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Erst im Herbst 1988 gelingt der gebürtigen Königsbergerin die Wiederbegegnung mit ihrer Vaterstadt, der bis dahin für Ausländer verbotenen Stadt. Viele Leser hatten sich nach dem Report „Suche nach Karalautschi” (1984) mit ihren Lebensberichten, Dokumenten und Fotos an die Autorin gewandt. Nun folgt sie einer Einladung des Kaliningrader Kulturfonds, der sich die Aufgabe gestellt hat, die ganze Geschichte der 700-jährigen Stadt wieder lebendig zu machen. Die Autorin überbringt Zeugnisse der gebürtigen Königsberger Käthe Kollwitz und E. T. A. Hoffmann, sie nimmt an Feierlichkeiten zu Ehren Immanuel Kants teil, und sie sucht die alten Straßen, Plätze und vertrauten Winkel ihrer Kindheit. Die verwandelte Stadt, die Kaliningrad heißt und doch noch Königsberg wie Karalautschi ist, wird zum Ort der Begegnung mit liebenswerten Menschen, deren Schicksal unter den Hitler- und Stalinregimes betroffen macht. Die Autorin erringt ein neues, lebendiges Verhältnis zu dieser Stadt der Geburt und entdeckt sie als gemeinsame Heimat. LESEPROBE: Jetzt zu der Geschichte meiner Mutter. Sie stammt aus Weißrussland, wurde am 9. 5. 1922 im Dorf Studenez im Gebiet Mogillew geboren. Als sie drei war, kam ihr Bruder Alexander zur Welt. Der ist aber als Säugling von drei Monaten verstorben. Mit sechs Jahren verblieb sie mit ihrer Mutter allein, ihr Vater, der 63 Jahre war, starb am 28. März. Er hieß Jude-Pine, jiddisch Jihude-Pinhus. Ein Doppelname. Ihm zu Ehren wurde ich Julia genannt: Jude - Julia. Bei euch bedeutet das Wort Jude die Nationalität, bei uns ist das ein Name. Mutti hatte eine schwere Kindheit: kein eigenes Haus, eine sehr kleine Pension (17 Rubel, 47 Kopeken). Sie arbeitete schon als Kind zusammen mit ihrer Mutter Ride im Wald. Dort hat man die Arbeit nicht schlecht bezahlt. Sie haben den Wald rein gemacht und Bäume gepflanzt. Im Jahre 1936 kam sie nach Moskau, um zu studieren. Ihr Onkel aber sagte, sie soll arbeiten gehen. So begann sie zu arbeiten und erlernte den Beruf Buchhalterin. Ein eigenes Haus hatten sie nicht und lebten hier und da bei den zahlreichen Verwandten, die selbst schlechte Wohnungen hatten. Im Jahre 1941 im Oktober, als die Faschisten nicht weit von Moskau waren, fuhr meine Mutter mit der Oma nach Osten und blieb dort bis 1943. Drei Jahre lebte sie dann wieder in Moskau. Und wieder ohne Zimmer, ohne Wohnung.
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Seitenzahl: 306
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Elisabeth Schulz-Semrau
Drei Kastanien aus Königsberg …
Tagebuch einer Reise in das heutige Kaliningrad
ISBN 978-3-86394-372-1 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 1990 im Mitteldeutschen Verlag Halle - Leipzig.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
Königsberg ist reizvoll - ich habe es mir an diesem Sonntag angesehen - am Vormittag meinen Spaziergang gesucht und gefunden hinaus in die beschneite und verschneite Ebene Ostpreußens mit verschleierten Wäldern, Einzelhöfen und keinem einzigen Schornstein. Am Nachmittag Kants Grab aufgesucht. Wie viel mehr hat auf den ersten Blick schon Königsberg zu bieten als Stettin! Eine gewachsene Stadt - voller Winkel, einem Auf und Ab der Gassen, einer Reihe mittelalterlicher Fachwerkbauten am Pregel. Wie ist mir wieder das Herz aufgegangen - vor Barockhäusern etwa -, was es heißt, aus einem Vollgefühl bauen, so alles in ein Gebäude legen zu können, Gemüt, Geist, Weltgefühl! Welcher Atem! Ach, Kunst ist Reichtum, Überfluss, Widerhall!
(Aus einem Brief des Lyrikers Georg Maurer vom 20. 1.1941 an seine spätere Frau Eva)
Im Schatzkästlein meiner Tante Ella, einem abgegriffenen Pappkarton, beschriftet in ihrer unverwechselbar rundbögigen Schrift mit dem inhaltsschweren Wort „Heimatbilder”, finde ich ein Gedicht.
Warum hat sie es aufbewahrt, offensichtlich aus einer Zeitung ausgeschnitten?
Es ist ein langes Gedicht. Ich lese es laut vor mich hin.
Steige hinein in seine Bilder und Metaphern, in die heimatlichen wie die nachbarlichen, und weiß auf einmal: Ja, das ist es!
Ist Uranliegen meiner Reise und meines Schreibens ...
Agnes Miegel
Am Gartenzaun
Nachwersche, Nachwersche, komm an den Zaun! Wo bleibst du? Weit in den Feldern, weit in den Wiesen im weißen Nebel, wo schimmert dein Kopftuch röter wie Tulpen? - Im kalten Ostwind deine Schlittenglocken im heißen Südostwind dein Sensendengeln - Nachwersche, Nachwersche, nichts kann ich hören.
Meine Jungchen und deine, Nachwersch Kinder, haben sich geschlagen. Meine schönen Jungche deine jungen Söhne, schlafen im Acker. Pflug geht darüber Saat tropft und Regen neigen sich die Ähren flüsternd in ihrem Schlummer in der grünen Ebene zwischen Weichsel und Wolga.
Über die Acker die grüne Eb’ne trieb schwarzer Brandrauch in meinen Garten. Roch nach frischem Brot nicht, nicht nach den Meilern tief in den Wäldern, nicht wie das Feuerchen singender Flößer -
Grell stand der Gleisch flammend am Himmel. Nachts, wenn der Hahn kräht hört ich dich weinen. Deine Kleinen hört ich schrein und verstummen - achwersche, Nachwersche Komm doch ans Zaunche!
Wollen hier schwatzen von junger Jugendzeit: Schön wars im Frühling, hochgeschürzt waten dort an den Ufern. Trieben im Strome strudelnd die Schollen Schmolz in den Furchen rieselnd der Schnee.
Grünte die Erde, die feuchte Erde, blühten die Blümchen, die gelben Blümchen, zwischen Weichsel und Wolga!
Süß um Johanni in den hellen Nächten schlagen die Sprosser drunten im Bachgrund. Süß durch den Abend, den hellen Abend singen die Mädchen dort vor der Scheune. Süß um Johanni duftet das Heu dann in den weiten Wiesen zwischen Weichsel und Wolga!
Weiß gehen die Straßen, Birkenbestandene, zwischen endlosen Feldern. Weißer wie Mehl stäuben die Straßen um zottige Pferdchen, steppengeborene, um blanke Pferdchen, Instergetränkte. Nach fahlem Roggen, nach gelbem Weizen langen die Birken, langen die Quitschen korallenrot reifende, zwischen Weichsel und Wolga!
Nachwersche, Nachwersche, dunkelgesichtige unterm gold’nen Kokoschnik! Im bunten Kleid du bunt wie ein Garten. Mütterchen, Schöne, das Jüngste im Arme das Kind unterm Herzen –
Nachwersche, Nachwersche, Komm an den Zaun! Wo bleibst du?
Das Gedicht, wahrscheinlich nach dem Ersten Weltkrieg geschrieben, hat den Zweiten, um vieles furchtbareren Krieg nicht verhindern können. Menschenohren waren dafür taub geworden.
Endlich - nach mehr als vierzig Jahren - scheint mir seine Zeit gekommen!
Ich gehe an den Zaun ...
Ich rufe an den Zaun ...
An dem Zug stand es wirklich, an jedem Waggon sogar: KALININGRAD: Moskau-Kaliningrad.
Die da leicht benommen, hastigen Schritts, diesem Labkan eines Gepäckträgers zu folgen sucht, eine Frau, nicht mehr jung, füllig geworden, bin ich.
Und ich werde, alle Zeichen stehen dafür, in diesen Zug einsteigen.
Der nach Kaliningrad fährt ...
Die Dolmetscherin hatte dem großen Menschen mit seiner Gepäckkarre eingangs des Belorussischen Bahnhofs gewinkt, flink sortierte er unsere Gepäckstücke. Die zwei großen in Packpapier verschnürten Kartons stapelte er auf Hinweis der Dolmetscherin gesondert. Sie hatte ihm auch die Nummer des Zugwagens genannt.
Geschickt durcheilte und umfuhr er die Menschentrauben, die sich jeweils um die Eingänge der Waggons sammelten. Rita - so heißt die Dolmetscherin - bleibt unserm Helfer am nächsten auf den Fersen.
Auch sie wird in diese Stadt fahren. Zum ersten Mal. In viele andere Städte der Sowjetunion hat sie deutsche Reisende begleitet. Oft mehrmals. Ich kenne ihre Empfindungen, unser Reiseziel betreffend, nicht, weiß aber schon, dass ein Haushalt daraufhin umorganisiert, eine schulpflichtige Tochter zu ihrer beider Leidwesen zur Großmutter umgesiedelt werden musste.
Daran, dass auch ich daheim verschiedenes zu ordnen hatte, einiges nicht ohne Sorge beließ, denke ich im Augenblick überhaupt nicht.
Was aber denke ich?
Vielleicht das, was ich weiß, aber kaum zu glauben wage: Ich fahre nach Kaliningrad?
Eher werde ich von einer Empfindung geleitet, die sich nicht in Bild und Gedanken umsetzt, die nur Erwartung ist, feierliche, freudige, aufgeregte. Ähnlich vielleicht jenem Gefühl, mit dem das Kind, vor fast fünfzig Jahren, mit den Eltern von der Großmutter auf den HUFEN kommend, durch winterliche Straßen ging, Kerzenschimmer hinter Fenstern entdeckte und so den heimatlichen Weihnachtsbaum und den darunter liegenden Geschenken in der TRAGHEIMER KIRCHENSTRASSE 17 entgegenfieberte.
Und so sehen also Menschen aus, die in dieser Stadt wohnen.
Ganz selbstverständlich sind sie in die Hauptstadt gefahren, haben Ämter aufgesucht, Freunde getroffen, eingekauft. Sind beladen mit Koffern und Kisten und fahren ganz natürlich in ihre Stadt zurück ...
Natürlich - wie Leben ist, wenn es sich natürlich leben lässt ...
Ich habe vor dreiundvierzig Jahren in einer furchtbaren, widernatürlichen Zeit meine Heimat verlassen müssen.
Ich war ein dreizehnjähriges Kind, dem erst viele Jahre später aufging, was es hieß, keine Heimat zu haben.
Meine Heimat liegt in der Stadt, in der diese Menschen wohnen, und nun bin ich auf dem Weg dorthin ...
Nachwersche, Nachwersche,
Komm an den Zaun!
Wo bleibst du?
Heute ist der vierte Oktober. Gestern, am 3. also, bin ich von Berlin nach Moskau geflogen, um die Mittagszeit.
Ich war die letzte der Reisenden gewesen, die dem Flugzeug über eine weite Strecke des Flugplatzes zueilte, der entsprechende Bus hatte die Leute aus dem Flughafengebäude längst an der Gangway abgeliefert.
Natürlich begann sich meine mangelhafte Fähigkeit, Stress zu bewältigen, bereits gewaltig zu regen. Obwohl ich mich nach einem schlauen Psycho-Buch so präpariert hatte, dass ich Dinge annehmen wollte, wie sie auf mich zukämen.
Also bereit sein für das, was immer der Tag mir brächte. Sorge dich nicht - lebe, verlangte das Buch von mir, das wollte ich künftig auch von mir verlangen.
Vielleicht hätte ich lieber einen Tag später mit diesem Vorhaben beginnen sollen, denn was dieser 3. 10. mir abverlangte ...
Wir waren zweieinhalb Stunden vor Flugbeginn aus der Wohnung aufgebrochen. Mein Mann hatte gegen meinen Wunsch darauf bestanden, mich nach Schönefeld zu bringen. Wir saßen schon im Auto, als uns ein Passant darauf aufmerksam machte, dass der linke Hinterreifen platt stünde.
Meinen Gedanken: Na bitte, hätte ich man lieber ein Taxi ..., verbannte ich weit ins Unterbewusstsein, ging, um meinen Mann nicht nervös zu machen, noch einmal in die Wohnung, schielte, jede Sorge verneinend, durch die Gardine, bis er’s geschafft hatte, den Reifen zu wechseln.
Wir erreichten den Flughafen immer noch so zeitig, dass mein Mann in aller Ruhe jene großen Pakete von der Gepäckaufbewahrung abholte und wir ziemlich vorn in der Ansammlung vor dem Abfertigungsschalter standen.
Grafiken, neunundzwanzig an der Zahl, waren ein Geschenk der Akademie der Künste für die Stadt Kaliningrad.
Ich war sehr froh, nicht mit leeren Händen in meine ehemalige Heimatstadt zu kommen. Kunstfotos in Originalgröße von Grafiken der Käthe Kollwitz würden in der Geburtsstadt der Künstlerin bewahrt und ausgestellt werden können.
Und ich hatte etwas dafür getan!
Als wir an der Reihe waren, das Gepäck auf das Laufband stellten, bedeutete uns die Interflugangestellte, dass die Pakete zu sperrig seien und über einen anderen Weg ins Flugzeug gelangen müssten. Sie telefonierte nach jemandem.
Wir stellten uns beiseite, ließen 5-10-15-20 Minuten lang alle Reisenden vor. Niemand holte uns. Auch, als die junge Frau erneut telefonierte, nicht.
Da endlich wies uns ihre danebensitzende Kollegin den Weg zu einem Schalter, der sperriges Frachtgut annahm. Also dorthin!
Vor uns wurden Apparaturen und Gerätschaften eines Filmteams eingeräumt.
War aber schön, dass du vorhin wegen des Autos nicht nervös geworden bist, sagte mein Mann nun voll weiser Methodik.
Zum ersten Schalter zurück. Vor mir, in intensiver Abfertigung verharrend, eine BRD-Reisegruppe, nach mir niemand.
Wozu haben Sie ein Messer mit? fragt der Zollbeamte, als ich endlich dran bin, dabei immerfort grüble, ob sie die Pakete auch wirklich noch ins Flugzeug transportieren werden, ins richtige.
Rasch hatte ich noch während des Radwechselns ein kleines Küchenmesser und einen Teelöffel eingesteckt. Es konnte ja sein, dass ich mich einmal selbst zu versorgen hatte.
Und was den Löffel betraf, er stammte aus dem Silberkasten, den wir vor dreiundvierzig Jahren aus der Stadt KÖNIGSBERG mitgeschleppt hatten. Ihn beabsichtigte ich zum Abschied, als eine Art Anker, in den PREGEL zu werfen. Nun verankerten mich diese verflixten Gegenstände womöglich in Berlin!
Wie gut, dass der Beamte genau wusste, in welche Tasche ich die Dinger gesteckt hatte. Ich lieferte brav mein Mordwerkzeug ab und rannte mehr, als ich ging, zum Flugzeug, kam an, ehe die Gangway, wie ich es schon vor mir gesehen hatte, weggefahren wurde.
Schließlich sind fast alle Situationen unseres Lebens uns schon irgendwo einmal „vorgespielt” worden.
Ich fand Platz neben einer sportlich anmutenden Mittvierzigerin jener Reisegruppe, von der ich bald erfuhr, dass sie fast alle Teile des Erdballs bereist habe. Diesmal ging es über Sibirien, die Mongolei nach China.
Ich weiß nicht mehr, warum während unseres Gesprächs der Name des Ortes Rangsdorf fiel. Ich war in Rangsdorf Lehrerin gewesen und hatte dort vor einigen Jahren mein Buch „Suche nach Karalautschi” zu Ende geschrieben.
Sie kennen Rangsdorf, fragte die Frau aufgeregt und gab augenblicklich ihren reiseenzyklopädischen Habitus auf. Dort habe ich doch einige Jahre meiner Kindheit verbracht. Großmutter hatte in Rangsdorf ein Grundstück.
Sie nennt mir Gegend und Straße und dringt mit Hinweisen und Details auf mich ein. Ich müsse doch, wie könne das anders sein, das Grundstück kennen.
Ich habe wirklich dort in der Nähe gewohnt, mein Sohn hat wie sie täglich bei der kleinen, rundlichen Tante Adamheit seine Milch gekauft, aber an die Stelle ihres Gartens erinnere ich mich nicht.
Die Frau ist enttäuscht, ein bisschen traurig gar. Schließlich finden wir ein Nachbarsmädchen, ihre Kindheitsfreundin, die meine Schülerin war.
Nochmals beginnt die Frau ihre Beschreibung ...
Warum fahren Sie nicht mal hin, erkundige ich mich.
Nein, sagt sie, was soll’s, es würde mich nur traurig machen ...
Womöglich fährt sie, um diese Traurigkeit einzusparen, durch die ganze Welt, grübelte ich. Während ich auf jede Weltreise verzichtet hätte, um Karalautschi zu finden – das, was davon übrig war.
Und hatten mir nicht verschiedene Landsleute prophezeit, dass ich unglücklich dabei werden würde?
Sogar Juri Iwanows letzter Brief enthielt so eine Passage.
Ich warte sehr auf unser Treffen im Vorbaltikum. Ich bin sicher, dass es interessant werden wird. Aber auch schwierig (das Herz betreffend). Seelisch ... Ich stelle mir vor, wie Sie die Zähne zusammenbeißen werden müssen, wie Sie Tränen in den Augen haben werden, wenn Sie, Elisabeth, wenn Sie mit dem Fuß die Erde betreten werden, auf der Sie als Mädchen gingen.
Und es wird Sie froh stimmen, dass etwas erhalten blieb, und bitter, dass so viel verloren ging. Aber was kann man da machen? Die Welt ist grausam ... Auch bei Ihnen entscheiden nicht die Massen, sondern einzelne Persönlichkeiten die Geschichte.
Und es ist entsetzlich, wenn an der Spitze der Staaten sich Schufte befinden, Vollstrecker der Schicksale von Millionen Menschen, unserer Schicksale und Ihrer. Kann sein, was war: Ist es das letzte gewesen?
So möchte man deshalb hoffen, dass Perestroika uns alle für immer schützt vor ideologischen Abenteurern ...
Und Frau R. aus Oldenburg, die wie ich einmal die OVERBERGSCHULE auf dem SACKHEIM besucht und auch ihre Erste Kommunion in der schönen barocken Probsteikirche bekommen hatte, schickte mir zum Verkraften all des Schweren, das auf mich zukäme, „echtes” Königsberger Marzipan von Schwermer aus Bad Wörrishofen.
Aber die Mehrheit der „Karalautschier” hatte sich als Kofferträger angeboten, wie der treusten einer, Fred B. aus Fredersdorf, der mich nach erstem Lesen meines Buches mit wertvollen Grafiken, Bildern und Dokumenten aus K. beschenkt hatte. Und viele hatten mich gebeten, ich möge sie doch in meinem Koffer mitnehmen ...
Ja, ich wusste, sie wollen alle mit mir fahren, die Unzähligen, die mir geschrieben, mich angerufen, mich besucht hatten.
Das erleichterte, aber beschwerte auch diese Fahrt ...
Länger kann ich nun den freundlichen Riesen Timpetu wirklich nicht laufen lassen, hat er doch schon sechzehn Wagen passiert, um nun am siebzehnten Halt zu machen.
Wie gut, fröhlicht es in mir, meine Zahl! Dazu werden wir noch über siebzehn Stunden unterwegs sein, fast achtzehn, aber ich runde ab auf siebzehn.
Ehe uns die Kondukteurin - ich weiß nicht, warum ich auf diese nostalgische Bezeichnung komme - einsteigen lässt, sehen wir Olga Trifonowa kommen.
Vorhin, während des Mittagessens im Domlit (Haus der Literatur), war sie kurz aufgetaucht und hatte angekündigt, sie würde mir noch etwas Proviant zum Bahnhof bringen.
Sie kam, großen Schritts, blickte suchend in die Abteilfenster, hinter denen sich die Kaliningradreisenden einzurichten suchten.
Unsere Freundschaft, die etwa seit zwölf Jahren besteht, hat sich um Kaliningrad entwickelt.
Ich war mit meiner Familie Gast im Schriftstellererholungsheim in Dubulti gewesen, hatte sowjetischen und lettischen Freunden von meinen Sehnsuchtsexpeditionen zum Rigaer Bahnhof erzählt, wo ich immer wieder die Abfahrtszeiten nach Kaliningrad beglupschte ...
Eines Tages war diese, wie ich bemerkt hatte, von vielen Kollegen und deren Frauen umschwärmte Schriftstellerin auf mich zugekommen und hatte mich angesprochen: I’m hearing, you wished to go to Keenigsberg? I will bring you ... Sie sagte gleich dazu, dass wir uns einen Zeitpunkt aussuchen müssten, an dem ihr damaliger Mann, ein älterer Schriftsteller, bereits die Heimreise nach Moskau angetreten habe. Sonst würde er sich Sorgen machen, schließlich führen wir ja heimlich ...
Ich weiß nicht, wie ich ohne Überhöhung umschreiben soll, was ich damals empfand. Mehrere Nächte ließ mich eine fassungslose Aufgeregtheit nicht schlafen: Dass jemand so etwas für mich wagen wollte! Für jemanden, der ihm fremd und unvertraut war. Genauer natürlich - eine Russin für eine Deutsche ...
Wenn es auch damals nicht geklappt hatte, wir mussten früher abreisen, als Olgas Mann sich auf den Heimweg machte, so hat mich die Bereitschaft, Humanität gegen ein Verbot zu setzen, vorbehaltlos ans „Zaunche” gerufen.
Wir bleiben einander seitdem verbunden.
Es wurden für Olgas Leben besonders schicksalhafte Jahre. Eine große Liebe entstand, sie heiratete erneut, gebar einen Sohn und musste schließlich den Tod des ihr innig verbundenen Partners erleben.
Ich habe durch sie einen wunderbaren Schriftsteller und gütigen Menschen kennengelernt und wieder verloren: Juri Tifonow.
Etwas außer Atem ist meine schöne Wassilissa bei uns angekommen. Olgas Heimat liegt in der Ukraine, sie ist blond, hat blaue Augen, große. Die Dolmetscherin hatte vorhin bewundernd von Olgas Ausstrahlung gesprochen.
Nacheinander steigen wir in den Waggon. Vorneweg der Gepäckträger mit den sperrigen Paketen, die Dolmetscherin, Olga und ich mit dem übrigen Gepäck.
Wir gehen fast bis zum Ende des Gangs, das vorletzte Abteil ist das unsere. Zwei Liegen, mit teppichähnlichen Divandecken belegt, an den Fenstern, übrigens im ganzen Zug, gelbe Leinengardinen mit braunen Streifen.
Später wird Rita erklären, dieser Folklorestoff sei aus Litauen. Auf einem Tischchen, zwischen den Liegen, eine Vase mit einigen Herbstastern und eine Schale mit Zuckerstücken. Es wirkt gemütlich, und mir kommt, weiß ich’s warum, eine Kindheitsmelodie: In Mutters Stübele, da weht der Hm, Hm, Hm ...
Nachdem alles verstaut ist, der Gepäckträger weihte uns in das Geheimnis ein, dass man die Liegen hochklappen könne und so einen geräumigen Schrein für die Koffer finde, setzen wir uns.
Siehst du, sagt Olga, wärest du nicht so schreibfaul gewesen, hätte ich mich darauf eingerichtet und dich jetzt begleitet!
Die Dolmetscherin wundert sich, dass sie nicht zu übersetzen braucht. Wir sprechen in unserm Schulenglisch miteinander. Es wird nach ganz eigenen Gesetzen von uns benutzt. In der Anfangszeit unserer Freundschaft, wir besuchten einander öfter, hatten wir es zu einer solchen „Meisterschaft” darin gebracht, dass Olga beispielsweise, von uns kommend, Juri in Moskau den Gedankengehalt von Christa Wolfs „Kindheitsmuster” erzählen konnte. Das Buch, damals gerade erschienen, war auch mir sehr wichtig.
Inzwischen war Olga so oft im Ausland gewesen, dass sie ihr Englisch gegenüber meinem längst verbessert hatte. Während ich nun in Kaliningrad mein Karalautschi suchen werde, fährt sie nach Amerika, um an einer Universität einen JURITRIFONOW- PREIS zu stiften.
Ich erfuhr also, dass Olga bereits im Januar einen Brief losgeschickt hatte mit dem Angebot: Wenn ich dürfte ..., wolle sie mit mir kommen. Ich hatte den Brief nie erhalten.
Die Kondukteurin bittet Olga, den Zug, der in wenigen Minuten abfahren wird, zu verlassen
Ich begleite sie zum Ausgang.
Der Zug fährt langsam. Wir sehen einander an, winken schließlich.
Ich gehe den sacht schwankenden Gang zurück, überlege, dass es jetzt doch richtiger für mich ist, ohne Ablenkung oder Nebenverpflichtung nach Kaliningrad zu fahren. Ich muss und will meine Wege allein suchen. Ich fürchte sowieso, dass man mir vorschreiben wird, wohin ich gehen darf.
Solange es noch einigermaßen hell bleibt, lassen wir unsere Abteiltür auf. Wir haben die halbhohen Gardinen auf dem Gang und im Abteil beiseitegeschoben, sehen hinaus.
Stadtteile Moskaus. Hochhäuser, halbhohe Wohnkomplexe, kleine Häuschen, Datschen wohl. Menschen, von der Arbeit kommend, bepackt mit Beuteln und Taschen. Auf Bänken, zwischen den Häusern, alte Frauen, Kinder zu Füßen oder einen Kinderwagen vor sich, miteinander redend. Halbwüchsige jagen im Spiel durch die Höfe.
Ein Alle-Tage-Tag für sie. Vielleicht aber auch nicht, vielleicht ein besonderer Tag, ein einmaliger, wie für mich ...
Nach anderthalb Stunden nur noch Landschaft, ab und zu ein Haus, ein Dorf. Immer wieder Birkenwäldchen.
Rasch fällt die Dunkelheit ins Land. In Mutters Stübele, da weht der Hm, Hm, Hm. In Mutters Stübele, da weht der Wind. Wir schließen die Abteiltür. Die Kondukteurin bringt uns Tee. Wahrscheinlich ist mir dieses Lied, Geborgenheit stiftend, aus meiner Kindheit deshalb so in Erinnerung geblieben, weil wir nie ein Stübele hatten, sondern immer nur Zimmer.
Gelernt habe ich das Lied in der zweiten Klasse jener Overbergschule, die den Unterricht für die unteren Klassen in einem niedrigen Gebäude auf dem Kirchplatz vor der Probsteikirche durchführte. Die junge Lehrerin hatte sich auf die vorderste Bank gehockt, als sie es uns beibrachte. Im Ofen bullerte ein Feuer, und vor dem Fenster schwebten sanft große Schneeflocken.
Ich spreche mit Rita noch ein wenig über Olga und Juri.
Ich weiß aus Erfahrenem, wie viele Kollegen in der sowjetischen Literaturgesellschaft anfangs voreingenommen und unduldsam über die späte Liebe der beiden urteilten. Besonders Olga ließ man es auf eine für mich bestürzend enge Sicht spüren.
Ich erzähle, wie ich mit beiden eine kleine, dreitägige Reise nach Wladimir und Susdal machte. Für sie war es die erste gemeinsame, also eine Art Hochzeitsreise.
Und war ich anfangs auch unzufrieden gewesen, denn schon zweimal hatte man mich bereits zu diesen malerisch historischen Stätten „geleitet”, so wurde diese Fahrt zu etwas, das ich in meinem Leben nicht missen möchte. Damals und bei den folgenden Begegnungen begriff ich von der Denkweise und Haltung meiner Freunde vieles, das heute mit Glasnost und Perestroika benannt wird.
Wir essen Weintrauben, die ich vor dem Bahnhof bei einem Händler aus einer südlichen Republik gekauft hatte, das Kilo für zwei Rubel. Zu teuer, sagt Rita, im staatlichen Handel kosten sie nur anderthalb. Es sind mittelgroße, blaue Trauben, mit einem eigenartigen Aroma. Sie schmecken etwas nach Schlehen.
Rita berichtet aus ihrem Leben.
Sie wohnt mit ihrer Tochter allein, ist freischaffend, eine studierte Germanistin, übersetzt Artikel aus deutschen Zeitschriften, vor allem für das Filmwesen, oder sie hilft Reisenden wie mir, die Sowjetunion zu erkunden. Ich höre heraus, dass Rita lieber Bücher übersetzen würde. Aber alle Verlage hätten ihre festen Übersetzer, die ihre Stellungen behaupten.
Als ich sie gestern in Scheremetjewo II vor einem Schalter warten sah, erinnerte ich mich, sie von irgendwoher zu kennen. Es stellte sich heraus, dass man sie uns vor zehn Jahren als Dolmetscherin nach Dubulti mitgeschickt hatte. Durch unsere vielen Deutsch sprechenden Freunde war der Aufenthalt im Rainishaus für sie und ihre kleine Tochter auch zu einem Urlaub geworden. Wir hatten einander also nicht in schlechter Erinnerung. Das mochte den Ausschlag gegeben haben, dass sie den Auftrag für meine Begleitung vom Moskauer Verband übernommen hatte.
Wir hatten beide das Gefühl, genug erzählt zu haben. Ich gab Rita eins von meinen drei mitgeführten „Karalautschi”-Exemplaren zum Lesen. Mehr waren mir von hundert Belegexemplaren und mindestens fünfzig dazugekauften Büchern nicht geblieben.
Nachdem sich herumgesprochen hatte, dass sich hinter Karalautschi Königsberg verbarg, reichten die bisher erschienenen drei Auflagen nicht aus, immer wieder hatten sich Leute mit der Bitte um ein Buch an mich persönlich gewandt. Ein paar Hundert Briefe hatte ich erhalten, ein paar Hundert Antworten geschrieben.
Dabei hatte ich das Buch anfangs vor allem für mich geschrieben. Immer auch mit der Befürchtung, dass der Verlag es nicht veröffentlichen könne. Ein Tabuthema für die SU, dieses Königsberg, das 1946 nach dem Vorsitzenden des Obersten Sowjets der UdSSR Kalinin umbenannt worden war. Also auch für die DDR, die ihre unverbrüchliche Freundschaft zur Sowjetunion in den letzten vierzig Jahren betont hatte, ein Tabu.
Wahrscheinlich hatte die wenig respektvolle Haltung meiner Freundin Olga zu diesem Tabu die Hoffnung in mir wachgehalten und mich mündig gemacht.
Nach jener beabsichtigten heimlichen Reise nach K. entwickelte ich eigene Aktivitäten.
Ich beantragte und erhielt eine erste Studienreise in meinem Schriftstellerdasein, durfte mir auswählen, wohin ich wollte. Und obwohl ich bereits zwei- oder dreimal in Lettland gewesen war, bat ich um eine Route Lettland - Litauen, in der Hoffnung, ich könnte über die Kurische Nehrung an meine Heimat herankommen.
Meinem Wunsch wenigstens nahezukommen, setzte man mich in Vilnius allein ins Kino, zeigte mir einige Dokumentarfilme über die Litauische SFR, „führte” mich bis Klaipeda, aber weiter nicht. Die Kurische Nehrung schien vom Film abgeschnitten.
Ein junger Lyriker, der uns als Dolmetscher begleitete, schenkte mir einen Bildband von der Kurska Nerija mit der Bitte, niemandem davon zu berichten.
Ich sprach über meine Enttäuschung im Moskauer Zentralverband. Boris Kalinin, für die deutschsprachigen Länder zuständig, schlug mir vor, ich sollte mir eine Befürwortung meines Verbandes mit der Unterschrift von Hermann Kant besorgen, er, Boris, würde den Präsidenten des sowjetischen Verbandes Markow bitten, sich für eine offizielle Reise nach K. einzusetzen.
Im Jahre 1980 hatte ich beider Jawort und meinte, nun stünde einer Reise nichts mehr im Wege. Ich besorgte mir Flugkarten über Leningrad nach Riga, von dort wollte ich den Zug benutzen, tauschte mir Geld ein, sodass ich fünfhundert Rubel besaß. Diesmal trug ich allein die Kosten, die Studienreise war mir bezahlt worden.
Drei Tage vor meiner Fahrt rief unsere Freundin Jewgenia Katzewa aus Moskau an und teilte mir mit, das Gebietskomitee von Kaliningrad lehne meine Einreise ab. Die Begründung: Mein Erscheinen sei dort unerwünscht!
Das Verbot ließ Trotz wachsen.
Ich - eine unerwünschte Person?
Hatte ich nicht jahrelang brav meine Heimatgefühle verdrängt, mich nicht als Flüchtling, sondern als Umsiedler bezeichnet? Jedem, der es hören und nicht hören wollte, erzählt, dass ich voll akzeptiere, dass uns diese Stadt nicht mehr gehöre, wir sie verspielt hätten, für all’ das Furchtbare, was wir russischen Menschen angetan haben.
Hatte mir nicht Juri Iwanow, der sowjetische Kollege aus Kaliningrad, der meinen Mann in Leipzig besuchte, ein sicheres Gefühl vermittelt, dass wir Nachbarn waren, die einander akzeptierten und sogar brauchten? Er hatte mich herumführen wollen, sicher nicht falsche Versprechungen gemacht, wenn er behauptete, er würde sich darüber freuen, wenn ich dann in seiner Wohnung säße wie er in der unseren.
Immer wieder sprachen Kollegen darüber, dass ein Schriftsteller seine Landschaft brauche, von einer Heimat aus schreiben müsse, in der seine Wurzeln steckten.
Und wenn ich Schmerz, Enttäuschung erfahren würde, wie die Menschen, die ihre heimatlichen Landschaften in Polen oder der CSSR aufsuchten - Na gut - angenommen! Aber einfach verbieten?
Dabei wusste ich genau, dass ich mir keine Illusion zu machen brauchte, meine Heimatstadt so wiederzufinden, wie ich sie verlassen hatte und nur die Einwohner seien andere ...
Ich wusste doch, dass es eine andere Stadt werden musste, weil die Anglo-Amerikaner in jenen zwei Terrorangriffen im August 1944 zielgerichtet den in fast siebenhundertjähriger Geschichte entstandenen historischen Stadtkern ausgelöscht hatten.
Immer war mir Trotz ein produktives Element. Viele meiner Handlungen waren diktiert von einem „Ich werd’s euch schon noch zeigen ...”
Also hatte ich gedacht: Dann werde ich eben aufschreiben, was damals war und was ich noch weiß!
Meine Generation ist sowieso die letzte, die davon noch etwas zu erzählen hat.
Und ich schrieb ...
Und der Verlag veröffentlichte ...
Und die Leser dankten es mir, mit den freundschaftlichsten Briefen meines Lebens ...
Nun fahre ich sogar.
Wir machen uns für die Nacht fertig. Ich weiß, dass ich nicht schlafen werde. Ich bin viel zu aufgeregt. Obwohl ich mich so einrichte, als nähme ich es ganz natürlich.
Nur wenige Abteile sind besetzt. Bis jetzt jedenfalls. Vorn im Waggon sieht man in das kleine Abteil der Kontrolleurin.
Gegenüber, in einer Ecke des Gangs, zischt gemütlich das Wasser in einem großen Samowar.
Ich warte eine ganze Weile vor der Tür des Waschraums, um mir wenigstens die Zähne zu putzen. Ui - mit kaltem Wasser, hatte Rita gefragt. Als ich schließlich ungeduldig den Türdrücker betätige, wird die Tür von innen zornig aufgerissen, die Bahnbeamtin kommt mit nassem strubbligem Kopf heraus, den sie empört schüttelt.
Als sie mich sieht, verkneift sie sich - wahrscheinlich - ein Schimpfwort. Verwundert meditiere ich darüber, wie man sich unter dem spärlichen kalten Wasserstrahl seine Haare waschen könne.
Aber - naja, warum nicht. Würd ich’s nicht auch, wenn’s nötig wäre, machen? Oder?
Mit wenigem zurechtkommen - oder man muss sich zu helfen wissen! - Ich hatte das seit unserer Flucht nie ganz verloren. Etwas wohl Typisches für unsere Generation, mit Hilfskonstruktionen oder Provisorien fertig zu werden.
Es erinnert mich sofort daran, wie mein Mann immer mit einigem Stolz erzählte, er habe im Krieg ein Stück Stoff mitgeschleppt, das er, wenn sie einen Unterstand bauten, um die Wände spannte, sodass dadurch fast ein Zimmer entstand.
Während einer Autofahrt vor einigen Monaten war ihm der Schalthebel abgebrochen, er hatte sich sofort mit einem Nagel zu helfen gewusst und, auf meinen ängstlichen Protest, mich damit vertröstet, dass sie ja im Krieg sogar mit einer Kartoffelscheibe einen Simmering in einer Zugmaschine ersetzt hätten und ein ganzes Stück vorwärtsgekommen wären ...
Warum mir gerade diese Beispiele kommen, es gäbe doch genug andere, hat eben auch damit zu tun, dass meine Generation nicht durch dieses Land fahren kann, ohne an den Krieg erinnert zu werden.
Wir fahren in Richtung Smolensk, dann über Minsk, Vilnius, Kaunas.
Atemlos und angstvoll hatte das Kind im PRISMA gegenüber der STEINDAMER KIRCHE, ehe sich der Vorhang für Pat und Patachon öffnete, in der deutschen Wochenschau dieses endlose, schreckliche Russland betrachten müssen. Immer Schnee und Eis und Matsch, in dem die Soldaten und Fahrzeuge versanken. Schlachten hinüber und herüber. Namen, die anfangs fremd klangen, dann aber vertrauter wurden als Duisburg oder Hannover.
Dieses Smolensk zum Beispiel ...
Meine Jungchen und deine, Nachwersch Kinder, haben sich geschlagen. Meine schönen Jungchen deine jungen Söhne, schlafen im Acker. Pflug geht darüber Saat tropft und Regen neigen sich die Ähren flüsternd in ihrem Schlummer in der grünen Ebene zwischen Weichsel und Wolga.
Ratatam-ratatam, weiternoch-weiternoch-weiternoch ...
Mein Körper passt sich dem Rhythmus der Eisenbahnschwellen an, selbst meine Gedanken scheinen dem Singsang zu folgen. Ab und an huscht der Lampenschein irgendwelcher Bahnstationen in unser dunkles „Stübele”. Ob Rita schläft? Was wird mir begegnen in Kaliningrad?
Vor einigen Tagen träumte ich wieder einmal von einer Rückkehr nach dort.
Ich bin in Kaliningrad. Meine Eltern sind dabei. Wir gehen zum TROMMELPLATZ, an dessen Ende sich ein großes Gartenrestaurant ausbreitet, irgendwie tropisch anmutend, wie ich es aus Kuba kenne. Ich sage zu meinem Vater: Ja, das kenne ich doch. Dort habe ich meinen ersten Eierlikör geschleckert. Immer wieder behaupte ich: Das kenne ich! Neben dem Restaurant zieht sich ein ovaler Platz entlang, dort stehen Buden. Mein Vater, der, wie in vielen meiner Träume, mit meinem Mann identisch ist, kauft alle möglichen Esswaren, Bratwürste, Bockwürste, Broiler. Ich denke, es gibt ja alles wie bei uns. Dann verabschiede ich mich, es ist abgemacht, ich muss allein weiter. Ich gehe durch Straßen, die mir immer fremder werden, trotzdem sage ich: Ja, ja - das ist es ... Ich suche meine Wohnung. Ein russischer Mann bietet sich an, mir den Weg zu zeigen. Ich vertraue ihm, fühle mich fast geborgen, folge ihm. Plötzlich ist er weg. Ich sehe mich im Stich gelassen. Furcht kommt auf. Da geht eine große Frau neben mir, sie erinnert mich an eine Freundin, hat eine erwachsene Tochter mit sich. Ich sage: Aber Ihre Tochter kann doch noch gar nicht hier geboren sein! Nein, antwortet die Frau, aber sie soll die Heimat ihrer Mutter kennenlernen. Außer uns sind keine Menschen zu sehen, aber wir ahnen sie hinter den Trümmern, die die Straßen säumen, durch die wir gehen. Wir gehen lange. Auf einmal verabschieden sich die beiden Frauen, sagen: Wir müssen ins Hotel, gleich ist Sperrstunde. Ich bin zutiefst erschreckt. Was nun, davon wusste ich ja nichts. Sie sehen mich mitleidig an. Ich will mich in der Ruine eines Geschäfts verstecken. Plötzlich ist der Mann wieder da. So, sagt er, ich habe Ihnen einen Tarnanzug besorgt, da sind Sie sicher. Nun können Sie mit mir Ihr Zuhause suchen. Ich fühle mich ungeheuer erleichtert und geborgen. Und ich dachte schon, Sie lassen mich im Stich, sage ich. Iwo, der Russe. Auf in das Haus TRAGHEIMER KIRCHENSTRASSE 17 ...
Im Traum erreichte ich mein Haus nicht mehr. Aber als ich aufwachte, an jenem 15. September, dauerte das Geborgenheitsgefühl bis in meinen Tag hinein. Ich nahm es als gutes Omen, denn am Nachmittag stand mir die Buchpremiere meines Jugendbuches bevor, anschließend eine kleine Feier. Noch immer vermag ich nicht, dergleichen Veranstaltungen ohne Aufgeregtheit zu absolvieren.
Unzählige Träume habe ich seit meinem Weggehen vor 43 Jahren um meine Heimatstadt gehabt. Und obwohl ich froh war, sie wenigstens im Traum gesehen zu haben, war bis zu diesem letzten Traum immer Quälendes, Enttäuschendes zurückgeblieben. Nie fand ich, was ich suchte. Nie passte zusammen, was sich da ineinanderfügte.
Dieser Traum nun, hinter dem allerdings das Wissen stand, dass ich fahren dürfe, schien mir zwei Lehren zu enthalten:
1. Ich würde nach wie vor meine Schwierigkeiten haben, Vertrautes wiederzufinden.
2. Aber es würde Menschen geben, die mir dabei halfen ...
Natürlich hatte ich die Absicht, wie auch immer in diese Stadt zu gelangen, nie aufgegeben.
Glasnost und Perestroika - die neue Politik Michael Gorbatschows - hießen mich auch in dieser Richtung hoffen.
Und wirklich, man erzählte, ein ehemaliger Ostpreuße, in der BRD lebend, habe sich an den Generalsekretär mit der Bitte gewandt, seine Heimat wiedersehen zu dürfen. Er sei nach Moskau eingeladen worden und wäre von dort aus in einem Auto in sein Heimatdorf gefahren worden, wo er eine Woche habe bleiben können.
Nun wollte ich mir diesen Weg nur als letzte Zuflucht gestatten, aber ich gebe zu, hätte es anders nicht geklappt, würde ich wohl auch einen ähnlichen Versuch wie jener Mann unternommen haben ...
Zuerst versuchte ich es mit einer Anfrage über meinen Verband im August 1987. Aus Moskau keine Reaktion. Dann sprach ich im November des gleichen Jahren während unseres Schriftstellerkongresses mit dem Dichter und augenblicklichen Auslandssekretär Robert Roshdestwenski, der als Gast am Kongress teilnahm. Er versprach mir, wenn möglich, zu helfen.
Mit Beginn des Jahres 1988 war mir so, als sei nun der rechte Zeitpunkt gekommen! Erneut schrieb ich an den Moskauer Zentralverband, legte als Beweis ehrlichen Bemühens um Kaliningrad mein Buch bei. Und endlich traute ich mich, das Buch auch an Juri Iwanow nach Kaliningrad zu schicken. Ich hatte ungeniert das, was er bei seinem damaligen Besuch über sein Leben und seine Beziehung zur alten und neuen Stadt erzählt hatte, im Buch verwendet, ohne seine Erlaubnis einzuholen ...
Es waren keine vierzehn Tage vergangen, da steckte ein Brief in unserem Kasten. Ein Brief aus Kaliningrad. Der Absender hieß IWANOW, JURI NIKOLAJEWITSCH.
Meine erste Post aus dieser Stadt. Ich heulte. In meiner Ruschlichkeit hatte ich es übersehen, der Brief war an meinen Mann gerichtet. Enttäuschung. Wieso an ihn? Mein Mann, aus dem Erzgebirge stammend, war an der Stadt höchstens mittelbar interessiert. Mir ging auf, das Buch konnte noch nicht angekommen sein.
Der Brief aber war wie ein erstes offenes Fenster, durch das ich nach Kaliningrad hineinblicken konnte:
Werter Max Walter Schulz!
Dieser Brief ruft bei Ihnen und Ihrer Gattin wahrscheinlich Verwunderung hervor und Sie werden Ihr Gedächtnis anstrengen müssen, um sich an den Briefschreiber zu erinnern. Wir sind einander vor zehn Jahren in Berlin begegnet, als mich eine Dienstreise dorthin geführt hatte. Schon damals dachten wir an die Möglichkeit eines Wiedersehens in Kaliningrad. Nach meiner Heimkehr habe ich in dieser Hinsicht viele Bemühungen unternommen, leider vergeblich. Es war die Zeit einer, wie man jetzt sagt, „Stagnation”, und die Leute, von denen die Möglichkeit des Treffens abhing, haben meinen Vorschlag damals nicht akzeptiert.
Aber die Zeit geht voran, alles ändert sich und offensichtlich zum Besseren. Heute zweifle ich nicht an der Möglichkeit Ihres Besuches, zusammen mit Ihrer Frau, in Kaliningrad. Habe hier mit der Gebietsleitung und in Moskau in der Auslandskommission des Schriftstellerverbandes darüber gesprochen. Möchte Sie und Ihre Gattin als meine Gäste in Kaliningrad begrüßen. Wenn Sie den gleichen Wunsch haben, teilen Sie mir das bitte mit. Bestimmter Umstände halber - im Frühjahr und im Sommer werde ich beständig unterwegs sein - wäre für mich der Oktober am besten geeignet. Das ist bei uns eine gute Zeit, eine warme, „goldene”, wie man hier sagt. In alten Reiseführern kann man noch lesen: „Kommen Sie nach Ostpreußen im Herbst, das ist die schönste Zeit!”
Bin gegenwärtig Leiter der Kaliningrader Abteilung des Sowjetischen Kulturfonds. Neue Zeit, neues Denken, Umgestaltung - das alles erlaubt uns, an einige alte, zuweilen schwierige und schmerzliche Fragen auf neue Art heranzugehen. Die Pläne unseres Fonds sehen die Erhaltung und Restauration alter Denkmäler und Bauten von historischem und kulturellem Wert vor. Dazu gehören auch die Kathedrale (Dom), das Häuschen des Försters Wobser, wo Immanuel Kant gewöhnlich die Sommermonate verbrachte. Die Frage der Errichtung eines neuen Kant-Denkmals anstelle des verschollenen steht auf der Tagesordnung. In der Gemäldegalerie möchten wir auch einen Saal der hervorragenden Grafikerin und Bildhauerin Käthe Kollwitz einrichten und im ehemaligen Königstor ein kleines Museum des vortrefflichen Märchenerzählers E.T.A. Hoffmann, der ja aus Königsberg stammt, und dessen Werke auch in unserer Zeit in der ganzen Welt, darunter auch in der SU, verlegt werden. Raten Sie mir bitte, an wen ich mich in der DDR um Konsultationen und Hilfe wenden könnte. Was Käthe Kollwitz angeht: An die Kunstakademie der DDR? Konkret an wen? (Name, Adresse, vielleicht haben Sie selbst gute Freunde unter diesen Leuten?) Bezüglich Hoffmann: Gibt es in Berlin ein Hoffmannmuseum? Ausstellungen der Werke Käthe Kollwitz? Vielleicht sind auch noch Verwandte dieser großen Deutschen am Leben? Könnte man die Adressen dieser Leute ausfindig machen, um Verbindung mit ihnen aufzunehmen, ihnen unsere Pläne mitzuteilen. Vielleicht könnte auch der Vorstand des Schriftstellerverbandes der DDR zusammen mit uns an der Verewigung der Namen Käthe Kollwitz und E. T. A. Hoffmann in der Stadt wirken, deren Straßenpflaster und Wände alter Häuser sich noch an sie erinnern und wo Verehrer ihrer Talente leben?
Sehen Sie, verehrter Max Walter Schulz, wie viel Fragen da aufgetaucht sind! Ich bin überzeugt, dass unser Anliegen auch Sie interessiert und wir in Ihrer Person einen wohlwollenden Berater und Helfer bei der Verwirklichung der geschilderten Aufgaben finden, die sicherlich auch der Entwicklung und Festigung der brüderlichen Freundschaft unserer Völker förderlich sein werden.
Ich wünsche Ihnen alles Gute im Neuen Jahr, Ihnen und Ihrer Gattin Gesundheit, Wohlergehen, Glück und neue schöpferische Erfolge.
Herzlichst Ihr
Juri Nikolajewitsch Iwanow
PS. Vorliegenden Brief hat ein Kollege übersetzt, Rudolf Jacquemien, ein Deutscher, Dichter und Erzähler mit einem romantischen und tragischen Schicksal, dessen Bekanntschaft zu machen Ihnen bei einem Aufenthalt in Kaliningrad sicherlich genehm sein wird.
Bald darauf erhielt auch ich meinen Brief von Juri Nikolajewitsch, datiert am 9. Februar.
Ich erhielt Ihre unerwartete Sendung mit dem Brief und dem Buch, mit der ausgezeichneten Grafik des Schlosses auf dem Umschlag, und ich las auch ein klein wenig den Text: Leider - deutsch kann ich fast nicht, aber ich versuche, mit dem Wörterbuch das ganze Buch über Ihre Kindheit in der so geliebten, Ihrer Seele eingeprägten Stadt zu lesen. Ich bin überzeugt, dass mir dieses Lesen Befriedigung bringt, aber auch Traurigkeit und Verdruss darüber, dass dieser verfluchte Krieg geschah, dass so viel menschliches Leben in ihm verglühte, dass so viele historische Denkmäler und Städte vergingen ...
So begann der Brief. Liebevoll. Tolerant. Er bekräftigte erneut die Einladung. Diesmal wurde auch noch der Monat Mai als möglicher Termin vorgeschlagen.
Der Mai in der Landschaft meiner Heimat?
…
Schön wars im Frühling, hochgeschürzt waten dort an den Ufern. Trieben im Strome strudelnd die Schollen. Schmolz in den Furchen rieselnd der Schnee. Grünte die Erde, die feuchte Erde, blühten die Blümchen, die gelben Blümchen, zwischen Weichsel und Wolga!
Ein Frühling in Königsberg:
Zwei Männer und das etwa achtjährige Kind auf dem Weg nach JUDITTEN, vielleicht zum Fürstenteich. Die Männer, Hände auf dem Rücken, im Gespräch vertieft. Einer von ihnen ist der Vater, der andere heißt Max Fröhlich und ist auch ein Fröhlicher.
Das Kind springt mutwillig wie ein junger Hund in der Landschaft umher. Die ist überdacht von hohen, schattigen Bäumen, Buchen, vielleicht Ahorn und Kastanien, während der Boden, leicht hüglig, soweit man sehen kann, von einem Anemonenteppich bedeckt ist.
Das Kind hat schon eine ganze Faust voll dieser zarten, weißen Sterne. Einen Strauß für die Mutter.
Immer wieder müssen die Männer den Zuwachs an Blumen bewundern, ihre Nasen daran halten.
Riecht ihr’s, fragt das Kind. Als sie stumm zu ihm hinunterblicken, verrät es geheimnisvoll, indem es fast sein ganzes Gesicht in die feuchten, zarten Blüten steckt: Nach Frühling ...
So verheißungsvoll eine Reise im Mai gewesen wäre, ich fürchtete, DAS nicht zu bewältigen. Da wartet einer dreiundvierzig Jahre ...
Ich brauchte schon ein paar Monate mehr, mich darauf einzustellen. Außerdem - die Reiseerlaubnis ließ auf sich warten. Immer noch keine Antwort aus Moskau.
Selbst Juri musste in einem Brief mitteilen:
In Kaliningrad war ich in allen dafür zuständigen Organisationen, um eine Erlaubnis zu erhalten, Sie mit Ihrer Frau einfach zu uns als Gast einzuladen. Aber wir erhielten die Antwort, dass man auf solche Art einstweilen nur nahe Verwandte einladen kann. Ich versuchte darzustellen, dass wir, ich und Sie und Elisabeth, so gut wie Verwandte sind: Im Geiste, der Klasse nach, im Beruf. Aber man erklärte mir, dass all dies schriftstellerische Erfindungen seien, Emotionen, dass es Instruktionen gibt, und man zeigte sie mir, usw. Das heißt - es bleibt Moskau. Heute schickte ich dorthin, an die Internationale Kommission, einen offiziellen Brief.
Heute also -
Dieser für mich so wichtige Tag ist erst einige Stunden alt. Bei uns in Berlin müsste der Morgen jetzt schon langsam in die Straßen tauchen, während unser Zug sich seinen Weg durch eine scheinbar absolute Schwärze zu bahnen scheint. Einige Male habe ich mithilfe der Notbeleuchtung nach der Uhrzeit gesehen. Wie erwartet kam kein Schlaf. Ich fürchte, Rita öfter gestört zu haben, wenn ich, meiner instabilen Wirbelsäule wegen, einige Male meine Liegehaltung ändern musste.
Um sechs hält es mich nicht mehr im Abteil. Ich taste nach Waschzeug und Mantel.