Bahnwärter Thiel - Gerhart Hauptmann - E-Book + Hörbuch

Bahnwärter Thiel Hörbuch

Gerhart Hauptmann

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Beschreibung

Bahnwärter Thiel ist ein verlässlicher und frommer Mensch. Pünktlich und gehorsam versieht er seinen Dienst. Er ist fromm und besucht sonntäglich den Gottesdienst. Thiel hängt immer noch an seiner verstorbenen Frau, auch wenn er längt neu verheiratet ist. In seiner Trauer erkennt Thiel nicht, wie seine neue Frau den Sohn aus erster Ehe misshandelt. Das Geschehen macht aus dem braven Bahnwärter einen verstörten Mann, der sich mehr und mehr in Visionen von seiner verstorbenen Frau flüchtet. Zusehends verfällt er einem Wahn, der sich in einer Katastrophe Bahn bricht. Die Erzählung zählt zu den bedeutendsten Werken des Naturalismus. Dieser Band enthält die Novellen "Bahnwärter Thiel" und "Der Apostel". Null Papier Verlag

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Zeit:1 Std. 22 min

Sprecher:Johannes Steck
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Gerhart Hauptmann

Bahnwärter Thiel

Zwei Novellen

Gerhart Hauptmann

Bahnwärter Thiel

Zwei Novellen

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected] 2. Auflage, ISBN 978-3-954188-75-8

null-papier.de/neu

Inhaltsverzeichnis

Bahn­wär­ter Thiel

Der Apos­tel

Dan­ke

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Oli­ver Twist oder Der Weg ei­nes Für­sor­ge­zög­lings

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Eine Weih­nachts­ge­schich­te

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Bahnwärter Thiel

1

All­sonn­täg­lich saß der Bahn­wär­ter Thiel in der Kir­che zu Neu-Zit­tau, aus­ge­nom­men die Tage, an de­nen er Dienst hat­te oder krank war und zu Bet­te lag. Im Ver­lau­fe von zehn Jah­ren war er zwei­mal krank ge­we­sen; das eine Mal in­fol­ge ei­nes vom Ten­der ei­ner Ma­schi­ne wäh­rend des Vor­bei­fah­rens her­ab­ge­fal­le­nen Stückes Koh­le, wel­ches ihn ge­trof­fen und mit zer­schmet­ter­tem Bein in den Bahn­gra­ben ge­schleu­dert hat­te; das an­de­re Mal ei­ner Wein­fla­sche we­gen, die aus dem vor­über­ra­sen­den Schnell­zu­ge mit­ten auf sei­ne Brust ge­flo­gen war. Au­ßer die­sen bei­den Un­glücks­fäl­len hat­te nichts ver­mocht, ihn, so­bald er frei war, von der Kir­che fern­zu­hal­ten.

Die ers­ten fünf Jah­re hat­te er den Weg von Schön-Schorn­stein, ei­ner Ko­lo­nie an der Spree, her­über nach Neu-Zit­tau al­lein ma­chen müs­sen. Ei­nes schö­nen Ta­ges war er dann in Beglei­tung ei­nes schmäch­ti­gen und kränk­lich aus­se­hen­den Frau­en­zim­mers er­schie­nen, die, wie die Leu­te mein­ten, zu sei­ner her­ku­li­schen Ge­stalt we­nig ge­paßt hat­te. Und wie­der­um ei­nes schö­nen Sonn­tag Nach­mit­tags reich­te er die­ser sel­ben Per­son am Al­ta­re der Kir­che fei­er­lich die Hand zum Bun­de fürs Le­ben. Zwei Jah­re nun saß das jun­ge, zar­te Weib ihm zur Sei­te in der Kir­chen­bank; zwei Jah­re blick­te ihr hohl­wan­gi­ges, fei­nes Ge­sicht ne­ben sei­nem vom Wet­ter ge­bräun­ten in das ur­al­te Ge­sang­buch –; und plötz­lich saß der Bahn­wär­ter wie­der al­lein wie zu­vor.

An ei­nem der vor­an­ge­gan­ge­nen Wo­chen­ta­ge hat­te die Ster­be­glo­cke ge­läu­tet: das war das Gan­ze.

An dem Wär­ter hat­te man, wie die Leu­te ver­si­cher­ten, kaum eine Ver­än­de­rung wahr­ge­nom­men. Die Knöp­fe sei­ner sau­be­ren Sonn­tags­uni­form wa­ren so blank ge­putzt als je zu­vor, sei­ne ro­ten Haa­re so wohl ge­ölt und mi­li­tä­risch ge­schei­telt wie im­mer, nur daß er den brei­ten, be­haar­ten Na­cken ein we­nig ge­senkt trug und noch eif­ri­ger der Pre­digt lausch­te oder sang, als er es frü­her ge­tan hat­te. Es war die all­ge­mei­ne An­sicht, daß ihm der Tod sei­ner Frau nicht sehr nahe ge­gan­gen sei; und die­se An­sicht er­hielt eine Be­kräf­ti­gung, als sich Thiel nach Ver­lauf ei­nes Jah­res zum zwei­ten Male, und zwar mit ei­nem di­cken und star­ken Frau­en­zim­mer, ei­ner Kuh­magd aus Alte-Grund, ver­hei­ra­te­te.

Auch der Pas­tor ge­stat­te­te sich, als Thiel die Trau­ung an­mel­den kam, ei­ni­ge Be­den­ken zu äu­ßern:

»Ihr wollt also schon wie­der hei­ra­ten?«

»Mit der To­ten kann ich nicht wirt­schaf­ten, Herr Pre­di­ger!«

»Nun ja wohl – aber ich mei­ne – Ihr eilt ein we­nig.«

»Der Jun­ge geht mir drauf, Herr Pre­di­ger.«

Thiels Frau war im Wo­chen­bett ge­stor­ben, und der Jun­ge, wel­chen sie zur Welt ge­bracht, leb­te und hat­te den Na­men To­bi­as er­hal­ten.

»Ach so, der Jun­ge«, sag­te der Geist­li­che und mach­te eine Be­we­gung, die deut­lich zeig­te, daß er sich des Klei­nen erst jetzt er­in­ne­re. »Das ist et­was andres – wo habt Ihr ihn denn un­ter­ge­bracht, wäh­rend Ihr im Dienst seid?«

Thiel er­zähl­te nun, wie er To­bi­as ei­ner al­ten Frau über­ge­ben, die ihn ein­mal bei­na­he habe ver­bren­nen las­sen, wäh­rend er ein an­de­res Mal von ih­rem Schoß auf die Erde ge­ku­gelt sei, ohne glück­li­cher­wei­se mehr als eine große Beu­le da­von­zu­tra­gen. Das kön­ne nicht so wei­ter ge­hen, mein­te er, zu­dem da der Jun­ge, schwäch­lich wie er sei, eine ganz be­son­de­re Pfle­ge be­nö­ti­ge. Des­we­gen und fer­ner weil er der Ver­stor­be­nen in die Hand ge­lobt, für die Wohl­fahrt des Jun­gen zu je­der Zeit aus­gie­big Sor­ge zu tra­gen, habe er sich zu dem Schrit­te ent­schlos­sen. –

Ge­gen das neue Paar, wel­ches nun all­sonn­täg­lich zur Kir­che kam, hat­ten die Leu­te äu­ßer­lich durch­aus nichts ein­zu­wen­den. Die frü­he­re Kuh­magd schi­en für den Wär­ter wie ge­schaf­fen. Sie war kaum einen hal­b­en Kopf klei­ner wie er und über­traf ihn an Glie­d­er­fül­le. Auch war ihr Ge­sicht ganz so grob ge­schnit­ten wie das sei­ne, nur daß ihm im Ge­gen­satz zu dem des Wär­ters die See­le ab­ging.

Wenn Thiel den Wunsch ge­hegt hat­te, in sei­ner zwei­ten Frau eine un­ver­wüst­li­che Ar­bei­te­rin, eine mus­ter­haf­te Wirt­schaf­te­rin zu ha­ben, so war die­ser Wunsch in über­ra­schen­der Wei­se in Er­fül­lung ge­gan­gen. Drei Din­ge je­doch hat­te er, ohne es zu wis­sen, mit sei­ner Frau in Kauf ge­nom­men: eine har­te, herrsch­süch­ti­ge Ge­müts­art, Zank­sucht und bru­ta­le Lei­den­schaft­lich­keit. Nach Ver­lauf ei­nes hal­b­en Jah­res war es orts­be­kannt, wer in dem Häu­schen des Wär­ters das Re­gi­ment führ­te. Man be­dau­er­te den Wär­ter.

Es sei ein Glück für »das Mensch«, daß sie ein so gu­tes Schaf wie den Thiel zum Man­ne be­kom­men habe, äu­ßer­ten die auf­ge­brach­ten Ehe­män­ner; es gäbe wel­che, bei de­nen sie greu­lich an­lau­fen wür­de. So ein »Tier« müs­se doch kir­re zu ma­chen sein, mein­ten sie, und wenn es nicht an­ders gin­ge, denn mit Schlä­gen. Durch­ge­walkt müs­se sie wer­den, aber dann gleich so, daß es zöge.

Sie durch­zu­wal­ken aber war Thiel trotz sei­ner seh­ni­gen Arme nicht der Mann. Das, wor­über sich die Leu­te er­ei­fer­ten, schi­en ihm we­nig Kopf­zer­bre­chen zu ma­chen. Die end­lo­sen Pre­dig­ten sei­ner Frau ließ er ge­wöhn­lich wort­los über sich er­ge­hen, und wenn er ein­mal ant­wor­te­te, so stand das schlep­pen­de Zeit­maß, so­wie der lei­se, küh­le Ton sei­ner Rede in selt­sams­tem Ge­gen­satz zu dem krei­schen­den Ge­keif sei­ner Frau. Die Au­ßen­welt schi­en ihm we­nig an­ha­ben zu kön­nen: es war, als trü­ge er et­was in sich, wo­durch er al­les Böse, was sie ihm an­tat, reich­lich mit Gu­tem auf­ge­wo­gen er­hielt.

Trotz sei­nes un­ver­wüst­li­chen Phleg­mas hat­te er doch Au­gen­bli­cke, in de­nen er nicht mit sich spa­ßen ließ. Es war dies im­mer an­läß­lich sol­cher Din­ge, die To­biäs­chen be­tra­fen. Sein kind­gu­tes, nach­gie­bi­ges We­sen ge­wann dann einen An­strich von Fes­tig­keit, dem selbst ein so un­zähm­ba­res Ge­müt wie das Le­nes nicht ent­ge­gen­zu­tre­ten wag­te.

Die Au­gen­bli­cke in­des, dar­in er die­se Sei­te sei­nes We­sens her­aus­kehr­te, wur­den mit der Zeit im­mer sel­te­ner und ver­lo­ren sich zu­letzt ganz. Ein ge­wis­ser lei­den­der Wi­der­stand, den er der Herrsch­sucht Le­nens wäh­rend des ers­ten Jah­res ent­ge­gen­ge­setzt, ver­lor sich eben­falls im zwei­ten. Er ging nicht mehr mit der frü­he­ren Gleich­gül­tig­keit zum Dienst, nach­dem er einen Auf­tritt mit ihr ge­habt, wenn er sie nicht vor­her be­sänf­tigt hat­te. Er ließ sich am Ende nicht sel­ten her­ab, sie zu bit­ten, doch wie­der gut zu sein. – Nicht wie sonst mehr war ihm sein ein­sa­mer Pos­ten in­mit­ten des mär­ki­schen Kie­fern­fors­tes sein liebs­ter Auf­ent­halt. Die stil­len, hin­ge­ben­den Ge­dan­ken an sein ver­stor­be­nes Weib wur­den von de­nen an die Le­ben­de durch­kreuzt. Nicht wi­der­wil­lig, wie die ers­te Zeit, trat er den Heim­weg an, son­dern mit lei­den­schaft­li­cher Hast, nach­dem er vor­her oft Stun­den und Mi­nu­ten bis zur Zeit der Ab­lö­sung ge­zählt hat­te.

Er, der mit sei­nem ers­ten Wei­be durch eine mehr ver­geis­tig­te Lie­be ver­bun­den ge­we­sen war, ge­riet durch die Macht ro­her Trie­be in die Ge­walt sei­ner zwei­ten Frau und wur­de zu­letzt in al­lem fast un­be­dingt von ihr ab­hän­gig. – Zu­zei­ten emp­fand er Ge­wis­sens­bis­se über die­sen Um­schwung der Din­ge und er be­durf­te ei­ner An­zahl au­ßer­ge­wöhn­li­cher Hilfs­mit­tel, um sich dar­über hin­weg zu hel­fen. So er­klär­te er sein Wärt­er­häus­chen und die Bahn­stre­cke, die er zu be­sor­gen hat­te, ins­ge­heim gleich­sam für ge­hei­lig­tes Land, wel­ches aus­schließ­lich den Ma­nen der To­ten ge­wid­met sein soll­te. Mit Hil­fe von al­ler­hand Vor­wän­den war es ihm in der Tat bis­her ge­lun­gen, sei­ne Frau da­von ab­zu­hal­ten, ihn da­hin zu be­glei­ten.

Er hoff­te es auch fer­ner­hin tun zu kön­nen. Sie hät­te nicht ge­wußt, wel­che Rich­tung sie ein­schla­gen soll­te, um sei­ne »Bude«, de­ren Num­mer sie nicht ein­mal kann­te, auf­zu­fin­den.

Da­durch, daß er die ihm zu Ge­bo­te ste­hen­de Zeit so­mit ge­wis­sen­haft zwi­schen die Le­ben­de und Tote zu tei­len ver­moch­te, be­ru­hig­te Thiel sein Ge­wis­sen in der Tat.

Oft frei­lich und be­son­ders in Au­gen­bli­cken ein­sa­mer An­dacht, wenn er recht in­nig mit der Ver­stor­be­nen ver­bun­den ge­we­sen war, sah er sei­nen jet­zi­gen Zu­stand im Lich­te der Wahr­heit und emp­fand da­vor Ekel.

Hat­te er Tag­dienst, so be­schränk­te sich sein geis­ti­ger Ver­kehr mit der Ver­stor­be­nen auf eine Men­ge lie­ber Erin­ne­run­gen aus der Zeit sei­nes Zu­sam­men­le­bens mit ihr. Im Dun­kel je­doch, wenn der Schnee­sturm durch die Kie­fern und über die Stre­cke ras­te, in tiefer Mit­ter­nacht beim Schei­ne sei­ner La­ter­ne, da wur­de das Wärt­er­häus­chen zur Ka­pel­le.

Eine ver­bli­che­ne Pho­to­gra­phie der Ver­stor­be­nen vor sich auf dem Tisch, Ge­sang­buch und Bi­bel auf­ge­schla­gen, las und sang er ab­wech­selnd die lan­ge Nacht hin­durch, nur von den in Zwi­schen­räu­men vor­bei­to­ben­den Bahn­zü­gen un­ter­bro­chen, und ge­riet hier­bei in eine Ek­sta­se, die sich zu Ge­sich­ten stei­ger­te, in de­nen er die Tote leib­haf­tig vor sich sah.

Der Pos­ten, den der Wär­ter nun schon zehn vol­le Jah­re un­un­ter­bro­chen in­ne­hat­te, war aber in sei­ner Ab­ge­le­gen­heit dazu an­ge­tan, sei­ne mys­ti­schen Nei­gun­gen zu för­dern.

Nach al­len vier Win­drich­tun­gen min­des­tens durch einen drei­vier­tel­stün­di­gen Weg von je­der mensch­li­chen Woh­nung ent­fernt, lag die Bude in­mit­ten des Fors­tes dicht ne­ben ei­nem Bahn­über­gang, des­sen Bar­rie­ren der Wär­ter zu be­die­nen hat­te.