Back for Good - Stephan Rehm Rozanes - E-Book

Back for Good E-Book

Stephan Rehm Rozanes

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Beschreibung

 Hyper, Hyper: Alles über den Sound der 90er  Die 90er lassen uns nicht los. Nie wieder gab es so viele neue Genres, die den Sound eines Jahrzehnts prägten. Aus Seattle kam der Grunge, aus England der Britpop, aus Kalifornien Crossover und Nu-Metal, aus Florida die Boygroups, aus Ostberlin Techno, aus Stuttgart, Heidelberg und Hamburg der erste Deutschrap. Doch wie konnte all dies entstehen? Wer waren die wegweisenden Stars und welche Spuren hinterließen sie? Stephan Rehm Rozanes und Fabian Soethof porträtieren die faszinierende Musik der 90er in all ihren schillernden Facetten – ein mitreißender Streifzug durch den bis heute nachhallenden Sound der vielleicht letzten großen Dekade der Popmusik. Mit Backstreet Boys, Blur, Echt, Guns N' Roses, H-Blockx, The Kelly Family, Madonna, Nirvana, Oasis, R.E.M., Take That, Scooter, Spice Girls, U2 und vielen anderen. »Die 90er bedeuteten Unbeschwertheit und Aufbruchsstimmung. Das Lebensgefühl unserer Generation lautete: Uns kann nichts aufhalten.« DJ BOBO 

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Stephan Rehm Rozanes / Fabian Soethof

Back for Good

Warum uns die Musik der 90er nicht loslässt

Reclam

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist ausgeschlossen.

 

2024 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: FAVORITBUERO

Coverabbildung: CD-Player: © Sasha Pankevych / shutterstock.com Muster Hintergrund: © Wasitt Hemwarapornchai / shutterstock.com

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2024

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962314-6

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011481-0

www.reclam.de

Inhalt

Playlists zum Buch: Can I click it? Yes, you can!

»Hi, my name is – what? My name is – who?«: Vorwort

»Come as You Are«: Der Hype und der Tod des Grunge

Aus der Not entstand die Tugend

Kurt Cobain mochte Pearl Jam nicht

Die Revolution fraß ihre Kinder

Post-Grunge, Alternative Rock und Grunge-Revivals

»Champagne Supernova«: Die Regentschaft des Britpop

Lager than Life: ein neues Lebensgefühl

Swinging Sixties: Zurück zu den Anfängen

Von Blair zu Blur, von Mr. Bean zu Baby Spice

The Battle of Britpop

Majestätsbeleidigungen, Todeswünsche und Swastika-Phantasien

Britpop ist tot!

»Ghetto Supastar«: US-Hip-Hop übernimmt das Feld

Walk This Way: Ein Crossover bringt den Durchbruch

Conscious Rap, G-Funk und Gangsta-Rap

East Coast vs. West Coast: Der Beef eskaliert

Can’t Nobody Hold Puff Daddy Down

Push It: Female MCs sorgen für die wichtigsten Impulse

Empire State of Mind: Der Kreis schließt sich in der Geburtsstadt New York

»Hammer-Hammerhart«: Deutschrap dominiert die Jugendzimmer

Krauts with Attitude: Es wird ernst

Der erste Beef: Stuttgart vs. Rödelheim

Nordisch by Nature: Hip-Hop-Hauptstadt Hamburg

Beats aus Benztown: Freundeskreise von Nord bis Süd

From New York to Germany: Höhepunkt und Crash

Die Gangster waren gestern, hier kommen die Schwestern

»The Age of Love«: Zu Techno tanzen wir durch die Zeitenwende

Friede, Freude, Eierkuchen – der Megamikrokosmos Loveparade

Von Düsseldorf über Detroit und Chicagonach Berlin

Scooter und Schlümpfe – Techno wandert vom Club in die Kinderzimmer

Rave-o-lution: der Second Summer of Love

Beats & Buffalos: die Raving Society und die Grenzen einer Utopie

»Block Rockin’ Beats«: Jungle, Drum ’n’ Bass, Trip-Hop und Big Beat durchbrechen die Grenzen zwischen Electro und Rock

Welcome to the Jungle: Die Ursuppe brodelt

Massive Attacken aus Bristol und Portishead

Wir starten jetzt die Feier: Die Gitarren und Granaten des Big Beat

Destroy 2000 Years of Culture: Die Abrissbirne des Digital Hardcore, Beats aus dem Häcksler und Happy-Stampf

Bond und Bowie: Die Beats bringen den Mainstream zum Tanzen

History Repeating: Die Erben des Drum’n’Bass

»There’s a Party«: Eurodance beschallt Kleinstadt-Kirmes und Großraumdiskotheken

Ma-ra-Fra-si zwischen Autoscooter und Großraumdisko

Tekkno ist cool

Herz an Herz mit Hardcore Vibes

Wo und wie die Eurodance-90er bis heute nachwirken

»Wind of Change«: Das letzte Aufbäumen des Classic Rock

Türen zum Osten, Pforten der Wahrnehmung

College-Rock in den Charts: R.E.M. verlieren ihre Religion und gewinnen die Herzen

Guns N’ Roses im Größenwahn, Bono in Berlin

Werbeclips und MTV Unplugged: Rockstars aus der Röhre(njeans)

Rock-Opas erobern die Jugend: Das Mega-Comeback von Aerosmith

Balladen, Bombast und eine Bat out of Hell

You Oughta Know: Frauen übernehmen das Rock-Ruder

Willkommen im Jurassic Park: Rock’n’Roll can never die

»Everybody Hurts«: Alternative Rock macht aus Schwächen Stärken

Das Ende der Fönfrisuren

Die Plattenfirmenriesen erkennen das Indie-Potential – Music for the new masses

Orgeln und One-Hit-Wonder

Breite Beine und Beautiful Freaks

Als die Außenseiter plötzlich in der Mitte standen

Männer können seine Gefühle doch zeigen

Zeremonienmeister und Großmaul Corgan

Alternative Rock diesseits des Atlantiks

Alternative Rock in Deutschland

»You Are Not Alone«: Das große Finale des Mainstream-Pop

Black and White: Michael Jackson vereint sie alle … noch

You Must Love Me: Madonnas Jahrzehnt der Extreme

Damen, Dramen und Balladen

Yee-Haw! Country dominiert die US-Charts

Ich wär’ so gerne Millionär: Deutschpop feiert Riesenerfolge

La vida loca: Die Spanische Revolution

»Step by step, ooh baby!«: Girl- und Boygroups

Vom Barbershop über die Beatles bis zu den Backstreet Boys

Hinter jeder erfolgreichen Boy- oder Girlgroup stand ein geschäftstüchtiger Mann – außer bei Tic Tac Toe

Blender und Betrüger

Nehmt das, feiert und singt: »Neeever forget where you’ve come here from«

Lifes Thru a Lens

»If you wanna be my lover, you gotta get with my friends«

»Ich find dich sch-sch-sch-sch-sch-scheiße«

Kinderstars Kelly Family

Von NKOTBSB über BTS bis Bro’Zone

»Exit Light, Enter Night«: Das Gesundschrumpfen und Wiedererstarken des Metal

Die Plattenfirmen wollten Grunge statt Metal

Waackeeeeeeen!!!!

Rob Halfords Coming out

Metal nach der Jahrtausendwende

»Move ya!«: Crossover-Hassliebe »Rock trifft Rap«

Crossover, wie wir ihn kennen

»Bring that shit on!«

Crossover in Europa und Deutschland

Ausnahmeband Such a Surge

Wie es mit Crossover weiterging

»Für Tocotronic waren wir Szeneverräter«: Interview mit Henning Wehland (H-Blockx)

»Kommst du mit in den Alltag«: Der Deutsch-LK der Hamburger Schule

Fast weltweit: Vor Hamburg kam Bad Salzuflen

Das Goldene Zeitalter

Auf dem Weg nach oben

Dead School Hamburg: I can’t relax in Deutschland

Klassentreffen: Was ist aus den Hamburger Schüler:innen geworden?

»Time to Say Goodbye«: Nachwort

Anmerkungen

Literaturhinweise

Bücher

Filme

Tafelteil

Abbildungsnachweis

Playlists zum Buch: Can I click it? Yes, you can!

Jedes der Buchkapitel wird von einer Playlist mit 15 zentralen Songs des jeweils behandelten Genres begleitet. Per Scan des folgenden QR-Codes könnt Ihr diese bequem direkt abrufen und abspielen. Es erwarten Euch 210 Stücke, von bitter-süßen Sinfonien über Ghetto-Hymnen bis zu ganze Wohnblocks erschütternden Beats. Manchmal wird es hammer-hammerhart, manchmal »juicy«. Solange Ihr den Groove im Herzen tragt, ist es dabei ganz egal, ob Ihr wie Phil Collins nicht tanzen könnt oder Euch ausgelassen zum Humpty-Dance schüttelt. Und falls Ihr nach unserer Auswahl Lust auf mehr habt – Ihr wisst ja: There’s so gut wie No Limit!

 

Die Playlists findet Ihr unter www.reclam.de/backforgood bzw. unter:

»Hi, my name is – what? My name is – who?«: Vorwort

»And I say, hey-ey-ey

Hey-ey-ey

I said, hey, what’s going on?«

 4 Non Blondes: »What’s Up?«, 1992

Die 90er waren in vielfacher Hinsicht das Letzte. Sie waren nicht nur das finale Jahrzehnt des alten Jahrtausends. Sie gelten im Rückblick auch als die letzte große, den Hedonismus der 80er Jahre auf die Spitze treibende Party, als Kurort einer neuen deutschen Spaßgesellschaft zwischen Drogen, Loveparade und RTL Samstag Nacht. In dieser Dekade dominierten die letzten großen Weltstars Bühnen, Charts und Magazine: Ikonen wie Michael Jackson, Madonna, Prince, Elton John, selbst Politiker wie Bill Clinton, Gerhard Schröder oder Tony Blair wurden zu Celebrities. Die Promi-Kultur trieb wunderliche Blüten, Sternchen wie Anna Nicole Smith und Pamela Anderson wurden zu Spielbällen jener Klatschpresse, die sie einst großmachte. Reality-TV wurde dank MTV und Big Brother zum next weird thing. Doch nach dem ausgefallenen Crash, den der Millennium-Bug vermeintlich hätte auslösen können, wurde und blieb es ernst: Die New Yorker Twin Towers stürzten infolge des Terroranschlags vom 11. September 2001 ein und die westliche Welt geriet in den Strudel der Permakrisen des 21. Jahrhunderts. Ja, auch in den 90ern gab es Kriege und Skandale. Aber bei aller unnötigen Verklärung und Nostalgie: So unbedarft und sorgenfrei wie damals wird unser jetziges Leben wohl nicht mehr werden.

Wo viel gefeiert wird, da läuft auch viel Musik. Und dort waren die 90er ebenfalls das Letzte: Nie wieder gab es so viele neue Genres, die den Sound eines Jahrzehnts prägten. Wer heute in Deutschland an Plakaten vorbeiläuft, die eine 90er-Revival-Party bewerben, könnte meinen, es habe damals nur Trash gegeben: Blümchen, Rednex und E-Rotic, Eurodance auf den Bravo Hits. Aber es gab so viel mehr: Aus Seattle kam der Grunge, aus England der Britpop, aus Kalifornien der Crossover und Nu Metal, aus Florida die Boygroups, aus Ostberlin der Techno, aus Stuttgart, Heidelberg und Hamburg der erste Deutschrap. Zum Beispiel.

In unserem Buch Back for Good, offensichtlich benannt nach einer der berühmtesten Pop-Singles der 90er, geht es uns genau darum: Wie konnten diese Genres entstehen? Wo kamen sie her? Wo gingen sie hin? Wer bereitete ihnen den Weg, wer waren die Protagonist:innen? Wie beeinflusste man sich gegenseitig? Welche Spuren hinterließen sie für nachfolgende Generationen?

Jedes Kapitel widmet sich einem Genre und mit ihm verbundenen Fragen wie: War Kurt Cobain wirklich die Stimme einer Generation – und warum mochte er Pearl Jam nie? Blur oder Oasis – wer sind die wahren Könige des Cool Britannia? Inwiefern haben Tic Tac Toe den Feminismus und spätere Rapperinnen beeinflusst? Kreischten Teenies bei den Backstreet Boys und der Kelly Family wirklich so laut wie damals bei den Beatles? Und wer war denn nun zuerst da: Die Fantastischen Vier oder Advanced Chemistry? Von Shirley Manson und DJ Tomekk über Tobi Tobsen und Nilz Bokelberg bis hin zu Ellen Allien und DJ Bobo lassen wir Zeitzeug:innen und Expert:innen zu Wort kommen. Sie teilen persönliche Anekdoten, gewähren uns Blicke hinter die Kulissen, in die Machenschaften entscheidender Medien, und erinnern uns daran, dass trotz aller damaliger Aufbruchstimmung früher eben auch nicht alles besser war; vor allem Shirley Manson und Bernadette La Hengst wissen als mindestens von strukturellem Sexismus betroffene Frauen davon traurige Lieder zu singen. Die 90er sind vorbei, im eben erwähnten Schlechten, aber auch im Guten, was uns Oasis-Mastermind Noel Gallagher vor Augen führt: So eine Generationen vereinende Band wie seine könnte es heute nicht mehr geben. Heute leben wir in sozialen Bubbles, enger miteinander vernetzt als je zuvor, aber auch gespalten wie lange nicht.

Wir denken also nicht für den Kick für den Augenblick wehmütig an die 90er zurück. Sondern weil sie sich nicht länger in Fetenhits-Partykellern mit Winamp-Playlists verstecken müssen. Die 90er lassen uns sicht- und spürbar nicht los. Nostalgie funktioniert gerade im Pop noch immer gut. Nicht umsonst besagen Ergebnisse wie etwa die einer 2018 vom Streamingdienst Deezer durchgeführten Umfrage, dass bei über 30-Jährigen der Wunsch abnimmt, neue Musik zu entdecken, und, wenn überhaupt mal wieder Zeit dafür ist, lieber die aus der eigenen Jugend zu hören. Vielleicht fühlt Ihr Euch als Leser:in sogar angesprochen und habt aus ähnlichen Beweggründen zu diesem Buch gegriffen? Unter Event-Namen wie »Die 90er live« geben sich die Vengaboys, Reel 2 Real, Whigfield, Caught in the Act und Turbo B von Snap! das Halb- oder Vollplayback-Mikro in die Hand. Die 90s Super Show lockt unter anderem mit Tania Evans (»Original Voice of ›Mr. Vain‹«), East 17, Loona, Twenty 4 Seven, Rednex, Oli P., DJ Quicksilver und Jay Frog (»Member of Scooter«), moderiert von Mola Adebisi. Tickets gibt es ab 19,90 Euro, VIP-Tickets inklusive Drinks & Buffet kosten 199 Euro. Sogar eine 90er-Kreuzfahrt auf der Aida wird feilgeboten. Vermutlich ohne Titanic-Screening.

Heutige Teenager tragen wieder bauchfrei, Baggy-Pants, Daunenjacken, Buffalos und Popo-Scheitel, Serien wie Friends, Sex and the City und Der Prinz von Bel-Air feiern Revivals, dem Horrorfilm Scream wurde 2023 ein sechster Teil verpasst, Keanu Reeves erforscht wieder die Matrix und ein siebter Teil von Jurassic Park ist ebenfalls angekündigt. Die Backstreet Boys gehen mit den New Kids on the Block unter dem Namen NKOTBSB auf Tour. EDM-DJs remixen Fools Gardens »Lemon Tree«, Liquidos »Narcotic« und »Blue« von Eiffel 65. Deutschrap-Produzent:innen bedienen sich an Eurodance-Elementen. Blur verkaufen das Wembley-Stadion aus, John Frusciante spielt wieder mit den Red Hot Chili Peppers. Kurt Cobain ist seit 30 Jahren tot, sein Erbe im Sound neuer, oft weiblicher Gitarrenbands aber so lebendig wie nie. Und gerade weil die Welt da draußen durch Angriffskriege, Pandemien, Klimakatastrophe und Social-Media-Doomscrolling immer unerträglicher wird, sehnen sich viele Ü-30er, aber auch jüngere Menschen zurück in die vermeintlich gute alte Zeit – und wollen in Clubs jetzt erst recht feiern, als ob es kein Morgen gäbe. Weil es zumindest vielleicht kein Übermorgen mehr gibt. Fakt ist: Wer das popkulturelle Hier und Jetzt verstehen will, sollte die 90er in der Tiefe kennen.

»Come as You Are«: Der Hype und der Tod des Grunge

(1990–1994)

Der Durchbruch von Nirvana bedeutete nicht nur eine Zäsur für die Gitarrenszene Seattles. Er bestimmte die Rockmusik eines ganzen Jahrzehnts und erschütterte die bis dahin geltenden Gesetze der Branche weltweit.

»Oh I, oh, I’m still alive

Hey, I, I, oh, I’m still alive

Hey I, oh, I’m still alive«

 Pearl Jam: »Alive«, 1991

Grunge starb am selben Tag wie sein berühmtester Vertreter. Am 5. April 1994 nahm sich Nirvana-Sänger Kurt Cobain im Alter von 27 Jahren in seinem Haus in Seattle das Leben. Dass auch das Genre am Ende war, zeichnete sich bereits seit jenem Tag ab, an dem alle Welt von seiner Existenz erfuhr: Am 11. Januar 1992 verdrängte Nirvanas zweites Album Nevermind Michael Jacksons Dangerous von Platz 1 der US-amerikanischen Charts. Drei ungewaschene Slacker vor dem King of Pop? Es handelte sich um nichts Geringeres als eine Zeitenwende, denn plötzlich hatte Rockmusik den Hochglanz-Pop kommerziell überholt. Doch zugleich markierte dies auch den Anfang vom Ende Kurt Cobains.

Selbst die Tagesthemen berichteten am 8. April 1994 darüber: Nach einer Überdosis Heroin erschoss sich »Kurt Kohben«, wie Sprecherin Sabine Christiansen seinen Namen aussprach, mit einer Schrotflinte. Sein Leichnam wurde erst drei Tage später von einem Elektriker entdeckt. Den Abschiedsbrief an seine Frau, Hole-Sängerin Courtney Love, die damals anderthalbjährige Tochter Francis Bean sowie an die Welt da draußen, an der er zugrunde ging, beendete er mit einem Zitat von Neil Young: »It’s better to burn out than to fade away«, »Es ist besser, auszubrennen als zu verblassen«. Cobain trug damit, mutmaßlich unfreiwillig, zu seiner eigenen Legendenbildung bei. In die Pop- und Rocktrivia wurde er, neben anderen mit 27 Jahren verstorbenen Stars wie Jimi Hendrix, Janis Joplin und Jim Morrison in den »Club 27« aufgenommen, Bekleidungsketten verkauften Flanellhemden, zerrissene Jeans und Chucks als Komplett-Outfit, Designer wie Marc Jacobs und Hedi Slimane brachten weitere Grunge-Looks auf die Laufstege. Der Mainstream pervertierte die eigentlichen Absichten von Cobain und den meisten seiner Mitstreiter:innen. Der enorme Charterfolg von Nevermind bewies ja, dass mit der Vermarktung von Antihaltung plötzlich Geld zu verdienen war. Fortan galt dieser schüchterne, unscheinbare, intelligente, bisweilen sehr humorvolle und psychisch labile Typ erst recht als die Ikone des Grunge, die er schon zu Lebzeiten nicht sein wollte; als John Lennon der Generationen X und Y. Wie konnte es so weit kommen, und was geschah danach?

Aus der Not entstand die Tugend

Die Ursuppe aller Bands, die eines Tages als Vertreterinnen des Grunge gelten würden, köchelte in den 80ern zunächst im US-Bundesstaat Washington. Auf den großen Bühnen der Welt propagierten Hardrock-, Glam- und Popmetal-Bands wie Bon Jovi, Mötley Crüe, Europe, Def Leppard und Van Halen Machismo und Hedonismus mit großen Gesten und relativer Radiofreundlichkeit. Währenddessen fanden sich in Seattle und Umgebung Gruppen zusammen, die, wenngleich unbewusst, einen Gegenentwurf schufen. Die bekanntesten von ihnen hießen Melvins, Green River, Soundgarden und Malfunkshun. Ihre Melodien klangen dissonant, ihre Instrumente verstimmt, ihre Sänger verzweifelt. Sie trugen eine so destruktive wie disruptive Energie in sich. Obwohl es in Enzyklopädien und Fachforen etliche Einträge über technische Ähnlichkeiten von Gitarren über Verstärker und Drumkit-Durchmesser bis zu Effektpedalen gibt: Musikalisch, so behaupteten es Jahre später fast alle Mitglieder in den Geschichtsbüchern der Rockmusik, für die sie interviewt wurden, hätten sie nicht viel gemein gehabt. Die einen mögen von Punkrock beeinflusst gewesen sein, von Black Flag oder den Ramones, die anderen von Black Sabbaths Metalspielart, wieder andere von Indie- und Noiserock von Bands wie Sonic Youth, Pixies und Hüsker Dü. Einig waren sie sich alle nur in einer Sache: Mit dem Begriff »Grunge« konnte und wollte niemand etwas anfangen. Außer ihren Epigonen.

Übersetzt bedeutet das einst als Adjektiv genutzte Wort so viel wie »dreckig, abstoßend«. In Musikkritiken fiel es angeblich immer wieder mal – im Zusammenhang mit Bands aus Seattle und Umgebung aber zuerst im Jahr 1987. Für den Katalog des damals schon legendären Szene-Labels Sub Pop beschrieb Co-Gründer Bruce Pavitt den Sound der Dry as a Bone-EP ihres Signings Green River als »gritty vocals, roaring Marshall amps, ultra-loose GRUNGE that destroyed the morals of a generation«, also »grobe Texte, röhrende Marshall-Verstärker, ultra-lockerer Grunge, der die Werte einer Generation zerstörte«. Hintergrund dessen war nicht nur die technische, songwriterische und moralische Herangehensweise an die Musik, sondern auch die wirtschaftliche. Die Produktion von hochpoliertem Rock war schlichtweg zu teuer. Hinter dem Begriff Grunge steckte deshalb auch von Beginn an eine Lo-Fi- und Do-it-yourself-Attitüde, die mitunter einherging mit mangelnder Professionalität, aber nicht mit fehlender Leidenschaft. Cobain benannte in einem seiner letzten Interviews den anderen Sub-Pop-Gründer Jonathan Poneman als Schöpfer des Wortes, das er wegen der Kommerzialisierung der Musik so hasste.

Mindestens zwei der Mitglieder der 1984 gegründeten Band Green River sollten nach deren Auflösung 1988 die ganz große Karriere machen: Während Sänger Mark Arm und Gitarrist Steve Turner Mudhoney ins Leben riefen, gründeten Gitarrist Stone Gossard und Bassist Jeff Ament zusammen mit Gitarrist Mike McCready und einem in Chicago geborenen Surfer aus San Diego namens Eddie Vedder 1990 Pearl Jam, die für ein paar Monate Mookie Blaylock, benannt nach einem Basketballspieler, hießen. Ein für das Genre im Nachhinein prägender Moment, den es nur wegen eines Todes so hat geben können: Aments und Gossards Interims-Band Mother Love Bone wurde damals der Durchbruch prophezeit. Dazu kam es nicht, weil deren flamboyanter Sänger Andrew Wood am 19. März 1990 an einer Überdosis starb – ein Schicksal, das sich leider als typisch für ein Gros der charismatischsten Protagonisten des Genres erweisen würde. Die späteren Pearl-Jam-Mitglieder nahmen zu Ehren Woods gemeinsam mit dessen ehemaligem Mitbewohner Chris Cornell, damals schon Sänger bei Soundgarden, unter dem Namen Temple of the Dog ein Album auf. Der Song »Hunger Strike« mit Eddie Vedder als Zweitstimme sollte als die vielleicht berührendste Ballade in die Annalen des Grunge eingehen.

Pearl Jams Debüt Ten erschien im September 1991 und damit innerhalb von wenigen geschichtsträchtigen Wochen, in denen auch Alben wie Nirvanas Nevermind, Soundgardens Badmotorfinger, Guns N’ Roses’ Use Your Illusion I & II, Red Hot Chili Peppers’ Blood Sugar Sex Magik und Metallicas »schwarzes Album« herauskamen, auf die wir in den Kapiteln zu Classic Rock, Alternative Rock und Metal noch zu sprechen kommen. Gleich die erste Single »Alive« bescherte ihnen den Durchbruch: Eddie Vedder verarbeitete darin die Tatsache, dass er erst als Teenager erfuhr, dass sein vermeintlicher Dad, der Partner seiner Mutter, nicht sein leiblicher Vater ist. Danach erst nannte Ed Mueller sich Vedder, so wie auch sein leiblicher Vater hieß. Er schickte Tapes mit seinem Gesang nach Seattle, weil er vom allerersten Drummer der Red Hot Chili Peppers, Jack Irons, hörte, dass in der Stadt wer wen suchte – der Rest ist Rockgeschichte.

Auch Vedder gab sich schüchtern und auf der Bühne beinahe lebensmüde. Unvergessen etwa der Auftritt beim niederländischen Pinkpop-Festival 1992, als er auf einen fahrenden Kamerakran kletterte und zu einem waghalsigen Stage Dive ansetzte. Doch Pearl Jam haben trotz Rückschlägen wie der Roskilde-Tragödie 2001, als neun Menschen im Publikum starben, weil die Menschenmassen ob der zu leisen Boxen in Richtung der Bühne drängten, ihre Szene und viele Protagonisten überlebt. Sie sind eine touring band, ihr zwölftes Album Dark Matter ist im April 2024 erschienen. Neben Nirvana und Soundgarden gehörten Pearl Jam zu den Big Three des Grunge, obwohl selbst ihnen vorgeworfen wurde, sie würden auf einen Zug aufspringen wollen.

Kurt Cobain mochte Pearl Jam nicht

Einerseits waren Pearl Jam Fremdkörper, ja: Diese Hemden! Diese Ballonhüte! Diese Offenheit zum Hardrock und Glam! Kurt Cobain mochte sie nie. Pearl Jam, deren Name eine Hommage an eine Marmelade mit halluzinogener Wirkung von Vedders Großmutter Pearl ist, erschienen ihm zu kommerziell. Cobain warf Pearl Jam vor, die Ästhetik der florierenden Subkultur Seattles zu adaptieren, um daraus mit ansonsten vergleichsweise konventioneller Rockmusik Profit zu schlagen. Er, der mit seiner Band ein Angebot ausschlug, mit Guns N’ Roses auf Tour zu gehen (»Das wäre Zeitverschwendung gewesen«), nannte sie und Alice in Chains gar »corporate puppets«, »Business-Marionetten«, die den Ruf der echten Bands wie Nirvana kaputtmachen würden. Im Interview mit dem Fanzine Flipside 1992 wurde er noch konkreter:

Diese Bands bewegten sich seit Jahren in der Haarspray- und Cockrock-Szene, und plötzlich waschen sie sich nicht mehr die Haare und tragen Flanellhemden. Es beleidigt mich, dass Bands aus LA nach Seattle ziehen und behaupten, sie lebten dort ihr Leben lang, damit sie einen Plattendeal bekommen.

Ein Jahr später revidierte Cobain, der andersherum während und nach Nirvanas Durchbruch überwiegend in Los Angeles lebte, seine Aussage. Ihre Musik möge er zwar noch immer nicht, aber anstatt der Band selbst hätte er wohl lieber Pearl Jams Plattenfirma Epic Records angreifen sollen, die aus Nirvanas Erfolg eine Formel ableiten wollte.

Andererseits konnten Pearl Jam schon deshalb nicht Nevermind kopiert haben, weil, Funfact, ihr Debüt Ten Wochen zuvor aufgenommen wurde. Wer beide Platten kennt, weiß zudem, dass sie außer der Zeit, der Szene und der Stadt, in der sie entstanden, nicht viel gemein haben. Was Cobain und Vedder dafür einte, wenngleich Cobain das anfangs anders sah, war ihr Misstrauen gegenüber dem Mainstream. Nein, Pearl Jam haben sich musikalisch nie so verweigert wie Nirvana auf ihrem letzten Album In Utero aus dem Jahr 1993. Das besteht im Grunde aus (von Steve Albini produzierten) Demoaufnahmen, die ihr Label Geffen für unmöglich hielt. Aber auch Vedder boykottierte den Sellout durch MTV, drehte nach »Jeremy« (1991) über Jahre hinweg keine Musikvideos mehr und trat den David-vs.-Goliath-Kampf gegen den De-facto-Konzertkartenmonopolisten Ticketmaster an: Pearl Jam gingen rechtlich gegen in ihren Augen deutlich überhöhte Ticketpreise für ihre eigenen Konzerte vor, Ament und Gossard sprachen sogar vor dem US-amerikanischen Kongress – und verloren. Zu behaupten, dass Pearl Jam auch deshalb weiter existierten, weil sie sich mit der Niederlage abfanden, mag an Schönrederei grenzen. Aber auffallend ist es schon.

Ein weiterer Höhe-, Tief- und Wendepunkt in der Geschichte des Grunge war die Liebeskomödie Singles – Gemeinsam einsam, so ihr Titel in Deutschland. Cameron Crowes Versuch, einerseits die Sinnsuche der Generation X am Beispiel einer Musikerclique in Seattle abzubilden und andererseits an den Kinokassen damit Geld zu machen, erschien am 18. September 1992, also ziemlich genau ein Jahr nach Ten, Nevermind und Badmotorfinger – und scheiterte verhalten. Matt Dillon spielte den erfolglosen Sänger Cliff Poncier (und trug am Set Klamotten von Pearl Jams Jeff Ament), Bridget Fonda seine eigentlich unglückliche Freundin. Drei Pearl-Jam-Mitglieder waren als Teil der fiktiven Band Citizen Dick zu sehen, auch Soundgarden und Alice in Chains schauten kurz vorbei. Schon wieder wirkten Vedder und Co. dort wie Fremdkörper, obwohl der Film ja eigentlich den Alltag von Menschen wie ihnen abbilden und, naja, romantisieren sollte.

Zugutehalten muss man Crowe erstens, dass die Dreharbeiten schon im März 1991 begannen und damit zu einer Zeit, in der noch nicht absehbar war, wie erfolgreich Nevermind einschlagen, wie kommerziell vielversprechend Grunge werden würde. Zweitens hat sich Singles durch seinen Soundtrack hochverdient gemacht: Darauf zu hören waren unter anderem The Replacements’ Paul Westerberg, Jimi Hendrix, Mother Love Bone, Chris Cornell, Screaming Trees, Alice in Chains und The Smashing Pumpkins – und Pearl Jam mit den zuvor unveröffentlichten Songs und heutigen Fan-Lieblingen »State of Love and Trust« und »Breath«. Der US-amerikanische Rolling Stone wählte den Singles-Soundtrack 2019 auf Platz 19 seiner Liste der »50 Greatest Grunge Albums«. Er verkaufte sich über zwei Millionen Mal, wurde in den USA mit Zweifach-Platin ausgezeichnet und damit einer der ersten kommerziell hoch erfolgreichen Soundtracks eines Jahrzehnts, in dem etwa mit Pulp Fiction, Above the Rim – Nahe dem Abgrund und Trainspotting noch viele weitere folgen würden.

Die Revolution fraß ihre Kinder

Mit Nirvanas Erfolg hatte niemand gerechnet: Im September 1991 gab Geffen optimistisch 50 000 Tonträger in den US-Handel. Die Hoffnung des Majorlabels war, dass Nevermind sich eines Tages 250 000-mal verkauft haben würde und damit so viel wie Sonic Youths Goo. In der ersten Woche verkaufte Nevermind nur 6000 Einheiten. Nach Radioeinsätzen, TV-Auftritten und der MTV-Videopremiere von »Smells Like Teen Spirit« aber wuchsen die Absätze exponentiell. Plötzlich gingen pro Woche 300 000 Alben über die Tische, bis Nirvana damit im Januar 1992 schließlich neben Michael Jackson auch U2, Garth Brooks und MC Hammer in den Charts hinter sich ließen. Kaufkräftige Teenager und junge Erwachsene hatten offenbar keine Lust mehr auf perfekte Produktionen und Songwriter, die mit ihrer Lebenssituation nichts gemein hatten. Den auf der Gitarre gespielten Basslauf von »Come as You Are« klauten Nirvana bei der britischen Rockband Killing Joke. Sein Drumspiel, erklärte Dave Grohl Jahrzehnte später in einem Interview mit Pharrell Williams, hatte er sich fast 1:1 bei Funk- und Disco-Acts wie The Gap Band, Cameo und Tony Thompson abgeguckt. »Polly« wurde aus der Sicht eines Kindesentführers und -vergewaltigers geschrieben und gesungen. Der Opener »Smells Like Teen Spirit« war benannt nach dem Deo, nach dem Cobain laut Bikini-Kill-Sängerin Kathleen Hanna einmal roch. Inspiriert vom Pop-Moment der Pixies und geschrieben als alberner Versuch eines Hardrock-Klischees in Hommage an Bands wie Boston, wurde »Smells Like Teen Spirit« nicht nur Nirvanas größter Hit und der wichtigste Grunge-Song aller Zeiten. Das bahnbrechende Stück gilt auch genreübergreifend als das vielleicht prägendste der 90er. Über dessen Entstehung, Aufbau, Musikvideo, Rezeption und Nachahmer – man höre etwa The Offsprings »Self Esteem« – könnte man eigene Kapitel verfassen. Die Dämme waren gebrochen: Grunge wurde zum Verkaufsschlager, seine Protagonisten wider Willen zu Sprachrohren ihrer Generation hochgejazzt. In seiner 2021 erschienenen Autobiographie The Storyteller erinnerte sich Dave Grohl daran, dass Kurt Cobain in Gesprächen mit Majorlabels durchaus erklärte, dass Nirvana die größte Band der Welt werden sollte. Erst als sie es wirklich wurde, kam er damit nicht mehr zurecht. Nach dem Film Singles folgten die Modekollektionen auf Laufstegen und in den Fast-Fashion-Ketten, die Vogue fotografierte unter dem Titel »Grunge & Glory« Supermodels wie Naomi Campbell und Nadja Auermann in entsprechenden Outfits, auch Karl Lagerfelds Kollektionen wurden davon »inspiriert«. Grunge ereilte das gleiche Schicksal wie Punk zuvor: Seine ausgemachten Gegner vereinnahmten ihn. Danach wurde mit messbaren Erfolgen gerechnet.

Nirvana 1991: Krist Novoselic, Kurt Cobain und Dave Grohl

Natürlich machte das etwas mit Cobain, Vedder, Cornell und Co., ob sie wollten oder nicht: Nirvana ignorierten nach außen hin die Erwartungshaltungen ihres Labels Geffen an einen Nevermind-Nachfolger und reichten statt Rockradiosingles ungemasterte, deutlich rohere Songs namens »Rape Me« ein. Ein Hit wurde Cobains letztes Studioalbum dennoch: In Utero wurde fünfmal mit Platin ausgezeichnet und auch von Kritiker:innen gefeiert. Pearl Jam versuchten mit ihrem zweiten Album Vs. ihrer Antihaltung einerseits und ihrem Faible für Wut, Rockgestus, Pathos und Storytelling andererseits treu zu bleiben. »Spoonman« und »Black Hole Sun« von Soundgardens viertem Album Superunknown (1994) gewannen einen Grammy. Niemand von ihnen machte noch in der gleichen Echokammer Musik wie zu Beginn des Jahrzehnts. Nirvana gaben im November 1993 ein legendäres MTV Unplugged-Set in New York, bei dem sie ein letztes Mal beweisen würden, wie sehr man selbst mit dem Bruch von Erwartungshaltungen ein Publikum für sich gewinnen kann: Statt Akustikversionen ihrer Hits »Smells Like Teen Spirit« oder »Lithium« zu spielen, coverten sie David Bowie, The Vaselines, Leadbelly und The Meat Puppets und schrieben damit erneut Rockgeschichte. Kein Fan von Gitarrenmusik, der diesen Auftritt nicht auf VHS mitgeschnitten und sich die CD-Veröffentlichung ein Jahr danach gekauft hätte. Sein letztes Konzert würde Cobain keine fünf Monate nach MTV Unplugged geben, am 1. März 1994 in München. Dem heroinsüchtigen Sänger ging es anhaltend schlecht, die Tour wurde abgebrochen. Vier Wochen später war Cobain tot und mit ihm der zuvor noch künstlich am Leben erhaltene Grunge.

Post-Grunge, Alternative Rock und Grunge-Revivals

Der Alternative Rock, mehr dazu im entsprechenden Kapitel, schlug danach wilde Triebe: Nirvana-Drummer Dave Grohl nahm, anfangs als Ein-Mann-Projekt, das gleichnamige Debüt der Foo Fighters auf. Mit denen würde er in den folgenden Jahren zur größten und sympathischsten U50-Rockband der Welt aufsteigen und Humor in Musikvideos zurückbringen. Auch Ü50 und trotz des Todes von Drummer Taylor Hawkins im März 2022 würde sich daran mittelfristig nicht viel ändern – 2023 gingen die Foo Fighters mit ihrem elften Album But Here We Are wieder auf Tour. Nirvana-Bassist Krist Novoselic schlug übrigens keine derartige Karriere ein. Er verdingte sich in diversen kleineren Bands und Projekten und ging zwischenzeitlich in die Politik. Der sogenannte Post-Grunge von wieder testosterongeschwängerten, aber sich sensibel gebenden Breitbein-Bands wie Matchbox 20, Fuel, Creed, Three Doors Down, Nickelback, Puddle of Mudd und Staind verstopfte in den USA die Alternative Charts, während sich in Australien Silverchair als von Nirvana beeinflusste Wunderkinder aufmachten und in England Bush um Sänger Gavin Rossdale ihr an den Seattle-Sound angelehntes, aber im Rahmen dessen durchaus eigenständiges (und erfolgreiches) Debüt Sixteen Stone aufnahmen. In Deutschland hießen die Nutznießer Selig, Vivid, Jonas oder Fritten & Bier, Nilz Bokelbergs Klamauk-Duo, die Alternative-Antwort auf Die Doofen, sozusagen.

Prägend (und ebenfalls von tragischen Schicksalen gezeichnet) sollten noch jene Bands sein, die fast zeitgleich mit Nirvana unterwegs waren: Core, das im September 1992 erschienene Debüt der Stone Temple Pilots aus San Diego, wurde achtmal mit Platin ausgezeichnet. Deren Sänger Scott Weiland starb 2015 mit 48 Jahren – an einer Überdosis. Alice in Chains aus Seattle brachten im selben Monat wie Core ihr zweites Album Dirt heraus. Fünfmal Platin. Deren Sänger Layne Staley starb 2002 mit 34 Jahren – an einer Überdosis. Und die schon vor Nirvana dagewesenen Soundgarden? Fanden im Jahr 2010 wieder zusammen, tourten, brachten Platten heraus, hatten die anstrengendste Phase ihrer Karriere mutmaßlich hinter sich gelassen. Bis zum 17. Mai 2017, als ihr legendärer und an Depressionen erkrankter Sänger Chris Cornell im Alter von 52 Jahren starb – unter Einfluss verschiedener verschreibungspflichtiger Medikamente nahm er sich das Leben. Nicht zu vergessen in dieser traurigen Ahnenreihe ist Mark Lanegan, damals Sänger von The Screaming Trees und danach als Solomusiker und Schriftsteller aktiv. Er starb im Februar 2022 mit 57 Jahren. Todesursache offiziell unbekannt.

Über die Epigonen sagte Ben Gibbard, Sänger und Gitarrist der ebenfalls aus Seattle stammenden Indierockband Death Cab for Cutie, im Gespräch mit Dave Grohl für eine Folge der Foo-Fighters-Musikdoku Sonic Highways 2014:

Das war lustig. Als der Begriff ›Grunge‹ in der Welt war, kamen Bands hierher und wollten wie die anderen sein. Das Wort glich seitdem einer Abwertung. So wie Sunny Day Real Estate eine Emoband genannt wurden, aber in Wahrheit einfach die Ersten waren, die so klangen, und ihnen beschissene Bands folgten, die sie kopierten und ›Emo‹ waren. So auch bei Grunge: Nirvana, Soundgarden, Pearl Jam, sie alle klangen wie sie selbst und hatten wenige musikalische Ähnlichkeiten. Doch plötzlich kamen all diese Kackbands aus Orten wie Temple, Arizona und kriegten Plattendeals.

Modisch erfuhr Grunge zahlreiche Revivals: 2008 und 2013 brachte Designer Hedi Slimane für Yves Saint Laurent die Outfits zurück auf den Laufsteg – diesmal mit offiziellem Support von Cobains Witwe Courtney Love als »Muse«. Sie sagte damals: »Nichts gegen Marc Jacobs, aber er hatte es nie gecheckt. So wie das hier war es wirklich. Hedi kennt seinen Scheiß.« Sie spielte damit auf Marc Jacobs’ Kollektion in den 90ern an, für die er sich auch an Nirvanas Smiley-Logo bediente, das im Grunde ja bereits eine Neuauflage des britischen Rave- und Acid-House-Icons war. Angeblich verbrannten Love und Cobain Jacobs’ Stücke, die ihnen 1993 geschickt wurden. 2016 fand sich Grunge durch A$AP Rocky, Rihanna und Kanye West in der Hip-Hop-Mode wieder, durch eine neue Generation aber auch in der Musik: Der Emo- und Trap-Rapper Lil Peep, Geburtsjahr 1996, brachte einen Track namens »cobain« raus. 2017 starb er mit 21 Jahren – an einer angeblich versehentlichen Überdosis Schmerzmittel.

Verdient heute, über 30 Jahre nach dem großen Grunge-Boom und Cobains Tod, noch irgendjemand Geld damit? Der grüne Cardigan, den Cobain beim MTV Unplugged-Konzert trug, wechselte bei einer Auktion 2019 für 334 000 Dollar den Besitzer. Nirvana-Shirts hängen in den H&M-Filialen, gleich neben solchen von den Ramones, AC/DC und Guns N’ Roses. Die Kids von heute nehmen Kurt Cobain und Nirvana etwa so wahr, wie Angehörige der Generationen X und Y in den 80er und 90er Jahren Jim Morrison und die Doors. Der als Nevermind-Baby berühmt gewordene Spencer Elden verklagte 2021 erfolglos die Nachlassverwalter der Band. Der Vorwurf lautete, sein nackiges, tauchendes Baby-Ich auf dem Cover von Nirvanas berühmtestem Album sei im Grunde Kinderpornographie gewesen. Von der habe er psychischen Schaden davongetragen. Ein unglaubwürdiger Versuch von Geldmacherei, so die öffentliche Mehrheitsmeinung, weil Elden über die Jahre hinweg durchaus immer wieder ein paar Dollar mit seinem Image machen wollte, indem er das Foto nachstellte. Das für die Geschichte des Grunge so wichtige Label Sub Pop aus Seattle hat sich einen neuen Namen durch Indie- und Singer-Songwriter-Platten gemacht. Mudhoney sind immer noch around, ihr elftes Album Plastic Eternity ist 2023 erschienen – so erfolgreich wie die berühmteren Söhne ihrer Stadt werden sie auch damit nicht mehr werden. Eddie Vedder ist der einzige überlebende Frontmann der Big Three. Geschafft haben dürften er und seine Rockband das unter anderem deshalb, weil sie sich frühzeitig von ihrem zugeschriebenen Genre emanzipierten, nicht aber von ihren Einflüssen, ihrer Spielfreude und ihren Fans, die ihnen auf ihren regelmäßigen Welttourneen treu hinterherreisen, so wie es einst die Fans von Grateful Dead taten.

Der eigentliche Paradigmenwechsel Anfang der 90er war ein anderer. Kurt Cobain war nicht nur Aktivist, Feminist und – 20 Jahre vor Erfindung des Begriffs der toxischen Männlichkeit – Kritiker des Patriarchats. Er war im Grunde der erste Emo, der den Mainstream jemals schief angelächelt hat. Vorher sah man auf den Bühnen Axl Rose, Jon Bon Jovi, Steven Tyler, all diese auf Monitorboxen mit aufgestelltem Knie posierenden Typen. Und plötzlich kam da ein Schluffi mit ungewaschenen Haaren und ausgewaschenem Pulli daher und schrie irgendwas von Depressionen und Mulattos, Albinos, Mosquitos sowie seiner Libido ins Mikro. Die eigentliche Emo-Szene fußt eher in Washington, D.C. und im Hardcore, siehe das Alternative-Rock-Kapitel. Dass es aber auch Cobains Verdienst war, dass heute, 30 Jahre später, Mental Health, Sucht und Depressionen unter Rock- und Popstars ernstgenommen werden, dürfte unstrittig sein. Streitbar bloß, weshalb dies so lange dauerte und wieso auch außerhalb des Grunge so viele Tote folgen mussten: Elliott Smith, Vic Chesnutt, Chester Bennington, Avicii, Keith Flint, Aaron Carter. Und so weiter.

Damals, am 8. April 1994, sagte Sabine Christiansen in den Tagesthemen über Kurt Cobain außerdem, dass er die »Stimme einer Generation« gewesen sei, die sich »auf der Suche nach neuen Werten« befand. Dass das nur in Teilen stimmt, wissen wir heute: Als Reaktion auf die Lebensverneinung von Cobain und seinesgleichen entwickelte sich diesseits des Atlantiks eine ganz andere Spielart der Rockmusik. Und damit schalten wir rüber zu Britpop.

»Smells Like Teen Spirit« – 15 Songs, die Grunge prägten

1. Green River: »Swallow My Pride« (1985)

2. Malfunkshun: »With Yo’ Heart (Not Yo’ Hands)« (1986)

3. Mudhoney: »Touch Me I’m Sick« (1988)

4. Mother Love Bone: »Chloe Dancer / Crown of Thorns« (1989)

5. Temple of the Dog: »Hunger Strike« (1991)

6. Nirvana: »Smells Like Teen Spirit« (1991)

7. Pearl Jam: »Alive« (1991)

8. Screaming Trees: »Nearly Lost You« (1992)

9. Alice in Chains: »Would?« (1992)

10. Stone Temple Pilots: »Creep« (1992)

11. The Smashing Pumpkins: »Today« (1993)

12. Melvins: »Lizzy« (1993)

13. Soundgarden: »Black Hole Sun« (1994)

14. Hole: »Violet« (1994)

15. Mad Season: »River of Deceit« (1995)

»Chris Cornell hatte eine Jahrhundertstimme!«: Interview mit Nilz Bokelberg

Mit Nilz Bokelberg kann man stundenlang über Grunge (und viele andere Genres) in seiner Tiefe und Breite sprechen. Zum Beispiel über Eddie Vedders Grinsen, die Schönheit Evan Dandos, Chris Cornells sogenannte »Belting«-Gesangstechnik, den Singles-Soundtrack, Musikfernsehen und über Nilz’ Teenie- und Young-Adult-Jahre, die ihn als Experten ausweisen: Bei Viva wurde er 1994 mit seinen langen blondbunten Haaren und ausgefransten Pullis als süßer Grungeboy eingeführt. Auf ein wenig Geringschätzung hat sich der Moderator, Podcaster, Buchautor, unzynische Fanboy und Musikliebhaber im Eifer des Gefechts dennoch eingelassen, zum Beispiel zu Sätzen wie: »Ich hasse das Unplugged-Album von Nirvana!«

 

Wie definierst du als Fan und Zeitzeuge Grunge?

Grunge war der Gegenentwurf zum Hairspray-Metal. Grunge ist ein kernigerer Alternative Rock als der, der damals als harter Rock galt. Er war aufrichtiger, ehrlicher, schmerzvoller. Grunge hatte viel mit Leid zu tun, war mehr Punk als Hardrock, speiste sich aus dem Punk der 30 Jahre davor und verzerrte ihn nochmal. Grunge wollte die bis dahin bestehende Musikkultur und die Überpräsenz von Rockstars konterkarieren.

 

Im Grunge gab es zwei Strömungen: Bands wie Pearl Jam kamen aus dem Classic Rock, Nirvana eindeutiger von den Sex Pistols und vom Punk.

Diese zweite Strömung gab mir mehr. Für mich war diese Energie so essentiell. Ich hasse das Unplugged-Album von Nirvana, weil darauf alles fehlt, was diese Band ausmachte. Ich mochte die Kraft und das Unheimliche im Grunge, deshalb liebte ich auch Soundgardens Badmotorfinger. Pearl Jams Eddie Vedder hingegen war mir zu jämmerlich. Dieses an Jim Morrison erinnernde Rumgenöle konnte ich nicht leiden. Kurt Cobain war dazu der Gegenentwurf.

 

Und Chris Cornell?

Ein Mann mit einer Jahrhundertstimme. Die war so krass einzigartig. Übrigens ähnlich einzigartig wie die von George Michael, weil er alles immer so glatt gesungen hat. Bei Cornell steckt ein derartiger Druck drin, den man in jeder Sekunde fühlte. Soundgarden waren die Rocker des Grunge.

 

Was hatte Grunge mit deiner Band Fritten & Bier zu tun?

Wir wurden mit Fritten & Bier immer gefragt, welche Musik wir machen. Also erfanden wir das Genre »Comedy Grunge«.

 

Mit dir als Schnittmenge zwischen Kurt Cobain und Wigald Boning?

Vielleicht waren wir sogar die einzige deutsche Grunge-Band! Cucumber Men wurden noch so vermarktet.

 

Welche anderen hiesigen Bands wurden davon beeinflusst? Fury in the Slaughterhouse? Selig?

Es gab eine Entourage von verbandelten Bands: Readymade, Miles und Co. Die Grenzen zwischen Grunge und Britpop verliefen plötzlich fließend.

 

Wo siehst du die Spuren von Grunge im Hier und Jetzt? Wofür war das alles gut?

Grunge war ein wichtiger Katalysator für einen Übergang in ein neues Zeitalter von Musik. Die 90er waren ein besonderes Jahrzehnt mit einer speziellen Erzählung, die 2001 endete. Sie haben zum Beispiel die Hippiebewegung im Techno neu aufleben lassen und darin verkehrt. Grunge machte das mit Rock, drehte die Show zu etwas sehr Persönlichem. Heute hört man Grunge an vielen Stellen heraus. Pop ist und bleibt ein Remix. Billie Eilish etwa macht extrem ruhigen Pop. Hätte sie in den 90ern so ausgesehen, hätte sie Grunge gemacht. Als ein weiteres Puzzleteil von Pop taucht Grunge immer wieder mal auf.

 

Linkin Parks 2017 verstorbener Sänger Chester Bennington war in gewisser Hinsicht der Chris Cornell seiner Generation. Als der Emo-Rapper Lil Peep 2017 starb, hieß es, er sei der Kurt Cobain seiner Generation gewesen. Würdest du das unterschreiben?

Och, weiß nicht! Aber während Corona hat doch dieser tätowierte Typ, Sänger und Rapper, ach ja, Post Malone, ein Nirvana-Tribute gemacht. Habe es nie gehört, soll aber richtig gut sein.

»Champagne Supernova«: Die Regentschaft des Britpop

(1992–1997)

Pünktlich zu Beginn der 90er endeten im Vereinigten Königreich die repressiven Thatcher-Jahre. Britpop war der musikalische Befreiungsschlag. Aber das UK didn’t look back in anger, stattdessen zelebrierten die britischen Girls & Boys, die Mis-Shapes, Mistakes, Misfits ihr Parklife mit Cigarettes & Alcohol.

»I want to live like common people

I want to do whatever common people do

I want to sleep with common people«

 Pulp: »Common People«, 1995

Mit Kurt Cobains Suizid am 5. April 1994 war Grunge passé. Doch die Wachablösung stand in diesem High-Speed-Jahrzehnt längst bereit: Das Vereinigte Königreich wartete nur auf den richtigen Moment, die Krone der Gitarrenmusik wieder an sich zu reißen. Eine neue Bewegung hatte sich formiert, die bald unter dem pragmatischen Begriff Britpop, wenn schon nicht die Welt, dann doch zumindest weite Teile Europas erobern sollte.

Britpop war dabei dezidiert als Antwort auf Grunge gedacht: Im April 1993 zierte Brett Anderson, der androgyne Sänger von Suede, deren himmelstürmendes Debütalbum gerade auf Platz 1 in die britischen Charts ge- nun ja: brett-ert war, bauchfrei das Titelblatt der Musikzeitschrift Select. Vor einen Union Jack drapiert prangte die Überschrift »Yanks Go Home!« auf seiner schmalen Brust. Beides geschah ohne Absprache mit Anderson, doch die Redaktion gierte nach Jahren der US-Dominanz im Pop nach eigenen Ikonen – »Neue Helden«, wie der etwas unglückliche deutsche Untertitel des Films zur Bewegung, Trainspotting (1996), später lauten sollte, brauchte das Land. Zwar war Cobain missionarischer Feminist, trug ostentativ Frauenklamotten, doch bei Suede verschwanden die Geschlechtergrenzen gänzlich: Waren das zwei Herren, die sich da auf dem Cover ihrer ersten LPSuede küssten, oder zwei Damen oder doch Weiblein und Männlein?

Suedes Debütalbum (1993)

Dem staubigen Zerfalls-Charme aus Seattle setzte man die Eleganz und den Hedonismus des wieder swingenden London entgegen. Oasis’ Durchbruchs-Single, die Hymne »Live Forever«, war ein Abgesang auf die Depri-Vibes des Grunge. Songschreiber Noel Gallagher erklärte auf einer Bonus-DVD des Best-of-Albums Stop the Clocks:

Nirvana hatten diesen Song namens ›I Hate Myself and I Want to Die‹, und ich dachte mir nur: Das packe ich nicht. So sehr ich Cobain und den ganzen Scheiß mag, da mache ich nicht mit. Es kann nicht sein, dass solche Leute zu uns herüberkommen, voll auf Heroin, und so Scheiße labern, dass sie sich hassen und sterben möchten. Das ist verdammter Müll. Kids müssen solchen Nonsens nicht hören.

Stattdessen sollten sie sich von den lebensbejahenden Zeilen Gallaghers inspirieren lassen: »Maybe I just wanna fly / Wanna live, I don’t wanna die«, »We see things they’ll never see / You and I are gonna live forever«. Ende der 80er hatte die britische Acid-House-Szene den Smiley zu ihrem Jubel, Trubel, Heiterkeit versprühenden Symbol gemacht. Jetzt grinste er das kaputte Pendant-Logo Nirvanas mit den durchgekreuzten Augen einfach weg.

Lager than Life: ein neues Lebensgefühl

Mit weit offenen Augen und ebensolchen, weil nach sofortiger Zufuhr von Dosenbier lechzenden Mündern ging es in die Parks der großen Städte. Underworlds Schlachtruf »Lager, Lager, Lager« aus Danny Boyles bereits erwähnter Verfilmung des meistgeklauten Romans der 90er, Trainspotting, brach das nationale Begehr nach Losgelöstheit auf ein primitives Motto herunter. Sozialhilfeempfänger:innen gingen auf einmal erhobenen Hauptes aufs Arbeitsamt und johlten dabei die Oasis-Zeilen: »Is it worth the aggravation / To find yourself a job when there’s nothing worth working for?«

Was gehört noch zu einem erfüllten Leben? Richtig, dessen Anfang: Sex. Vielfach besang – und in seinem Spoken Words liebenden Fall: besprach – ihn Jarvis Cocker von Pulp in Stücken wie »Underwear«, »Sheffield: Sex City« und »Pink Glove« und wurde zum Pin-up-Boy der Nerds, während die verspielten Blur um Damon Albarn fast zur Boyband für den Teenie-Markt mutierten, Brett Anderson Mädchen wie Jungs in feuchten Träumen erschien und Liam Gallagher den Kerl vom alten Schlag, den romantischen Rüpel verkörperte. Sexsymbole waren sie alle. Fehlen zur Komplettierung der ewigen Glücksformel Sex & Drugs & Rock’n’Roll noch die Rauschmittel. Sie fanden ihre Würdigung in Stücken wie Blurs vertonter Heroin-Entrücktheit »Beetlebum«, in Pulps »Sorted For E’s & Wizz« und in Oasis’ »Cigarettes & Alcohol«: »You might as well do the white line / Cos when it comes on top … You gotta make it happen!« Genau darum ging’s bei Britpop: das Leben anpacken, aktiv sein, hinein in die Tage und Nächte mit Gebrüll! Vorbei waren die dunklen Tage des Selbstmitleids und der Lethargie.

Blur 1994: Dave Rowntree, Graham Coxon, Damon Albarn und Alex James

20 Tage nach Cobains Tod erschien bereits das die Bewegung prägende dritte Album von Blur, Parklife, und stand noch in den Top 20, als 73 Wochen darauf der Nachfolger The Great Escape nicht nur auf den Markt kam, sondern auch in einen Klassenkampf geriet. Denn die Platte erschien in direkter Konkurrenz zum neuen Werk von Oasis, (What’s The Story) Morning Glory?. Wie die Menschheit eben so tickt, kam es im unmittelbaren Anschluss an den Sieg gegen den übermächtigen Gegner USA bereits zur Lagerspaltung: Hieß es gerade noch David gegen Goliath, standen sich jetzt Nord und Süd gegenüber, Arbeiterklasse gegen den Mittelstand. Eben hatten Oasis (Manchester) und Blur (London) noch am selben Strang gezogen, jetzt waren sie erbitterte Feinde in einem Tauziehen um die Vorherrschaft im Vereinigten Königreich – die »Battle of Britpop« sollte die Nation über Wochen in Atem halten und die begeisterten Boulevardblätter füllen. Um deren Tragweite zu verstehen, müssen wir ein paar Kontexte beleuchten. Gehen wir also zurück zu den Anfängen des Britpop.

Swinging Sixties: Zurück zu den Anfängen

Wir finden sie in den 60er Jahren. Noel Gallagher wurde drei Tage nach Erscheinen des Jahrhundertalbums Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band geboren, er sog die Beatles mit der Muttermilch auf. The Rolling Stones setzten dem Saubermann-Image der Fab Four aus Liverpool harte Straßenattitüde entgegen, landeten im Gefängnis, brachten die ach so jugendgefährdenden Elemente aus den wilden Tagen Elvis Presleys zurück in den Rock’n’Roll und wurden so zur Blaupause letztlich aller nachfolgenden Rockbands. Ray Davies von den Kinks beschrieb seine Landsleute liebevoll, aber auch mit beißendem Sarkasmus, Pete Townshend von The Who zertrümmerte Nacht für Nacht seine Gitarre auf der Bühne und bereitete so den Nährboden für die Punks um die Sex Pistols, die ein Jahrzehnt später »Anarchy In The U. K.« ausrufen sollten. Von entscheidender Bedeutung ist aber eine Band, die nie auch nur ein Album zustande brachte: The Creation gelten als erste Gruppe, die gezielt Feedback und Verzerrer einsetzte. Später wurden sie Namensgeber für eines der zentralen Britpop-Labels, Creation Records, auf dem The Jesus and Mary Chain, Primal Scream und in den 90ern Oasis veröffentlichten. 1982 traten Stephen Patrick Morrissey und Johnny Marr das Erbe der von ihnen so verehrten 60s an und gründeten in Manchester die einflussreichste britische Gitarrenband der 80er Jahre, The Smiths. Der Allerweltsname ist Programm: Morrissey besang in hinreißenden Worten das ganz normale Leben der Briten, Marr versüßte sie mit jubilierenden Jangle-Gitarrenläufen. Nach dem Ende der Band 1987 traten ihre Nachbarn, The Stone Roses, auf den Plan: Auch sie bedienten sich am Klangbild der 60er, verpassten ihm aber ein Update mit modernen Grooves aus der Rave-Bewegung ihrer Heimatstadt, »Madchester«. Ihr Sänger Ian Brown wurde zur Vorlage für Liam Gallagher, was Stil und Schnodder-Haltung betrifft. Umstritten ist, was als erstes Britpop-Album zählt: das meisterhafte Debüt der Band von 1989 oder die ebenso selbstbetitelte erste Platte der La’s aus dem nicht weit entfernten Liverpool. Unbestritten ist dagegen, dass beide das Fundament darstellen, auf dem die kommende britische Gitarrenmusik aufbauen sollte. Allein schon, was die Terminologie betrifft. Bereits 1987 hatte der Autor John Robb in der Zeitschrift Sounds die Musik der Stone Roses, der La’s und der Inspiral Carpets, für die Noel Gallagher später als Roadie arbeiten sollte, als »Britpop« bezeichnet. Das Kind, das sich schnell vom Wunderkind zum trotzigen Rotzlöffel entwickeln sollte, hatte einen Namen.

Von Blair zu Blur, von Mr. Bean zu Baby Spice

Doch wie für jede erfolgreiche Karriere ist neben dem Talent auch stets das Umfeld ausschlaggebend: Britpop stellte keine Ausnahme dar und war schlicht zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Die 80er waren ein Jahrzehnt der kulturellen sowie politischen Hegemonie der USA. Die alles und alle überragenden Musikstars der Dekade hießen Michael Jackson, Madonna, Bruce Springsteen und Prince, den Zeitgeist prägten die »Greed Is Good«-Reaganomics, wie sie Gordon Gekko in Oliver Stones 1987er Blockbuster Wall Street schauerlich gut verkörperte. Während die USA ihr Supersize-Lebensformat in alle Welt exportierten, versauerte das UK unter Margaret Thatcher in sozialen Unruhen, Arbeits- und damit einhergehender Perspektivlosigkeit. Ihr Nachfolger John Major war wenig beliebt und erlebte 1997 eine historische Niederlage, als Tony Blair getragen von seiner »New Labour«-Kampagne in die Downing Street Nr. 10 einzog. Mit seinen knapp 44 Jahren wurde er zum jüngsten Premierminister seit 1812 und entfachte eine Politikbegeisterung in der Jugend, wie es Anfang der 90er Bill Clinton in den USA geglückt war.

Im Rückblick fast unwahrscheinlich passend hatte sich zuvor schon ein anderer britischer Kulturkoloss etabliert: Am 1. Januar 1990 lief die Pilotfolge der neuen Figur des Comedians Rowan Atkinson, Mr. Bean, über die Bildschirme. Exakt zwei Jahre später sahen rekordbrechende 18,74 Millionen Menschen die Folge The Trouble with Mr. Bean. Ein durch und durch britischer Stolpervogel, der das UK wieder auf- und über sich selbst lachen ließ. In der Welt der Kunst empfahl Damien Hirst sich mit radikalen Werken wie einem in Formaldehyd eingelegten Tigerhai zum Weltstar. Nick Hornby definierte mit High Fidelity einen neuen Typus Mann, getrieben von Sensibilität, gepeinigt von Selbstzweifel, und wurde zum Popliteraten der Stunde. Als Antwort auf die US-Boyband New Kids on the Block formierte der Musikmanager Nigel Martin-Smith die Gruppe Take That, die Massenhysterie auslöste und Teenager in den Suizid trieb, als ihr prominentestes Mitglied Robbie Williams im Sommer 1995 ausstieg. Ein Jahr später dominierten die Spice Girls die Radioplaylists und CD-Spieler der Kinderzimmer und wiedererweckten 30 Jahre nach der Beatlemania ein weltweites Interesse für die Pop-Insel. »Ginger Spice« Geri Halliwell kniff Prince Charles in den Po und präsentierte sich auf der Bühne im Union-Jack-Dress, während sich parallel dazu auch Noel Gallagher die Nationalflagge auf die Gitarre lackieren ließ; 1996 schneiderte sie sich David Bowie für einen Mantel auf dem Cover seines Earthling-Albums zurecht. 1999 traten die reformierten Eurythmics in Union-Jack-Anzügen bei den Brit Awards auf. Das Target-Zeichen der britischen Air Force, das schon The Who in ihr Logo eingebunden hatten, wurde zum omnipräsenten Symbol. Vor dem Hintergrund der blauweißroten Kreise prangte der Sticker-Befehl »Buy British« auf Oasis-CDs. Aus dem alten Kampflied »Rule, Britannia« wurde »Cool Britannia«. Noch 1992 hatte Morrissey bei einer Performance seines Stücks »National Front Disco« die Flagge gewedelt und wäre dafür fast als Rassist gecancelt worden. Im Jahr darauf hatten Blur den Bogen des Hurra-Patriotismus überspannt und posierten zur Bewerbung ihres zweiten Albums Modern Life Is Rubbish mit einem Mastiff und Versatzstücken der Skinhead-, sowie der Mod-Mode vor dem auf eine Wand gesprayten Schriftzug »British Image 1«, was ihnen Faschismus-Vorwürfe einbrachte. Erst mit dem eilig nachgeschobenen Motiv »British Image 2«, das die Band als campe Dandys auf einer aristokratischen Vorkriegs-Teeparty zeigte, war die Musikpresse wieder besänftigt.

Spätestens 1995 wurden britische Wahrzeichen völlig unbekümmert eingesetzt. Britpop war der Soundtrack zu einem neuen Selbstverständnis der Briten. Nach Jahren des Zerfalls des Empire war man auf einmal wieder jemand. Und dieser Jemand war in der Regel weiß, männlich und dünn, teilweise sehr dünn. The Return of the thin white Dukes sozusagen, um David Bowie zu zitieren, der sich übrigens so gar nicht dafür interessierte, was seine Landsleute da in den 90ern so berauschte. Für ein paar Saisons schien Nationalismus befreit von all seinen negativen Konnotationen. Heute wird hingegen die Frage diskutiert, ob dieses Sentiment nicht dem Brexit seine long and winding road bereitete. Wichtig ist in dieser Betrachtung festzuhalten, dass Britpop vor allem eine Medienkampagne war. Bands wie Suede graute es vor allem Volkstümelndem.

The Battle of Britpop

Zwei Singles gelten im Frühjahr 1992 als Initialzündung des neuen, alten Sounds: Zum einen »Popscene« von Blur, ein Amalgam aus 60s-Pop, Punk und scharfen Bläsersätzen, zum anderen das elegische »The Drowners« von Suede, die der einflussreiche Melody Maker sogleich als »The best new band in Britain« aufs Cover hob. Aus dem, was ebenjener »Maker« noch kurz davor als »The scene that celebrates itself« abgetan hatte, eine Gruppe von Gitarrenpoppern, die nicht imstande sei, aus ihrer schicken Blase herauszuplatzen, entstand schnell eine Szene, die von allen zelebriert wurde – und die größer war als ihre Einzelteile.