Axel und der Maler Sim - Elisabeth Schulz-Semrau - E-Book

Axel und der Maler Sim E-Book

Elisabeth Schulz-Semrau

4,7

Beschreibung

Im Telefon wisperte es, so wie man es vor einer Theatervorstellung hinter dem Vorhang hört, was einen sehr gespannt und neugierig macht. - „Fang du an!“ - „Nein, du!“ - „Los, mach schon!“ - „Heißen Sie wirklich Simsallabim“, fragte eine Stimme. Es war eine kleine Stimme, und dünn war sie auch, obwohl sie sich Mühe gab, groß und dick zu klingen. Und obwohl unser Freund in die Muschel hinein behauptete, er heiße Sonsalla, begann die kleine, dünne Stimme zu singen: „Auf einem Baum ein Kuckuck saß ...“ Doch lest selbst weiter, wie der Junge Axel und der alte Maler Sim Freundschaft schließen und wie es ihnen gemeinsam gelingt, ihre Sorgen und ihren Kummer zu vertreiben. LESEPROBE: Den ganzen Vormittag über, immer wenn ihn diese Angstwelle anspülte, hatte er an Sim gedacht. Wie ein Zauberwort, mit dem sich alles zum Guten wenden konnte, war es ihm vorgekommen. Nun aber funktionierte dieses Zauberwort nicht. Die Angst war wieder da. Ein dunkles, dumpfes, quirliges Wasser. Es begann Axel schon bis an die Schultern zu reichen. Er sprang hoch, riss die Wohnzimmertür auf, eine helle Brücke schlug sich in den dunklen Flur. Axel ging darüber bis zum Couchtisch. Er legte seine Schultasche dorthin, setzte sich in den Sessel davor, öffnete sie, suchte darin herum. Aber welches Buch oder Heft er auch herausfischte, mit jedem kam eine Unlustwelle, mit jedem eine Angstwoge. Wie Mutti sagte er jetzt vor sich hin: „Ist doch alles egal! Was soll’s?“ Aber auch das erleichterte ihn nicht. Ob er noch einmal anrief? An einem kaputten Telefon konnte das doch nicht scheitern. Er brauchte ihn wie verrückt, seinen großen, klugen Freund. Und wenn er nun ... Axel stopfte Hefte, Bücher, Federtasche in die Mappe zurück, trug sie zur Kommode, in der ihm Mutti eine Schublade für seine Schulsachen frei gemacht hatte, und kehrte mit dem Telefonbuch zurück. Der Junge suchte, buchstabierte, schrieb auf einen Zeitungsrand. Mann, wo mochte das sein - Herweghring? Warum hatte er nur all die Zeit nicht gefragt, wo Sim wohnte. Dabei ging Axel auf, dass sie sich ja noch gar nicht so lange kannten. Wenige Wochen erst, dabei hätte er schwören mögen, dass ihre gegenseitige Hilfe schon Monate dauerte. Wahre Freundschaft eben. Dieses Lied hatte er aus dem Musikraum gehört. Frau Tronke hatte es mit den Großen geübt. Sie sangen, dass wahre Freundschaft nicht wanken kann, wenn sie gleich entfernt ist, und dass sie in Gedanken immer weiterlebt. Ja, Axel kannte das.

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Impressum

Elisabeth Schulz-Semrau

Axel und der Maler Sim

ISBN 978-3-86394-368-4 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1979 in Der Kinderbuchverlag Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

1. Kapitel

Dirr - dingelte das Telefon, und gleich noch einmal dirr ...

Friedrich Sonsalla holte, beim ersten Klingelton aufgeschreckt, seine langen Glieder zusammen.

Er hatte, wie meist in der letzten Zeit, in seinem weichen, tiefen Sessel gehangen, Beine weit von sich gestreckt, Arme und Hände ruhten schwer auf den Armpolstern. Der Kopf war auf die Brust gesunken. Eine scharfe Hakennase stach in die Zimmerluft, die grau war vom Rauch großer Zigarren. Und dann war da noch die Unterlippe, die auffiel, sie kräuselte sich trotzig über die Oberlippe.

Die Augen waren geschlossen, aber er schlief nicht, der Friedrich Sonsalla, er machte etwas, das erst einmal kein Mensch sehen konnte.

Nur er.

Doch wenn er wollte, konnte er es sichtbar werden lassen.

Er malte es dann in wildbunten Farben auf gerahmte Leinwände, und einige davon hingen so vollgemalt um ihn herum in dem weiß getünchten Zimmer.

Aber er hatte wochenlang keine bunten Farben mehr aus den Tuben gedrückt und mit keinem Pinsel aus drei oder mehr Farben eine, seine neue Wunderfarbe, herausgemischt.

Er malte immerfort, doch nur in seinem Kopf.

Nicht, dass er ein richtiges Bild nicht gewollt hätte. O nein, das hätte er schon, aber es war so, er konnte nicht anders. Er war traurig darüber. Er war überhaupt traurig. Ja, das war es wohl.

So schrak er auf, als das Telefon klingelte.

Das hatte es schon so lange nicht getan, wie Friedrich Sonsalla nicht die Leinwände bemalte. Klar doch, dass er erschrak, und er holte sofort seine müden Glieder wie durch Strippen gezogen zu sich heran.

Beim zweiten Dingeln war es ihm, als wenn eine kleine Laubsäge sich in seiner Brust einen Weg biss. Und er dachte rasch alle Leute und Ämter durch, die etwas von ihm wollen könnten.

Nämlich - erwachsene Leute fürchten sich auch vor manchen Dingen. Ihm fiel ein, er hatte vergessen, die letzte Miete zu bezahlen.

Der dritte Dirr-Ton aber läutete eine Erinnerung wach, die war noch ein wenig verschwommen, und Friedrich Sonsalla musste beinahe erraten, was er sah. - Wartet mal - eine Straßenbahn quietschte in einer Kurve, Fahrgäste hinter den Fenstern - da gingen aber auch Menschen: Frauen mit Einkaufsnetzen, junge Burschen in Lederjacken, die laut miteinander sprachen, Mädchen, die kicherten und Blumensträuße in den Händen hielten, da - Häuser ...

Eine Straße also, und er musste sie irgendwann gekannt haben. -

Beim vierten Läuten hatte er seine Hand schon auf dem Hörer, er führte ihn an sein Ohr.

Im Telefon wisperte es, so wie man es vor einer Theatervorstellung hinter dem Vorhang wispern hört, was einen sehr gespannt und neugierig macht.

„Fang du an!“

„Nein, du!“

„Los, mach schon!“

„Heißen Sie wirklich Simsallabim“, fragte eine Stimme.

Es war eine kleine Stimme, und dünn war sie auch, obwohl sie sich Mühe gab, groß und dick zu klingen.

Und obwohl unser Freund in die Muschel hinein behauptete, er heiße Sonsalla, begann die kleine, dünne Stimme zu singen: „Auf einem Baum ...“, bei Baum waren noch mindestens zwei andere Stimmen dabei, „ein Kuhukuck, simsallabim-bambasalladu-salladim, auf einem Baum ein Kuhukuck saß ...“

Es müssen Jungen sein, dachte Sonsalla, sie singen härter als Mädchen, und die Stimmen klirrten machmal etwas auseinander. Einer muss darunter sein, der kann den Ton nicht halten.

Sonsalla suchte in seinem Gedächtnis die Töne dieses Liedes zusammen, und als die Jungen bei der zweiten Strophe, in der der junge Jäger den armen Kuckuck totschoss, mit ihren Stimmen wieder ein wenig abzurutschen begannen, stützte er sie mit seiner alten, aber immer noch festen Stimme.

Die Strophe, in der der Kuckuck nach einem Jahr wieder dasaß, musste er allein zu Ende singen, denn die Jungen hatten aufgehört.

„Nanu“, fragte Sonsalla und kratzte sich ein wenig unterm Kinn, das heißt, eigentlich kratzte das Kinn mehr seine Hand, denn grauschwarze Bartstoppeln wucherten zentimeterlang um Mund und Kinn. „Nanu, warum hört ihr denn auf?“

Wieder wisperte es im Telefonhörer, bis eine Stimme, es war die kleine, dünne, die Sonsalla schon vertraut war, sagte: „Nee so was - und Sie sind nicht sauer, Herr Simsallabim, wo wir doch ...?“

„Warum denn“, fiel Friedrich Sonsalla dem Jungen in die Erklärung, „wo ihr mir solch ein hübsches Lied gesungen habt. Sagt mir lieber, wie ihr heißt, erzählt mir was von euch ...“

Wieder Flüstern. Sätze überquerten sich. „Der ist aber komisch. Meckert nicht mal, wo die andern doch ...“

„Vielleicht ist er verrückt, mein Vati hat mal erzählt ...“

„Und wenn er die Polizei holt ...“

Der Hörer schlug so auf die Gabel, dass Friedrich Sonsalla den Schlag an seinem Ohr zu spüren glaubte. Er legte langsam und vorsichtig den Hörer auf das Telefon und lächelte vor sich hin.

Und jetzt wusste er, welche Straße ihm vorhin eingefallen war. Vor Jahren hatte er in einem hohen, neuen Haus unterm Dach eine Wohnung gehabt. Eine riesige Glasdecke trennte ihn in seinem Malzimmer vom Himmel, der sehr hellblau und wie eine Kuppel fern über ihm stand; manchmal breitete der Himmel einen tiefblauen Samtvorhang über das Glasdach, oder er streute seine Sterne auf Sonsallas Fußboden, dass sie wie Glühwürmchen darüber hinspazierten. Riesige weiße Elefantenherden sah Sonsalla trotten, die sich sekundenrasch in hüpfende Kängurus verwandeln konnten oder in breitlachende oder grimmige Riesengesichter. Stunden des Tages war dieser Himmel oft Sonsallas einziger Besucher in seinem Arbeitsraum gewesen. Und er gab viel auf ihn. Aber dann, meist wenn der Tag seine Mitte überschritten hatte, wurde es ihm mit dem fernen Besucher zu einsam und - er ging in seine Straße.

Eisenbahnstraße hieß sie. Warum, wusste er nicht mehr, vielleicht, weil sie parallel zum Bahnhof verlief.

Er ging also, hin - rechte Straßenseite, zurück - die gegenüberliegende oder umgekehrt. Es war eine sehr lange Straße. Er hätte mit drei oder vier Straßenbahnlinien mindestens fünf Stationen fahren müssen, um an ihr Ende zu gelangen. Aber das machte er höchstens, wenn er sich zu lange aufgehalten oder zu schwer zu tragen hatte, sonst ging er. Und das tat er sehr gern und langsam mit großen Schritten und großen Schuhen.

Und wenn die vielen Menschen in dieser Straße nichts oder wenig zu tun gehabt und zu Boden gesehen hätten, wären ihnen die großen, langsamen Schritte und die großen, flachen Schuhe des Mannes aufgefallen. So aber blickten alle nach oben und nach vorn, sie strebten einem Ziel zu: der Konsumfleischerei, einem der kleinen Bäckerläden, einem Hut- oder Schuhgeschäft, dem Gebrauchtwarenladen oder ihrer Wohnung. Es sei denn, ein Kind hätte seinen Einkaufszettel oder das Geld verloren, aber dann hatte es längst andere Sorgen als die großen, suchenden Füße eines Bildermalers.

Auf fiel nur, wenn er plötzlich im Hin und Her der Menschen ruckhaft stehen blieb, die andere Straßenseite oder ein Schaufenster mit den Augen absuchte. Dann bemerkten zumindest die Leute, deren Weg er hemmte, wie der seltsame Mann ein Auge zukniff, mit dem anderen aber scharfe Blitze auszusenden schien.

Es konnte passieren, dass er vor dem bunten Vielerlei des Kunstgewerbeladens plötzlich eine völlig fremde Frau wütend darauf aufmerksam machte, was für grässlicher Krimskrams hier angeboten wurde, oder er holte aus einer Hosentasche ein Zettelchen, auf das er rasch irgendwelche Zeichen strichelte.

Oft hielt er sich am Kinderkarussell auf, das zwischen zwei Häusern auf der Fläche eines abgerissenen Hauses kreiselte und lustige Lieder zwischen den Straßenlärm warf.

Den Kindern hier war er vertraut gewesen, auch denen an den Eisbuden, und nicht selten forderten sie von sich aus: Haste nicht noch ’n paar Zehner?

Solange Sonsalla sich seiner Straße erinnerte, sah sein mageres, stoppliges Gesicht sanft, beinahe fröhlich aus.

Hätte ihn jetzt seine Nachbarin, die alte Wiezzoreck, gesehen, würde sie bestimmt nicht wie fast täglich sagen: Fürchterlich sieht der alte Zausel aus, der baut ab, ganz rapide baut der ab. Er wird sterben, wie seine Gertrud. Nee, nee, so darf ein Mensch sich nicht gehen lassen ...

Als er vor einiger Zeit noch bunte Bilder malte und viele Autos vor seinem Haus hielten, hatte sie andere böse Sätze für ihn bereit: De hev ön Vogel, sone irrige Bülders tou molen.

Nun aber, sie sah ihn ja nicht, denn sie saß mit ihren Kaffeefreundinnen im engen Zimmer ihres Häuschens und sagte eben wieder ihren täglichen Satz: Fürchterlich sieht er aus, der Zausel ...

Der alte Maler kniff auf einmal beide Augen zu und sah eine Haustürschwelle vor einer grünen verwitterten Tür, darauf hockte ein Bürschlein, fünfjährig vielleicht, müde und schmuddlig gespielt. So schmuddlig, wie Sonsalla es noch nie gesehen hatte. Grün sah der Junge aus, von Kopf bis Fuß wie mit Grünspan überzogen. Das Grün leuchtete. Dabei schlief er friedlich in der nachmittäglichen Straßenhast der Eisenbahnstraße ... Das hatte Sonsalla malen wollen, sehr oft, aber es waren immer andere Aufträge dazwischengekommen.

Jetzt trat das Bild fast fertig gemalt wieder vor seine Augen, und nun hätte er ...

Der Mann seufzte. Er fühlte sich wieder in seinem Zimmer, das sehr still war, nur sein Herz pochte laut! Das Zimmer, er bemerkte es, war grau vom Rauch dicker Zigarren.

Er schob den Vorhang beiseite und öffnete die Terrassentür und erschrak vor dem Geruch, der ins Zimmer drang, schwer und süß.

Gemähtes Gras? War das schon die Akazie? Ein Streifen der Nachmittagssonne wanderte an ihm vorbei einfach ins Zimmer.

Sonsalla flüchtete in seinen großen Sessel, ließ sich hineinrutschen, die Hände ruhten wieder lang und schwer auf dem Armpolster.

Als er seine Beine von sich strecken wollte, drängte sich ein violetter zweihälftiger Ton ins Zimmer. Der Alte spannte sein Gesicht, horchte. Wirklich, es war ein Kuckuck. Er begann mitzuzählen ...

2. Kapitel

„Mann, warum haste bloß aufgelegt? Der hätte uns vielleicht was erzählt aus seiner Jugend oder so. Erwachsene Leute haben immer solche schöne Jugend gehabt, da warn sie meist ganz doll frech und hatten nichts zu essen.“

Es ist der mit der kleinen, dünnen Stimme, die, wenn sie laut wird, ein wenig schrill klingt.

„Eeh, wer hat denn wat von Polizei gesagt“, verteidigt sich der, der vorhin beim Singen die Stimme nicht halten konnte, er ist ein kräftiger Junge, fast ein bisschen dick.

„Na und –„, und das fragt der dritte Junge. Der fährt schon wieder ungerührt mit dem Finger im Telefonbuch entlang. „Ooch, hier heißt einer Würmchen. Wenn wir nun sagen, hallo, wir sind das Wurmvertilgungsmittel!“

„Nee wart mal, wir sagen, wir brauchen Sie, liebes Würmchen, für unsere Angel“, brubbelt der dicke Mirko dazwischen und will schon mit dem Finger in die Wähllöcher steigen.

Axel aber, der mit der dünnen Stimme, dessen Mutter das Telefon gehört, nimmt Mirko den Hörer aus der Hand und drückt ihn fest auf das Telefon.

Tobi, der eigentlich Tobias heißt, fragt Axel verwundert: „Issen los?“

Die drei Jungen stehen sich in dem etwas dunklen, zwar durch eine Wandleuchte erhellten, aber trotzdem schummrigen Korridor der Familie Altmann gegenüber.

Das Telefon steht zwischen ihnen auf der Flurgarderobe, und um sich im Telefonbuch zurechtzufinden, haben die Jungen Axels Taschenlampe angeknipst. Die hält jetzt Tobi vor Axels Gesicht und sucht es aufmerksam nach irgendetwas ab, das er aber nicht zu finden scheint.

„Spinnst du“, fragt Tobi verwundert.

„Gar nicht“, sagt Axel und schiebt Tobis Arm mitsamt dem grellen Licht von sich weg.

„Ist doch schon langweilig!“

Dabei war es Axel vorhin gewesen, der die Freunde vom Fußballspiel aus dem Torweg in die Wohnung gelotst hatte.

„Ich weiß was ganz Tolles“, hatte er versprochen: „Telefonieren!“ Und als die Freunde ihn misstrauisch betrachteten und Tobi das Wort ganz langsam bis in die Nase hochzuleiern schien, was seinen Zweifel am Spaß einer solchen Beschäftigung ausdrücken sollte, begann Axel zu erzählen: „’n Film hab ich mal gesehen, da haben sich Leute bei ’ner Feier ausgedacht, sie wollen einfach eine Nummer wählen und hören, was dabei rauskommt.“

„Na und was ist rausgekommen?“, fragt Mirko noch immer lustlos.

Mirko ist der beste Torwart der Mannschaft aller dritten Klassen. Und das will er natürlich bleiben. Klar, dass ihm da jedes Spiel wichtig ist, auch im Torweg von Altmanns Haus, der zwar breit, aber nicht lang genug ist, und wo Mirko zur Hofseite hin besonders gekonnt den Ball abwehren muss, damit er nicht auf die Müllkübel knallt, was im Hof einen ungeheuren Krach macht. Das heißt, den Jungen kommt er gar nicht ungeheuer vor. Selbst als sie auf dem Hof ballerten und sich - klar, geht gar nicht anders - einiges zurufen mussten, war es für ihre Begriffe kein Krach gewesen.

Doch im dritten Stock war ein Fenster aufgestoßen worden, eine Frau mit einer Handvoll Gesicht unter einem riesigen Haartuff hatte hinuntergeblickt, geschimpft und gedroht, dass sie diesen ungeheuren Krach Axels Mutter mitteilen würde.

»Kommt!« Axel hatte sofort den Ball genommen, zu den Freunden hin die Augen verdreht und im Torweg gepispert: „Frau Tamm, eine Klavierlehrerin, zickig sag ich euch. Die bekommt’s fertig und klatscht wirklich!“

Sie hatten sich von nun an Mühe gegeben, ihre Zurufe mittellaut zu halten, bis Axel mit diesem Telefonieren kam. Wozu er jetzt plötzlich keine Lust mehr hatte.

Dabei hatten sie ja gar nicht, wie der Mann in Axels Film, ein Mädchen kennenlernen wollen. Hatten sie gar nicht nötig. Sie kannten ja Ina, die war in ihrer Klasse, und die mochten alle drei gut leiden.

Axel hatte sich nämlich etwas eigenes ausgesponnen, Komische Namen hatten sie gesucht und sich komische Sprüche dazu einfallen lassen.

Es machte Spaß.

Die Leute, wenn sie überhaupt da waren, ärgerten sich, schimpften oder legten gleich auf.

Eine Frau Süß, die sie mit Frau Sauer anredeten, wurde besonders sauer und drohte in heftig herausgespuckten Sätzen mit der Polizei. Eine andere, die Speck hieß und die sie gefragt hatten, ob sie von ihr ein Stück abschneiden dürften, hatte ihre Stimme ganz klein gedreht und eigenartig freundlich gesagt, sie wisse genau, wer sie seien und wo sie wohnen. Ja, sie kenne sogar ihre Eltern gut. Die Jungen hatten erschrocken den Hörer auf die Gabel geworfen und sich gegenseitig gefragt, ob die Frau sie wirklich kannte.

Aber weder Tobias, noch Mirko oder Axel hatten je von ihren Eltern etwas von einer Frau Speck gehört. Sie hatten sich damit beruhigt, dass die Frau in einem Stadtteil viele Straßenbahnhaltestellen von ihnen entfernt wohnte und dass sie ihnen wahrscheinlich nur Angst machen wollte.

Trotzdem, es hatte Laune gemacht. Und dieser Simsalla, Sonsalla, war nicht mal sauer geworden, doch nun auf einmal will Axel nicht mehr.

„Ach komm“, lenkt Mirko ein, „wenigstens noch diese Wurm oder Würmchen. Det fetzt bestimmt.“

Aber Axel bleibt dabei, hält seine Hand auf den Hörer. Dabei weiß er gar nicht genau, warum er die Leute nicht weiter ärgern will. Eigentlich ärgern schon, aber wenn sie, wie dieser Mann ... Seltsam, was war das für einer, der nicht schimpfte, wenn Kinder Dummheiten machten?

Nach Axels Erfahrungen schalten die Großen immer, wenn Kinder ihren Spaß haben. Das hatte er zu spüren bekommen, besonders nach den letzten schlimmen Monaten, in denen Muttitsch mit und ohne Späße, die er machte, meckerte.

Und Papa - sein Kumpel Papa - bekam, wenn sie sich trafen, seine Rubbelstirn und ließ lauter steinerne Sätze los, die immer begannen mit: Du musst jetzt, mein Junge; merk dir, mein Sohn; versprich mir, Axel!

Axel wollte nicht müssen, nicht merken, nicht versprechen. Wollte einfach nicht!

Ist der denn überhaupt noch sein Papa?

Ihm fällt plötzlich die Mahnung der Mutter ein: Axel, jedes Telefongespräch innerhalb der Stadt kostet fünfzehn Pfennig.

„Wie viele haben wir’n angebimmelt“, fragt er die Freunde.

Tobi rechnet. „Sieben bloß“, sagt er.

„Mensch, bloß“, sagt Axel vorwurfsvoll, „sind ’ne Mark fünf. Das muss meine Mutter verdienen, neuerdings.“

„Mann, du hast uns doch eingeladen oder ...“, nun war Mirko offensichtlich sauer. „Ick geh heeme, kannst dich meinetwegen auf dein Telefon setzen!“

Er bückte sich, wickelte die Senkel seiner Fußballtöppen ums Handgelenk, fragte Tobias herausfordernd: „Und du?“

„Spielverderber“, zischte Tobi Axel zu und verließ hinter Mirko die Wohnung der Altmanns.

Axel stand immer noch im Flur, die Hand auf dem Telefon. Die Tür flog zu, und es war, als schnappte auch irgendetwas in Axel ein. Er riss die Wohnungstür wieder auf, rannte hinter den Freunden her, nahm die fünf Stufen in dem Torweg mit einem Sprung und rief den beiden hinterher: „Wir können ja im Park spielen. Soll ich mein Indianerzelt vom Boden holen?“

Mirko winkte lässig ab, während Tobi sich nicht erst umdrehte.

Da stand Axel nun unter der riesigen Haustür und fühlte sich auf einmal sehr klein. Die großen alten Mietshäuser seiner Straße warfen ihre Schatten in den Sonnentag. Es gingen zwar Menschen auf der Straße, vereinzelt fuhren Radfahrer und Autos vorbei, aber Axel sah nur das bröckelnde Mauerwerk, roch den muffig sauren Atem, den alte Häuser in warme Sommertage blasen. Mein lieber, schöner Garten, dachte Axel wie so oft, und er sehnte sich.

„Phö“, machte er plötzlich, richtig laut phö, und eine Frau drehte sich erstaunt oder empört nach dem Jungen in der Haustür um.

„Das müssen wir schaffen. Axel“, hatte Mutti gesagt, „und wenn wir dran kaputtgehen, soll er nur sehen, was er angerichtet hat.“ Das war bei dem großen Weinen gewesen, und dann war überhaupt alles anders geworden.

Kaputtgehen durften sie nicht! Was Mutter aber darunter verstand, begriff Axel nicht richtig. Er ging durch den Torweg, die Treppe hinauf in ihre neue Wohnung, die jedoch alt war. Axel ging ins Wohnzimmer, drehte den Fernseher an, sehr laut; im Schlafzimmer das Radio, nahm schließlich sein kleines Kofferradio, noch ein Geschenk vom Vater, pulte auch das auf volle Lautstärke, zog die Zeitung, die seit heute früh im Briefkastenschlitz steckte, heraus, klemmte sie untern Arm und griff noch nach einem Holzkästchen mit Erdnüssen, das Mutter auf dem Küchenbord zu stehen hatte. Mit Zeitung, Kofferradio und Nüssen begab er sich ins Bad. Er hatte alle Türen weit aufgemacht.

Die Mutter hatte ihren Sohn schon einige Male so angetroffen. „Axel, um Himmels willen, dieser Krawall, und du sitzt mittendrin, liest Zeitung, knabberst Nüsse, was soll denn das?“, hatte sie verwundert gefragt.

Axel wunderte sich über seine Mutter, wusste sie es denn nicht: „Ich mach es mir gemütlich:“ Also Axel machte es sich gemütlich.

Er las. Zuerst ein bisschen das Politische, aber das verstand er nicht alles. Auch dabei hatte ihm Papa geholfen. Weiter fand er, was manche Leute verkaufen oder wen sie heiraten wollten.