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In diesen drei Texten erzählt die Autorin mit viel Wärme und Verständnis und einem Blick für Details sowie mit für den Leser unerwarteten Wendungen von Leben, wie sie hätten sein sollen oder zumindest können und wie sie abweichend von ursprünglichen Träumen tatsächlich waren. So endete das Leben des Vaters von Onkel Alfred, dem Helden der dritten Erzählung, tragisch: Nachdem Onkel Alfreds Vater mit dem kleinen Sohn von seinen Montagearbeiten in Riga ins heimatliche Aue zurückgekehrt war, tat er etwas Fürchterliches. Er hängte sich auf! Und wir erfahren noch von einer anderen Liebe des Uhren- und Brillen-Reparateurs: In der Pause kam der Geiger an unseren Tisch. Er reichte Onkel Alfred die Hand und sagte: Nanu, Alfred, du wirst doch nicht unsolide? Mit so einer jungen Frau? Warum sollte ich nicht, antwortete Onkel Alfred in einer für seine Art ungewohnten Keckheit. Erklärte dann aber dass ich seine Nichte sei. Auch in den beiden anderen Erzählungen geht Schulz-Semrau auf Spurensuche: In „Karalautschi“ erzählt sie von ängstlichen Kindheitstagen und quälenden Klavierstunden sowie von einem seltsamen Abkommen mit Gott, dem Allesfresser: Auf meinem Schulweg, der natürlich immer mit irgendetwas, das ich vergessen, nicht ordentlich oder gar nicht erledigt hatte, beschwert war, kam ich an der Konditorei Kaiser vorbei. Ich verweilte kurz vor den gefüllten Schaufenstern und begann mit meinem Ablasshandel. Also, lieber Gott, heute bekommst du zehn Stück Bienenstich, zehn Sahnerollen, fünfzehn Streuselschnecken, zehn Marzipanschnittchen, zwanzig Windbeutel, fünfzig Baiser mit Schlagsahne (das aß ich selbst am liebsten), .... In der Titelgeschichte „Gerda, das Nuschtchen“ setzt sich die Autorin mit den Themen gelungenes und nicht gelungenes Leben auseinander: Die todkranke Mutter der dreizehnjährigen Gerda bittet die „Gnädige“, bei der sie zusätzlich zu ihrer Arbeit an der Wäscherolle beim Hausputz hilft, sich um ihre Tochter zu kümmern. Als die Frau drei Tage später stirbt, wird die (fast) fensterlose Speisekammer als Schlafraum für das Mädchen hergerichtet, das ein Jahr später die Schule verlässt und die entlassene Dienstmagd ersetzt. Gerda hält auch auf der Flucht aus Königsberg ihren „Herrschaften“ die Treue und trägt in der schweren Nachkriegszeit mit ihrer Hände Arbeit in der neuen Heimat Tangermünde ganz wesentlich zur Ernährung bei. Ganz allmählich und sehr zaghaft entwickelt sich bei Gerda etwas Selbstbewusstsein, die nun die Frau nicht mehr „Gnädige“ nennt.
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Seitenzahl: 91
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Elisabeth Schulz-Semrau
Gerda, das Nuschtchen
Drei Erzählungen zwischen Königsberg und Tangermünde
ISBN 978-3-86394-360-8 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien 2007.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
Manchmal blicklos, nach innen gekehrt das andere.
Längst verlorene Stapfen im flüchtigen Sand der Wanderdüne, so gelb. Landeinwärts das Haff, meins, in ölbraunem Ton kindwarmer Erinnerung. Bunt bewimpelter Kurenkahn, sein Schmuck.
Unser Spiel: Schlösser mit elf Türmen, Schluchten, grundwassertief, bewacht von Matzkies, dem älteren, das Gesicht, diese Landschaft, netzgeteilt.
Und einen Vogelzug weiter, minutenlang aus Urzeit tretend, der Bruder Elch, Vergangenheitsgeflecht im Geweih, Vorwurfsglimmen in den Lichtern -
Das lang gestreckte Zimmer der Großmutter war so etwas wie die Erdachse meiner ersten Jahre.
Hier verbrachte ich die wenigen heilen Stunden meiner Kindheit. In meinem Elternhaus in Karalautschi, Tragheimer Kirchenstraße siebzehn, waren meine Tage von Ängsten durchwoben.
Angst vor dem alten strengen Mann, meinem Vater, vor den plötzlichen Launen meiner schönen, umschwärmten Mutter, Angst vor der Schule, vor dem Alleinsein, vor dem Zusammensein.
Angst war irgendwie das Vorzeichen all meiner Handlungen.
Dagegen hatte ich ein seltsames Abkommen mit Gott geschlossen.
Auf meinem Schulweg, der natürlich immer mit irgendetwas, das ich vergessen, nicht ordentlich oder gar nicht erledigt hatte, beschwert war, kam ich an der Konditorei Kaiser vorbei. Ich verweilte kurz vor den gefüllten Schaufenstern und begann mit meinem Ablasshandel. Also, lieber Gott, heute bekommst du zehn Stück Bienenstich, zehn Sahnerollen, fünfzehn Streuselschnecken, zehn Marzipanschnittchen, zwanzig Windbeutel, fünfzig Baiser mit Schlagsahne (das aß ich selbst am liebsten), davon ... und davon ... Danach folgten Bestellungen aus dem Milchladen und aus der Fleischerei.
Manchmal reicherte ich die Lebensmittelladung rasch noch ein wenig an, es konnte ja sein, der Gott war nicht zufrieden, würde mir also auch nicht genügend zur Seite stehen, wenn mich das Leben am Wickel hatte.
Er musste wohl nach meiner Vorstellung unheimlich essen können, dieser Gott, schließlich war er allmächtig.
Und darum reichte es auch völlig, ihm all die Dinge nur zu wünschen. Wie sie ohne Komplikationen und ohne Lebensmittelkarten aus den Geschäften zu ihm gelangten, war mein Problem schon nicht mehr.
Die Geborgenheit im Zimmer meiner Großmutter, aber auch das begriff ich zu spät fast, kam vor allem von der Persönlichkeit meiner Tante Ella her.
Bei Tante Ella gab es das beste Essen der Welt. Hühnerfleisch oder dünne Brotscheiben, deren Rinden abgeschnitten waren, mit duftender Butter und köstlicher Wurst. Ihre vier jüngeren Brüder, Landwirte alle, kamen aus dem Masurischen nie nach Karalautschi, ohne bei Tante Ella Station zu machen.
Was Essen betraf, war ich von meinen Eltern nicht verwöhnt.
Und natürlich versuchte meine Mutter auch hier ihren berühmten Blick, der, wenn Leute fragten, möchtest du noch etwas, mich sofort antworten ließ: Danke, ich bin satt.
Denn es gehörte sich nicht, mehr als ein Häppchen von einer Speise zu sich zu nehmen.
Lass bloß das Kind essen, sagte meine Großmutter drohend, das e zum ä hin, also äßen.
Würdig, in schwarze Kleider mit Puffärmeln, Spitzenjabots oder Samteinsätzen kleidete Tante Ella ihre Mutter. Nie sah ich ein helles Kleidungsstück an ihr.
Einmal hängte man ihr ein goldenes Kreuz um den Hals, und es nahm sich wie eine schwere Last an dem dünnen Frauchen aus.
Aber vielleicht kam der Eindruck vielmehr von dem Mann, der dieses Mutterkreuz überbrachte. Er steckte prall in einer goldfarbenen Uniform und strahlte gegenüber der Verletzlichkeit der Greisin eine erdrückend gewalttätige Gesundheit oder Männlichkeit aus, die das ganze Zimmer einzunehmen schien. Tante Ella riss, sofort nachdem er weg war, die Fenster weit auf, und der Orden wurde ins Kästchen zurückgelegt, blieb allerdings an diesem Tag für alle sichtbar auf der Nähmaschine liegen.
Überhaupt die Nähmaschine.
Man konnte sie einklappen. Versenkbar, sagte Tante Ella, eine Singer. Für mich ein wichtiges Möbel in Großmutters Zimmer.
Für meine Tante sollte sie ungleich wichtiger werden. Sie würde damit für sich und zwei andere kranke Menschen in schwerster Zeit Leben ernähren.
Meist, wenn ich zu Besuch kam, war auf der Nähmaschine eine Überraschung für mich aufgebaut. Zum Geburtstag aber fand ich in jedem Jahr, neben meinen neu eingekleideten Puppen und selbst gebackenem Kuchen, etwas, wozu meine Mutter selten Zeit verschwendete, mein Allerschönstes: Gezuckerte Erdbeeren, frisch gepflückt, aus Tante Ellas Garten.
Und -
Heiligabend, nach dem Mittagessen.
Schwarzsauer hatte es gegeben; meine Mutter musste wie üblich tadeln, ich äße mit langen Zähnen.
Ich kämpfte wirklich mit den schwärzlich geronnenen Blutflocken um den grauen, runzligen Gänseflügel, der mir zugeteilt worden war. Die Tatsache dieses Tages ließ es mich schaffen. Sie bekämen es fertig, mich sogar heute vor der grässlichen Suppe bis zum Abend sitzen zu lassen.
So stand unserm Aufbruch nichts mehr im Wege. Edith, Martha, Gerda oder wen wir gerade hatten, durften an diesem Tag Angehörige besuchen, wir, die Eltern und ich, gingen zur Großmutter.
Und da die Zeit durch meine Sampelei, wie meine Mutter feststellte, ziemlich vorgerückt war, wurde zu meiner Erleichterung beschlossen, wenigstens eine Tour zu fahren.
Wir gingen auf unserer Straßenseite an den vier Häusern bis zur Tragheimer Kirche entlang, überquerten die Fahrbahn zur Hohenzollernstraße hin, gingen den sanft gebogenen Straßenschlauch hoch bis zum Steindamm, bogen rechter Hand um die Ecke, um dort auf eine der beiden möglichen Straßenbahnen zu warten.
Bis die Bahn heranzuckelte, liebäugelte ich mit den Süßigkeiten im Schaufenster von Tengelmann oder starrte voll Widerwillen in den Fischladen daneben, auf die rosafarbenen Krabben, die mich an dicke Würmer erinnerten.
Während all der Zeit und noch in der Straßenbahn zupfte meine Mutter an mir herum.
Da hatten meine Strümpfe Röllchen, ein goldfarbener Knopf mit Anker war womöglich am Matrosenmantel verloren gegangen, und man hatte es zu Hause nicht bemerkt, ein Zopf löste sich, oder die Matrosenmütze, die die Inschrift "Schlachtschiff Gneisenau" hatte, musste über den Mantelkragen gezogen werden. Schlimmer war, meine Mutter spuckte aufs Taschentuch, um irgendwelche dunklen Spuren aus meinem Gesicht zu rubbeln.
Dazwischen meines Vaters Belehrungen: "Grade, Mädel, Schultern zurück! Lächle, leg die Stirn nicht so in Falten!" Und es konnte auch sein, dass er mich mit Multiplikationsaufgaben oder Geschichtszahlen examinierte.
Die zweite Haltestelle war der Nordbahnhof, jener, den ich liebte, von hier aus konnte man in einer halben bis vollen Stunde die verschiedenen Ostseebäder erreichen. Meist hatten wir uns von Mai bis August irgendwo eingemietet, und ich war täglich zur Schule gefahren.
Das Haus Ziethenstraße achtzehn, ein Doppelhaus übrigens, gehörte der Tante oder dem kriegsversehrten Onkel.
Nun ist es wirklich Zeit, zu klingeln, wir stehn vor einer Tür im ersten Stock rechts.
Ein Spalt nur wird geöffnet und - wie jedes Mal - guckt die Tante erst vorsichtig, schlägt dann mit gekonnter Überraschung die Hände zusammen.
Jetzt wird die Tür aufgerissen, aus der gegenüberliegenden Küchentüre schlägt warmer Kuchengeruch, umhüllt uns, lässt das Kind erwartungstaumlig in Großmutters Zimmer treten.
Omchen wird auf die Stirn geküsst, oder ist es schon die Zeit, wo ich auf Empfehlung der Mutter meiner erschrockenen Großmutter die Hand zu küssen hatte?
Auf der Nähmaschine steht eine sorgfältig gearbeitete Holzscheune mit all den Figürchen, die von alt her bekannt sind. Die Krippe hat farbige Fenster, ein Licht dahinter lässt mich in die Weihnachtsgeschichte ein.
Ich höre nicht auf die Gespräche der Großen, ich habe mir die Fußbank vor die Nähmaschine gerückt und schaue.
Neben der Krippe steht eine Vase mit Tannenzweigen, einige Kugeln und Lametta hängen daran. Es gibt bei Tante Ella keinen Weihnachtsbaum.
Aber was ist Weihnachten ohne Baum? Mich wird am Abend ein riesengroßer erwarten. Und darum habe ich, wenn wir am späten Nachmittag mit unseren Geschenken fortgehen, so etwas wie Trauer um die Zurückbleibenden. Denn was werden sie nun am Abend machen? Ihr Weihnachten ist ja schon vorbei. Aber mich beschäftigt Tante Ella noch längere Zeit.
Da gab es Geschichten, die sie, ich weiß nicht, warum, immer ein bisschen lächerlich machten. So war sie mit ihrer großen Liebe, einem Herbertchen, am hellen Tag unter einem Regenschirm spazieren gegangen, um von Eltern, Geschwistern oder Kunden nicht gesehen zu werden.
Dass meine Mutter sie natürlich sah und unverzüglich beim Vater verpetzte, fand ich, die ich sonst Klatsch hasste, so lustig wie meine Mutter.
Sechzehn war Ellachen im Jahr neunzehnhundertsiebzehn, und das Herbertchen fiel wenige Monate darauf im ersten Weltkrieg, der für mich so märchenhaft wie die Schlacht im Teutoburger Wald war.
Die Ella hatte grackliche Beine, was krumm heißt, und eine lange Nase, und - sie war man bloß Bankangestellte geworden, und dass sie sich auch sonst unpassend benahm, erlebte ich ja selbst und hörte es von den Eltern.
Sagte sie doch zu einem Gast unseres Hauses, indem sie die Hand von seinen Lippen fortzog: "Ich bin nicht gnädig, mein Herr, gnädig ist nur unser Herrgott, ich heiße Frau L."
"Ella können wir nicht mehr einladen, sie passt einfach nicht zu uns", sagte meine Mutter.
Tante Ella war eine lch-seh-ich-seh-was-du-nicht-siehst ...
Da hatte meine Mutter einmal meine Sehnsucht, verwöhnt zu werden, genutzt und mich mit einem Brief zu ihr gesandt.
Ich bin über die Beethovenstrecke gekommen, am Samlandweg ausgestiegen, habe ihre Überraschungsschreie genossen, nun aber beugt sie sich über meinen Kopf, ruft voll Entsetzen: "Künd, du hast ja Loäuse!"
Ich hatte eine ungefüge Mähne, jeden Morgen gab's beim Kämmen Geschrei, Haarewaschen wurde von Kind und Mutter gehasst. So wurde diese Unannehmlichkeit der Tante zugeschoben.
Läuse aber fürchtete ich mindestens so sehr wie Schlangen. Also ließ ich mich in die Wanne treiben, meine Haare bearbeiten. Aber - ein bisschen Rache war schon vonnöten - plötzlich packte ich Tante Ellas Kopf, zog ihn zu mir hinunter und stukte ihn, ihre Olympiarolle begann sich schon zu lösen, unter Wasser.
Ich ertrug alle Prozeduren in der Begeisterung dieses Schabernacks und Tante Ella nahm den Spaß an.
Ach, was ich alles bei ihr tun durfte. Und was alles nicht bei meinen Eltern!
Schon wenn die Mutter immer sagte: "Warum muss ich so ein hässliches Kind haben?"
Obwohl Großmutter und Tante Ella sagen, die Mutter solle sich nicht versündigen, und die Leute meinen, das Kind sei niedlich oder ganz hübsch mit seinen Zöpfen.
Meist braucht das Kind keine Hübschheit oder Hässlichkeit auf seinen Wegen. Es spielt lieber Hexe als Schneewittchen. Nur an Sonn- und Feiertagen, wenn es in feine Kleider gesteckt wird, macht es ein unlustiges Gesicht, und die Freundinnen sagen: "Warum bist du so finster?"
Vier Monate mindestens ist die Mutter in jedem Jahr verreist. Das ist schmerzhaft, aber es gibt auch Freiheit.
Hat sich die Wohnungstür hinter der Mutter geschlossen, versiegen die Tränen, und die Erschütterung über ungewohnte Umarmungen lässt nach. Das Kind rennt durch die Wohnung, reißt Schranktüren auf, durchsucht Schubladen und Fächer, stülpt Taschen um. Etwas findet sich immer. Und wenn es Pfennige sind. Wie es sich ergibt, ersteht man dafür Salmiakpastillen, Brausepulver, Waffelbruch, Eis.
Oder - man geht die Tragheimer Kirchenstraße in Richtung Nordbahnhof hoch. Ecke Tiepoldstraße dringt molkiger warmer Dunst aus dem Milchgeschäft, da wechselt das Kind die Straßenseite, steht ein bisschen vor einem Gartentor und guckt.
Ein großes rotes Gebäude hinten im Garten gelegen. Die Tierklinik. Das Kind hat dort bereits einige Male mit seinen nicht ganz reinrassigen Hunden gesessen. Und es ist zweimal heulend und ohne seinen Hund daraus zurückgekommen. Danach beschließt es, Tierarzt zu werden, dann werden nicht mehr so viele Tiere sterben müssen.
Ein bisschen weiter huscht es ganz schnell an einem Haus vorbei. Man hat die Klavierstunde geschwänzt und mochte jetzt nicht dem Fräulein Kaminski begegnen.
Die beginnt den Unterricht bei ihren vielen Schülern mit: Es geht hurtig durch Fleiß, oder eine Gans hat dicke Füße. Ansonsten ist sie streng. Sehr streng. Das Kind fürchtet die Stunden. Nie hat es für die Lehrerin genug geübt oder nicht das, was es soll.