auf keinerlei Kontakt und Kommunikationsversuche reagiert, bis hin zum nur leicht Betroffenen, der dank weit überdurchschnittlicher Intelligenz in der Lage ist, seine Defizite effektiv auszugleichen6.

Die grundlegenden dieser Strategien bestehen in der Vermeidung von Reizen und Informationen und der Schaffung einer Ordnung, die trotz der eingeschränkten Möglichkeiten zu bewältigen ist. Dazu gehören der aktive Rückzug, die Vermeidung von Körper- und Blickkontakt, die vielfältigen Aktivitäten insbesondere junger Kinder mit frühkindlichem Autismus, sich eindeutige und rhythmisch wiederkehrende Reize zu verschaffen und die Stereotypien und Rituale jedweder Form.

Diese Grundstrategien führen bei starker Ausprägung in der Folge zu fehlendem Lernen sowohl im kognitiven als und insbesondere auch im sozialen Bereich und der Kommunikation. Durch die Einschränkung von Interaktion und Kommunikation werden die schon durch die Grundproblematik bestehenden Probleme, die Regeln der Welt zu erkennen, zu wissen und zu verstehen, was auf uns zukommt, was von uns erwartet wird, noch verstärkt. Wenn jemand eine Regel erkannt zu haben glaubt und immer wieder die Erfahrung macht, dass seine Annahmen falsch sind, dann wird er sich zunehmend hilflos und ausgeliefert fühlen. Eine Erfahrung, die im Extremfall bis hin zu Aggression und Autoaggression führen kann.

Eine zweite grundlegende Strategie, die wir besonders bei Menschen mit hochfunktionalen autistischen Störungen antreffen, ist die der Anpassung: Wenn ich mich bemühe, alles richtig zu machen, immer das zu machen, was von mir erwartet wird, meine eigenen Bedürfnisse ganz zurückstelle, dann kann ich vielleicht erreichen, dass meine Bezugspersonen nicht böse auch mich sind, dass sie mich mögen, dass ich endlich dazugehöre. Eine solche Strategie verfolgt beispielsweise das Kind mit Asperger-Symptomatik, das nur mit einer Eins bei der Klassenarbeit zufrieden ist und schon bei der Zwei »ausrastet«. Oder auch der 13-Jährige mit frühkindlichem Autismus, der mich in den Therapiestunden daran verzweifeln ließ, dass er sich ganz offensichtlich immer diejenige Aktivität als nächste wünschte, von der er glaubte, ich würde sie erwarten. Diese Strategie, das Streben nach Perfektion, hat die fatale Nebenwirkung, dass sie immer wieder scheitert und in die Überforderung und damit in der Folge in eine Selbstwertproblematik führt. Die häufig als Komorbidität auftretenden Depressionen sind sicherlich in diesem Zusammenhang zu verstehen.

Die dritte grundlegende Anpassungsstrategie ist die der Kontrolle: Wenn ich alles nach meinen Regeln mache, wenn ich am besten sogar meine Mitmenschen dazu bringe, meinen Regeln und Anweisungen zu folgen, dann kann mich nichts mehr überraschen, dann habe ich die Komplexität der Kompromisse ausgeschaltet. Die Beispiele für Betroffene, die diese Strategie verfolgen, sind zahlreich und vielfältig: Der Löffel, der immer rechts liegen und rot sein muss, der Wirsing zum Mittagessen, das Kind, welches mir im Rollenspiel jedes einzelne Wort für meine Rolle vorgibt … Hier leiden dann oft die Bezugspersonen, die sich auf die abstrusesten Regeln einlassen, weil sie sonst mit einer Person zu tun bekommen, die bestenfalls alles boykottiert und schlimmstenfalls aggressiv wird. In der Folge ziehen sich andere zurück, die anderen Kinder wollen nicht mehr mit dem autistischen Kind spielen, die Nachbarn machen sich rar – und die Bezugspersonen leiden mit.

 

Konsequenzen für die therapeutisch-pädagogische Arbeit

 

Wenn wir diesen Überlegungen folgen, wird offensichtlich, dass es ein zentrales Anliegen von Therapie und Pädagogik sein muss, den Betroffenen Sicherheit zu vermitteln und damit die Grundlage für die Teilhabe am gemeinschaftlichen Leben, an Lernen und Entwicklung zu schaffen. Nur so wird es möglich, von der gewählten Strategie abzuweichen und sie bei entsprechendem Potenzial in allen Facetten zu reflektieren.

Wesentliche Elemente zur Vermittlung dieser Basis sind:

•  Überschaubare und zu bewältigende Strukturen und Anforderungen,

•  Klarheit von Regeln und Grenzen,

•  geeignete Strukturierung des Umfelds, visuelle Orientierungshilfen,

•  Balance zwischen Gleichförmigkeit und Veränderung,

•  Vermeidung von Über- und auch Unterforderung,

•  positive Nutzung der Tendenz zu Ritualen,

•  Klarheit und Vorhersehbarkeit des eigenen Verhaltens,

•  klare Kommunikation,

•  Zergliederung von Handlungsanweisungen,

•  Sorgfalt bei der Deutung von Verhaltensweisen.

Die bekannte Forderung nach einer möglichst frühen Diagnose und einem möglichst frühen Beginn von therapeutischen Maßnahmen erhält durch unsere Überlegungen weitere Nahrung: Es geht nicht allein darum, stereotypes Handeln möglichst frühzeitig zu stoppen und stattdessen produktives Lernen zu initiieren, was ja für sich genommen schon äußerst wichtig ist7.

Es geht auch darum, eine sekundäre Traumatisierung zu verhindern: Liebevolle Eltern werden ein schreiendes Baby, das nicht gerade Hunger oder eine volle Windel hat, in den Arm nehmen und zu trösten versuchen. Wenn das Baby nun Körperkontakt nicht ertragen kann, wird es statt Trost gerade in dieser Situation, wo es Zuwendung braucht, erleben, dass ihm seine engsten Bezugspersonen etwas äußerst Unangenehmes antun. Selbst die sensibelsten Eltern werden sich in dieser Situation hilflos erleben, werden im besten Falle irgendwann einen Weg finden, das Kind anders zu beruhigen. Sie werden aber immer wieder in Situationen kommen, in denen die bewährten pädagogischen Strategien nicht helfen, in denen dieses besondere Kind ganz andere Unterstützung braucht. Das Kind wiederum wird immer wieder erleben, dass es nicht darauf vertrauen kann, die für sich passende Hilfe auch zu bekommen – ein Teufelskreis, der psychische Spuren hinterlässt und meist erst enden kann, wenn über die Diagnose und die anlaufende Beratung Verstehen erreicht wird.

Die Schaffung eines autismusspezifisch entwicklungsförderlichen Umfelds ist die notwendige Voraussetzung, auf der die Vermittlung von Lerninhalten erst sinnvoll möglich ist. Wir sehen es deshalb als zentrale Aufgabe unserer Einrichtung an, die familiären und institutionellen Bezugspersonen eines Klienten in diese Richtung zu unterstützen.

Darüber hinaus kann die besondere Situation des therapeutischen Settings mit einer therapeutischen Beziehung, die aus den bewertenden und reglementierenden Seiten des pädagogischen Alltags herausgehoben ist, eine wichtige Chance und notwendige Strategie sein, um den autistischen Teufelskreis in Richtung auf mehr Lebensqualität für die Betroffenen aufzulösen.

 

Literatur

 

Bauer, J. (2005): Warum ich fühle, was du fühlst. Hoffmann und Campe, Hamburg

Empt, A. (2008): »Verpaßter Anschluß«. Unveröffentlichtes Manuskript; Köln 1995. In: Verein zur Förderung von autistisch Behinderten e. V., Stuttgart: Autistische Menschen verstehen lernen. Band II. Eigenverlag, Stuttgart

Frith, U. (1989): Autism: Explaining the enigma. Blackwell, Oxford (deutsch: Autismus, ein kognitionspsychologisches Puzzle. Heidelberg 1992)

Gerland, G. (1998): Ein richtiger Mensch sein. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart

Grandin, T. (2008): An autistic person explains her experiences with sensory problems, visual thinking and communication difficulties. Vortrag in Den Haag 1992, zitiert nach: Verein zur Förderung von autistisch Behinderten e. V., Stuttgart: Autistische Menschen verstehen lernen. Band II. Eigenverlag, Stuttgart

Hüther, G. (2004): Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen

Kehrer, H. E. (1989): Autismus. Asanger, Heidelberg

Petzold, H. (2003): Integrative Therapie. Band 1–3. Junfermann, Paderborn

Scheunpflug, A. (2001): Biologische Grundlagen des Lernens. Cornelsen, Berlin

Schuster, N. (2007): Ein guter Tag ist ein Tag mit Wirsing. Weidler, Berlin

Vermeulen, P. (2009): Das ist der Titel: Über autistisches Denken. Bosch & Suykerbuyk, Gent

Walter, H.-J. (1994): Gestalttheorie und Psychotherapie. 3. Auflage. Westdeutscher Verlag, Opladen

Wertheimer, M. (1925): Drei Abhandlungen zur Gestalttheorie. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt

Williams, D. (1992): Ich könnte verschwinden, wenn du mich berührst. Hoffmann und Campe, Hamburg

Zöller, D. (1992): Ich gebe nicht auf. Scherz, Bern

Zöller, D. (2008): Tagebuch 1992. In: Verein zur Förderung von autistisch Behinderten e. V., Stuttgart: Autistische Menschen verstehen lernen. Band II. Eigenverlag, Stuttgart

Zöller, D. (2001): Autismus und Körpersprache. Weidler, Berlin

1     Dieser Artikel ist bereits in deutlich gekürzter Form in folgender Publikation erschienen: Heike Drogies (Hrsg.), AUTISTIN, Lebenskünstler-Verlag, Osnabrück, 2017; http://www.lebenskuenstler-verlag.de/aut-ist-in/

2     lesenswert zu dieser Thematik, allerdings von der Aussage her eingeschränkt auf die Gruppe der Asperger-Autisten, ist das Buch von Peter Vermeulen (Vermeulen 2009).

3     Zitat einer anonymen Frau mit Asperger-Autismus.

4     Näheres dazu und zu den Schwierigkeiten von Kindern mit Autismus mit dem Perspektivenwechsel beschrieb Uta Frith 1989 (deutsche Ausgabe: 1992, S. 145 ff.) in ihrem Bericht zu den Ergebnissen einer Untersuchung auf Grundlage der Sally-Anne Bildergeschichte.

5     Wir stellen darüber hinaus fest, dass das Ausmaß der Schwierigkeiten offensichtlich zeitlichen Schwankungen unterliegt, die möglicherweise mit der jeweiligen gesundheitlichen Verfassung korrelieren.

6     Eine erwachsene Klientin berichtete beispielsweise von ihren Strategien, die Intentionen einer Dozentin im Studium durch sehr genaue Beobachtung und logische Auswertung zahlreicher Details erfolgreich einzuschätzen, was ihr nur durch ihr überragendes kognitives Potenzial möglich war.

7     Die Ergebnisse der Hirnforschung legen nahe, dass repetitive Aktivitäten neuronale Bahnungen bewirken, die als eingefahrene Programme immer schwerer zu verlassen sind (vgl. dazu u. a. Hüther 2004, S. 62 f., und Scheunpflug 2001, S. 84).

 

Ethische Grundlagen der Autismus-Therapie8

Wolfgang Rickert-Bolg

 

Seit einiger Zeit entbrennt eine neue Diskussion über die Therapiemethoden, die sich für die Behandlung autistischer Störungen eignen. Die im Bundesverband autismus Deutschland e. V. organisierten Autismus-Therapiezentren werden von den Verfechtern verhaltenstherapeutischer Intensivprogramme kritisiert oder sogar angegriffen (u. a. Röttgers 2011). Unter der Überschrift der Forderung nach Evidenzbasierung der Therapie wird behauptet, bei Autismus müsse immer die Verhaltenstherapie zum Einsatz kommen, am besten in Form intensiver Lernprogramme, die innerhalb der Familie in der Regel mit Hilfskräften durchzuführen seien. Es sei der wissenschaftliche Nachweis erbracht, dass dieses Vorgehen das einzig richtige bei Autismus sei. Die nähere Auseinandersetzung mit den vorliegenden Forschungsergebnissen zeigt, dass eine solche globale Aussage nicht haltbar ist, sondern eine differenziertere Betrachtung der Wirkkomponenten von Therapie notwendig ist (vgl. dazu Döringer 2014).

Auch in den Autismus-Therapiezentren haben verhaltenstherapeutische Methoden einen wichtigen Stellenwert (vgl. Rittmann 2014). Die Erkenntnis, dass die therapeutische Förderung bei Autismus so früh und intensiv wie möglich einsetzen sollte, ist allseits unbestritten. Die therapeutischen Zugangswege sind allerdings unterschiedlich und stehen in Abhängigkeit von den jeweiligen ethischen Standpunkten und den grundlegenden Zielen der Therapie.

 

Ethik und Methode

 

Viele psychologische Theorien und therapeutische Methoden sind mit einem bestimmten Bild des Menschen und davon abgeleiteten grundlegenden Zielen verbunden. Die Methoden der Humanistischen Psychologie wie z. B. die Gesprächstherapie gehen davon aus, dass Menschen über die so genannte Selbstaktualisierungstendenz verfügen, nämlich das grundlegende Motiv haben, sich weiterzuentwickeln und Selbstständigkeit zu erlangen.9 Daraus abgeleitet ist es die Aufgabe der Therapie, den Klienten durch möglichst wenig invasive Impulse in seiner Entwicklung zu unterstützen, indem Entwicklungsprozesse in Gang gesetzt und begleitet werden.

Andere Theorien und therapeutische Methoden sind zunächst nicht mit einer bestimmten ethischen Haltung verknüpft. Sie sind per se weder gut noch schlecht, vergleichbar einem Teich, in dem ich schwimmen, aber auch ertrinken kann. Dazu gehören unter anderem die Lerntheorie und die daraus entwickelte Verhaltenstherapie.

Die Lerntheorie beschreibt das Verhalten von Lebewesen von dem Aspekt des Lernens her. Sie verzichtet auf Interpretationen und Zuschreibungen (Mentalisierungen), sondern konzentriert sich auf das beobachtbare Verhalten. Die auf dem Modell der Lerntheorie basierenden Erkenntnisse haben einen großen Beitrag dazu geleistet, menschliches Verhalten objektiver zu beurteilen und zu erforschen. In vielen Lebensbereichen, zum Beispiel in der Pädagogik, ist es fatal, die eigenen Bewertungen und Zuschreibungen zum Verhalten eines anderen Menschen als Tatsache anzusehen, statt zwischen dem, was ich beobachten kann, und dem, was ich daraus schließe und was ich infolgedessen fühle, zu unterscheiden. Meine Gedanken und Gefühle dazu sind immer auch von dem Hintergrund meiner eigenen Erfahrungen beeinflusst.

Auf der Lerntheorie basierende Methoden werden in der Therapie ebenso wie in der Werbung eingesetzt. Ich kann Menschen mit ihrer Hilfe dazu bringen, sich zu ihrem Wohl an soziale Regeln zu halten oder etwas Neues für sie Bedeutsames zu lernen – oder ich kann Menschen etwas verkaufen, was sie gar nicht brauchen – einen größeren Fernseher, ein schnelleres Auto … (vgl. Schramm 2007).

Bei Methoden wie diesen entscheidet erst die ethische Haltung bei der Anwendung, ob daraus etwas Gutes oder etwas Schlechtes für den oder die Betroffenen entsteht.

 

Ethische Grundprinzipien der Autismus-Therapiezentren des Bundesverbands Autismus-Deutschland

 

Autismus-Deutschland ist der bundesweite Dachverband zahlreicher regionaler Elternvereine, die derzeit etwa 50 auf Autismus spezialisierte Therapiezentren in eigener oder professioneller Trägerschaft betreiben. Nachdem der Dachverband bereits in den 90er Jahren Leitlinien für die Arbeit in den Therapiezentren herausgegeben hatte (Bundesverband Autismus-Deutschland 2000), wurde 2012 im Rahmen der Qualitätssicherung ein Handbuch veröffentlicht (Bundesverband Autismus-Deutschland 2012), welches Leitlinien und Grundsätze der therapeutischen Arbeit in den Zentren definiert.

Nach dem Rekurs auf den Grundsatz »Die Würde des Menschen ist unantastbar« wird dort betont:

»Es ist uns wichtig, die Betroffenen sowohl mit ihren Stärken als auch mit ihren entwicklungsbedürftigen Seiten zu sehen. Nicht um jeden Preis soll ›Normalisierung‹ erreicht werden. Menschen mit Autismus-Spektrums-Störung machen uns immer wieder deutlich, dass ihre Sicht auf die Welt zwar eine besondere ist, aber nicht automatisch als defizitär bezeichnet werden sollte. Aus diesem Grund ist es wichtig, immer wieder gemeinsam abzuwägen, ob ein autistisches Symptom den Betroffenen in bedeutsamer Weise davon abhält, in seinem Alltag Lebenszufriedenheit zu erlangen. … Im Mittelpunkt unseres professionellen Denkens und Handelns stehen der Mensch mit Autismus-Spektrum-Störung, seine Familie bzw. Betreuer und das erweiterte Umfeld. Wir sehen unsere Aufgabe darin, Chancengleichheit zu fördern und die soziale Inklusion voranzutreiben. Menschen mit Autismus soll ermöglicht werden, ein Höchstmaß an Unabhängigkeit und Selbstbestimmung sowie an umfassenden körperlichen, geistigen, sozialen und beruflichen Fähigkeiten zu erlangen und zu bewahren. Wichtige gemeinsam abzustimmende Ziele sind Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft und Selbstständigkeit. Unser Bestreben ist die Schaffung von Voraussetzungen für eine kontinuierlich hohe Entfaltung der individuellen Persönlichkeit sowie der bestmöglichen Lebenszufriedenheit und Lebensfreude für Menschen mit einer Autismus-Spektrums-Störung.« (a. a. O.)

Die Autismus-Therapiezentren stellen damit Beziehung und Bindung in den Fokus ihrer therapeutischen Intervention und werden darin durch die Erkenntnisse der allgemeinen Therapieforschung bestätigt, die diese Elemente als wesentliche Wirkfaktoren von Entwicklungs- und Therapieprozessen herausgearbeitet haben (vgl. Grawe et al. 1994). Die einzelnen Autismus-Therapiezentren berufen sich dabei auf unterschiedliche therapeutische Schulen und wählen unterschiedliche Begrifflichkeiten. Gemeinsam ist in ihren Konzepten das Bemühen um Intersubjektivität (Rickert-Bolg 2011) bzw. Partizipation. Letztere wird als Umsetzung der entsprechenden UN-Konventionen (Bundesrepublik Deutschland 2008) im Bereich der Jugend- und Behindertenhilfe zunehmend in den Blick genommen (siehe z. B. Stadt Münster 2013). Ein zentraler Aspekt dabei ist die Erkenntnis, dass Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit für die Motivation einer Person zur eigenen Weiterentwicklung und zum Lernen von größter Bedeutung ist.

Im Bereich der therapeutischen Arbeit mit Menschen, die von Autismus betroffen sind, bedeuten die Konzepte der Intersubjektivität bzw. Partizipation, von dem Grundsatz auszugehen: So viel äußere Strukturvorgabe wie nötig, so wenig wie möglich.10

Neben diesem Grundsatz, der die Orientierung auf die Ressourcen der Betroffenen einschließt, betonen die Autismus-Therapiezentren zudem den Blick auf die Körperlichkeit und die Emotionen und insbesondere auch den Einbezug des Lebensumfelds in die therapeutische Intervention. Letzteres beschränkt sich nicht allein auf die Mitarbeit von Eltern oder anderen Bezugspersonen bei der Förderung ihrer Kinder, sondern zielt auch auf ihre emotionale Verarbeitung der Behinderung des Kindes, die als wichtige Ressource im Bemühen um ein entwicklungsförderliches Umfeld für die Betroffenen gesehen wird.

 

Zusammenfassung

 

Die dem Bundesverband Autismus-Deutschland angeschlossenen Therapiezentren nutzen eine Vielzahl therapeutischer Methoden, die sie zu einem multimodalen Konzept verbinden. Die Notwendigkeit zu einer solchen Vorgehensweise sehen sie in der breiten Streuung der jeweiligen individuellen Bedarfe der einzelnen Klienten und ihres Umfelds. Während die konkreten therapeutischen Vorgehensweisen durchaus unterschiedlich sind, fußen sie doch auf einer einheitlichen ethischen Grundlage: der Orientierung an den individuellen Ressourcen, an der Förderung der Selbstbestimmung und der Lebenszufriedenheit.

 

Literatur

Bundesrepublik Deutschland (2008): Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 13. Dezember 2006. Bundesgesetzblatt (BGBL) II, S. 1419

Bundesverband Autismus-Deutschland (2000): Leitlinien für die Arbeit in Therapiezentren für Menschen mit Autismus. 2. Auflage. Eigenverlag, Hamburg

Bundesverband Autismus-Deutschland (2012): QM Muster-Handbuch. unveröffentlichtes Arbeitspapier, Hamburg

Döringer, I. (2014): Zur Diskussion der Wirksamkeit von Autismus-Therapien – Positionspapier der im Bundesverband Autismus Deutschland e. V. organisierten Autismus-Therapiezentren. In: Autismus, 78, 13–20

Grawe, K., Donati, R. & Bernauer, F. (1994): Psychotherapie im Wandel. Von der Konfession zur Profession. Hogrefe, Göttingen

Rickert-Bolg, W. (2011): Gelebte Inklusion. In: Bundesverband Autismus-Deutschland: Inklusion von Menschen mit Autismus (S. 273 f). von Loeper, Hamburg

Rittmann, B. (2014): Die Bedeutung verhaltenstherapeutischer Förderung in den Autismus-Therapiezentren. In: Autismus, 78, 21–31

Röttgers, H. R. (2011): Autismus-Spektrum-Störungen: Aktueller Wissensstand und rationale Interventionsstrategien. In: Der Motopäde, 1, 6–10

Stadt Münster, Jugendamt (2013): Empfehlungen zur Beteiligung junger Menschen in der Jugendhilfe. Münster

Schramm, R. (2007): Motivation und Verstärkung. pro-ABA, Hespe, S. 334

8     Dieser Artikel ist bereits im Dezember 2014 in der Mitgliederzeitschrift »Autismus«, Nr. 78, des Bundesverbandes Autismus Deutschland e. V. erschienen.

9     Quelle: http://www.psychology48.com/deu/d/selbstaktualisierungstendenz/selbstaktualisierungstendenz.htm vom 02.11.2013

10  Ein Beispiel: Innerhalb einer Therapiesequenz, in der mit einem Jugendlichen und seiner Mutter geübt wurde, sich in der Öffentlichkeit zu bewegen (die Mutter konnte zuvor mit dem Kind nicht mehr gefahrlos das Haus verlassen), wurde Wert darauf gelegt, dass der Jugendliche den jeweiligen Weg selbst wählen konnte. Als Vorgabe von außen war festgelegt, nicht mehrfach hin- und herzugehen und nach einer Stunde wieder den Ausgangspunkt zu erreichen.

 

»Der rote Faden«: Begleitung von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung in Autismus-Therapiezentren

Christiane Arens-Wiebel

Eine Mutter berichtet:

 

»Schon als unser Sohn Ole 18 Monate alt war, bemerkten wir, dass er anders war als andere Kinder in dem Alter. Er sprach kein Wort, war kaum zu steuern durch unsere Worte, ließ sich nicht trösten, weinte heftig bei scheinbar belanglosen Dingen wie dem Ausziehen von Kleidungsstücken. Er war dann verzweifelt, und es schien ihm richtig schlecht zu gehen. Außerdem konnte man ihn nicht dazu bewegen, sein Gegenüber anzuschauen, wenn er überhaupt dessen Anwesenheit registrierte. Mit seiner älteren Schwester spielte er gar nicht, er war vielmehr ausdauernd damit beschäftigt, runde Dinge zu sammeln, zu drehen, abzureißen oder durch Dagegenschlagen in Bewegung zu versetzen. Wir machten uns sehr große Sorgen! Als Ole 2 Jahre alt war, machte uns der Kinderarzt vorsichtig auf das Thema Autismus aufmerksam. Wir waren hochgradig irritiert. Dennoch wandten wir uns kurz danach an das Autismus-Therapiezentrum in unserer Nähe. Dort war man sich nicht sicher, ob es sich um Autismus handelte, da Ole in der Beobachtungssituation Verhaltensweisen gezeigt hatte, die teilweise eher gegen das Vorliegen einer Autismus-Spektrum-Störung sprachen. Also erhielt Ole weiter Krankengymnastik und Frühförderung, es veränderte sich jedoch nichts. Wir wandten uns erneut ans ATZ, es wurde uns zugehört und sofort gehandelt. Kurze Zeit später, mit 2¼ Jahren, wurde mit Ole eine intensive autismusspezifische Frühtherapiemaßnahme im Autismus-Therapiezentrum (Bremerhaven) begonnen. Zu diesem Zeitpunkt sprach er immer noch kein Wort, schrie und wollte sich nicht anfassen lassen, sodass Körperpflege, aber auch jegliche Interaktion in Katastrophen endete. Wir waren bereit, alles zu tun, damit es unserem Sohn besser ging, auch wenn wir damit eine große zeitliche und persönliche Belastung auf uns nahmen und immer die Sorge hatten, die größere Tochter (die zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal 6 Jahre alt war) zu benachteiligen.«

Ein Junge wie Ole benötigt eine zeitnahe, intensive therapeutische Versorgung. Bei den Eltern besteht großer Bedarf an Beratung und Unterstützung. Bei jungen Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen sind die hieraus entstehenden Probleme oft gravierend und beanspruchen die Familie in hohem Ausmaß. Den Eltern fehlt die Erfahrung im Umgang mit dem schwierigen Kind, und sie fühlen sich häufig psychisch, aber auch physisch überfordert. Das Kind hat Schwierigkeiten, sich mitzuteilen, spricht vielleicht gar nicht oder nur wenig. Es hält an Ordnungen im Umfeld und im Tagesablauf fest, um Sicherheit zu haben. Wenn sich Dinge verändern oder es etwas nicht versteht, kann es mit Verzweiflung oder Wut reagieren. Hier sind die Eltern häufig hilflos, da sie mit gängigen Erziehungsmethoden nicht weiterkommen. Dazu treten bei den Kindern auch andere Probleme auf wie wählerisches Essverhalten, starke Schlafprobleme, unangemessenes Verhalten (z. B. Dinge runterwerfen, Tapeten abreißen, langdauerndes Schreien). Für Geschwister, Verwandte und Außenstehende ist es oft sehr schwierig, Zugang zu dem Kind zu bekommen. Gemeinsames Spiel entsteht beispielsweise nur, wenn das gesunde Geschwisterkind sich in hohem Maße auf die beeinträchtigte Schwester bzw. auf den beeinträchtigten Bruder einstellt.

 

Angebote und Möglichkeiten von Autismus-Therapiezentren

 

Eltern von Kindern, bei denen kürzlich eine Autismus-Spektrum-Störung diagnostiziert wurde, befinden sich häufig in einer schwierigen Situation. Zu wissen, wie die Beeinträchtigung bei dem Kind bezeichnet wird, ist erst einmal gut, da es nun Erklärungen für die Besonderheiten des Kindes gibt. Gleichzeitig beginnen die Eltern Fragen zu stellen von »Warum gerade wir?«, »Was haben wir falsch gemacht?«, »Wird unser Kind eine normale Schule besuchen können?«, »Wird es jemals selbstständig leben können?« bis hin zu »Was können und müssen wir jetzt tun?«. Die Eltern sind häufig verzweifelt und unsicher, wie es jetzt weitergehen soll und suchen Rat bei Therapeuten bzw. in Einrichtungen für Menschen mit Autismus. Was brauchen Eltern und Bezugspersonen in dieser Phase, und wo muss die Unterstützung ansetzen?

Unterstützung von Eltern und anderen Bezugspersonen

Eine derart komplexe Störung erfordert eine gute Information der Bezugspersonen über die Ursachen und Auswirkungen der Autismus-Spektrum-Störung. Nur so können sie verstehen, warum das Kind sich in einer bestimmten Art und Weise verhält. Sie können dann auch nachvollziehen, warum es notwendig, aber auch sinnvoll ist, den Umgang mit dem Kind in einer veränderten, hilfreichen Art zu gestalten.

Bestimmte Probleme von autistischen Kindern (Wahrnehmungsauffälligkeiten, fehlende Kontaktaufnahme, geringe Frustrationstoleranz, Stereotypien etc.) sind erklärbar durch die Störung an sich. Wenn Eltern und andere Bezugspersonen verstehen, warum das Kind sich so verhält, können sie gelassener und förderlicher mit dem Kind bzw. den schwierigen Situationen umgehen.

Oles Mutter erzählt:

 

»Als Ole vier Jahre alt war, riss er mit Vorliebe Knöpfe von Kleidungsstücken seines Gegenübers, da er diese sammelte und liebte. Er erhielt für eine Flugreise einen langen Schal mit aufgenähten Knöpfen, den er ausgelassen »bearbeitete«, und mit dem er über einen langen Zeitraum beschäftigt war. In der Therapie lernte er auch, Knöpfe wieder anzunähen, was er motorisch mühelos bewältigte – nur die Aufgabe des Vernähens oblag der Therapeutin bzw. mir als Mutter. So war eine gelungene Art der Selbstbeschäftigung erarbeitet – wenngleich stereotyp auch sehr kreativ und interaktiv. Ole riss nun keine Knöpfe mehr bei seinem Gegenüber ab, weil ihm immer Knöpfe in ausreichender Zahl zur Verfügung standen.«

In den Therapiezentren gibt es unterschiedliche Konzepte, wie Eltern im Umgang mit dem autistischen Kind unterstützt werden können. Es gibt das Angebot von Gesprächen, in die auch andere Verwandte und weitere Bezugspersonen mit einbezogen werden können. In manchen ATZ wird den Eltern die Einbeziehung in Therapiestunden angeboten. Manchmal erfolgen Hausbesuche bzw. Hospitationen im Kindergarten. In anderen ATZ gibt es das Angebot von angeleiteten Elterngruppen und Elterngesprächskreisen. Nicht alle Angebote sind in allen ATZ gleichermaßen verfügbar.

Wenn Eltern in Therapiestunden gelegentlich bzw. nach Bedarf anwesend sind, können sie in entsprechenden Situationen eine Erläuterung von der Therapeutin bekommen, warum diese ein ausgewähltes Spiel anbietet, wie sie das Kind zu diesem motiviert und warum sie in spezieller Art und Weise auf das Verhalten des Kindes reagiert. Es ist dabeimanchmal sinnvoll, die Rollen zu tauschen, sodass die Mutter bzw. der Vater in die Rolle des Therapeuten schlüpft und eigene Erfahrungen mit dem Kind in der Spielsituation macht. Sie können dann spontan nachfragen, wenn etwas anders läuft als erwartet, wie sie auf ein problematisches Verhalten reagieren sollen und wie sie dies auf Situationen zu Hause übertragen können. In manchen ATZ wird hier eine Videointeraktionsberatung (meist nach der Methode »Marte Meo«; Aarts 2008; Bünder et al. 2013) durchgeführt. In der Praxis hat sich auch noch bewährt, den Eltern für den Alltag Leitlinien für den Umgang mit ihrem Kind, auch in schriftlicher Form, mitzugeben, dies ist eine Erfahrung aus Bremen und Bremerhaven.

Die Beratung der Eltern erfolgt in Gesprächen, bei denen das Kind in der Regel nicht anwesend ist. Hier können sie Fragen zur Entwicklung stellen, ihrer Belastung und ihrer Trauer Ausdruck verleihen und mit der Therapeutin über die Förderung im Allgemeinen sprechen. Sie haben einen Menschen, der sich ihrer Sorgen und Fragen ganz konkret annimmt und sie mit hilfreichen Anregungen und Hilfen versorgt. Die Bewältigung und Verarbeitung der Behinderung sind hier ebenfalls wichtige Themen.

Als weitere Unterstützung werden von manchen ATZ Besuche im häuslichen Umfeld angeboten, um die Umgebung des Kindes, sein Zimmer, seine Spielsachen und die übrigen Räume kennenzulernen. So kann direkt vor Ort eine Beratung stattfinden, im Verlauf derer auch behinderungsspezifische Veränderungsvorschläge (z. B. weniger Spielzeug, anderer Sitzplatz beim Essen, Ablaufplan fürs Zähneputzen) im direkten Zusammenhang erfolgen können. Manchmal ist es auch sinnvoll, für eine bestimmte Zeit die Therapie ins häusliche Umfeld zu verlegen, um dort Verhaltensweisen aufzubauen, bei deren Vermittlung die Eltern professioneller Unterstützung benötigen.

Eine weitere Form der Elternberatung ist ein Angebot für mehrere Eltern, d. h. eine kleine Elterngruppe für Eltern von Kindern in ähnlichem Alter. So können sich die Eltern austauschen und sich wertvolle Tipps geben, wie sie schwierige Situationen meistern, welche Materialien und Spielzeuge sie wo erstanden haben, wie die Situation auf ein Geschwisterkind bezogen funktioniert und welche Hilfen und Ansprechpartner sie noch gefunden haben. Hier bietet sich auch eine kulturspezifische Gruppe (z. B. eine »Türkische Müttergruppe«) an. Eine solche Gruppe ist im Therapiezentrum Bremerhaven mehrere Jahre lang erfolgreich angeboten worden.

Die Sorge für die Geschwister

Jede Woche fährt die Mutter mit dem autistischen Kind einmal oder auch mehrmals zur Autismus-Therapie. Sie verbringt viel Zeit im Therapiezentrum, kommt mit Eindrücken und Erkenntnissen wieder und berichtet hiervon zu Hause. Das Geschwisterkind spürt möglicherweise, dass es dem Bruder/der Schwester besser geht, dass er/sie etwas lernt und dass die Mutter froh ist, eine Anleitung zu bekommen. Es fühlt sich jedoch manchmal zurückgesetzt und sucht selbst nach Möglichkeiten, mehr im Mittelpunkt zu stehen. Es sagt dies jedoch nicht, weil es