Aviva und die Stimme aus der Wüste - Vesna Tomas - E-Book

Aviva und die Stimme aus der Wüste E-Book

Vesna Tomas

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Beschreibung

Aviva sehnt sich nach einem besseren Leben. Sie hat genug von ihrem tristen Dasein in dem eingezäunten Dorf, wo skrupellose Jäger wie ihr Onkel Rapo das Sagen haben. Immer wieder hört sie von einem Land hinter der Wüste, wo alles ganz anders sein soll. Als sie sich eines Nachts über alle Regeln und Absperrungen hinwegsetzt, um im Wald ein Lamm vor einem wilden Raubtier zu retten, erwischt ein Wächter sie. Fortan soll jeder im Dorf sie meiden, sogar ihre Geschwister. Doch plötzlich sind da der Wanderhirte Leroy, der ihr zur Flucht verhilft, und wieder diese merkwürdige, aber vertrauensvoll klingende Stimme in ihrem Herzen, die ihr auf unnachahmliche Art neue Zuversicht gibt. Sie beginnt eine abenteuerliche Reise; sie zieht durch dunkle Wälder, fällt in tiefe Abgründe und gerät in Gefangenschaft. Unverhofft erhält sie Hilfe von Wesen aus der alten Welt, Mitreisenden und Sklavenhändlern. Irgendwie scheinen sie alle mit ihrer Reise zu tun zu haben, auf der sie dieser Stimme ihr ganzes Vertrauen schenken muss. Wird sie ihr helfen, das Land hinter der Wüste zu erreichen?

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Vesna Tomas ist christliche psychologische Lebensberaterin (de‘ignis), Diplom-Sozialpädagogin und Traumatherapeutin. Sie hat zwei erwachsene Kinder und lebt in der Schweiz.

„Ich bin der gute Hirte. Meine Schafe hören auf meine Stimme. Ich kenne sie und sie folgen mir.“

Jesus Christus Johannesevangelium 10,11+27

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Prolog

1 Das Raubtier

2 Ertappt

3 Der Wanderhirte

4 Die Verurteilung

5 Die Flucht

6 Gejagt

7 Das Labyrinth unter der Erde

8 Getäuscht

9 Die Erinnerung

10 Der Kampf

11 Die Rettung

12 Die Reisegefährten

13 Masia

14 Der Markt

15 Verkauft

16 Der Fremde

17 Gefangene

18 Das Feuer

19 Der Ort der Ruhe

20 Die Wahrheit

21 Das Veilchenbad

22 Unruhe im Land

23 Die Verlorenen

24 Die Wüste

25 Der Ruf

26 Bei den Wasserfällen

27 Abschied

28 Angekommen

Nachwort

PROLOG

Regungslos, fast wie aus Stein, saßen die beiden auf dem Bock des kleinen Einachsers. Der hölzerne Marktkarren war beladen mit Körben, Ledertaschen und Wolldecken. Das Gesicht des Mannes war von den vielen Menschen, die sich an diesem frühen Sommermorgen um das Fuhrwerk versammelt hatten, abgewandt; seine braunen, mandelförmigen Augen hielt er starr auf den vor ihnen liegenden holprigen Weg gerichtet. Er schien angespannt, verzog aber keine Miene. Seine glatten Haare waren schulterlang und glänzten schwarz in der Sonne. Er war jung, kräftig und hatte breite Schultern. Seine Hosen und sein Hemd waren aus Jute.

Die große schlanke Frau hatte etwas Stolzes an sich, so wie sie da kerzengerade neben ihm saß. Ihr schwarzes, dickes Haar reichte hinab bis zur ihrer Taille. Auch sie trug ein Kleid aus Jutestoff, das über ihren Knöcheln endete, und einen Umhang aus Schafwolle. An den Füßen trug sie, so wie er, Ledersandalen. Sie war noch sehr jung. In ihren braunen, großen Augen fand sich ein gesprenkeltes Grün. Ihre Wangenknochen waren hoch, ihre Nase ausdrucksstark und sie hatte schmale Lippen. Auch sie vermied es, den Menschen in die Augen zu sehen. Sie wirkte noch regungsloser, noch distanzierter als der Mann. Etwas Mysteriöses lag über den beiden.

Der Ochse, der vor ihren Wagen gespannt war und auf dessen Schultern ein schweres, gepolstertes Joch ruhte, scharrte unruhig mit dem Vorderhuf. Der Mann fasste die Zügel fest mit seiner rechten Hand, während seine linke eine Hand seiner Frau hielt. Rings um den Dorfplatz standen kleine Hütten aus Lehm, dahinter begann gleich der Wald. Männer- und Frauenstimmen hallten über den Platz, die Leute redeten durcheinander. Sie schienen weit weg zu sein, denn nichts von dem, was sie sagten, war zu verstehen und doch standen sie ganz nah. Alle waren in Aufruhr. Das Einzige, was wirklich zu hören war, war ein Weinen. Es kam aus der Nähe des Karrens. Es waren Kinder.

Die Leute deuteten mit ihren Köpfen in Richtung des Fuhrwerks und ihre mitleidigen Blicke fielen nun auf zwei kleine Mädchen in langen Gewändern. Sie schienen nicht älter als sechs Jahre zu sein, hielten sich an den Händen und weinten. Eine ältere Frau mit einem bunten Kopftuch stand neben den Mädchen. Auf ihrem Arm hielt sie einen kleinen Jungen, der nicht älter als ein Jahr aussah und ebenfalls weinte, wahrscheinlich aufgrund der Aufregung und Anspannung, die in der Luft lagen.

Auch ein etwa dreijähriges Mädchen stand in der Nähe. Die Blicke der Menschen machten ihm Angst. Es sah zu dem Mann und der Frau auf dem Wagen. Es wollte ihnen etwas sagen, brachte aber keinen Ton heraus.

Warum sagten die beiden nichts?

Eine Kälte umschloss das Herz des Mädchens und alles in ihm verkrampfte sich. Es schien zu ahnen, dass etwas Schreckliches passieren würde, doch mit seinen drei Jahren konnte es nicht begreifen, was vor sich ging.

Der Mann und die schöne Frau neben ihm blickten beide weiterhin starr nach vorn auf den holprigen Weg und schwiegen. Dann gab der Mann dem Ochsen einen Schlag mit den Zügeln und der Wagen rollte langsam an.

Verzweiflung machte sich in dem kleinen Mädchen breit. Es lief einige Schritte, wollte dem Wagen hinterherrennen. Eine Frau aus der Menge riss das Mädchen jedoch heftig an sich und hielt es fest. Das Kind wehrte sich, schlug um sich, wollte sich losreißen. Die Frau aber war stärker und ließ das Mädchen nicht los. Die Kleine wollte hinterherrennen, den Wagen einholen. In ihrem Kopf schien etwas zu zerbrechen. Sie wollte es nicht wahrhaben.

Der Wagen rollte davon und der Mann und die Frau drehten sich nicht ein einziges Mal um. Das Mädchen fing an zu rufen und zu schreien. Sie konnte es nicht fassen, konnte es nicht glauben. Ihr wurde schwindelig, doch sie wehrte sich dagegen. Ihr Schrei ertönte erst laut und wurde dann zunehmend hysterisch, bis sie nichts mehr um sich herum wahrnahm. Um sie herum begann sich alles zu drehen; die Leute, die im Kreis um sie herumstanden, verwischten vor ihren Augen mit den Bäumen und Hütten im Hintergrund. Ihre Kraft schwand. Sie spürte nichts mehr und sackte in sich zusammen. Um sie herum wurde es dunkel.

Niemand bemerkte, was sich in der Nacht verbarg, nur ein einsames Heulen drang zu ihr hinüber. In Aviva hallten die Schreie des kleinen Mädchens wider, schienen nicht verstummen zu wollen. Schon wieder dieser Traum! Jedes Mal erwachte sie danach aufgewühlt und erschöpft. Sie musste geweint haben, denn ihre Augen waren feucht.

Aviva starrte an die Decke. Ihr Herz und ihre Gedanken rasten. Das kleine Mädchen – war sie das gewesen? Aviva hatte keine Erinnerung an ihre Eltern und an die Zeit, bevor sie und ihre Geschwister zu Großmutter Kala gekommen waren. Niemand hatte ihr von ihren Eltern erzählt; es war, als hätte es sie nie gegeben. Erneut vernahm sie ein Jaulen aus der Ferne, das wie der Ruf einer Wildkatze durch die dunkle Nacht hallte.

Jetzt war Aviva hellwach. Dieses Jaulen stammte eindeutig nicht mehr aus ihrem Traum, sondern kam von draußen. Sie überlegte nicht lange, sondern sprang entschlossen aus ihrem Bett. Rasch zog sie das lange, weiße Baumwollnachthemd aus und streifte ihr Hemd über den zierlichen, zerbrechlich wirkenden Körper eines jungen Mädchens, der manche Schrammen und Narben aufwies. Ihre Gedanken überschlugen sich. Sollte sie die Großmutter wecken? Nein, das dauerte zu lang.

Mit einem breiten schwarzen Lederriemen band sie sich das Hemd und den hellbraunen Wildlederrock um die Taille und warf sich ihren schwarzen Umhang aus gewobener Schafwolle um. Sie schaute rasch im Zimmer umher, das noch halb im Dunkeln lag. Schemenhaft waren die zwei Betten zu sehen, in denen ihre drei Geschwister lagen. Gut, dachte sie, sie schlafen alle tief.

Der Mond warf sein fahles Licht durch das offene Fenster. Obwohl es Nacht war, konnte Aviva in dem kleinen ovalen Spiegel, der an der Wand gegenüber hing, die Umrisse ihres Gesichts erkennen. Kurz betrachtete sie sich selbst. Das tat sie oft, wenn sie sich Mut zusprechen wollte. Ihre dunklen, leicht gewellten Haare fielen ihr bis zur Schulter und schimmerten bläulich im Mondlicht. Sie hatte ein schmales Gesicht und eine etwas hervorstehend markante, aber doch feine und elegante Nase. Ihre Lippen waren voll und schön. Am auffälligsten waren jedoch ihre großen Augen, die ihr nun im Spiegel nachdenklich entgegenblickten. Im Dunkeln ließ sich ihre braungrüne Farbe und das Funkeln darin nicht erkennen.

Manchmal strahlten ihre Augen so sehr, dass man glaubte, das Aufgehen eines Sternes in ihren Augen zu sehen. Wenn sie Menschen aus dem Dorf ansah, hatten diese das Gefühl, sie könnte ihnen bis auf den Grund der Seele blicken. Aviva hatte schon immer das Gefühl gehabt, dass etwas mit ihren Augen anders war; sie konnte nicht verstehen, warum, doch die meisten Menschen wichen ihrem Blick aus. Manchmal glaubte sie, dass etwas mit ihr nicht stimmte, da sie in vielem so anders war als der Rest der Sippe.

„Du schaffst das“, flüsterte sie nun ihrem Spiegelbild zu. Ihr Gesicht besaß etwas Würdevolles und Anmutiges, gleich den Beduinen aus der Wüstenlandschaft. Trotz ihrer reinen, elfenbeinartigen Haut hatte sie eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Nomadenmädchen. Niemand konnte nachvollziehen, warum sie diese helle Haut besaß, denn ihre Großmutter hatte einen dunklen Teint und auch die Haut ihrer beiden Schwestern und die ihres jüngeren Bruders war deutlich dunkler.

Aviva zuckte zusammen. Es war ein Fauchen und Knurren, das sie aus ihren Gedanken riss. Wölfe und andere Raubtiere gab es zuhauf hier in den Karneolen, wo ihr kleines Dorf Cagor gelegen war. Hätten nicht die Wachen Alarm schlagen und der Jäger des Dorfes sich als Verteidiger der Sippe darum kümmern müssen, wenn sich in dieser Nacht ein wildes Tier herangeschlichen hatte? Wieder knurrte das Raubtier. Dieses Mal noch lauter. Es hatte sich also näher herangewagt. Aviva hielt den Atem an.

Da! Noch ein anderes Geräusch! Es war ein angsterfülltes Blöken, das nur von einem der jungen Lämmer stammen konnte. Da sie öfter mit dem Wanderhirten Leroy die Schafe hütete, hatte sie zu unterscheiden gelernt, ob das Blöken eines Schafes angsterfüllt klang oder es einfach nach seiner Mutter rief. Sie versuchte herauszufinden, woher das Blöken kam, und dachte daran, dass sie vor einer Weile ein Loch in der Stallwand entdeckt hatte, das noch nicht geflickt worden war. Hatte sich etwa eines der Lämmer nach draußen verirrt? Oder ist das Raubtier schon innerhalb der Schutzgrenze? Sie horchte und ihr Herz pochte wie wild.

Warum regt sich draußen niemand? Wahrscheinlich liegen die Wachen wieder betrunken in ihren Betten. Sie hatte keine Zeit zu verlieren. Auf Zehenspitzen verließ sie ihr Zimmer und gelangte geradewegs in den Schlafraum der Großmutter, der gleichzeitig als Wohn- und Besuchsraum diente. Erkennen konnte Aviva nichts, da vor dem kleinen Fenster ein Tuch hing. Das leise Schnarchen der Großmutter aber beruhigte sie. Behutsam öffnete sie die schwere Holztür und schlüpfte hinaus.

Es war eine sternklare Nacht und der Mond schien hell. Das Dorf sah so friedlich aus. Genau in der Mitte lag der Dorfplatz. Hier fanden die öffentlichen Versammlungen statt. Kleine und größere Hütten aus Lehm, aber auch einige Holzhäuser waren rund um den Dorfkern angesiedelt. Die äußeren Hütten waren für die Jäger des Dorfes bestimmt, deren Aufgabe es war, Nahrung zu beschaffen und die Gemeinschaft im Falle eines Angriffs zu schützen. Das Dorf war von dicht aneinander gereihten und fest in den Boden gerammten hohen Holzpfählen umgeben, sodass ein Feind bei einem Überfall oder Angriff zuerst einige Hürden überwinden musste. Zusätzlich war beim Haupttor Tag und Nacht ein Wachposten aufgestellt.

Aviva war dankbar, dass fast Vollmond war und es trocken war. Bei Regen wären die Wege zwischen den Hütten und bis hin zu den Pfählen sonst schlammig gewesen. Leichtfüßig eilte sie durch das schlafende Dorf und steuerte geradewegs auf das geschlossene hölzerne Tor zu. Was soll ich dem Wachposten sagen? Nach den Regeln der Sippe durften Frauen und Kinder ohne Begleitung nachts nicht aus ihren Häusern. Aviva hatte sich schon des Öfteren unbemerkt nachts herausgeschlichen, aber daran wollte sie jetzt nicht denken.

Vorsichtig näherte sie sich den Hütten der Jäger. Auf keinen Fall wollte sie von einem von ihnen bemerkt werden, vor allem nicht von Rapo, dem Hauptjäger. Um zum Tor zu gelangen musste sie aber ausgerechnet an seiner Hütte vorbei.

Aviva verlangsamte ihre Schritte, als sie sah, dass Licht in seiner Stube brannte. Die Tür stand offen. Sie erblickte Rapo, der drinnen noch bekleidet mit seiner Jägermontur unbequem mit dem Kopf nach hinten auf einem Stuhl hing und seinen Rausch auszuschlafen schien. Heute hatte er ein Wildschwein erlegt und mit den anderen Jägern gefeiert. Bei seinem Anblick verkrampfte sich ihr Magen. Furchtbare Erinnerungen wollten hochkommen. Erinnerungen, die sie niemandem anvertrauen konnte.

Nicht, dass sie es damals nicht versucht hätte, aber Kala hatte danach bloß die Hände hochgeworfen, vor sich hin geschimpft und gemeint, sie würde fantasieren und lügen. Nie wieder wurde anschließend darüber gesprochen. Im Grunde wurde überhaupt nicht über ihre Familie gesprochen, so als läge ein Bann auf ihr.

Als sie mit ihren Geschwistern zu Kala gebracht worden war, war Rapo ein heranwachsender junger Mann gewesen. Schaudernd erinnerte Aviva sich an das lähmende Gefühl, das sie in Rapos Nähe empfunden hatte – so als wäre die Angst, die sie spürte, bis in ihre Knochen gedrungen. Überglücklich war sie, als er nach zwei Jahren unter dem gleichen Dach auszog. Er sollte zum Jägermeister, der für ihn wie ein Ziehvater war, in die Hütte ziehen, um von ihm zu lernen. Zehn Jahre waren seitdem vergangen.

Da hörte sie wieder das Knurren. Und anschließend das Blöken. Sie vernahm nun deutlich, das beides von hinter den Pfählen zu ihr drang. Alle Gedanken an die Vergangenheit waren im Nu verschwunden. Neben dem Tor erkannte sie den Schattenriss des Wächters; er saß auf einem Baumstumpf, den Kopf an die Palisadenwand angelehnt und schnarchte. So schnell und leise sie konnte, lief Aviva an Rapos Hütte vorbei. Behutsam öffnete sie das große Tor und schlich hinaus.

Vor ihr lag nun der dunkle Wald. Sie kannte ihn gut, auch die Gefahren, die darin im Verborgenen lagen. Wie oft war sie schon in den Wald gelaufen, um sich vor Rapo zu verstecken. Einen Moment lang zögerte Aviva, doch sie wusste, dass sie unter einem Schutz stand. Einem besonderen Schutz, von dem niemand etwas wusste, nur sie allein. Und in ihrem Herzen erklang leise die liebevolle Stimme, die nur sie hören konnte: „Hab keine Angst, ich bin bei dir, Aviva!“

Aviva schob die Erinnerungen energisch beiseite und konzentrierte sich auf ihr Herz. Sie stand nun zwischen den ersten Bäumen des Waldes. Ihre Augen versuchten im Dunkel etwas zu erkennen.

Da! Um die 50 Schritte vor ihr vernahm sie einen Schatten, der sich bewegte. Schnell huschte sie hinter einen Baum, um nicht gesehen zu werden. Vorsichtig spähte sie hinter dem Stamm hervor. Was sie dann erblickte, hatte sie noch nie zuvor gesehen.

Etwas Schwarzes auf vier Beinen schlich auf den Baum zu. Es hatte einen langen Schwanz und bewegte sich wie eine Katze. Nur war dieses Ding um einiges größer und kräftiger.

Aviva hatte noch nie von einem solchen Tier gehört, geschweige denn eines gesehen. Irgendwie verhielt es sich eigenartig. Es knurrte, hielt inne und schlug mit der rechten Vordertatze nach etwas. Wieder konnte man es blöken hören, es kam genau aus der Richtung, wo das Tier mit seinen scharfen Krallen hingeschlagen hatte.

Aviva stockte der Atem. Leise und vorsichtig duckte sie sich hinter die Bäume und schlich sich näher an das Tier heran. Dann sah sie es. Ein Lamm lag am Boden vor ihm, es zitterte. Avivas Herz raste. Was soll ich tun?

Die Riesenkatze musste etwas gewittert haben, denn sie schaute genau in ihre Richtung. Aviva war klar, dass dieses katzenartige Biest im Dunkeln besser sehen konnte als sie. Sie befahl sich, ruhig zu bleiben und nicht von der Stelle zu weichen. Deutlich spürte sie den bohrenden Blick des Raubtieres, und trotz der Entfernung erschien es ihr ganz nah. Dann wandte das Tier sich wieder dem verletzten Lamm zu. Vorsichtig nahm es das Lamm zwischen seine messerscharfen Zähne.

Da tauchte auf einmal der Mond hinter dem Waldrücken hervor und erhellte die Lichtung. Aviva konnte den schmerzerfüllten Ausdruck auf dem Gesicht des kleinen Lammes sehen. Seine Augen waren vor Todesangst weit aufgerissen. Das Raubtier schaute zu den Bäumen auf. Aviva verstand sofort. Das Tier wollte seine Beute auf den Baum hinauf in Sicherheit bringen. Genau das durfte nicht passieren! Was sollte sie nur tun? Aviva war am ganzen Körper bis aufs Äußerste angespannt.

Wieder blickte die Raubkatze in ihre Richtung und sah ihr direkt in die Augen. Dann öffnete sie plötzlich ihren Rachen. Aviva hatte mit allem gerechnet, nur nicht mit dem, was sie jetzt sah. Das Raubtier ließ das Lamm fallen und gab ein drohendes Knurren von sich. Dann machte es einen Schritt mit der rechten Vordertatze in ihre Richtung. Als es aber die linke nachzog, schwankte es ein wenig zur linken Seite. Es schien diese Tatze nicht richtig absetzen zu können.

Es ist verletzt!, schoss es Aviva durch den Kopf. Was soll ich nur machen? Einen kurzen Moment lang beschlich sie erneut die Angst. Doch sie wusste, jetzt war nicht der Zeitpunkt zum Zweifeln. Sie horchte in sich, in ihr Herz. All ihre wilden Gedanken schob sie beiseite. Sie musste sich richtig durch sie durchkämpfen, und das erforderte Kraft. Dann aber vernahm sie die Stimme, die wieder zu ihr sprach: „Sei mutig, sei entschlossen!“

Aviva spürte, wie sich ihre Muskeln wieder entspannten und sie wieder Mut und Kraft durchströmten. In Momenten wie diesem konnte Aviva alles vergessen, auch die Gefahr. Sie barg sich in der Zuflucht, die ihr die Stimme bot.

Ohne Anzeichen von Furcht kam Aviva hinter dem Baum hervor. Sie schaute dem Raubtier direkt in die Augen. „Das ist meine Beute, das Lamm gehört mir!“, sagte Aviva mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete.

Das Raubtier wollte gerade zum Sprung ansetzen und sich auf Aviva stürzen, doch irgendetwas schien es jetzt zurückzuhalten. Es konnte sich einfach nicht zum Sprung überwinden. Seine Instinkte von Angriff und Flucht waren wie ausgelöscht. Erneut sah das Raubtier Aviva in die Augen. Ja, von dieser Menschentochter kam die Stimme, zweifellos. Sie war bis auf den Grund ihrer Seele hörbar. Und diese leuchtenden Augen! Sie hatten etwas Gebieterisches an sich und doch waren sie nicht böse. Das Tier war irritiert. Avivas Stimme hallte immer noch in ihm nach.

Aviva machte kleine, langsame Schritte auf das Raubtier zu. Sein schwarzes Fell glänzte im Mondschein. Sie spürte die Anspannung, die in dem Tier steckte. „Hab keine Angst, ich tue dir nichts“, sagte Aviva leise, beinahe flüsternd.

Das Tier stellte seine Ohren auf, so als ob es Aviva genau verstanden hätte. Seine Muskeln lösten sich und es bewegte sich langsam und hinkend voran, bis es vor dem am Boden liegenden Lamm stehen blieb. Jetzt war Aviva nur noch zwei Schritte entfernt. Vorsichtig streckte sie ihre rechte Hand aus. Die große schwarze Raubkatze schien neugierig zu werden und kam auf Avivas ausgestreckte Hand zu.

Da erst sah Aviva, dass etwas in der linken Schulter des Tieres steckte. Es war ein Pfeil! Im Schein des Mondes war zu erkennen, dass Blut auf dem glänzenden Fell reichlich Spuren hinterlassen hatte.

Aviva hielt ihre Hand immer noch ausgestreckt. Eine Sekunde lang hielt sie den Atem an. Das Tier war wunderschön. Es hatte Ähnlichkeit mit den kleinen, helleren Wildkatzen, die sie aus den umliegenden Wäldern kannte. Aber diese Großkatze war schwarz und reichte ihr fast bis zur Hüfte. Ihr Fell war durch und durch schwarz, dicht und kurz. Der Kopf wies ein helleres Rosetten-Fleckenmuster auf, das nur aus der Nähe zu erkennen war.

Avivas Gedanken überschlugen sich. Obwohl sie nun dem Lamm so nahe war, konnte sie es nicht an sich nehmen, denn das Raubtier hatte sich zwischen sie gestellt. Aviva konnte geradewegs in seine Augen blicken. Was sie darin sah, erfüllte sie mit schmerzhafter Sehnsucht und Trauer. Die Augen des Tieres schienen zu ihr zu sprechen. Wie in einem Traum sah sie unbekannte Landschaften, Berge, Täler und Seen. Sie sah noch weitere Raubtiere, große Katzen gleicher Art, manche mit sandfarbenem Fell. Sie konzentrierte sich auf eine große schwarze Raubkatze mit zwei halbwüchsigen Katzenjungen, die miteinander spielten. Das schwarze Tier vor mir ist das Muttertier, wusste sie plötzlich.

Die Szene vor ihren Augen erinnerte sie an Wölfe, die sie schon oft beobachtet hatte. Wie liebevoll die Mutter den Jungen das Jagen beibrachte und sich schützend vor sie stellte! Dann sah sie auf einmal, wie das Raubtier gehetzt und außer Atem allein jagte, sie spürte seine Verzweiflung. Plötzlich wurde ein Netz auf die jungen Tiere geworfen, von Männern mit Tüchern auf dem Kopf und luftigen Hosen.

Augenblicklich wusste Aviva, was zu tun war. Ohne zu überlegen streckte sie ihre Hand noch weiter dem Tier entgegen und berührte es. Achtsam und voller Liebe legte sie ihre Hand an seinen Hals. Ein Knurren stieg aus seiner Kehle, doch es bewegte sich nicht. Langsam strich Aviva dem Tier über das Fell bis zur linken Schulterhöhe, wo der Pfeil feststeckte. Ich muss ihn rausziehen!

Vorsichtig hob sie ihren linken Arm und umfasste mit beiden Händen den hölzernen Pfeil. „Ich werde ihn jetzt herausziehen. Das wird wehtun. Bitte tu mir nichts.“

Aviva nahm all ihren Mut zusammen, umfasste den Pfeil und zog ihn ruckartig aus dem Fleisch. Im nächsten Augenblick sprang das Tier hoch und riss Aviva mit seinen Vorderpranken zu Boden. Da lag sie nun, im taunassen Laub unter dem Raubtier, und spürte sein Schnauben auf ihrem Gesicht. Ihr Herz pochte wild.

Das Tier öffnete sein Maul. Seine weißen Zähne glänzten im Mondschein und wieder ertönte ein drohendes Knurren und Fauchen aus seinem Rachen. Dabei richteten sich die Augen des Tieres in das Dunkle des Waldes.

Aviva schauderte, denn sie spürte den inneren Kampf dieser Raubkatze, die Verzweiflung in ihr. Seltsamerweise wusste Aviva, dass dieses Knurren gar nicht ihr galt, sondern dem Unbekannten im Wald. Sie konnte nichts tun, außer ruhig zu sein, obwohl sie davon überzeugt war, dass die Raubkatze ihren lauten Herzschlag deutlich hören konnte. Da blickte das schwarze Tier Aviva direkt in die Augen. Es neigte leicht den Kopf und es schien Aviva, als würden seine Augen „Danke“ sagen. Dann sprang es auf einmal über Aviva hinweg und verschwand in der Dunkelheit des Waldes.

Überwältigt blieb Aviva am Boden liegen. Plötzlich hörte sie das wimmernde Blöken des Lammes. Es ist noch da! Als Aviva sich aufrichten wollte, merkte sie, dass sie immer noch den Pfeil in der rechten Hand hielt. Sie betrachtete ihn nun genauer. Er war nicht ganz aus Holz, sondern besaß eine metallene dreigeschliffene Spitze. Aviva erschrak. Nur die Jäger des Stammes Derveta besitzen solche Pfeile, wusste sie. Vorsichtig steckte sie ihn in den Gürtel ihres Hemdes.

Nun ging sie langsam auf das zitternde Lamm zu. Es war verletzt. Vorsichtig hob sie es auf und nahm es zu sich in ihren Umhang. Behutsam presste sie das wimmernde Tier enger an ihren warmen Körper. Plötzlich wurde sie sich der anderen Gefahr bewusst, der sie sich ausgesetzt hatte. Sie hatte gegen die Regeln ihres Stammes verstoßen.

Aviva wusste, dass sie keinem erzählen durfte, was in dieser Nacht passiert war. Die ganze Jägertruppe des Stammes würde das Tier suchen und hetzen. Wieder spürte sie die Verzweiflung und Trauer des Tieres, und gleichzeitig mischten sich diese Gefühle mit ihren eigenen. Ja, auch sie kannte diese tiefe Trauer, seit sie denken konnte; und ab und zu, wenn sie es nicht aushielt, die Schwere der Trauer zu tragen, überkam sie eine ähnliche Verzweiflung. Sie dachte wieder an den Traum, den sie gehabt hatte, bevor sie von den Geräuschen aus dem Wald geweckt worden war.

Energisch schob sie die Gedanken von sich. Sie musste jetzt vor allem wieder unbemerkt zu Großmutters Hütte zurück. Was, wenn der Wächter nicht mehr schläft?, dachte sie angstvoll.

Aviva wusste, dass dann eine verheerende Strafe folgen würde. Trotzig hob sie den Kopf. Ich werde mich wehren, egal, was geschieht! Das eben Erlebte hallte in ihr nach. Sie empfand Stolz, dass sie so mutig gewesen war und sich außerhalb der Abgrenzung nicht schutzlos gefühlt hatte. Es waren viel mehr Mut und Stärke in ihr, als sie sich je hätte vorstellen können. Die Raubkatze hätte sie, genau wie das Lamm, mit Leichtigkeit reißen können, und doch hatte sie auf Avivas Wort innegehalten, ja, sich sogar von ihr berühren lassen. Ungläubig schüttelte sie den Kopf.

Ein leises Blöken riss Aviva aus ihrer Erinnerung. Sie nahm das Lamm, das in ihrem Umhang zu zappeln begann, heraus. Sein rechtes Vorderbein hing wie leblos herunter und an seiner Seite klaffte eine große Wunde, die es zu verbinden galt. Sie durfte keine Zeit mehr verlieren.

Aviva bettete das Lamm wieder in ihren Umhang und eilte zurück in ihr kleines Dorf, das noch immer verschlafen vor ihr lag. Sie konnte nicht anders, als noch einmal zurückzuschauen, wo soeben noch das wilde Tier gestanden hatte. Werden wir uns wiedersehen?, fragte sie sich.

Mit leisen Schritten schlich sie sich wieder zurück durch das Tor, das noch immer leicht angelehnt war. Von innen schob sie schnell den metallenen Riegel vor, sodass es wieder ganz geschlossen war.

Das Lamm blökte wieder und Aviva fürchtete einen Augenblick, das ganze Dorf würde wach. Sie hielt den Atem an und lauschte. Wenn herauskam, dass sie sich erneut nachts fortgestohlen hatte, ja, dass sie die Gesetze und Ordnungen der Sippe nicht achtete, würde man sie in aller Öffentlichkeit bestrafen.

Auf einmal stand, wie aus dem Boden gewachsen, der Wächter Lendor vor ihr. Er war mit einer Peitsche bewaffnet, deren Griff mit Lederriemen umwickelt war. Er war klein, aber dafür stark gebaut. Fettige schulterlange Haare umrahmten sein Gesicht.

Aviva erschrak. Lendor war ihr nicht wohlgesonnen, er hatte sie bereits einmal erwischt, als sie sich zu nächtlicher Stunde davongestohlen hatte. Ihr blieb nichts als die Flucht nach vorne.

„Oh Lendor!“, rief sie aus. „Sieh mal, ein Lamm hat sich verirrt. Ich konnte es gerade noch rechtzeitig einholen. Schau, es hat sich verletzt!“

Lendor ärgerte sich über sich selbst. Wie ist das junge Ding bloß unbemerkt an mir vorbeigekommen? Hatte er doch wieder zu viel getrunken? Er war schon des Öfteren beim Wachehalten eingeschlafen und wieder war es ausgerechnet Aviva, die ihn in seiner Position schwächte. Rapo würde ihn vor allen Männern demütigen.

„Schon wieder du, Aviva!“ Verärgert packte er sie am Arm und führte sie mit festem Griff zu ihrer Hütte. „Wart’s nur ab, dass du dich nachts heimlich fortschleichst, wird noch ein Nachspiel haben“, schnaufte er. „An mir kommst du nicht mehr vorbei! Morgen werde ich dem Rat alles berichten.“

Das Lamm in Avivas Arm blökte, jetzt schwächer und leiser. Aviva presste es fester an sich. Lendor sah kurz zu dem Lamm, das Aviva offen im Umhang hielt, aber sein Stolz ließ nicht zu, es sich genauer anzuschauen. Besorgt um seine Ehre zischte er in Avivas Ohr: „Diesmal werde ich dafür sorgen, dass du nie wieder nachts rausgehst, das schwöre ich dir!“

Als sie bei Großmutter Kalas Hütte ankamen, drückte er Aviva grob gegen die Tür: „Jetzt ab, rein mit dir!“ Sie huschte ins Innere der Hütte und Lendor stapfte verärgert davon.

Aviva hoffte inständig, dass Kala nicht wach geworden war. Sie hielt den Atem an. Außer einem leisen Schnarchen war jedoch nichts zu hören. Mit leisen Schritten ging sie rasch in das Zimmer nebenan. Sie streifte ihren Umhang ab, legte behutsam das kleine Lamm hinein und machte sich auf die Suche nach einem Stoff, der als Verband dienen könnte. In der Truhe, die an der Wand stand, wurde sie fündig. Als sie die Kleider darin durchwühlte, fand sie ein weiches Stück Leder, das von einem Hasen oder Eichhörnchen stammen musste. Nun fehlte ihr noch ein Stück Holz zum Schienen.

Da kam ihr in den Sinn, wie sie als Kind Steine, Zweige und Blätter gesammelt und sie unter der Truhe versteckt hatte. Sie kniete sich nieder und tastete mit ihrer Hand den Boden unter der Truhe ab, bis sie tatsächlich einen kleinen Stecken fand. Es war sehr verstaubt da unten und ihr fiel ein, dass das ein gutes Versteck für den Pfeil sein könnte, den sie immer noch bei sich trug. Aviva nahm ihn aus ihrem Gürtel und legte ihn unter die Truhe, dicht an die Wand. Dann setzte sie sich so auf den Fußboden, dass etwas Mondlicht durch das Fenster auf sie fiel, nahm das Lamm auf ihren Schoß und schiente mit dem Stück Holz und dem Lederfetzen das verletzte Bein.

Nachdem die Wunde versorgt war, stand Aviva auf und ging zu dem kleinen Tisch neben der Truhe, auf dem ein Krug Wasser und eine Waschschüssel standen. Sie füllte ihre hohle Hand mit Wasser und träufelte es auf den Mund des Lammes. Es fing an zu lecken. Dann hielt sie ihre Hand so, dass das Lamm aus ihrer Handfläche trinken konnte. Es leckte noch ein paar Mal, aber dann wandte es sich ab und lag nur noch erschöpft da.

„Vielleicht brauchst du erst mal Ruhe?“, fragte Aviva flüsternd. Selbst völlig erschöpft, schlüpfte sie wieder in ihr Nachthemd und ließ sich mit dem Lamm im Arm in das Bett fallen, das sie mit Salin teilte. Ihre Gedanken kreisten um das Geschehene. Sie wusste, in welcher Gefahr sie sich befand.

Lendors Drohung war unheilvoll. Er hatte ihr nicht geglaubt, hatte nicht einmal nach dem Lamm schauen wollen. Sie ahnte nichts Gutes und hoffte doch insgeheim, dass der Rat ihr glauben und verstehen würde, dass sie doch nur das Lamm hatte retten wollen.

Eine Sache machte ihr dabei besonders Sorgen: Aviva wusste nicht, wie sie begründen sollte, weshalb sie ihre Großmutter oder den Wächter nicht geweckt hatte. Sie hoffte, für ihren Ungehorsam nur drei Tage Ausgangssperre zu bekommen. Das würde sie gern in Kauf nehmen. Demütigender wäre die Strafe des Bannes, bei der über eine geraume Zeit hinweg niemand aus der Sippe mit dem Bestraften reden oder ihn sonst irgendwie zur Kenntnis nehmen durfte. Man war dazu verurteilt, für die anderen nicht mehr zu existieren. Es fühlte sich während dieser Zeit so an, als wäre man gestorben. Wenn die Strafe aufgehoben wurde, taten alle so, als ob es nie geschehen wäre. Was man dabei durchgemacht hatte, wurde nicht gefragt.

Eine weitere Strafe war, öffentlich ausgepeitscht zu werden, bis der Wille des Verurteilten gebrochen war. Der Dorfälteste bestimmte einen Jäger, der diese Strafe zu vollziehen hatte. Der Verurteilte musste sich dann selbst eine Peitsche aus Ästen und Baumzweigen herrichten. Diese Strafe wurde meist über die Männer verhängt. Frauen wurden in so einem Fall an andere Sippen verkauft und besaßen keine Rechte mehr.

Avivas Herz verkrampfte sich beim Gedanken an all diese Strafen. Wie von selbst wanderten ihre Gedanken zu Rapo und der Zeit, als er noch bei Großmutter Kala gewohnt hatte. Die Erinnerungen überfluteten sie erneut, aber diesmal konnte sie sie nicht abschütteln. Die Orte, an denen er ihr aufgelauert hatte. Die Schmerzen, die er ihr zugefügt hatte – mit Peitschenhieben oder mit seinem schweren Körper, wenn er sich auf sie geworfen und sie förmlich erdrückt hatte. Am Schlimmsten war es jedoch gewesen, als er sie seinen Freunden ausgeliefert hatte. Sie alle hatten sie umzingelt, einen undurchdringbaren Kreis um sie gebildet. Was sie dann mit ihr getan hatten, wusste sie nicht mehr, aber sie erinnerte sich an all die abscheulichen Namen, die sie ihr zuriefen, und dass sie sich zutiefst geschämt hatte.

Aviva hatte gespürt, wie Rapo es genoss, sie zu quälen. Es war ihr so vorgekommen, als ob er sie töten wollte. Darum war sie oft in den Wald gerannt und hatte versucht, sich vor ihm zu verbergen. Aber er hatte sie immer wieder eingeholt und gefunden.

Wenn die Stimme in ihr nicht gewesen wäre, die zu ihr sprach: „Aviva, du bist nicht allein, ich bin bei dir “, gäbe es sie nicht mehr, das wusste sie. Diese Stimme war nicht die ihre, sie gehörte jemandem, der alles von ihr wusste und alles sah. Niemand sprach ihren Namen so liebevoll aus wie diese Stimme. „Was du erlebst, wirst du überleben, denn ich sorge dafür, dass es dir später gut gehen wird. Du gehörst mir und ich beschütze dich, das verspreche ich dir.“

„Du gehörst mir und ich beschütze dich, das verspreche ich dir.“

An diesen Satz hatte sich Aviva bis heute geklammert. Diese Worte gaben ihr Kraft und wärmten ihr Herz. Sie hätte so gern erfahren, wer es war, der mit ihr sprach.

Sie streckte ihre Beine unter der Steppdecke aus, wobei ihre Füße die von Salin berührten. Für einen kurzen Augenblick genoss Aviva die warme Berührung und fühlte sich geborgen. Sie liebte ihren Bruder und dachte daran, wie vertraut sie einander doch einst gewesen waren. Er war der Liebling der Großmutter – schließlich war er ein Junge, ihr einziger männlicher Enkel und ihr Ein und Alles. Salin wusste das. Diesen Umstand nutzte er oft aus und schob bei Streichen gern Aviva die Schuld in die Schuhe. Im Schlaf wirkte er so unschuldig und sanft, schien ihr einige Jahre jünger, als er in Wirklichkeit war.

Salin war der Jüngste in der Familie. Er war zierlich, eher klein und mager, hatte mittelbraune, gewellte Haare, die ihm bis zur Schulter reichten, und große braune Augen. Er wurde von allen geliebt und vergöttert. Seine Angewohnheit, sich im Schlaf an ihr Nachthemd zu klammern, hatte er bis heute beibehalten. Aviva hatte ihm nie erzählt, dass er das tat. Es wäre ihm peinlich gewesen. Es war ihm eigentlich auch nicht mehr recht, mit ihr im gleichen Bett zu schlafen. Manchmal wechselten sie sich ab, sodass er ab und zu mit Gora oder Jada das Bett teilte. Es wurde für ihn Zeit, in eine der Männerhütten umzuziehen. Das Bett war gerade groß genug, dass zwei Halbwüchsige darin schlafen konnten, bald würde der Platz nicht mehr ausreichen. Ob Salin dann wohl zu Rapo in die Hütte kommt?

Aviva musste an früher denken. Im Herbst hatten sie immer im Laub gespielt. Damit die Tiere des Dorfes im Winter nicht frieren mussten, wurde der Stallboden, wenn der Sommer vorbei war, mit einer dicken Schicht Laub bedeckt. Es war Salins und Avivas Aufgabe gewesen, für genügend Laub zu sorgen. Mit Decken waren sie in den Wald gegangen, hatten sie immer wieder mit Laub gefüllt und zurück zum Stall geschleift. Dabei hatten sie sich gegenseitig in der Decke den mit Herbstlaub bedeckten Hang hinuntergezogen. Unten angekommen waren sie den Hang dann wieder hinaufgeklettert, um auf der mit Laub gefüllten Decke wie auf einem Schlitten erneut hinunterzusausen. Mit dem Ziehen der Decke hatten sie sich abgewechselt, denn von allein rutschte sie nicht den Hang runter. Das rot und golden gefärbte Laub wirbelte herum, als ob es tanzen würde. Beide waren sie wie verzaubert gewesen.

Aviva hatte Salin damals ausnahmsweise wie ein unbeschwertes Kind lachen sehen. Sie hatten dabei viel Spaß gehabt, es waren glückliche Momente gewesen. Nun aber hatte sich die Beziehung zu ihrem Bruder völlig verändert. Seit ein paar Jahren schon wich er ihr aus. Was steht zwischen uns?, fragte sie sich kummervoll. Irgendwas musste passiert sein, woran sich Aviva nicht mehr erinnern konnte.

Salin war noch sehr klein gewesen, als sie zur Großmutter gekommen waren, vielleicht hatte er gerade seine ersten Schritte gemacht. Für ihn schien es wie selbstverständlich zu sein, bei der Großmutter zu leben, ganz anders als für sie selbst.

Avivas Blick wanderte zu ihren beiden älteren Schwestern Gora und Jada. Obwohl es fast dunkel war, konnte Aviva ihre Schwestern im Bett auf der anderen Seite des Raumes gut erkennen. Sie lagen eng umschlungen beieinander. Es schien, als ob sie sich gegenseitig Halt geben würden, einander nicht loslassen wollten.

Gora war die Älteste. Ihr Auftreten war sehr stolz. Wo sie sich aufhielt, scharten sich die Leute um sie. Bei den jungen Männern war sie sehr beliebt. Sie war scharfsinnig und streng. Mit ausgeprägtem Selbstbewusstsein nahm sie ihre Rolle als Älteste sehr ernst. Sie war groß und obwohl schlank, kein zierlicher Typ. Wie Aviva hatte sie dicke, schwarze Haare, die leicht gewellt waren, und große dunkle Augen. Ihr Gesicht war sehr ausdrucksstark, mit einer markanten Nase, vollen Lippen und einer hohen Stirn. Ihre Gefühle zeigte sie nie und Aviva hatte den Verdacht, dass sie gar nicht fühlen konnte. Bei der Härte, die sie oft im Umgang mit Aviva gezeigt hatte, konnte es nicht anders sein. Großmutter Kala hatte ihr befohlen, die jüngeren Geschwister zu schlagen, wenn sie nicht gehorchten, was sie auch tat. Aviva bewunderte Goras Selbstvertrauen eigentlich und wollte gern in ihrer Nähe sein, doch Gora hielt Aviva auf Distanz und so hatte sie bei ihr das Gefühl, nur geduldet, aber nicht von ihr geliebt zu sein.

Jada war die zweitälteste. Sie war auch schlank, aber eher zierlich. Wie Salin hatte sie hohe Wangenknochen, braune Augen und schmale Lippen. Ihr Charakter war ganz anders als der von Gora. Jada war eher eine Spaßmacherin und konnte andere aufheitern. Aber auch bei ihr wusste Aviva, dass dies nur die eine Seite ihrer Schwester war. Sie war die Angepasste, aber wer war sie wirklich? Sie ließ Aviva nie wissen, was sie dachte oder fühlte. Sie schien sich in ihrer eigenen Welt zu verstecken. Aviva bekam keine Chance, zu dieser Welt zu gehören. Gora war Jadas einzige Vertraute und Verbündete. Sie waren unzertrennlich. In die Geheimnisse, die Gora und Jada miteinander teilten, wurde sie nie eingeweiht. Ihre beiden Schwestern waren noch unverheiratete, jedoch gerade erwachsen gewordene Frauen, während sich Avivas Körper noch im Zwischenstadium zwischen Kind und Frau befand.

Aviva streckte sich noch einmal, um die Verkrampfungen der letzten Stunde zu lösen. Ihrem flauschigen Schützling gab sie zum Einschlafen noch ein paar Streicheleinheiten. Langsam ließ die Spannung in ihrem Körper nach und unmittelbar, bevor sie in einen traumlosen Schlaf fiel, musste sie an die Raubkatze denken und die Stimme, die zu ihr gesprochen hatte. Leise flüsterte sie: „Wer bist du?“ Doch es kam keine Antwort.

Am nächsten Morgen wurde Aviva vom Blöken des Lammes geweckt. Schnell stand sie auf und nahm das geschwächte Tier in ihre Arme. Leise weckte sie ihre Schwestern. „Was macht das Schaf hier?“, riefen Gora und Jada aufgeregt. Davon wurde auch Salin wach. Aviva erzählte ihnen nichts von der Raubkatze, sondern nur, dass sie vom Blöken des Lamms geweckt worden war, das sich verlaufen hatte. Sie erzählte von einem Loch in der Stallwand und dass das Lamm wohl nur so außerhalb der Palisaden geraten sein konnte.

„Oh weh!“, rief Gora. „Das gibt Ärger. Wieso hast du Großmutter nicht geweckt? Es ist doch strengstens verboten, nachts alleine rauszugehen.“

Ausgerechnet in dem Moment betrat die Großmutter das Zimmer. Sie sah das Lamm in Avivas Armen und ihre Augen weiteten sich zunächst vor Erstaunen. Dann verengten sie sich zu wütenden Schlitzen. „Woher kommt dieses Vieh? Du warst also wieder draußen, Aviva!“, donnerte sie. „Ohne meine Erlaubnis hast du die Hütte nachts nicht zu verlassen!“

Aviva hatte keine Chance, sich zu erklären. Das Lamm zappelte unruhig und vorsichtig legte sie es wieder in ihren Umhang gehüllt auf das Bett. Verärgert befahl die Großmutter: „Bring das Schaf zurück in den Stall!“

Nun mischte sich Salin ein: „Aber es ist schwer verletzt!“

Kala schaute kurz zu dem Lamm. „Zeig es her!“, murrte sie, schob den Umhang ein wenig beiseite, betrachtete das Tier und deckte es wieder zu.

Aviva war diesmal richtig froh, dass die Großmutter nicht näher nachschaute. Erst da fiel ihr der Schnapsgeruch auf. Sie hatte also schon wieder am frühen Morgen getrunken. Unfreundlich sagte sie nun zu Aviva: „Nimm das Töpfchen mit Salbe, das ich vor einiger Zeit für Verbrennungen und Wunden zubereitet habe. Bring das Lamm zu Leroy, bis es wieder gesund ist, der weiß, was mit ihm zu tun ist!“ Als Magierin mit Heilkräften wusste Kala viel über wirksame Kräuter, doch Tiere waren nicht ihre Spezialität. Es war jedoch bekannt, dass der Wanderhirte Leroy eine besondere Begabung dafür hatte, verletzte Tiere gesund zu pflegen. Zu dieser Zeit im Sommer war er oft mit seinen Herden in ihrer Gegend unterwegs. Aviva traute sich nicht zu berichten, dass Lendor sie erwischt hatte, da die Großmutter schon aufgebracht genug war.

Sie stand unter höchster Anspannung, denn sie wusste nicht, ob der Wächter seine Drohung schon wahrgemacht hatte. Wenn ja, würde der Rat über ihren Fall entscheiden. Sie wusste, dass sie in diesem Fall zu einer Anhörung gerufen werden würde, wie schon oft in der Vergangenheit, wenn sie sich über die Regeln hinweggesetzt hatte. Häufig hatte sie selbst miterlebt, was wiederholten Ausreißern blühte. Sie konnte eine dunkle Ahnung nicht abschütteln. Lendors Drohung war richtig böse gewesen, so boshaft, dass ihr fast übel wurde, wenn sie daran dachte.

Aviva gab das Lamm Salin in die Hände und ging rasch zur Veranda neben dem Häuschen, wo zwei Eimer mit Wasser standen. Schnell schöpfte sie mit ihrer hohlen Hand kaltes Wasser und bespritzte ihr Gesicht damit. Dann ging sie wieder in die Hütte, um sich umzuziehen. Gora, Jada und Kala machten sich gerade im vorderen Raum fertig.

Salin war so mit dem Lamm beschäftigt, dass Aviva ihn beim Umziehen nicht aus dem Zimmer wies. Normalerweise war es ihr unangenehm und sie schämte sich vor ihm. Ihr Körper, der nicht mehr der eines Kindes war, veränderte sich langsam und es begannen sich zwei kleine Wölbungen unter ihrem Kleid abzuzeichnen. Ihr Körper gefiel ihr. Ja, sie fand Gefallen daran, eine junge Frau zu werden.

Gora und Jada waren heute zur Arbeit auf dem Feld eingeteilt, wo sie den ganzen Tag den Boden beackern mussten. Avivas und Salins heutige Aufgabe war es, die Tiere aus dem Stall zu holen und zur Weide zu bringen. Die Viehställe befanden sich in den äußeren Kreisen des Dorfes, direkt vor den Palisaden, weil es einfacher war, die Tiere von dort auf die Weiden zu lassen. Manchmal bekam Salin andere, beliebtere Aufgaben zugeteilt, wie den Jägern beim Häuten erlegter Tiere zu helfen.

Nachdem sie ihre Haare zu einem Zopf geflochten hatte, nahm Aviva das Lamm wieder an sich, barg es in ihrem Umhang und eilte rasch durch das Dorf, das noch wie verschlafen dalag. Sie war sehr erleichtert, dass ihr niemand entgegenkam. Schnell kletterte sie den Hang hinauf, der auf der gegenüberliegenden Seite des Dorfes auf eine Hochebene außerhalb der Abgrenzung führte. Von dort aus konnte man alles überblicken. Die Sonne war noch hinter dem Wald versteckt. Ihre Füße waren nass vom Tau, doch eine angenehme Wärme prickelte in ihren Beinen. Ihr Herz pochte, nicht nur von der Anstrengung, sondern auch vor Aufregung. Sie schaute zurück auf das Dorf. Wie klein es ist, dachte sie. Es war ihr so vertraut, und doch ahnte sie, dass etwas in der Luft lag, das alles verändern würde.

Tagsüber waren die Tore der Abgrenzung offen und so gelangte Aviva ohne gesehen zu werden auf den Weg, der zu den Weiden führte. Mit leichten Füßen folgte sie dem schmalen Pfad, kletterte über Felsbrocken und gelangte zu einem Bächlein, das sie mit Leichtigkeit übersprang. Das Weideland lag vor ihr. Einzelne Sträucher verdeckten noch die Sicht. Je höher sie stieg und je weiter sie das Dorf hinter sich zurückließ, desto leichter fühlte sie sich. Sie hätte immer so weiterlaufen können.

Plötzlich bewegte sich etwas in einem Gebüsch, das vor ihr lag. Aviva spähte angespannt hinein, als ihr Basko, Leroys großer Hirtenhund, mit wedelndem Schwanz entgegenkam. Der grauweiße Wolfshund erkannte sie und beschnupperte sie voller Freude. Aviva kraulte ihn hinter den Ohren. „Oh, Basko!“, rief sie aufgeregt, „bringst du mich zu Leroy?“ Basko schaute sie neugierig mit seinen braunen Augen an und schlenderte wieder hinter das Gebüsch. Aviva folgte ihm.

Vor ihr sah sie nun eine üppige Landschaft. Weiden und Waldstücke mit unterschiedlichsten Baumarten wechselten sich ab. Die Nachbardörfer befanden sich nicht weit von hier. In der Ferne konnte man die riesigen Felsschluchten erahnen, und Seen mit ihren dschungelartigen Inselgruppen. Zwischen ihnen brausten Ströme von kleineren und größeren Wasserfällen hinab. An diesem frühen Morgen konnte man nur die Spitzen der riesigen Felsen sehen. Sie schienen so nah, doch Aviva wusste, dass man mehrere Tagesmärsche brauchte, bis man zu ihnen gelangte. Am Horizont sah Aviva eine gerade Linie – den Beginn der Wüstenlandschaft, aus der nie jemand zurückgekehrt war.

Während sie noch fasziniert von dem Anblick war, hörte sie Leroys Stimme, der mit Basko redete. Er blickte auf, als sie näherkam, und lächelte sie freundlich an. Bei diesem Blick fühlte sie sich ertappt und hatte das Gefühl, dass er ihr mit seinen tiefblauen Augen bis ins Herz sehen konnte. Sie wandte ihren Blick ab und sagte: „Guten Morgen, Leroy, ich bringe dir ein verletztes Lamm!“ Dabei nahm sie das Tier aus ihrem Umhang.

Leroy kam auf sie zu. „Guten Morgen, Aviva, zeig mal her!“ Er nahm das Tier aus ihren Armen und legte es behutsam ins weiche Gras. Während er das Lamm untersuchte, konnte Aviva ihn unbemerkt beobachten. Wie die meisten Leute aus dem Karneol-Gebirge hatte Leroy schwarze, dichte Haare, die sein braun gebranntes Gesicht in Locken umrahmten. Er war kräftig, aber nicht bullig, sondern groß und schlank. Er trug lange Wildlederhosen und ein beiges Leinenhemd. Schuhe hatte er keine an. Er musste einige Jahre älter als sie sein, und war ein schweigsamer, tiefgründiger junger Mann. Meist war er allein mit seiner Herde unterwegs. Oft hütete er die Herden anderer Sippen, wofür er Nahrungsmittel oder Felle als Lohn erhielt. Niemand wusste wirklich, aus welchem Dorf genau er stammte oder wer er war, es schien auch niemanden zu interessieren.

Aviva hatte ihn erst drei Sommer lang gesehen, wenn er die Schafe oder Rinder ihrer Sippe zum Hüten abholte oder zurückbrachte. Manchmal durften die Kinder ihn begleiten oder ihm, wie Aviva, eine Zeit lang beim Hüten der Tiere behilflich sein, wenn es sehr viele waren. Nur selten kam er zu einem Dorffest und gesellte sich zu den Menschen. Auch er schien ein Geheimnis zu haben, das Aviva gern gelüftet hätte. Von seinem tiefgehenden Blick fühlte sie sich stets verstanden, obwohl sie ihn kaum kannte.