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Seitenzahl: 84
Gerhart Hauptmann
Bahnwärter Thiel
Lektüreschlüssel XL für Schülerinnen und Schüler
Von Mario Leis
Reclam
Dieser Lektüreschlüssel bezieht sich auf folgende Textausgabe:
Gerhart Hauptmann: Bahnwärter Thiel. Hrsg. von Max Kämper. Stuttgart: Reclam, 2017 [u. ö.]. (Reclam XL. Text und Kontext, 19154.)
Diese Ausgabe des Werktextes ist seiten- und zeilengleich mit der in Reclams Universal-Bibliothek Nr. 6617.
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Lektüreschlüssel XL | Nr. 15456
Alle Rechte vorbehalten
© 2017 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen
Made in Germany 2017
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961245-4
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-015456-4
www.reclam.de
Gerhart Hauptmann schrieb 1937 in seiner Autobiografie Das Abenteuer meiner Jugend über den Entstehungszeitraum seiner »Novellistischen Studie« Bahnwärter Thiel (1888): »Während mein zweiter Sohn geboren wurde, schrieb ich an einer Novelle ›Bahnwärter Thiel‹, die ich im späteren Frühjahr beendete. Sie wurde von Michael Georg Conrad in München erworben und in seiner Zeitschrift abgedruckt. Damit war ich als Schriftsteller in die Welt getreten.«1
Mit dem Erscheinen des Bahnwärter Thiel leitet Hauptmann, neben Autoren wie Arno Holz und Johannes Schlaf, die literarische Moderne in Deutschland erfolgreich ein.
Was war das Neue am Bahnwärter Thiel? Der Autor provozierte sein Publikum in ungewohnter Weise:
Für das Groß- und Kleinbürgertum war die – zumindest nach außen hin – harmonisch funktionierende Kritik am überlieferten FamilienmodellFamilie das Fundament der Gesellschaft. Die Titelfigur dieser Studie aber, der zunächst gutmütige, gottesfürchtige und ordnungsliebende Bahnwärter Thiel, zerstört dieses Weltbild mit dem Mord an seiner Frau Lene und ihrem gemeinsamen Kind. Dramaturgisch geht der Autor geschickt vor: Er konfrontiert zu Beginn des Textes den Leser mit der wohlanständigen Fassade des braven Kleinbürgers Thiel; schon der erste Satz der Novelle verdeutlicht beispielhaft die Normalität der Ausgangssituation: »Allsonntäglich saß der Bahnwärter Thiel in der Kirche zu Neu-Zittau« (S. 3). Im Verlauf der Novelle bricht dann ein Stück nach dem anderen aus dieser Fassade heraus, und der Leser bemerkt mit zunehmendem Unbehagen, ja Entsetzen, wie Thiel und seine Familie unausweichlich ihrem Verhängnis entgegentreiben.
Neu war auch das Ein Kleinbürger im MittelpunktPersoneninventar der Novelle: »Ohne Zweifel ist die Wahl eines kleinen Bahnwärters zum ›Helden‹ einer tragischen Erzählung in dieser Zeit nicht nur eine ästhetische Provokation, sondern auch eine indirekte politische Parteinahme für die ›Unterdrückten‹ und ›Ausgebeuteten‹.«2
Hauptmann stellt das Kleinbürger-Milieu präzise dar, auch sprachlich. Er gibt die Die Umgangssprache wird literaturfähigUmgangssprache und den Jargon seiner Figuren wirklichkeitsgetreu wieder. Gegen den sogenannten guten Geschmack und die elitäre bürgerliche Kunstauffassung ist Hauptmanns erzählte Wirklichkeit fast deckungsgleich mit dem sozialen Milieu seiner Protagonisten. So wird deutlich, dass Thiel durch sein soziales Umfeld, die Zeitumstände und seine Herkunft in seinem Handeln bestimmt wird.
Der Autor beschreibt Thiels Zerfallsgeschichte über weite Strecken objektiv; in der novellistischen Studie gibt es daher keine Keine moralische Instanzmoralische Instanz, die Thiels Verhalten wertet, kritisiert oder verurteilt. Die Leser müssen sich selbst ihr Urteil bilden. Daraus folgt, dass es viele individuelle Lesarten des Textes gibt. Sie werden sogar potenziert, weil Hauptmann sowohl traditionelle als auch moderne ästhetische Programme in sein Werk integriert. So finden wir realistische, naturalistische, expressionistische und surrealistische Anleihen im Bahnwärter Thiel. Diese Mischung erschwert zuweilen die präzise Einordnung des Textes, schafft allerdings auch den Reiz, neue Verstehenshorizonte zu eröffnen. Der Lektüreschlüssel stellt einige Lesarten vor.
Der auktoriale (allwissende) Erzähler beschreibt auf den vierzig Seiten der Novelle etwa zehn Jahre aus Thiels Leben. In diesem Zeitraum leistet der fromme Bahnwärter, der jeden Sonntag in die Kirche geht, seinen Dienst gewissenhaft ab.
Nur zweimal kann er ihn nicht Gefährliche Zügeausüben, weil er durch ein Stück »Kohle« und eine »Weinflasche« (S. 3), die von den vorbeifahrenden Zügen herabfallen, verletzt wird.
»Eines schönen Tages« (S. 3) taucht an Thiels Seite die schmächtige und »kränklich« aussehende Minna auf. Sie scheint, wie die Kirchengemeinde meint, zwar nicht »zu seiner herkulischen Gestalt« (S. 3) zu passen, trotzdem Thiels Ehefrauenheiraten beide. Nach nur zwei Jahren aber stirbt seine Gattin im Wochenbett, ihr gemeinsames Kind, Tobias, überlebt. Ein Jahr nach Minnas Tod verheiratet Thiel sich erneut, und zwar mit Lene, »einem dicken und starken Frauenzimmer, einer Kuhmagd« (S. 4).
Thiel heiratet Lene, wie er dem Pastor berichtet, aus einem ganz pragmatischen Grund: »›Mit der Toten kann ich nicht wirtschaften […]! Der Junge geht mir drauf, Herr Prediger.‹« (S. 4)
Die zweite Ehefrau erweist sich dann auch, wie von Thiel erhofft, als »eine unverwüstliche Arbeiterin, eine musterhafte Wirtschafterin« (S. 5). Doch schnell zeigt sich, dass seine Wahl keine gute war, denn seine Lenes CharakterFrau besitzt eine »harte, herrschsüchtige Gemütsart« (S. 5), obendrein ist sie zanksüchtig und brutal leidenschaftlich. Thiel erträgt scheinbar phlegmatisch die hysterischen Ausfälle Lenes; nur wenn Tobias von Lene Unrecht geschieht, vermag sich Thiel zu wehren. Doch nach dem ersten Ehejahr gibt der Bahnwärter auch diesen Widerstand auf.
Stattdessen erhebt er sein einsames Thiel flüchtet vor seiner EhefrauBahnwärterhäuschen zu einer Art Erinnerungskapelle an seine verstorbene Frau. Hier kann er ihrer ungestört gedenken, was »seine mystischen Neigungen« (S. 8) fördert.
Tobias bleibt in seiner Entwicklung zurück; im zweiten Lebensjahr lernt er nur ein wenig sprechen und gehen. Als der Junge sich jedoch besser verständigen kann, erwacht Thiels Liebe zu ihm von Neuem, in den Monaten zuvor galt sie vor allem Lene. Sie ist deshalb eifersüchtig auf Tobias und straft ihn fortan mit »Abneigung« (S. 9).
Ungefähr ein Jahr später bringt Lene einen Jungen zur Welt: »Von da ab begann für Tobias’ KatastropheTobias eine schlimme Zeit.« (S. 9) Er wird von der Stiefmutter ausgenutzt, wobei er körperlich zusehends verfällt. Die Dorfbewohner, die dieses Elend hinter ihren Fenstern beobachten, schweigen: »so wurden hinter den Fenstern der Hütten Verwünschungen laut, die sich jedoch niemals hervorwagten.« (S. 9) Lediglich besorgte Nachbarn machen Thiel durch »Winke« darauf aufmerksam, doch er scheint »keine Augen« (S. 9) dafür zu haben.
An einem Junimorgen empfängt Lene ihren Gatten, der gerade von seinem Dienst nach Hause kommt, äußerst missgelaunt, weil der Familie Thiel der »Pachtacker, welcher bisher den Kartoffelbedarf der Familie gedeckt hatte« (S. 10), gekündigt worden ist. Doch der Bahnwärter hat zur Überraschung Lenes schon ein neues Stück Land erhalten. Sein Bahnmeister hat es ihm überlassen, und es liegt in der Nähe von Thiels Wärterhäuschen. Die überglückliche Lene »schoss […] davon, um die Neuigkeit im Örtchen auszusprengen.« (S. 11)
Nach dem Mittagessen geht Thiel mit seinem Sohn an die nahe gelegene Spree und spielt dort mit ihm und den anderen Thiel ist bei den Kindern beliebtDorfkindern. Er ist beliebt bei ihnen: »Die Kinder besonders hingen an ihm, nannten ihn ›Vater Thiel‹ und wurden von ihm in mancherlei Spielen unterrichtet, derer er sich aus seiner Jugendzeit erinnerte.« (S. 12)
Doch diese Idylle währt nicht lange: Am späten Nachmittag macht sich Thiel auf den Weg zu seinem Dienst, als ihm plötzlich einfällt, dass er sein Brot vergessen hat; und weil er nicht darauf verzichten möchte, marschiert er zurück in das Dorf. Schon als er sich seinem Haus nähert, hört er von Weitem seine keifende Ehefrau. Thiel schleicht sich an das Gebäude heran und wird Zeuge, wie Thiel lässt seinen Sohn im StichTobias brutal beschimpft und gezüchtigt wird. Als er in das Zimmer tritt, kann er sich trotz angestauter Wut nicht gegen seine Frau durchsetzen. Im Gegenteil: Lene redet ihm ein schlechtes Gewissen ein, weil er ihre Tat belauscht hat. Schließlich kapituliert der Mann. Tobias sitzt weinend in einer Ecke, doch sein Vater schenkt ihm keinen Blick. Das vergessene Brot in der Hand, macht Thiel sich kommentarlos auf den Weg zu seinem Streckenhäuschen.
Als Thiel mit einer Viertelstunde Verspätung seinen Dienst antritt, richtet er sich für den Abend das Wärterhäuschen her und schließt für den herannahenden Zug aus Breslau vorschriftsmäßig die Schranken. Um seine innere Unruhe zu dämpfen, begibt er sich zu dem neuen Acker und beginnt, ihn umzugraben. Doch nach kurzer Zeit wird ihm bewusst, dass demnächst Lene in sein geliebtes Reich eindringen wird, um das Feld zu bestellen: »Und jäh verwandelte sich seine Freude über den Besitz des Ackers in Widerwillen.« (S. 21) Thiel bricht die Arbeit ab und versinkt, in seiner Bude angekommen, »in dumpfe Grübelei« (S. 21). Schließlich schläft er ein – und in einer Traumvision erscheint ihm Minna und wendet sich von ihm ab.
Am nächsten Abend bahnt sich das Unheil an: Lene verkündet ihrem Mann, »dass sie am folgenden Morgen mit nach dem Walde gehen werde, um das Land umzugraben und Kartoffeln zu stecken.« (S. 27) Thiel reagiert verwirrt, bleibt aber stumm.
Am nächsten Morgen bricht die Familienausflug zu Thiels HeiligtumFamilie zu Wärterhäuschen und Acker auf. Der Bahnwärter ist übel gelaunt, weil es ihm nicht gelingt, Lene von seinem Heiligtum fernzuhalten. Allerdings findet er keine nachvollziehbaren Gründe, diesen Besuch zu vermeiden, und obendrein freut sich Tobias auf den Ausflug.