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Wie ist das mit der Liebe einer Frau, die erst in der Mitte des Lebens den richtigen Partner findet? Was ist mit dem Vorher, von jenem pubertär-schwärmerischen Tage an, da man sich in romantischen Träumen als Prinzessin dünkte und die Verehrung eines Ritters entgegenzunehmen glaubte? Was liegt dazwischen, was muss man offenbaren und überdenken, um in Liebe und Leben die Selbstverwirklichung zu finden? Elisabeth Schulz-Semrau geht diesen Fragen nach. Was dabei herauskommt, ist ein Roman über eine Frau, die mit schonungsloser Offenheit ihre Wege und Irrwege, ihre Probleme und Entscheidungen darlegt. Und das alles mit der Sensibilität und dem poetischen Vermögen einer Schriftstellerin, die entscheidende Situationen psychologisch einzuordnen weiß und auf diese Weise die Lebensgeschichte einer Frau nachzeichnet, die in aufrichtiger Auseinandersetzung mit den Forderungen und Förderungen der DDR-Gesellschaft ihren Standpunkt und damit ihre Selbstverwirklichung findet.
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Seitenzahl: 501
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Impressum
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
Elisabeth Schulz-Semrau
E-Books von Elisabeth Schulz-Semrau
Elisabeth Schulz-Semrau
Ausstellung einer Prinzessin
Roman
ISBN 978-3-86394-366-0 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 1977 im Mitteldeutschen Verlag Halle-Leipzig.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2020 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de
Das schönste der Meere
ist jenes, das wir noch nicht sahen.
Das schönste der Kinder
ruht noch in bergender Wiege.
Die Tage, die schönsten,
sind jene, die wir noch nicht lebten.
Und was ich Dir sagen möchte,
das Schönste,
ich habe es noch nicht gesagt.
Nazim Hikmet
Nachdem wir jeder unser halbes Leben – oder mehr als das – fern und einander nicht bekannt, hinter uns gebracht und bestanden hatten, erlebten wir uns. Sagten: „Immer schon habe ich dich gekannt …“
Ich: „Millionen Jahre!“
Er: „Du bist die andere Amöbenhälfte …“
Einmal sagte ich, es war nicht nur ein Einfall: „Ach, weißt du, es wäre schon wichtig gewesen, hätte ich dich immer gekannt!“
Er: „Mag sein – aber das ist nun nicht mehr zu verändern!“
Ich sagte: „Doch! Ich nehme dich einfach in mein Vor-uns-Leben hinein, da, wo es hätte sein sollen. Ich weiß auch schon, wie wir hießen …“
Dann, eines Tages, hatte ich unsere Geschichte:
„Ihr – ihr ekligen Bengels“, das Mädchen heulte vor Wut, es suchte nach Ausdrücken, die treffen sollten, dabei hatte es sogar zu laufen aufgehört, und die flüchtigen Fußabdrücke wurden an jenen Stellen sichtbarer, das Wasser blieb länger in ihnen stehen.
„Ihr Doofköppe, ihr ollen Ehemannspieler, ihr …“
Erneut klatschte eine gut gezielte Handvoll feuchten Sands schmerzhaft auseinandergespritzt auf den Rücken des Mädchens, hinterließ auf der braunen Haut Feuermale. Zweimal zwei Jungenbeine näherten sich, und eine Stimme, böse Freude verratend, brüllte heiser: „Los, jetzt Quallen, davor grault sie sich.“
Das Mädchen rannte wieder. Die Strandpromenade lag weit zurück, und die Strandkörbe verloren sich nach und nach auf diesem Teil des grauen Gelb. Die Jungen gewannen an feuchtem Sandstreifen, und das Mädchen fühlte sich immer stärker von kopflosem Schrecken umhüllt. Da war ja nichts mehr. Nur Wasser, grau und unendlich. Nur Strand, gelb und unendlich.
Mit dem Pochding in der Brust schlug die Angst Bilder hoch: Der eine der schrecklichen Bengels würde das eine Bein packen, ob das linke oder das rechte, wusste das Mädchen nicht; es wusste ja im Normalfalle nie gleich, wo links und rechts ist. Der andere würde den dazugehörenden Arm fassen und sie mit einem Ruck in das graue Gewoge werfen, das wie ein unduldsames Ungeheuer vor sich hinmurrte. Oder: Sie kämen mit ihren Mündern näher. Hungrige, große Jungenmünder. Das Mädchen schrie, lief. Die Verfolgerfüße platschten hinter ihm wie Flundern, die, günstig feilgeboten, auf einen Verkaufstisch geworfen werden. Wie nah denn waren sie?
Da stieß sie gegen etwas. Einen Menschen? Klammerte sich ohne Überlegung an diese Gestalt. Nur nicht hinter sich blicken. War gar nicht überrascht, als dann eine Stimme kam.
„Nun aber Schluss, ihr Strolche“, grollte die Stimme, „was seid denn ihr für welche? Und auf ein Mädchen! Wisst ihr es denn nicht, einem Mädchen muss man Schutz verschaffen!“
Die zwei Jungen, ungefähr vierzehnjährig, der eine hellschopfig, heute einziger Sonnenfleck am ergrauten Strand, der andere dunkelhaarig, rot und verschwitzt, hatten sich in wohlberechneter Entfernung breitbeinig vor dem Schutzengel des Mädchens postiert, mauserten, aber nur mit halber Lautstärke, was denn ihn das angehe und – Mädchen ja, aber nicht eine solche Zicke. Und was denn das sei: Einem Mädchen Schutz verschaffen? Dabei äfften sie den etwas singenden Tonfall des Mannes nach.
Das Mädchen hatte nun, da es sich beschützt spürte, den Menschen losgelassen, stand erschrocken über sein plötzliches Hilfesuchen bei einem völlig Fremden einige Schritte hinter ihm, musterte ihn aufmerksam. Ist ja ein richtiger Mann, dachte es, na, vielleicht auch nur beinahe ein richtiger, aber die Bengels hatten jedenfalls Respekt, das sah man, könnten ihr also nichts mehr tun! Das musste man ausnutzen! Sie machte eine halbe Drehung und warf den Jungen, so gut es ihre verheulte Stimmung zuließ, ein verächtliches „Phö“ über die Schulter, stakste dann, ein wenig unsicher noch, aber schon wieder mit der eigenen Haltung, die vorhin arg ins Schlinkern gekommen war, zu der Stelle hinüber, wo das Land der Urlauber zu Ende war und das der Fischer begann.
Soweit hatten die sie gejagt. Gerade gut! Hier war ihr liebster Platz. Da hatten sie ihr nur einen Gefallen getan. So!
Wie ausgetretene Pantoffeln, groß, zuverlässig und verwittert, lagen die Boote am Strand. Einige waren bis in die Dünen gezogen. Dazwischen hingen, scharfen See-, Tang- und Teergeruch ausatmend, endlos lange Netze auf Stangen.
„Mein Labyrinth“ nannte es das Mädchen, ließ das By jedes Mal eine Weile in den geschürzten Lippen vibrieren.
Sie kletterte in eines der Boote, setzte sich auf die schartige Holzbank, sah vor sich hin, um die Auseinandersetzung weiterhin im Auge zu behalten.
Der junge Mann stand jetzt dicht bei den Jungen, er schien mit ihnen zu verhandeln. Meinje, vielleicht verbündete er sich mit ihnen?
Aber nein, das würde er sicher nicht tun, wie der aussah … Ja, wie sah er eigentlich aus? fiel dem Mädchen ein.
Na, Badehose und groß. Braun, ziemlich sogar. Das Mädchen verglich mit ihren Armen. Nein, gegen den kam es nicht an, der war ja richtig negrig. Dann sah das Mädchen die Locken. Nicht solche kruschligen, von denen die Großmutter sagen würde: krause Haare, krauser Sinn. Sondern solche, wie es mochte, und dann noch schwarz.
Und wie er das gesagt hatte: Man muss einem Mädchen Schutz verschaffen! War fast wie im Kino oder aus dem Märchen. Jetzt hatte sie es zusammen: Der könnte ein Ritter sein.
Ein rotes Samtwams müsste er anhaben und silberfädige Kniehosen. Sein Pferd würde mit einer samtenen Decke bedeckt sein, daran ein Wappen, ein Falke vielleicht.
Ach, Falken hatten schon alle. Der sollte nicht haben, was alle haben. Sie würde ihm etwas ganz Besonderes sticken, das tat man ja wohl für seinen Ritter. Also einen Drachen vielleicht oder Lindwurm, wie das im Lesebuch hieß.
Das Mädchen zweifelte jedoch sofort, ob ihr das je gelingen würde, weil nämlich ein Drache schrecklich gekrümmt war, und beim Sticken verzodderten sich ihr meist die Fäden. Dass die immer Tiere nehmen müssen? Aber wenn’s schon so war … Also, wenn sie wählen sollte, sie nähme einen Elch! Das war, seit sie eines Abends einen aus den Dünen hatte kommen sehen, ihr verehrungswürdigstes Tier. Fiel ihr auch gleich das Lied ein:
Abends treten
Elche von den Dünen,
Ziehen von der Palve an den Strand,
wenn die Nacht wie eine gute Mutter
leise deckt ihr Tuch auf Haff und Land.
Elchritter – ganz schön – aber roter Samt passte da nicht mehr. Weiß vielleicht? Weiß mit schwarz, wie die Ordensritter.
Da sah das Mädchen, dass die Jungen abzogen. Der Blonde riss mit der Fußspitze etwas vom schmutzig-olivfarbenen Schaum hoch, versuchte ihn elegant ins Wasser zu schleudern, während der andere gleichgültig einen Kiesel flachüber zielte.
In dem Mädchen triumphierte es. Die sollten nur so tun. War alles Tünche. Geschlagen waren sie, und wie!
Nun kam auch ihr Ritter. Na ja – ging eigentlich gar nicht ritterlich, zamperte so ein bisschen nach einer Seite, genau zu der hin, wohin er auch den Kopf neigte, hielt ihn also schief im Gehen.
Das Mädchen hörte das etwas stumpfe Pfeifen im Sand, das nackte Füße verursachen, wenn sie ihre Pfade suchen, und das ihr immer dieses unangenehme Gefühl in den Zähnen machte. Sie gab sich Mühe, sehr uninteressiert vor sich hinzusehen, ließ eine große Zehe am Bootsboden Rinnsale durch den schütteren Sand ziehen, spürte dabei jedes Körnchen, fuhr dann weiter die Bootsplanken hinauf.
„So, meine Kleine“, sagte die Singstimme, die ziemlich tief klang, „nun sind sie fort, deine Bedränger.“
Das Mädchen hatte nur die Anrede aufgefangen, das ließ sie sofort ihren Körper dirigieren. Schmal und kindlich und auch nicht mehr kindlich, ragte sie vor dem Braunen aus dem Boot.
„Hören Sie“, sagte das Mädchen streng, „ich bin einsneunundfünfzig und –“, hier zögerte sie kurz, „zwölf!“ Das musste er ja nun wirklich sehen! Und dann der Badeanzug – zweiteilig nach endlosem Trotzkampf gegen die Mutter.
Der junge Mann strich sich überrascht den Lockenschubs aus der Stirn und begann, was da vor ihm stand, zu sehen. Zöpfe bis zum Badehosenende, Farbe: Hafer, und wahrscheinlich von der vorangegangenen Flucht so zoddrig. Braune schlenkrige Glieder, Lippen aufgeworfen, und die Augen, grau oder grün, hakten sich in den seinen fest.
Also eine kleine kratzende Strandkatze. Es mochte Spaß machen, sie zu ärgern. Plötzlich jedoch waren die Zöpfe braun und die Augen braun, und die füllten sich mit Tränen, und zwei Fäuste trommelten ihm auf die Brust, als er fragte: „Und hat das Fräulein schon einen Bräutigam?“ Der Betrommelte war er beim letzten Urlaub – und das wütende Mädchen seine Lieblingsschwester Gesine.
Da zog sich um seinen Mund ein Lächeln, und er verneigte sich. „Pardon“, sagte er, „habe das Fräulein unterschätzt, muss wohl nun Sie sagen?“
Dem Mädchen kroch eine Röte übers Gesicht, es wurde hilflos. „Ach, das bloß nicht“, sagte sie, „ich heiße –“, dabei begann sie aus dem Boot zu klettern, stand nun richtig neben dem Mann, reichte ihm bis nahe an die Schultern, „ich heiße Anne.“ Sie machte einen Knicks und hätte ihn am liebsten rückgängig gemacht, so, wie man schnell über Sand oder Schnee streicht, um Spuren zu verwischen.
Wieder verbeugte sich der Mann. „Ich bin Markus!“ Er setzte sogar seinen Nachnamen dazu. Es wunderte ihn sofort.
Ach Gott, dachte das Mädchen, Markus, das war doch so ein Biblischer mit Klapperlatschen – Almasor müsste er heißen oder Said oder Achmed.
Wie selbstverständlich stapfte sie neben dem Mann die Düne hoch, merkte erst, was sie tat, als sie vor einem Bündel Kleidungsstücke stand, die, den Schuhen nach, ihrem Begleiter zu gehören schienen.
Sie wollte umkehren, aber der Ritter bat sie, ihm Gesellschaft zu leisten.
Da hockte sie sich, während er sich bäuchlings dünenauf legte, ungefähr zwei Meter von ihm weg und zog die Knie ans Kinn, während die Zopfschwänze den Sand fegten, und blickte grau oder grün zu ihm hinüber.
„Warum haben sie dich eigentlich gejagt?“, begann der Mann das Gespräch.
Das Mädchen bekam eine Falte zwischen den Augenbrauen. „Das sage ich nicht!“ Sie merkte selber, dass er diese Kürze nicht verdient hatte. „Ich kenne Sie ja noch gar nicht.“ Aha, fasste er zusammen, das stimme nun freilich, aber es bestünden ja wohl Aussichten, denn sie habe „noch“ gesagt. Und da sei er der Meinung, sie sollten mit dem Kennenlernen beginnen, wenn sie es mochte, natürlich.
Das Mädchen sagte nichts, aber es nickte.
Das Erste, was dabei zu beachten sei, erklärte der junge Mann, wäre wohl, dass man sich gleich gegenübersteht, und darum – er hatte sich hochgerekelt, kroch zu dem Mädchen hinüber und streckte ihr seine Hand hin – biete er ihr sein Du an.
Sie blieb, die Arme um die Knie geschlungen, sah ihn misstrauisch an. „Richtig ,Du‘?“, fragte sie.
Natürlich richtig! Er überlegte einen Augenblick. Es seien immer nur die richtigen Du, die im Leben Wert hätten. Aber das verstünde sie wohl noch nicht.
Grade, sagte Anne, verstehe sie das, nur müsste er Geduld mit ihr haben, sie könne ein Du nicht so schnell … Und sie legte zögernd ihre Hand in die seine.
„Die ist aber kalt“, sagte er, dachte, und so kindlich, und die Nägel haben ähnliche Nagespuren wie bei meiner Schwester. Da war ihm eigenartig, dem Neunzehnjährigen, in dieser Gegend, die ihm unvertraut, fern seines Heimatortes war, in seiner Hand diese fremden Mädchenfinger, die jetzt ziemlich vertrauensvoll darin ruhten.
Jetzt hat er beinahe solche Augen wie meine Mutti, wenn ich sie am meisten mag, dachte das Mädchen, ach, meine Mutti … Dabei fiel ihr ihre Hand ein, sie zog sie rasch aus dem warmen Nest und stand auf. „Ich geh’ baden“, sagte sie, „kommst du – Sie mit?“
Sie ging schon, warf die Zöpfe mit Schwung hinter sich, den Kopf nach oben.
Ach, sah der Mann ihr nach, du Kind – Mädchen, erhob sich und ging etwas schwerfällig, Körper und Kopf zur Seite geneigt, hinterher.
An der Schwelle des Meeres wartete sie.
„Mögen Sie – du“, betonte sie nun, „es?“
„Ich weiß nicht“, Markus wiederholte ihre Worte von vorhin, „ich kenne es ja noch gar nicht …“
„Ja, aber woher bist du denn“, sie fuhr in das Du hinein, wie in ungewohnte, neue Schuhe.
„Aus Thüringen“, erwiderte er.
Thüringen, du lieber Gott, Anne sah sich vor dem schrecklich langweilig-farbigen Ding, grün – gelb – braun, der Landkarte. Und oben blau – na ja, war ja die See, ihre See. Die Lady Hamilton – weiß der sonst wer, warum die so hieß, aber sie hieß so von der Abiturklasse her – sagte: Anni, Wernigerode und Quedlinburg liegen im Harz. Aue im Erzgebirge. Ich will Thüringen sehen!
Na, da zeig mal, wenn alles so ähnlich aussieht, angebräunt mit Grünflecken. Natürlich waren die Tannen da höher, der Wald da dichter, das wusste man ja, aber – Phö! Dafür konnte sie die Fähnchen genau in dieses Russland setzen. Und das war schließlich wichtiger!
„Und wie heißt der Ort?“, erkundigte sich Anne.
„Moosberg“, erläuterte Markus, „in der Nähe der Wartburgstadt Eisenach zu finden.“
„A … so“, sagte Anne und erinnerte sich an seine Belehrung: „Die erste Voraussetzung des Kennenlernens ist, dass man sich gleich gegenübersteht“, dotierte sie mit einer Stimme, die hoch und dünn in die Landschaft stieg; ihr Finger zeigte aufs Meer.
Markus grinste, da hatte er seine feinen Weisheiten … Nun wurde er beim Wort genommen. Wie aber stellt man sich gleich mit dieser mürrischen, erstmalig erlebten Dame Unendlich? Obwohl man wusste, dass sie auch ihre Grenzen hatte, kartografisch zumindest. Sonst aber …
„Nein“, sagte Anne, „ich meine es richtig mit dem Gleichsein. Ich glaube –“, sie machte eine Pause, zog ihr Gesicht in angestrengtem Nachdenken zusammen, es schien nun Jahre älter, „man muss als ganz-man-selbst dort hineingehen, so ohne was, verstehst du? Wie – na, wie die sieben Schwäne vielleicht, wenn sie ihre Federhaut abgelegt haben.“ Ihre Augen suchten beinahe ängstlich in seinem Gesicht.
Markus sah erstaunt auf das dünne Zopfmädchen neben sich. Nanu, so ein Kind, woher wollte sie das wissen? „Ich will es versuchen“, sagte er und glaubte nun wirklich, von den Wellen umzogen, sich selbst bis in die Zehenspitzen zu finden.
Aber das Kind hatte auch Zweifel in ihm hochgeangelt: Galt das noch: Man-selbst-sein? Was hieß das schon? Gerade vorhin hatte er sich nach der Gemeinschaft der anderen gesehnt. Vor allem nach Hans, seinem durch nichts zu erschütternden Kameraden „Hans im Glück“, wie der sich selbst nannte. Hatte ja auch wieder Glück gehabt, während es ihn das dritte Mal erwischte.
Gegner waren sie einst in ihrem Knabenspiel. Er und die seinen aus dem oberen Dorf als Andreas Hofer und die Tiroler. Hans als Napoleon mit denen aus dem Unterdorf als Franzosen, diese zwar besser gekleidet und gerüstet, aber meist von Markus’ Gruppe besiegt. Dann hatten sie ihre Fähnlein gegeneinander gehetzt bis –
Sie hatten beide nach dem Notabitur um den gemeinsamen Feind gewusst, sich freiwillig gemeldet und waren seitdem in einer Kompanie. Kastor und Pollux hießen die Kameraden sie, die griechischen Knaben von deutschem Schrot und Korn, der Leutnant Wittzuber, und Markus pfiff:
„Stich und Hiehiehiehieb
und ein Liehiehiehieb
muss ein, ja muss ein
Landsknecht hahahahaben …“
Menschenskinder, es wurde Zeit, dass er wieder richtiges Manneshandwerk zu tun bekam … Hans holte sich womöglich den zweiten Winkel ohne ihn.
„Markus“ – das laute Warnen in der Mädchenstimme trennte die Vergangenheitsgedanken von der Gegenwart. Zu spät! Es schlug ihm ins Gesicht, der Mund, die Nase, die Luftröhre waren voll quirligem Wasser, ihm wurde schwindlig. Er schlug um sich, angelte, schwamm sich hoch und spürte plötzlich die Mädchenhand in seine Schulter gekrallt. Er prustete und spuckte und fand endlich sein eigenes Atmen wieder.
„Huije“, wandte er sich atemlos an Anne, „sie will mir nicht wohl, die Dame See und – du kannst ja schwimmen.“
„Das ist ein es“, beharrte das Mädchen eigensinnig. Sie schwamm neben ihm, mit, wie Markus bemerkte, abgewandtem Gesicht.
Fremd und unzugänglich war das Wasser vorher. Jetzt, mitten darin, war es von grüngelbbrauner Farbe. Gluckste in kleinen Wellen, während die großen hochauf, hochab friedfertig ihre Körper trugen. Wie anders doch als die Wasser bei uns, grübelte Markus, entweder haben wir Quellen, heiter wie Frühlingsblumen mit leichter Hand verstreut, oder Seen, wie verschlossene, geheimnisvolle Augen des Waldes. Aber immer, wenn man den Blick hochschickt, ist der Horizont grün begrenzt. Das ist vertraut. Daran lässt sich festhalten. Hier aber? Was das Wasser unten als feuchte Tatsache wogt und webt, wallt und türmt sich oben als Traum weiter. Und dann die Weite! Unendliche Weite, die atemlos macht.
„Es ist schön, dein Meer“, sagte Markus zu Anne, „und so groß!“
Das Mädchen nickte. Als sie erschöpft, immer wieder von Wellen zurückgerissen, nun Sand unter den Füßen fühlten, drehte sie ihm ihr Gesicht zu. Musterte ihn, Lippen aufgeworfen, skeptisch.
„War komisch vorhin“, sagte sie leicht, „wie Sie ins Wasser gingen, so toll forsch. Das war wie – ich glaube, so gehe ich immer zur Schule, nämlich – ich muss. Und Ihre Augen waren richtig blind. Ich habe mal einen toten Spatzen gesehen …“
„Du sagst ja Sie“, erinnerte Markus.
„Ach, ja“, sagte das Mädchen beinahe gleichgültig, „stimmt ja.“
Es ärgerte Markus, und das wunderte ihn. Als er vorgestern Schwester Lieselotte, die ihn bislang gepflegt hatte, fragte, ob sie diese drei Tage an der See mit ihm verbringen würde, weil es doch zu kurz zur Heimfahrt sei, war er beinahe erleichtert, dass sie nicht konnte. Dieses Kind aber …
Anne griff in ihre Zöpfe, drückte ruckweise das Wasser heraus. Ihr brauner Körper schimmerte bläulich, die Haut sträubte sich.
„Komm“, forderte Markus, „rennen wir!“
Ihre Füße platschten auf dem feuchten Sand. Anne erinnerte das Geräusch an die vier Jungenfüße von vorhin.
„Übrigens danke, dass du – Sie“, berichtigte sie, „die Bengels vorhin vertrieben hast.“
„Bitte, kleine Meerjungfrau, da haben wir uns ja wohl beide umeinander verdient gemacht, denn womöglich wäre ich ohne dein Warnen schon der Inhalt eines Haimagens! Weißt du, wie ich dich nennen werde? Dusie – das heißt, du hast dich selbst so genannt.“
„Dusie“, das Mädchen zog die Nase zusammen, als müsse es den Namen da herausziehen, „ich glaub, das mag ich nicht, das klingt so, wie Sahnebonbons schmecken, ich esse lieber saure – aber wissen, weiß ich es nicht …“
Sie gingen ruhig nebeneinander auf dem feuchten Sandstreifen, und Markus trat so, dass ihm dann und wann die Wellen mit einem eiligen Schubs über die Füße liefen, während Anne öfter stehen blieb, sich bückte und mit einem Stock im nassen Schlick herumstocherte.
„Und außerdem“, sagte sie plötzlich, „hört sich das so nach Mädchen an. Dusie –“, wieder rümpfte sie dabei die Nase.
„Du möchtest wohl lieber ein Junge sein“, fragte Markus.
„Natürlich“, erwiderte Anne, „Jungen – die dürfen alles! In den Krieg ziehen, Russen totschießen – und überhaupt. Ich wäre bestimmt sehr tapfer“, sie suchte begeistert sein Gesicht, „glaubst du es mir?“
Markus sah überrascht auf das eigenartige kleine Ding da neben sich, das mit kindlicher Begeisterung von Tapferkeit, vom Totschießen wie vom Puppenspielen sprach.
Er hatte kein gutes Gefühl dabei. Überhaupt nicht. Es erinnerte ihn aus irgendeinem Grund an seine Mutter. Sie hielt sein Gesicht mit beiden Händen umfasst, und er spürte die Schwielen ihrer Hände. Für jede dieser verarbeiteten Härten hätte er Jahre seines Lebens geben mögen; eine ungreifbare Zärtlichkeit kam ihn an. Junge – hatte sie erstreicheln wollen –, beschmutze deine Hände nicht mit Blut, sie sind doch Kinder Gottes so wie du auch, und auch ihre Mutter wartet … Verdammt noch mal, das war über ein Jahr her. Und immer hatte er es beiseitegeschoben. Was würde dieses Kind noch alles wach machen?
„Anne“, sagte er, „jemanden töten ist etwas sehr Furchtbares, auch, wenn es ein Feind ist. Außerdem kann es einen selbst erwischen. Um ein Mädchen aber – glaube ich, ist Fröhlichsein, Güte, Zierlichkeit. Das hat mit Musik zu tun und mit Blumen …“ Nichts mehr war davon, dass es ihn eben noch selbst nach Männerhandwerk gelüstet hatte. Gelöscht schien es einfach.
Anne äugte grau zu Markus hinauf. Er hatte sehr eindringlich gesprochen. Sie dachte nach, wusste nichts mehr zu sagen, begann, die Nase kraus, an ihrer schwarzledernen Zopfspange herumzukauen. Dann drehte sie sich jäh weg, gab Markus einen leichten Schlag auf den Arm und schrie schon im Laufen: „Los, du bist, bis zu den Sachen …“
Markus sah überrascht hinterher, er kam nicht zurecht mit solcher Mädchenplötzlichkeit, und es schien ihm dumm, diesem Strich da vorn hinterherzurennen. Aber er kehrte auch nicht um.
So war eine Zeit vergangen, als Markus zu seiner Dünenstelle kam.
Das Mädchen lag auf dem Rücken, hatte die Arme weit ausgebreitet und blickte großäugig in die Wolken. „Markus“, fragte sie, sah weiter in die Wolken, „bist du ganz allein?“
„Hier ja“, sagte er und setzte sich neben sie, dachte: eigentlich überhaupt – „aber zu Hause“, fügte er hinzu, „da sind wir fünf Geschwister, und meine jüngste Schwester ist so alt wie du.“
Das Mädchen ruckte hoch. „Ooch, fünf Kinder. Du hast es gut. Und deine Schwester, wie ist sie? Los, bitte erzähl mal!“ Hatte ich es gut – überlegte Markus, es war ihm nie so vorgekommen. Zweifach hatte es ihm nur Spott eingebracht. Einmal: Er hatte die ausgewachsenen Anzüge des älteren Bruders tragen müssen, und dann, dass jener ihm immer seine Pflichten aufzwang, das ging bis zum Spazierenfahren der kleinen Schwester damals; aber nein, schlecht war es wohl auch nicht. „Sie heißt Gesine“, sagte Markus, er ließ einen fahlen Sandfluss von einer Hand in die andere fließen, „und sie ist – wie Mädchen eben sind …“
„Ach, wie sind denn Mädchen eben?“ Es klang spöttisch, schien es Markus.
„Ja so –“, meinte er und machte eine ziemliche Pause, „weißt du, früher, als sie noch kleiner war, wollte sie immer unbedingt in meiner Fußballmannschaft mitspielen, dabei war sie nur ungeschickt und verdarb uns alles. Schimpfte man mit ihr, rollten gleich die Tränen, das taugte zu nichts. Aber jetzt hat sie so ihre Geheimnisse, da ist sie sehr stolz geworden und sagt’s keinem.“
Anne hatte ihn von der Seite betrachtet und nickte nun ernst, sie wusste darum. Da fühlte auch sie sich diesem schon richtigen Mann überlegen.
„Aber dich – sucht dich niemand?“ forschte Markus nun.
„Nein“, sagte das Mädchen, „mich sucht niemand. Braucht auch nicht – höchstens Gerda.“
Wer denn das sei, wollte er wissen.
„Ach, nur unser Dienstmädchen“, gab Anne gleichgültig an. Ob das nun niemand ist, bohrte er. Anne überlegte. „Eigentlich doch“, antwortete sie widerwillig, „aber die kriegt ja dafür bezahlt und …“
„Ist das nicht irgendwie doch etwas, wenn du schon zu keinem gehörst“, sprach Markus, ohne es bewusst zu tun, schroff.
„Das darfst du nicht denken, Markus, das nicht“, das Mädchen bekam ganz hilflose Augen, „ich gehöre zu meiner Mutti! Sie ist sehr schön und muss immer reisen, das tut sie –“, Anne weinte schon fast, „weil sie eine Dame ist. Ja, meine Mutti ist eine richtige Dame – und lieb hat sie mich auch, wie“ – sie suchte nach einem Vergleich und fand nur den des Liedes „Gold und Silber lieb ich sehr“ – „ja, wie Gold und Silber auf der Welt! Vielleicht, glaub’ ich.“ Die Stimme war bei dem Vielleicht leiser geworden, und Anne klopfte zwei Steine, die sie aus dem Sand gebuddelt hatte, hart aufeinander. Sagte nach einer Weile trotzig: „’n Vater hab ich auch, der macht solche Ämter in der Stadt, aber meine Mutti …“
„Ich glaub’ dir’s ja“, Markus strich dem Mädchen neben sich übers Haar, „bestimmt ist deine Mutti sehr schön, und weißte, was ich noch meine, deine Gerda sucht dich auch nicht nur wegen der Bezahlung, sondern, weil sie dich mag.“
Anne ließ den Stein fallen, sah ihm ins Gesicht. „Meinste?“, fragte sie zweifelnd. Sie sprang auf, warf die Arme zum Himmel, umriss die Strandwelt um sich her. „Überhaupt bin ich reich, alles, alles hier kenn’ ich, gehört mir, ich bin nämlich“, sie brach ab, „aber das verstehst du nicht!“
„Doch“, sagte Markus, „du bist die Prinzessin von Sarmatien. Nun stehe ich, ein fremder Wanderer, vor deinem Reich und bitte dich, eintreten zu dürfen. Willst du mich seine Eigenarten kennenlehren?“
„Sarmatien?“, fragte das Mädchen, „was ist Sarmatien, klingt wie Wald, dichter, dunkler Wald und Moor – und – Rittersporn.“
„Genau, Prinzessin, und nach Bernstein, so nannten vor vielen Hundert Jahren die alten Römer diese, deine Landschaft.“
„Wirklich nach Bernstein?“, fragte Anne, „aber da verstehst du ja doch vielleicht ein bisschen, da – du, ich zeig’ es dir.“ Sie beugte sich hinunter und fasste seine Hand, um ihn mit fortzuziehen.
Gemach, gemach, entgegnete Markus, es zeige sich der Abend, nun müsse er in sein Quartier zurück, sie wohl auch, zumindest in einen trockenen Badeanzug. Aber morgen wäre er begierig auf ihr Sarmatien.
„Gut“, sie standen sich jetzt gegenüber, Anne drückte Markus fest die Hand, „also morgen …“
Sie lief davon in Richtung der Strandkörbe, der weißen Häuser und der Menschen.
Der nächste Morgen trat hell in die Fenster des Gartenhäuschens, das Annes Eltern der Witwe Krause für den ganzen Sommer abgemietet hatten.
Im Aufwachen schon hatte Anne es rauschen hören, laut und gleichmäßig, und da wusste sie, dass es heute windiger war und darum schön bleiben würde, denn der Wind zerteilt die Wolken vor der Sonne.
Das war so.
Anne schob ihren Milchbecher beiseite, drehte sich nach Gerda um, die hinter ihr die Betten richtete, und fuhr rasch mit dem Finger noch einmal durch den Kunsthonig. Ehe sie zur Tür pirschte, sagte sie: „Gerdachen, ich geh’ jetzt spielen und – du brauchst dich auch nicht um mich zu sorgen.“
Das Mädchen wurde aufmerksam, legte das Deckbett nieder. „Sag mal“, forschte sie, „du hast doch nichts Schlimmes vor, weil du dich so brav abmeldest.“
„Quatsch“, sagte Anne und warf die Tür hinter sich zu. Jetzt hieß es nur noch den Garten schaffen.
Auwei, da saß vor einem Stachelbeerstrauch, die grauen Löckchen in einem Turban verwahrt, die Witwe Krause. Ihr hatten die Eltern die Oberaufsicht über Anne und das Dienstmädchen Gerda gegeben. Das nutzte sie gründlich. Selbst Gerda suchte ihren dauernden Belehrungen und ihren ewigen Lamentos vom seligen Krause, der, ein junger Steuermann mit blauen Meeresaugen, aus einem alten Ovalrahmen überm Sofa lachte, zu entgehen. So ein schicker Seemann, meinten die Mädchen!
Weißte, der Krause ist bestimmt gar nicht untergegangen, hatte Anne eine Lösung gefunden, er ist in ein fremdes, wildes Land gefahren und hat eine andere Frau geheiratet, vielleicht ’ne Tochter vom Negerhäuptling. Er hat sich einfach vor den spitzen, welken Fingern seiner Krausewitwe gegrault oder vor den Zähnen, die sie immer auf dem Küchenfenster wässerte.
Mit einem geknicksten „Guten Morgen“ wollte Anne vorbeihuschen, da griffen die Knochenfinger schon nach ihrem Arm. „Nun, liebes Kind, du willst schon wieder weg? Bleib lieber hier und sage mir dein gestriges Tagespensum an Englischvokabeln auf“, sagte sie; Anne schien die Sonne vom Himmel zu rutschen.
„Frau Krause“, Gerda war hinterhergekommen, „die gnädige Frau hat angeordnet, dass Anne vormittags erst einmal spielen gehen soll.“ Anne wusste genau, dass das gar nicht stimmte. Sie dachte an Markus.
Da ließ die Witwe sie los: „Dann geh und spiele mit meinem Ingridchen, aber nicht wieder mit den dreckigen Fischerkindern !“
Anne machte, dass sie davonkam zwischen den abgezirkelten Blumenrabatten. „Alte Hexe“, zischte sie vor sich hin und streckte die Zunge heraus, aber beileibe nicht dorthin, wo die Witwe saß. Das Einzige, was an der dran ist, dachte sie, ist die nachgemachte Leberwurst aus Hefe und mit Majoran, wovon man so viel aufs Brot schmieren durfte, wie man wollte.
Grade würde sie nicht mit der eingebildeten Gans Ingrid spielen, die hatte ihr ja alles mit den Bengels eingebrockt gestern. Andererseits hatte sie dadurch auch Markus gefunden. Markus – was hatte sie nicht gestern Abend alles mit ihrem Elchritter für Abenteuer erlebt!
Als er sich ihrer riesigen Dünenburg näherte, hatten die Turmwächter geblasen; das hieß: Es nähert sich jemand, Freund oder Feind. Sogleich hatte sie Befehl gegeben, ihn vor sie zu bringen, und er war von ihren Kriegern umringt worden. Aber er wehrte sich, schlug mit Schwert und Schild um sich, erlegte sieben ihrer Recken, bis er sich gefangen gab. Nun wurden ihm die Augen verbunden, er musste endlose Gänge bis in ihren Thronsaal gehen. Da saß sie unter bernsteinernem Baldachin und betrachtete ihn in aller Ruhe. „Gebt ihm die Augen frei“, sagte sie herrisch, „und du stelle dich auf die unterste Stufe vor meinen Thron!“
Aber Markus, sie fand den Namen jetzt übrigens wie gemacht für einen Elchritter, zeigte keine Furcht, schritt die Stufen zu ihr empor, zog sein Samtbarett, schwarz mit weißer Feder, und verbeugte sich. „Meine liebe Prinzessin“, sagte er schön und gemessen, „wohl viele Meilen bin ich geritten, bis ich zu Euch gelangte. Mit der Flaschenpost kam mir Euer Bild ins Reich der grauen Elche; da säumte ich nicht und wurde nimmer meines Lebens froh, bis ich nun vor Euch steh’.“
Anne war, um Frau Krauses Nichte Ingrid und den Jungen zu entgehen, nicht den Strand entlang, sondern durch den Wald gegangen, vorbei an der Konzertmuschel, die manchmal abends ihr Lustschloss war, und dem Waldfriedhof, wo’s sich am besten Räuber und Prinzessin spielen ließ. Aber mit Fischerkindern! Sie musste die Strandkörbe jetzt zurücklassen und bog zu einem Dünenweg ein.
Da standen genau auf ihrem Weg die Bengels und Ingrid. Anne erschrak. Mein Himmel, was sollte sie jetzt machen, weglaufen? Das ging gegen ihre Ehre. Sie dachte an Markus. Sie ritten nebeneinander. Sie hoch erhobenen Hauptes und ohne zu zögern. „Na, Anne“, sagte die scheinheilige Ingridfee, „willst du nicht doch mit uns spielen, du kannst dir auch aussuchen, wen du möchtest …“
Anne ritt wortlos, sie würdigte die drei keines Blickes, sah aber doch, dass die Jungen dumm guckten und tuschelten.
Die würden ihr nie mehr etwas tun! Das wusste sie plötzlich ganz wirklich. Es war Markus, der das bewirkte.
Und sie ritten weiter den Dünenweg empor. Sie auf einem ebenholzfelligen Pferd und Markus auf seinem weißen Elch, von dem sie wusste; nur ihr hatte er das Geheimnis verraten, dass es ein Zauberelch war, mit dem Markus fliegen und auch unsichtbar werden konnte.
Die wilden Rosen dufteten zu ihnen hoch, die Dünen waren bepflanzt mit ihnen. Heckenrosen mochte Anne, und immer musste ihr Thronsaal von diesem Duft erfüllt sein. Da stieg Markus von seinem treuen Elch, beugte sich nieder und pflückte sein Samtbarett voll Rosenblätter. „Hier, meine liebe Prinzessin“, sagte er, „das pflückte ich für Euch!“ Oh, er wusste alles … Das Mädchen hielt sich einige Rosenblätter unter die Nase.
Hier – ihre Stelle. Die Boote dösten im Sand, aus den aufgehängten Netzen kam der hellgrüne Geruch von Algen und Seegetier; an die Reusenstöcke, die ins Meer wanderten, schwappten und spritzten die Wellen. Alles war da. Markus nicht. Jetzt erst fiel Anne ein, dass sie keine Zeit vereinbart hatten.
Nun, er würde schon kommen. Das Mädchen legte sich in den Sand, stellte ihr Essenbündel – ein Brötchen, zwei Eukalyptusbonbons und drei Augustäpfel, die sie gestern Abend noch der Witwe Krause vom Baum stibitzt hatte – neben sich. Schließlich hatte sie ja für jemanden zu sorgen.
Er war für sie auf die Jagd geritten, ein Wild zu erlegen. Und die Rehe, Hasen und ein Hirsch trotteten folgsam hinter dem Elch her. „Sucht Euch aus, welches Tier ihr zu speisen wünscht, Prinzessin.“ Mit einer Handbewegung schenkte er ihr die Tiere des Waldes. Da knickte der Hirsch seine Vorderbeine ein und ließ sich von ihr den Kopf kraulen, und die Rehe legten sich um das Mädchen wie ein Wall und sahen sie still aus ihren traurigen braunen Augen an, während die Hasen Kobolz schossen.
„Markus, sind die schön“, sagte Anne, „niemals darfst du sie töten. Sieh nur, ich habe für dich Speisen bereitet. Kotelett und Kohlrouladen. Hühnersuppe mit Grießklößchen und Himbeerpudding. Alles allein gekocht.“
Ach, verflixt noch mal, nun könnte er aber kommen. Sie richtete sich auf und blickte den Strand entlang. Weit hinten standen, wie Schachfiguren geordnet, die Strandkörbe, dazwischen wimmelten Menschenpunkte und ab und an stießen Stimmen durch das große Meerlied zu ihr hinauf, aber niemand war zu sehen, nur ein Soldat kam langsam am Strand entlang.
Anne seufzte und legte sich wieder hin. Also – er könnte ja auch für sie in den Kampf gezogen sein, weit, in ferne Lande. Er saß in seinem Königszelt, auf dessen Dach ein Wimpel wehte, dessen Wahrzeichen, den Elch, sie nun wirklich gestickt hatte, und schrieb ihr einen Brief.
Liebe Prinzessin von Sarmatien …
Da tönten die Hörner, der Feind griff an. Markus sprang auf, steckte sein Schwert in die Scheide, ergriff den Schild und stürmte hinaus. Da warteten seine Krieger, und er ritt an ihrer Spitze mitten in die Feindesschar.
„Guten Tag, Prinzessin“, sagte seine Stimme, etwas singend, ziemlich tief. Da stand, in langweiligem Feldgrau, plundrig und ungebügelt, sogar das alberne Schiffchen auf dem Lockenschubs, eine Schwalbe am silbereckigen Kragenaufschlag, der Soldat.
„Sie sind“ – das Mädchen war ehrlich entsetzt – „du bist ein Soldat?“
„Ja“, sagte Markus, „und warum nicht?“ Er knöpfte seine Uniformjacke auf. „Hast du etwas gegen Soldaten?“
„Na ja, – nein, aber –“, sie wurde plötzlich hochmütig: „Ich kenne keine Soldaten, bei uns verkehren nur Offiziere – und Soldaten putzen Stiefel oder riechen schwitzig.“
Markus sagte erst einmal gar nichts, zog sich weiter aus und stand wie gestern in Badehose braun und groß vor Anne. Es verschloss ihm den Mund. So deutlich hatte noch niemand über seine Zweitrangigkeit als Soldat gesprochen. Dieses kleine verzogene Biest! Muschkote, Kanonenfutter – ging es ihm durch den Kopf und – der deutsche Soldat ist der beste der Welt – verfluchte Fritzen, ihr Mörder – das hatten sie auf eine Papptafel geschrieben gefunden, als sie durch eines der gesichtslosen russischen Dörfer gezogen waren und – er legte sich ein Stück von dem Mädchen weg, wie gestern dünenauf in den Sand und sah in den Himmel.
O je, wie der gucken konnte, er sah ganz fremd aus, dachte das Kind. Die Mundwinkel komisch nach innen gezogen, machten einen schmalen Mundstrich, die Augen wurden blind wie gestern, als er so aufs Wasser losstürmte und – sie schienen sich irgendwie voneinander zu trennen, eines wanderte nach oben, das andere stand vorwurfsvoll still. Der schielt ja in sich hinein.
Es fühlte sich auf einmal einsamer als allein. Niemals mehr würde er wohl zu ihr Prinzessin sagen, niemals mehr Dusie oder überhaupt irgendetwas …
Dieses verdammte Gefühl, verbohrte sich Markus.
Das erste Mal war es ihn angekommen, als er, zehnjährig, sein erstes Geld verdienen ging, um Mutter den großen Nähkasten zu schenken, von dem er sie an einem Maiabend schon hatte reden hören. Der Nähkasten hatte beim Kaufmann Laschke im Fenster gestanden mit einem Schild: fünf Mark fünfundzwanzig, und der Vater sagte: „Nein, Else, dann musst du ihn dir vom Wochengeld absparen, ich kann keinen Groschen mehr lockermachen. Überhaupt finde ich, das ist Luxus, die Zigarrenkisten machen’s auch …“
Markus aber war zu Laschkes gegangen, die Türglocke schepperte und das Herz des Jungen auch, und er hatte mit leiser Stimme darum gebeten, dass Herr Laschke den Kasten doch ein bisschen zurückhalten sollte, weil er, Markus, ihn seiner Mutter zu Weihnachten schenken wollte. Und der Kaufmann hatte ihm, obwohl seine Frau im Hintergrund über die Geschäftsuntüchtigkeit ihres Mannes schimpfte, die Haare aus der feuchten Stirn geschoben und gemeint, er solle sich aber beeilen damit.
Und da war Markus gleich mit seinem Wägelchen, in dem er als ganz kleiner Bursche gesessen hatte, in dem nun das Schwesterchen hin– und hergezogen wurde, in den Wald gegangen und hatte Holz gesammelt. Die Äste handgerecht zerbrochen und zu Bündeln geschnürt, brachten ihm pro Bündel einen Fünfer. Ach, er hatte es sich leichter vorgestellt, das Geldmachen. So stand er vor der großen Tür mit dem Schild „Dr. med. Heinz Liebmann“, hinter der er das allerschönste Mädchen wusste, das es gab auf der Welt. Nie hatte er gewagt, ein Wort mit ihr zu reden, immer nur von der Jungenseite im Kindergottesdienst zu ihr hinübergesehen. Sie trug weiße Kleider und Zopfschleifen wie riesige Schmetterlinge.
Und nun würde er mit ihr reden dürfen, er hatte ja etwas zu bieten: richtige Jungenarbeit.
Eine Handvoll Pflaumen hatte er noch dazugetan, die würde er ihr schenken. Als sie nun wirklich in der geöffneten Tür stand, waren ihm die Worte wie abgesägt, er konnte nur auf sein Wägelchen zeigen.
Sie ließ ihn stehen vor der offenen Tür, und er konnte hinterhersehen, wie sie durch das Haus ging, durch die jenseitige Tür, wo ihm ein Atemzug ihres Zaubergartens entgegentrat. Malven, groß wie Leuchttürme, die rosa und rote Blinkfeuer warfen, dazwischen nickten wie die stillen Stiftsfräulein, denen er allmontäglich einen Korb Eier ins obere Dorf zu bringen hatte, die Lilien. „Da ist so ein schmutziger Holzjunge“, hörte er sie im Garten sagen, und seine frohe Erwartung, die ihn die Pflaumen in der Hosentasche immer wieder zählen ließ – acht – neun – zehn –, wurde wie ein welkes Rhabarberblatt. Die Empörung färbte seine Wangen. „Schmutziger Holzjunge?“ Dabei wusste ein jeder, dass seine Mutter nicht nur die Wäsche ihrer fünf Kinder, sondern auch noch die anderer Leute, so zum Beispiel die des Doktor Liebmann, weiß und reinlich wusch.
Da hatte ihn zum ersten Mal dieses verdammte Gefühl gewürgt ; den Groschen, den sie ihm reichte für seine zwei Bündel, hatte er hinter der Hausecke in den Holunderbusch geworfen, er war zu einer eklen Spinne geworden.
Trotzdem war sie das allerschönste Mädchen für ihn geblieben, und was nützte schon, wenn er sich immer wieder vorhielt: Das ist nichts für unsereins. Da gab es die andere Stimme, Hoffnung hätte er sie nennen können oder Wahnsinn, die sagte: So – und warum nicht? Und immer hatten diese beiden Stimmen im Kampf miteinander gelegen, auch, als er nun, etwas mehr von Sybille, so war ihr Name, respektiert, gemeinsam mit ihr und den anderen in die Kreisstadt ins Realgymnasium fuhr.
Gesiegt hatte meist die Stimme, die er eigentlich hasste, diese: Das ist nichts für unsereins …
Und da musste das Zopfmädchen gerade daran stoßen. Nun ja, sie schien aus ebenso einem „überirdischen“ Geschlecht wie jene Sybille.
„Markus“, ganz zaghaft war die Stimme, „Markus, aber vielleicht wirst du bald ein Offizier.“
Er sagte nichts. Erinnerte sich.
Sie hatten sich beide um das Arztmädchen gemüht. Hans, der Sohn des Lehrers aus dem Oberdorf, und er, Markus, der Sohn eines Fuhrmanns. Und das war auch der tiefere Sinn ihrer Knabenfeindschaft gewesen. Sybille hatte wohl keinen erhört, aber – das vermutete Markus immer – Hans bevorzugt.
Dann, als sie die Einberufung in der Tasche hatten, gab es ein Gespräch unter Männern, und sie hatten Sybille zu einem Spaziergang eingeladen. Sie waren noch einmal den Weg ihrer Knabenkämpfe gegangen, vorbei an der Dorfkirche, den Kiefernkuscheln – bis zum blumigen Hang, Idiotenwiese genannt, weil sich da im Winter die Urlauber mit ihren Skiern strapazierten. Sie hatten das Mädchen zwischen sich, und Hans war es, der begann. Er sagte etwas vom Ernst der Stunde, der Mission des deutschen Soldaten und dass sie wohl wisse, wie sie beide sie liebten. Da war Markus eingefallen: sie mochten, hatte er mit heiserer Stimme verbessert. Und Hans führte weiter aus, dass sie nun eine männliche Entscheidung getroffen hätten. Nämlich: Der, der von ihnen beiden tapferer wäre und früher Offizier sei, hätte das Recht, um sie zu werben. Wenn es der wäre, den auch sie mag – hatte Markus noch einmal das seine hinzugetan.
Das Mädchen hatte ihnen ins Gesicht gelacht, hatte mit unbestimmter Handbewegung nach ihren Zöpfen gefasst, die längst als dicker Haarkranz um den Kopf lagen, hatte Hans einen flüchtigen Kuss auf die Stirn gegeben, ihn nur mit einem liebevollen Schlag auf die Schulter verabschiedet. „Also schlagt euch für mich, meine Helden …“, hatte sie gesagt.
Fast zwei Jahre waren darüber vergangen.
Markus merkte, wie ihm die Röte ins Gesicht schlug, er drehte sich auf den Rücken.
„Weißt du, Prinzessin“, sagte er böse, „ich will gar nicht Offizier werden, verdammt noch mal, nein!“
Fadenscheinig schien ihm plötzlich seine Freundschaft zu Hans. War es denn nicht ein ewiges Belauern um die größeren Tapferkeiten, eine dauernde Privatjagd in jener allgemeinen, großen?
Ganz man-selbst-werden, hatte das Mädchen gestern in seiner Naivität gesagt, wie die sieben Schwäne, wenn sie ihr Federkleid ablegen dürfen.
Markus versuchte, sich an den Sinngehalt des Märchens zu erinnern.
Nun sieht er wenigstens nicht mehr so böse aus, dachte Anne, und Prinzessin hat er auch wieder gesagt. Ach, es war ihr ganz elend zumute.
Was tat man mit so einem Erwachsenenmannschweigen? Da wusste man, auch, wenn man es nicht wusste, dass man etwas Schlimmes gesagt haben musste. Dabei war der Soldat wieder ganz ihr Markus von gestern, aber – er blieb eben auch Soldat, und der war nicht für Totschießen und wollte auch nicht Offizier werden, und das Kind verstand es nicht richtig, wusste zumindest, dass ihr Vater das sehr seltsam finden würde. Ihren Onkel Heiner, der ein Oberstleutnant ist und der ihr aus Petsamo, das ist in Finnland, ihre Lieblingsmütze aus Rentierfell und den Puko mitbrachte, hatte sie einmal seinen Burschen beschimpfen hören: „Schmidt, Sie sind ein ausgemachtes Rindvieh …“ Der Schmidt schleppte Koffer, putzte Schuhe und – war ein Soldat.
„Markus“, begann Anne noch einmal ganz vorsichtig, „ich wollte dir doch noch erzählen, warum sie mich gestern gejagt haben, der Klaus und der Frieder.“
„So – wolltest du?“, fragte er im Liegen.
Er machte es dem Mädchen aber dann doch leichter. „Du kennst ja sogar ihre Namen?“
„Ja, weißt du, das war nämlich so: Da ist ein Mädchen, mit dem ich spielen soll. Auch meine Mutti will das. Na, und die hat gesagt, wir müssten einen Freund haben, das hätte man. Und da ist sie mit den beiden angekommen, und ich musste Klaus nehmen, den blonden, dabei wollte ich ihn gar nicht. Zuerst haben wir Ballbahnen gebaut, das hat ja auch Spaß gemacht. Aber dann wollte Ingrid verheiratet spielen – und das war so doof.“
„Wie war es denn?“, forschte Markus.
„Ach, der hat mir fünfzehn Pfennig Wirtschaftsgeld gegeben, dafür sollte ich Brausepulver zu Mittag einkaufen und dann“, Anne erregte sich, sie stand auf, „dann sollte ich“, sie spuckte es empört heraus, „ihn küssen. Denk mal, so’n ollen fremden Jungen küssen! Und Ingrid hat gesagt, das muss man. Ich will aber nicht so was müssen, hörst du, niemals! Da bin ich weggerannt, und sie hat die hinter mir hergehetzt.“
„Ja“, Markus stimmte wieder ganz mit Anne überein, „ja“, sagte er, „da hast du richtig gehandelt! Und nun zeig mir dein Reich, Prinzessin!“
„Wirklich, Markus?“ Das Mädchen fasste erfreut nach seiner Hand, um ihn gleich mit sich zu ziehen.
„Warte nur, bis ich meine Haut versteckt habe, meine Soldatenhaut“, betonte er und schob sein Kleiderbündel in den Bauch eines umgestülpten Kahns.
„So, da hast du mich“, sagte er, „nun stelle ich mich deiner Regentschaft.“
Die Sonne lag auf ihren Körpern wie ein behäbiges Tier, das der lockere Wind immer wieder hochzuheben suchte. Unter den Füßen brannte der Sand, und aus dem netzgeteilten Himmel strich See- oder Fischatem, der in die Nase biss. „Zuerst müssen wir es besuchen“, entschied das Mädchen, „ist so ‘ne fette Hitze.“
Diesmal nahm Markus das Mädchen bei der Hand, und sie rannten mit großen Schritten. Schrien, rissen Schaumfetzen hoch, spritzten sich, bis das Wasser ihnen stärkeren Widerstand setzte, sie nach vorn warf beim Kommen, zurückriss beim Gehen. Sie richteten sich darauf ein. Sprangen, sich immer noch bei der Hand haltend, wurden aufeinander zugespült, warfen ihre Gedanken in Angst und Begeisterungsschreien aus sich heraus und kamen schließlich spielestrunken, gleich geworden aus der See. Markus ließ sich in den Sand fallen.
„Mach die Augen zu, Markus“, befahl Anne, „mach sie zu, bis ich’s sage!“
Markus gab sich dem fahlen, körnigen Gelb, wie er sich eben noch dem Wasser gegeben, neunzehnjährig, braun, sehnig und jetzt erschöpft. Und das gibt es, dachte er, atemlos sein von Wind und Meer, vom Spiel? Wild sein und – unschuldig, gemeinsam? Er hörte das Mädchen neben sich mit irgendetwas rascheln. Dünnes Zopfmädchen – wusste diesen Augenblick: Ich bin glücklich.
Kühl und behutsam legten sich Annes Hände auf seine Augen. „Rate, was es ist!“, forderte sie.
„Eine dicke Seerobbe“, sagte er, „ein Meerungeheuer mit zwei Köpfen – die allerschönste Seejungfrau Dusie kommt auf einem Delfin geflogen –“
„Ach“, jubelte das Kind, „dumm bist du, Markus, stimmt alles nicht, na, nun guck!“
Sie hatte auf ihrem rot-weiß gepunkteten Kopftuch die drei Äpfel geordnet, je ein Bonbon und ein halbes Brötchen, selbst einen Strauß, rasch gepflückt und bestehend aus einigen Stängeln mit den blauen Wegwartesternen, die in den Dünen wuchsen, daneben in den Sand gesteckt.
„Oh, Prinzessin“, staunte Markus, „ist das eine feine Festtafel, nun lasst mich aber auch mein Gastgeschenk hinzutun.“ Er holte aus seinem Kleiderbündel eine runde Pappschachtel und entnahm ihr zwei brotscheibendicke Tafeln Schokolade, Wehrmachtsschokolade.
„Ooch, richtige Schokolade“, sagte das Mädchen, leckte erst einmal andächtig an seiner Tafel, ehe es hineinbiss.
Eigentlich ist es das erste Mal, dass ein Mädchen, außer meinen Schwestern natürlich, für mich etwas zu essen bereitet, dachte Markus.
Eigentlich ist es schön, dachte Anne, für Markus etwas zu essen zu haben – und ich tue es zum ersten Mal.
Sie lagen bäuchlings vor dem Tuch und teilten redlich, selbst den dritten Apfel wollte Markus nicht allein essen, er brach ihn in Hälften.
„So“, sagte Anne, als sie das Tuch zusammengelegt neben Markus’ Uniform versteckt hatte, „jetzt machen wir noch einen Besuch und dann“, ihre Stimme wurde geheimnisvoll, „zeige ich dir meine Schatzkammer.“
„Wen besuchen wir denn nun?“
Aber sie sagte nur: „Warte ab“, und ging mit ihm den Strand entlang, weg von den weißen Häusern, Menschenpunkten, Strandkörben. Es wurde steinig.
„Siehst du, Markus, hier bin ich oft. Am graulich-schönsten ist es abends, da ist alles so allein und fremd und grau, das ist – wie laut schreien und kein Ton kommt. Kennst du es? Und immer warte ich, dass der Tag kommt, wo die Stadt aus dem Meer steigt. Darum trage ich auch den Pfennig mit.“ Sie fingerte ein Geldstück aus dem Badeanzug.
„Meinst du Vineta?“, wollte er wissen. „Was ist damit und mit dem Pfennig?“
Da erzählte ihm Anne eine Geschichte ihres Lieblingsbuches „Nils Holgersons wunderbare Reise mit den Wildgänsen“, nach der der klitzekleine Nils am Strand ein Kupferstück fand, es liegen ließ – was sollte es ihm? in die Stadt ging, die gerade für eine Nacht in hundert Jahren emporgestiegen war und die er mit eben jenem Geldstück hätte erlösen können, wenn er es gehabt hätte.
Ja, sagte Markus, es muss schon entsetzlich sein, etwas, was sich nur einmal im Leben bietet, zu versäumen, da sollte man wohl wirklich täglich darauf eingerichtet sein. Er bat sie, noch einmal Titel und Verfasser ihres Buches zu nennen.
„So, da sind wir!“ Anne kniete vor einer unscheinbaren, silbergrau gestachelten Pflanze, die sich am Dünenrand zwischen flüchtigem Sand und Steinbrocken behauptete. Die Blume, zwischen Schutzstacheln wie eine Erdbeere gewölbt, mit rührend blau eingebetteten Blüten.
„Wirklich – eine Stranddistel“, staunte Markus, „gibt es hier viele davon?“
„Nein“, antwortete Anne, „sie ist weit und breit allein und – ein verzaubertes Mädchen.“
„Und warum ist sie verzaubert?“ Markus fragte es sehr ernsthaft.
„Weiß nicht“, zuckte Anne die mageren Schultern, „das hat sie mir nicht verraten, muss es für sich behalten. Weiß aber, wie sie erlöst werden kann – das ist unser beider Geheimnis. Ach, überhaupt, wenn du wüsstest, wie sie ist! Sie hat nie Angst, nie und vor nichts. Und weil sie immer da ist, kann man es ihr erzählen. Sie versteht! Ist mein einziger Freund fürs Leben!“
„Eine Stranddistel fürs Leben …“, dachte Markus. Fragte : „Du hast also Angst?“ Er hatte einen Zopf von Anne gefasst, pinselte sich damit den Arm entlang.
„Ja“, bestätigte das Mädchen, „ich habe viele Ängste – nicht vor Meer und Steinen und so, aber vor Leuten, verstehst du? Man weiß nie, wie sie wirklich sind. Mein Vater zum Beispiel redet meist mit so dicken Worten. Er ist etwas Wichtiges, glaube ich, und er haut mich mit einem Rohrstock, wenn ich was gemacht hab’. Und meine Mutti sagt, ich würde schon sehen, wenn sie erst tot ist. Unsere Englischlehrerin …“
Herrgott noch mal, was tun die ihrem Kind nur, dachte Markus, es kam ihn ein wütendes Gefühl an gegen diese dicke Vaterwichtigkeit und die Mutter, die Dame, die herumreiste, mit dem Tod kokettierte, um dieses dünne Kindmädchen zu erziehen. Mit den Augen hatte seine Mutter ihre fünf Kinder dirigiert. Keines von ihnen hatte es lang ausgehalten, diesen vorwurfsvolltraurigen, diesen Elseblick, wie der Vater ihn getauft hatte, auch nur im Rücken zu spüren. Und der Vater gerade hatte versucht, ihn vor Ängsten zu schützen. – Junge, fürchte dich vor nichts! Immer mitten hineingesprungen, da kann es dir nichts – hatte er seinem Sohn geraten. Der hatte draußen die Grenzen dieses Vaterrats gespürt. Er hatte Furcht bei den ältesten Fronthasen erlebt. Elternsorge reicht eben nicht für Todesgefahr.
Seine Gedanken bedenkend, erkannte Markus, dass ihm das fremde Mädchen, das ihm ein Wind da gestern zugeweht, vertraut geworden war, dass er wünschte, es irgendwie stärker zu machen, es zu hüten.
Wie aber das? Er hatte gelernt, mit einer Fünfzig-Millimeter-Batterie seine Heimat – er suchte nach einer zutreffenden Formulierung – zu vergrößern, aber – sollte er vielleicht mit seinem Karabiner in die Mädchenängste stechen?
„Weißt du, Anne“, Markus legte seinen Arm um das Mädchen, „sie haben mich auch oft, die Ängste. Aber man kann dagegen angehen, sie bezwingen, wenn man nur einen hat, der sie mit einem trägt. Du hast die Stranddistel“, er wusste diesen Augenblick, wie verletzlich das war, setzte dazu, „und jetzt hast du ja auch mich.“
Allerdings wurde ihm das Gesagte erst richtig bewusst, als das Mädchen ein zweifelndes, hoffendes „ganz wirklich?“ dagegenfragte.
Als Anne ihre Burg ankündigte, wo der Schatz zu heben sei, stieg die Düne steiler hoch, war von Sanddornbüschen, Huflattich und Brombeergerank bekrochen. Ein Halbrund ausgeschippt, mit Steinen und knorrigen Stöcken befestigt und mit Federn aller Größen besteckt, auf dem Boden verfilztes ausgedörrtes Seegras, an der Dünenwand ein mit Steinen ausgelegter Sitz.
Da hätte man also den Thronsaal der Prinzessin, stellte Markus fest, und jetzt besuche er nur noch sie und das sei der dritte und wohl wichtigste Besuch für heute.
Sie saßen geborgen im Sand nebeneinander. Das Mädchen begierig, ihrem großen und für sie so bedeutsamen Freund ihre Schätze zu zeigen, der Mann neugierig, welche Mädcheneigenheiten er nun zu sehen bekäme.
Mit feierlich geheimnisvoller Bewegung schob sie den Filzteppich beiseite, es kam ein Brett zum Vorschein, das über ein Loch gelegt war. Bevor Anne das Brett hob, flüsterte sie Markus zu: „Nun zeige ich dir mein Schönstes – du darfst es aber nie jemandem verraten. Schwöre! Das dürfen nur du und ich wissen!“
Und Markus hob drei Finger.
Das Mädchen holte vorsichtig einen quadratischen Karton aus dem Loch, hielt ihn mit beiden Händen umfasst, drückte ihn Markus unter die Nase. „Riech nur mal – hm – hat meine Mutti aus Frankreich bekommen, war Parfüm drin. Hübsch, nicht? Ist ein Wunderkasten.“
Markus nahm wirklich einen süßlichen Geruch wahr, der wenig hierher, noch weniger zu dem Kind passte … Der Karton in glänzender Türkisfarbe hatte eine glutende Rose, auf der ein Wassertropfen lag. Die Hände des Mädchens fuhren liebevoll, beschwörend, über den Kasten, sie öffnete ihn langsam und schüttete den Inhalt zwischen sich und Markus auf den Steinsitz.
Da lagen: verschiedenfarbige Glasscherben, eine große Murmel, ein Stein und ein Stück Bernstein. Dazu eine Handvoll bunter Muscheln.
Markus betrachtete das Häufchen. Aber was habe ich denn erwartet? fragte er sich. Mädchenschmuck? Ein Silberkettchen vielleicht, einen winzigen Fingerring oder bunte Knöpfe und seidige Schleifen? Er antwortete nicht, als Anne ihn fragte, ob es ihm denn gefalle.
Das Mädchen begriff das Schweigen ihres Freundes. Hach – das sei es ja gerade …
Sie nahm eine Glasscherbe und hielt sie vor die Sonne. „Siehst du, damit kann ich die Sonne einfangen, immer, wenn ich sie brauche. Und will ich sie nicht mehr gelb – dann färbe ich sie blau oder grün oder rot. Alles um mich her kann ich damit verfärben. Sind Zaubergläser! Jetzt empfange ich den Herrn Ritter im blauen Salon. Blaue Vorhänge, blaue Marmorsäulen, blaue Springbrunnen. Alles ist feierlich, hier darf niemand ein lautes Wort sagen. Nur blaue Vögel zwitschern zierlich. – Aber nun ist der Saal rot. Scharlachfarbene Fliesen, rote Samtwände, da heraus tönt rote Musik. Du, in rotem Ritterwams, verbeugst dich, fasst mich bei der Hand, und wir tanzen. Weißt du, auf einmal kann ich es. Ich habe die Haare hochgesteckt und ein langes wunderbares Kleid an. Rot natürlich. Ja, so ist das. Und schau mal, hier, was ist es?“ Sie legte Markus den Stein in die Hand.
Markus zuckte mit den Schultern. „Ein grauer Stein“, sagte er.
„Ach, Markus, sieh’s doch richtig an“, sie drehte den Stein, „nun, was ist das?“
„Es könnte wie ein Herz aussehen“, meinte er.
„Natürlich ist es eins“, sagte sie mit Überzeugung, „ich besitze ein versteinertes Herz! Das Wasser hat es mir zugespült. Irgendwer muss nicht aufgepasst haben, hat es einfach vertan, da ist es versteint. Nun muss ich es aufbewahren, bis der Herzverlierer einmal vorbeikommt. Dann aber muss man es irgendwie wieder lebendig machen. Oder würdest du ein kaltes, hartes Herz in deiner Brust haben wollen?“
Nein, das wolle er in Dreiteufelsnamen nicht! sagte Markus.
„Hier – das Glück“, Anne ließ die Murmel auf ihrer Hand hin- und herrollen.
„Und warum ist Glück rund?“, fragte Markus.
„Weiß nicht“, antwortete sie, „ist eben so!“
Markus nahm ihr die Kugel aus der Hand, ließ sie auch hin- und herrollen, sagte eine Weile später nachdenklich: „Vielleicht hast du recht, Prinzessin, darum rollt es einem auch so schnell weg, passt man nicht auf.“
Nun bot sie ihm den Bernstein. Es war ein Stück, taubeneigroß, sonnenflüssig, darin eingeschlossen kleine Pflanzenteile.
„Der ist sehr schön“, sagte Markus, „Bernstein – und was hat’s um ihn für eine Geschichte?“
„Er braucht keine, oder –“, Anne überlegte, „du musst sie finden. Ich schenke ihn dir nämlich. Du – ist mein Kostbarstes!“
Markus freute sich. Er fragte: „Aber fällt es dir nicht schwer?“
„Doch“, sagte Anne ehrlich, „es fällt mir schwer!“
Am Morgen des dritten und letzten Tages seines Sonderurlaubs an der Samlandküste schrieb der Soldat Markus dem zwölfjährigen Mädchen Anne ein Gedicht:
Und die Düne
macht ihren steilen Kniefall –
da ist das Meer, uralt,
urweit
im bleiernen Horizont.
Da zieht auch die Wildgans der Kindheit
mit Nils Holgerson,
sein Haferschopf
malt goldene Zeichen
am Himmel.
Natterzüngig lispeln die Wasser.
Auf grauem Stein äugelt
die Eidechse,
schnellschwänzig, urweise:
Ich weiß einen …
So einsam
steht meine seltene Schwester,
die Stranddistel,
und wartet immer.
Markus lag bäuchlings dünenauf zwischen Fischernetzwänden und hochgezogenen Booten, die schwer und verwittert wie ausgetretene Pantoffel auf den Gelbstreifen dösten.
Markus wartete. Er stand öfter auf, blickte den Strand entlang, aber das Mädchen kam nicht.
Es war windstill, und die See leckte in winzigen Wellen das Ufer. Markus schlief ein.
Der Leutnant Wittzuber sagte mit der Stimme des alten Pfarrers Knaak, der ihn konfirmiert hatte: Im Namen des Führers werden Sie, Markus, für den Abschuss von hundertsieben Yaks zum Major befördert. Er heftete ihm blond geflochtene Zöpfe auf die Schultern. Aber nein, wollte Markus schreien, die gehören doch – da stand vor ihm das Mädchen Sybille, es trug ein eng anliegendes rotes Samtkleid, das mit einer Schleppe zu Boden ging. Sie hatte ihm die Fingerspitzen gereicht, durch rote Glasfenster tönte Orgelmusik, nach der sie Figuren tanzten.
Auf einmal merkte er, dass es gar nicht das schmalnasige, immer etwas kühle Gesicht Sybilles war, nicht ihre braunen, dicken Flechten, die zu einer Krone gesteckt waren. Blonde Zöpfe baumelten zu beiden Seiten, und die grauen oder grünen Augen Annes, die ernst, pfiffig, traurig – aber immer direkt blickten, sahen ihn an. Auf der Stirn die Falte und die Unterlippe trotzig vorgeschoben, sagte sie – und nun war der Raum blau, ihr Kleid blau, und es schallte wie in einer Kirche: Du bist nichts für unsereins. Unsereins, unsereins – warf das Echo weiter. Markus prügelte mit den Armen auf den Schall ein. Er wachte auf, sah über sich die Augen des Mädchens grau oder grün.
„Hast du geträumt?“, fragte sie. „Du sahst so wild aus.“ Dachte: Ach du, mein lieber Elchritter, nun hab ich deinen Schlaf belauscht. Du weißt gar nicht, wie schön das ist.
Markus schüttelte den Traum von sich. „Komm baden, Anne“, forderte er.
„Nein, Markus“, sagte das Mädchen, „heute nicht, morgen. Als ich gestern Abend heimkam, war mein Vater da. Er ist aus der Stadt gekommen, um nach dem Rechten zu sehen. Weil ich mich den ganzen Tag herumgetrieben hab, so sagen sie, muss ich heut drin bleiben, Englisch lernen. Er ist jetzt ein bisschen spazieren gegangen, da hab ich Gerda gebettelt, nur, um es dir zu sagen.“
„Morgen?“ Markus sah das Mädchen von unten herauf an, wie er es tat, wenn ihn etwas bewegte. „Ach, Prinzessin, da müssen wir uns wohl verabschieden. Morgen rollt es schon mit mir gen Osten – und das ist Russland!“
Das Kind saß im Sand. Ihm waren die Worte gestorben. Dann warf es sich ohne Überlegung an Markus, umklammerte ihn mit seinen dünnen Armen, drückte den Kopf an seine Brust und schrie es fast: „Nein, Markus, du darfst nicht weg, du darfst nicht. Ich habe dich doch eben grad gefunden. Bleib bei mir. Und wenn du drei Soldaten bist … Sie schießen dich tot in dem ollen Russland! Geh nicht!“ Sie wurde immer maßloser. Schluchzte: „Und ich will auch tot sein!“
Gegen Tränen hatte Markus noch nie etwas vermocht. Er strich dem Mädchen übers Haar. „Wein’ doch nicht“, sagte er, „du darfst nicht weinen!“
Das Mädchen erschrak plötzlich darüber, dass es sich an Markus festhielt. Es stand auf, setzte sich abseits, weinte weiter vor sich hin.
Markus verfluchte sich, dass er ihr etwas gesagt hatte – und was nutzte es, im Leben aufeinanderzutreffen, wenn der Schmerz des Trennens den Gewinn des Begegnens auszulöschen vermochte. Vermochte er? Was war ihm das Kind?
„Markus“, sagte das Mädchen, als ihm die Tränen vertropft waren, „aber – da muss man sich doch behalten!“ In der Stimme schwang Hoffnung.
Sie waren den fahlen Strand entlanggewandert und hatten sich, nun, da der Mond wie eine riesige Apfelsine am Himmel anrollte, weit ab von den verödeten Strandkörben und den in ihrer Schwärze unheimlich wirkenden Fischerbooten, von denen einige zum Fischfang in den Horizont auszogen, auf einen riesigen Steinbrocken, der im Wasser ruhte, gesetzt.
Sie saßen beieinander, umspannten mit den Armen ihre Knie. Markus hatte es nicht übers Herz gebracht, dem Mädchen ihren Vorschlag, sich abends noch einmal zu sehen, auszureden. Obwohl er ahnte, dass sie ausgekniffen sein musste.
Er war am Nachmittag zu Annes Sandburg gezampert, hatte den Seegrasteppich und das Brett gehoben und den Wunderkarton herausgeholt. Dahinein hatte er das Gedicht gesteckt, hatte es noch mit einem Datum versehen und dem Satz: Ja, wir behalten uns.
„Schau“, sagte Markus, „der Mond hat uns zu Ehren seinen goldenen Läufer ausgelegt, das macht er immer nur für zwei, die gut miteinander sind.“
Da wünschte Anne, mit Markus auf der Mondbahn zu schwimmen. Sie schwammen nebeneinander, und wenn eines von ihnen den Arm aus dem Wasser zog, tropfte es golden an ihnen herunter. Markus wusste, dass es beinahe zu schön war. Wusste aber auch, dass es ihnen bleiben würde.
„Alles zusammen habe ich aber in deinem Bernstein, Prinzessin“, sagte er, als er das Kind heimgeleitete.
Das Mädchen lächelte, als der Vater es ins Haus zerrte …
Als er es gelesen hatte, sagte er lange nichts.
Es brauchte seine Zeit.
„Ja“, sagte er dann, „wie gut auch für mich, wenn es so hätte sein können! Es hat mich betroffen – darum mein Stummsein bisher. Aber ich weiß auch etwas: Wir sind uns ja begegnet und – so ist das mit uns!
Darum aber“, und er lächelte, der Mann, er hatte sein halbes Leben schon gelebt oder mehr, lächelte, sagte: „Aber weil das so ist mit uns, meine liebe Prinzessin, will ich nun wissen, wie es wirklich war mit dir!“
Also machte ich meine Ausstellung …
Christine hatte eine Schürze,
Die war von ganz besonderer Kürze,
Sie hing sie nach hinten sozusagen
Als Matrosenkragen
Bertolt Brecht
Das muss die Seele sein, was da wehtut, dachte das Kind. Es ließ die Hände für einen Augenblick auf den Tasten liegen. So ist also: eine Seele haben. Man merkte es am meisten beim Klavierüben, dass man eine hat, weiß auch genau, wo die liegt und wie sie aussieht. Das ist aber verschieden. Von Toten jedenfalls sind sie rund, die Seelen, und durchsichtig.
Hatte das Kind lange in die Sonne geguckt, so sah es sie. „Seelen sind unsterblich“, hatte der Religionslehrer gesagt. Sie schwirrten also nun durch die Luft, und das Kind war sicher, das es sie nur allein sähe und niemand anders sonst, nicht einmal sie!
Aber die Seelen beachteten das Kind nicht, schwirrten unbeirrt irgendwohin, man konnte sogar durch sie hindurchgehen.
Seine eigene Seele sah das Kind nicht, es lebte ja noch, aber die, wusste es, dehnte sich aus, war mitten in einem. Und war es besonders schlimm mit dem Wehtun, dann weinte die Seele wohl, und die Tränen berieselten die ganze Brust da innen.
Das war vorhin bei dem Beethovenmenuett oder bei dem ziemlich schweren Stück von Philipp Emanuel Bach. Und manchmal bemerkten es auch die anderen, dass man eine Seele hatte. „Das Kind spielt heute wieder mal so beseelt“, sagte sie dann, und ihre großen, meist traurigen Augen wurden etwas dunkler. Das Kind hatte immer das Gefühl, die Augen würden dabei tiefrot und warm, aber auch das sagte es nie.
„Du sollst Klavier üben, hat deine Mutter gesagt“, die Topfdeckelstimme ließ sofort die Musiktränen in die Seele zurückfließen. „Phö, hast mir gar nichts zu sagen, du Dienstbolzen“, rief Christine zur Küche hin, besann sich aber doch, rekelte sich auf dem Klavierhocker hoch. „Gerade sitzen, Mädchen, Haltung!“, hörte sie Elfriede Kaminsky, die Klavierlehrerin, trällern, alles, was die sagte, sagte sie in Terzen und Quarten, immer musste das Kind an glockige Seidenkleider denken. Aber sicher war das nur, weil Elfriede Kaminsky solche trug bis zum Knöchel hin. „Die hat darunter ganz dicke Beine“, hatte Renate ihr zugeflüstert.
Nun wollte sie doch noch mal spielen, damit die Kaminsky nicht wieder was von mangelhafter Technik redete, warf den einen Zopf zurück, der wieder nach vorn gefallen, hin- und hergeschwänzelt war und sie hinderte. Dabei fiel ihr ein, dass sie sich heute wieder einmal ums anständige Kämmen gedrückt hatte. – Anständig – nannte sie es und rupfte dann einem so am Kopf herum, dass die Tränen einfach von allein kamen.
Sie fasste kurz an die Stelle, wo die Haare zu zwei Seiten hin abgescheitelt waren und wo sie einen verfilzten Haarwust wusste, der undurchkämmbar gewesen war. Manchmal nahm man einfach eine Schere, aber das merkte sie sofort beim nächsten Kämmen, also war der Haarknoten einfach zur einen Zopfhälfte hin versteckt worden. Sie schlug Clementi auf, da kannten sich die Hände schon ganz gut aus, und es klang nach was Schwerem. Die Seele allerdings blieb diesmal still, nur die Hände liefen mit den Augen über Klavier und Notenköpfe hin, aber die Gedanken …
Als das Kind heute Morgen erwacht war, traf der Blick zuerst das Fenster. Sonne? Dann die violette Tapete mit den in grüner Farbe abgezirkelten Rhomben, darin wiederum grüne Blumenkörbe. – Da war erst mal alles Bedrohliche des Tages. Also die Augen wieder zu, fester noch in Zudecke und Kopfkissen gekrochen. So jeden Tag – außer Sonntag. Da war die Tapete weniger lila und weniger grün, denn da blieb Zeit, im Deckbett Landschaften zu bauen. Berge mit geheimnisvollen Gängen, Schluchten und Meere oder Wüsten. Räuber lebten darin oder Karawanen, und Abenteuer hätten sich über den ganzen Vormittag hin ereignen können.
Heute in das erste Kuscheln hinein ein Gedanke: sie ist fort. Sie ist ja heute wieder verreist. – Aufatmen! Ooch, kein Kämmen, keine Haferflocken, kein „wie war’s in der Schule“, oder was sie sonst immer zu fragen sich ausdachte. – Dann plötzlich die Augen weit auf: Zimmer und Tapete sargschwarz, trotz Sonne vor dem Fenster. Sie ist wirklich wieder weggefahren, und für vier Wochen! Blieben nur der Vater – nur Gerda. In den Zimmern würden die Möbel zu Ungeheuern wachsen, und die Schule erst. Vier Wochen, jeden Tag. Lieber sollte sie schimpfen.
Diesmal kroch das Kind tief ins Bett, den Atem eine Weile anhaltend.
Dann fiel ihm etwas ein; Bettdecke hoch, Tapete wieder lila mit grünen Rhomben, und mit nackten Füßen durch die Zimmer getapst. Schubladen auf, alle, die sich öffnen ließen, und durchwühlen.
„Was machst’n du da?“ Gerda war ins Zimmer gekommen.
„Geht dich nischt an, ich suche“, da das Kind aber nicht wusste, was es suchte – das war’s ja gerade: die Überraschung –, suchte es nach einer Antwort, „das Glück“, fiel ihm plötzlich ein.
Das Mädchen ging kopfschüttelnd mit dem Frühstücksgeschirr der Eltern hinaus.