Bahnhofsjunge - Paul Czervan - E-Book

Bahnhofsjunge E-Book

Paul Czervan

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Beschreibung

Wer ist dieser Bahnhofsjunge, der bis zuletzt namenlos bleibt? Ist er eine fiktive Person oder ist er, wie man mutmaßen möchte, der Autor selbst, von dem aus seinen Lebenserinnerungen bekannt ist, dass er dem Reisen und den Abenteuern zugetan ist? Wie dem auch sei. In dieser Erzählung, die beinahe vollständig ohne Dialoge auskommt, geht es um die große, lebens-lange Liebe eines Menschen zur Eisenbahn. Ganz besonders faszinieren den anonymen Protagonisten bis ins hohe Alter die Bahnhöfe, deren Atmosphären sich mit der Zeit wandeln. Im-mer wieder stellt der Vielreisende Vergleiche zwischen den Völkern an, die er - wie seltsam berührend - an den Bahnhöfen abliest. Er bewertet und beurteilt, sehnt sich nach der Vergan-genheit, um im nächsten Moment den Komfort der Gegenwart zu loben. Es ist ein stetiges, ruheloses Abwägen zwischen den Zeiten, die den Bahnhofsjungen als roten Faden beherbergen.

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Buch

Wer ist dieser Bahnhofsjunge, der bis zuletzt namenlos bleibt? Ist er eine fiktive Person oder ist er, wie man mutmaßen möchte, der Autor selbst, von dem aus seinen Lebenserinnerungen bekannt ist, dass er dem Reisen und den Abenteuern zugetan ist? Wie dem auch sei. In dieser Erzählung, die beinahe vollständig ohne Dialoge auskommt, geht es um die große, lebenslange Liebe eines Menschen zur Eisenbahn. Ganz besonders faszinieren den anonymen Protagonisten bis ins hohe Alter die Bahnhöfe, deren Atmosphären sich mit der Zeit wandeln. Immer wieder stellt der Vielreisende Vergleiche zwischen den Völkern an, die er - wie seltsam berührend - an den Bahnhöfen abliest. Er bewertet und beurteilt, sehnt sich nach der Vergangenheit, um im nächsten Moment den Komfort der Gegenwart zu loben. Es ist ein stetiges, ruheloses Abwägen zwischen den Zeiten, die den Bahnhofsjungen als roten Faden beherbergen.

Autor

Paul Czervan ist Jahrgang 1931 und lebt mit seiner rumänischen Frau in der Nähe von Heinsberg. Die Liebe zum Schreiben hat er im reifen Alter von 80 Jahren entdeckt

***

Bis ins Alter von dreieinhalb Jahren kann ich mich an meine Erlebnisse zurückerinnern. Wir wohnten ins Alsdorf bei Aachen. Dort steht noch heute mein Geburtshaus.

Nicht weit von unserer Wohnung gab es ein Spielwarengeschäft mit einer sehr großen Schaufensterauslage, in der neben einer Burg mit Zinnsoldaten eine elektrische Eisenbahn aufgestellt war.

Nachmittags wurde die Anlage eingeschaltet. Plötzlich erwachten die Figuren auf dem kleinen Bahnhof aus ihrer Starre und begannen sich zu bewegen. Dabei mussten sie sich nicht etwa aufraffen; sie zeigten sich agil, als hätten sie überhaupt nicht geruht. Den Bahnhofsvorsteher mit seiner roten Mütze auf dem Kopf, der die Kelle in seiner Hand schwenkt, als ein Personenzug in den Bahnhof einfährt, habe ich mir im Gedächtnis bewahrt. Einige Fahrgäste, zumeist mit Gepäck, warten auf dem Bahnsteig, während auf einem weiteren Gleis ein Güterzug den Bahnhof passiert.

Oft habe ich dort gemeinsam mit anderen Kindern vor dem Fenster gestanden und begeistert zugeschaut. Meine Eltern waren zu dieser Zeit sehr arm und konnten mir und den zwei kleinen Geschwistern keine Spielsachen kaufen. Wenn ich nicht gerade auf meine Geschwister aufpassen musste, lief ich nachmittags zum Spielwarengeschäft. Meine Eltern wussten aber immer, wo ich war.

Meine Mutter betitelte mich schon früh mit „Mein Großer“, was mich sehr stolz gemacht hat. Nicht selten sagte sie: „Mein Großer, pass mal auf die Kleinen auf.“ So lernte ich schon in jungen Jahren, Verantwortung zu übernehmen. Das hat mich für mein Leben geprägt. Ich habe während dieser Jahre ein Beschützerbewusstsein für die „Kleinen“ entwickelt, wie so viele Andere während dieser und zu jeder anderen Zeit, die als ältestes Kind geboren wurden.

Als ich acht Jahre alt war, bekam mein Vater nach drei Jahren Arbeitslosigkeit eine Anstellung auf einer Kohlengrube im 30 Kilometer entfernten Ratheim. Wir zogen in eine Bergmannssiedlung.

Am Tag des Umzugs wurden unsere Habseligkeiten auf einen offenen LKW verladen und wir drei Kinder anschließend oben drauf. Die Fahrt zur neuen Wohnung war ein Abenteuer, als wir aber angekommen waren, durfte ich mich zunächst, solange, bis alles eingerichtet war, nicht entfernen.

Da ich Schulferien hatte, nutzte ich bereits am folgenden Tag die freie Zeit, die Gegend zu erkunden. Zwischen der Siedlung, in der wir nun wohnen würden, und dem eigentlichen Dorf verlief eine Eisenbahnlinie. Als ich am Saum der Siedlung den Schienen folgte, kam ich bald an einen schönen und nach meiner damaligen Einschätzung schon etwas größeren Bahnhof. Gern hätte ich mich weiter vorgewagt, aber der Jägerzaun, vor dem ich eine Weile stand, um das Geschehen zu beobachten, flößte mir ausreichend Respekt ein, und so machte ich mich ein wenig unwillig auf den Heimweg.

Schon mein zweiter Tag bescherte mir die Bekanntschaft eines Jungen, der in unserer Straße wohnte. Er kannte sich gut aus, und als ich ihm von meinen ersten Eindrücken berichtete und von dem entdeckten Bahnhof schwärmte, winkte er mir, ihm zu folgen. Mit ihm voran traute ich mich nun über den Zaun.

Einen Bahnhof in Miniatur kannte ich ja bereits, umso mehr erstaunte mich hier die Imposanz der Gebäude und Anlagen in voller Größe. Wir waren noch nicht lange dort, als mich mein neuer Freund auf ein Signal aufmerksam machte, das die bevorstehende Einfahrt eines Zuges ankündigte.

Mit pochendem Herzen schaute ich in die Richtung, aus der der Zug kommen sollte, bis er nach etwa zwei Minuten tatsächlich einfuhr. Zum ersten Mal in meinem noch jungen Leben sah ich eine richtige Lokomotive und staunte und schluckte und fühlte, wie sich meine Wangen vor Erregung röteten. Das kalte, metallische Quietschen der Bremsen, das Zischen beim Ablassen des Dampfes, die prächtige Wolke aus Wasserdampf, das Schlagen der Türen beim Öffnen und das hektische Treiben der Fahrgäste, die Einen, die herausquollen aus dem Zug, die Anderen schwer atmend das Gepäck in der Hand tragend; die darauf warteten, dass sich eine Lücke im Gedränge ergäbe, die eine Möglichkeit zum Einsteigen und zum Sichern eines guten Platzes bot. Das waren überwältigende Eindrücke, die auf meine Sinne einprasselten, und nicht zuletzt begeisterten mich die Trillerpfeife und die lautstarke Aufforderung des Vorstehers zum Einsteigen (mit einem befriedigenden Lächeln registrierte ich, dass er genauso aussah, wie das kleine Männchen in der Schaufensterauslage). Er gab den letzten Hinweis, dass sich die Türen schließen würden, und fast zeitgleich erschallte eine Stimme aus einem Lautsprecher. Sie gab - vermutlich für alle Zurückgebliebenen, die ihre Leute zum Zug gebracht hatten - bekannt, welches Ziel der ausfahrende Zug hatte, und welche Orte er auf seinem Weg passieren würde.

Die Lokomotive setzte sich mit den anhängenden Waggons schwerfällig in Bewegung. Ich schaute ihm so lange nach, bis er aus meinem Blickfeld entschwunden war. Als ich meinen neuen Freund fragend ansah, weil wieder ein Signal ertönte, klärte er mich erneut auf und sagte, dass dies nun die Abfahrt des Zuges verkündet hatte.

Wir hatten so herrlich viel Zeit. Die sommerliche Wärme entlockte den Gräsern am Bahndamm einen berauschenden Duft. Mit großen Augen und schnellem Schritt folgte ich dem Jungen mit den langen Beinen, der sich in seiner Führerrolle augenscheinlich wohl fühlte. Er sagte nichts, während wir den Schienen folgten, doch schon bald gelangten wir an einen Güterbahnhof.

Zwei Männer in schwarzen, verrußten Anzügen mit Lederkappen auf dem Kopf standen im Führerhaus einer Lokomotive.

„Sie müssen Gegenverkehr abwarten“, stellte mein Freund fest, und als einer der beiden Männer ausstieg und sich an der Lokomotive zu schaffen machte, wusste mein Freund, dass es nicht ungewöhnlich sei, was der Arbeiter dort tat: „Hörst du? Er klopft die Lager ab. Gleich ölt er die Gleitstellen.“ Ich sah den Freund voll Bewunderung an. Was er alles wusste. Schon forderte er mich auf: „Komm. Wir können mal ins Führerhaus schauen.“

„Ins Führerhaus?“ Ich war von den Socken. Der traute sich was, mein Freund. Verschmitzt lachte er mir ins Gesicht und wusste ganz genau, was dort zu lesen stand. Schon lief er voraus. Vor der offenen Tür blieben wir stehen. Der Lokführer, der weiterhin mit dem Ölen der Gleitstellen beschäftigt war, warf uns über die Schulter einen knappen kameradschaftlichen Gruß zu. Dann rief er: „Könnt ruhig mal rein klettern, Bengels. Wir müssen noch ein Weilchen warten.“ Er tauchte aus der Hocke auf, reckte sich geräuschvoll und nahm seinen Stumpen aus dem Mund. Als er ihn begutachtet hatte, steckte er ihn sich wieder zwischen die Lippen und setzte seine Arbeit fort. Wir drehten uns wieder dem Einstieg zu und sahen über uns den zweiten Mann, der sich aus dem Fenster lehnte und seinem Kollegen zurief: „He, Adolf, hast du mich gerufen?“

„Nee, hab mit die Bengels geredet. Lass sie mal gucken. Ich hab’s erlaubt.“

„Ach so. Alles klar. Na, denn kommt mal rin in die joote Stube“, winkte er uns zu sich herauf. Alsbald erfuhr ich von ihm, dass er der Heizer war. Für meinen Freund war dies nichts Neues.

„Ich muss immer für den nötigen Dampf sorgen“, erklärte er, „und ständig Kohlen nachschütten.“ Dabei zeigte er auf eine riesige Schaufel und dann auf den Ofen, dessen Tür er öffnete, damit wir hineinsehen konnten. Der Heizer hatte aber auch die Aufgabe, das Wasser für die Dampfmaschine nachzufüllen. Ich klebte dem verrußten Mann nun an den Lippen und erfuhr mit Interesse, dass die Dampfmaschine davon sehr viel gebrauchte. Das konnte ich gut nachvollziehen, als mir nun wieder die gewaltige Wasserdampfwolke des kürzlich eingefahrenen Personenzuges vor Augen stand.

„So, Jungs, nun geht’s gleich weiter“, rief der Lokführer hinter uns. Wir hatten gar nicht bemerkt, dass er eingestiegen war, „habt ihr alles gesehen? Das ist gut. Ist gut, ja. Nun müsst ihr aber gehen, sonst nehmen wir euch noch mit.“ Er lachte.

„Oh ja“, rutschte mir heraus. Mein Freund grinste mich an.

„Hahaha“, schallte es hinter uns. Der Heizer schüttelte erheitert seinen Kopf und griff zur Schaufel: „Das solltet ihr euch gut überlegen. Ist kein Zuckerschlecken, stimmt’s, Adolf?“

„Nee, is es nich“, stimmte der zu, „und nun aber ab mit euch, hört ihr?“ Er machte uns den Weg frei.

Aus einiger Entfernung beobachteten wir zunächst den einfahrenden Gegenverkehr, bevor sich die Lokomotive auf den Weg machte. Ich winkte noch einmal zum Gruß und sah ihr betrübt nach. Zu gern wäre ich mit gefahren.

Vom nahen Bahnhof ertönte unterdes wieder das Schrillen der Pfeife gefolgt vom Ruf des Vorstehers. Der soeben an uns vorbei gefahrene Zug verließ mit Zischen und Ächzen die Station in die andere Richtung.