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Wenige Tage vor Beginn der Fußball-Europameisterschaft 2008 wird der Schiedsrichter Arthur Mellnig in einem Schlafwagen in Zürich ermordet aufgefunden. Am Sitz der UEFA in Nyon herrscht große Aufregung: Mellnig wollte den Funktionären über einen streng vertraulichen, äußerst besorgniserregenden Vorfall berichten, der die gesamte EM gefährden könnte. Wer wusste davon? Auch die Deutsche Nationalmannschaft scheint in Gefahr: Zunächst verzögert sich der Abflug der Mannschaft von Frankfurt nach Wien wegen eines verdächtigen Gepäckstücks. Dann wird in der Nähe ihres Quartiers ein schwer verletzter Mann entdeckt, der wenig später stirbt. Und mittendrin steckt wieder einmal Wiens skurrilster Kriminologe: Mario Palinski hat von einem Attentat erfahren, das während des Spiels Deutschland - Österreich auf den Europäischen Ratspräsidenten verübt werden soll.
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Seitenzahl: 388
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Pierre Emme
Ballsaison
Palinskis siebter Fall
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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2. Auflage 2008
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von Lutz Eberle
Gesetzt aus der 9,55/13,3 Punkt GV Garamond
ISBN 978-3-8392-3070-1
Bibliografische Information
der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.ddb.de abrufbar.
›Expect emotions‹
Offizielles Motto der EURO 2008
in Österreich und der Schweiz
Diesmal haben es die österreichischen Kicker tatsächlich geschafft, bei der Endrunde einer Fußballeuropameisterschaft dabei zu sein. Sie dürfen mit den besten Nationalteams des Kontinents um den Einzug in das Finale zittern, das am 29. Juni in Wien stattfinden wird. Ein jahrzehntelang unerfüllter Traum Fußballösterreichs wird damit endlich wahr.
Um dieses Ziel auch ganz sicher zu erreichen, hatten sich die dafür Verantwortlichen etwas einfallen lassen: In Erinnerung an den berühmten Ausspruch Maximilians I., der mit dem Motto ›Bella gerant alii, tu felix Austria nube‹ (›Andere mögen Kriege führen, Du, glückliches Österreich heirate‹) die habsburgische Heiratspolitik begründet hatte, bewarben sie sich um die Ausrichtung des immerhin drittgrößten Sportevents der Welt. Damit hatte Fußballösterreich dieses Mal jegliches Risiko, das nun mal in einer Qualifikationsrunde steckt, vermieden.
Und welch Wunder, die milden Fußballgötter zeigten tatsächlich Verständnis für den großen Wunsch der kleinen Alpenrepublik und beauftragten sie, die Europameisterschaft 2008 gemeinsam mit ihrem spielerisch derzeit stärkeren Nachbarn, der Schweiz, durchzuführen. Dann, als man offiziellerseits bereits begann, sich Sorgen um die Stimmung im Lande zu machen, so ohne rechte Begeisterung geht es ja beim Fußball nicht, sprangen die jungen Helden in die Bresche und sorgten mit einer exquisiten Performance und einem 4. Platz bei der U 20 Weltmeisterschaft im Juli 2007 in Kanada für eine zunächst vielleicht etwas enttäuschend erscheinende, tatsächlich aber für eine ausgezeichnete Platzierung.
Also wenn das kein kräftiges Lebenszeichen des österreichischen Fußballs gewesen ist!
Vor der sowohl sportlich als auch gesellschaftlich monströsen Kulisse der Fußballeuropameisterschaft 2008 spielt ›Ballsaison‹, der jüngste Krimi mit Mario Palinski. Dass der unkonventionelle Privatermittler im Vor- und Umfeld eines derartigen Großereignisses mehr gefordert wird als in einer seiner üblichen Arbeitswochen, liegt in der Natur der Sache. Auch wenn es manchmal ein wenig drunter und drüber zu gehen scheint, Palinski behält den Überblick, meistens zumindest und knüpft die scheinbar losen Fäden schließlich zusammen.
Einen der Höhepunkte und gleichzeitig das ultimative Finale des Romans bildet natürlich das unvermeidliche Kräftemessen des rot-weiß-roten Davids mit dem deutschen Goliath.
In ›Ballsaison‹ endet dieses aus österreichischer Sicht deutlich neurotische Züge aufweisende Aufeinandertreffen schließlich durchaus versöhnlich. Ob und inwieweit das auch im Rahmen der realen Fußball-EM der Fall sein wird, wird die Zukunft erweisen. Wünschen wird man sich das aber wohl noch dürfen.
Möge der Bessere siegen und der Beste Champion werden.
Wien, Februar 2008 Pierre Emme
Arthur Mellnig, der Fahrgast von Bettplatz 301, war die erste Leiche, mit der Schlafwagenschaffner Werner Pribilek beruflich zu tun hatte. Ja, eigentlich der erste Leichnam seines gesamten, bisher 33 Jahre und ein paar Monate dauernden Lebens überhaupt. Denn sein Opa war bereits vor Werners zweitem Geburtstag einem Herzinfarkt erlegen. Und die Oma, deren Tod auch schon mehr als zwölf Jahre zurücklag, hatte er als Leichnam nicht zu sehen bekommen oder berühren müssen. Um sie hatte er trauern können, ohne dabei durch die grausame Realität eines leblosen, immer starrer und kälter werdenden Körpers gestört worden zu sein.
Und jetzt das hier. Mellnig hatte am Abend vorher sein Frühstück für 5.30 Uhr bestellt, aber auf Pribileks Klopfen nicht reagiert. Das war noch nicht weiter beunruhigend gewesen, das kam schon hin und wieder vor. Öfters als man allgemein wahrscheinlich annehmen würde. Denn eine Menge Fahrgäste hatte erhebliche Schwierigkeiten, im Zug ein- und dann auch durchzuschlafen. Das führte häufig dazu, dass sie erst am frühen Morgen einnickten, mitunter noch eine Tiefschlafphase einlegten und das erste Wecken einfach nicht wahrnahmen.
Bei Ankunftszeiten ab 7.00 Uhr aufwärts war das nicht weiter schlimm, bei einer fahrplanmäßigen Ankunft in Zürich bereits um 6.20 Uhr bedeutete das allerdings zusätzlichen Stress für den ohnehin schon ordentlich geforderten Schlafwagenschaffner. Zwar hatten die Züge seit der befristeten Aufhebung des Schengener Abkommens vor fünf Tagen regelmäßig bis zu 15 Minuten Verspätung, aber darauf konnte man sich nicht verlassen.
Gegen Viertel vor sechs hatte Pribilek einen zweiten Weckversuch starten wollen, war aber von einigen Fahrgästen aufgehalten worden. So hatte er sich erst kurz nach 6.00 Uhr wieder an der besagten Abteiltüre bemerkbar gemacht. Zunächst noch dezent, dann immer energischer und zuletzt so nachhaltig, dass die Türen aller umliegenden Abteile aufgingen. Bloß die mit der Nummer 103 nicht.
So blieb Pribilek um 6.08 Uhr, also zwölf Minuten vor der planmäßigen Ankunft des Zuges in der größten Stadt der Schweiz, nur mehr der entschlossene Griff zum Schlüssel, um sich Zutritt zu verschaffen. Und die Gewissheit zu gewinnen, dass diese Fahrt doch nicht ganz so ereignislos enden würde wie erhofft.
Mellnig lag wie schlafend da. Was den ersten, durchaus friedlichen Eindruck allerdings entscheidend störte, war der Umstand, dass die Augen des Mannes weit aufgerissen waren und anklagend zur Decke des engen, an ein Verlies erinnernden Abteils starrten. Auch das dünne, aus dem linken Nasenloch kommende Rinnsal aus Blut, das sich einen Weg über die Wange hinunter auf den weißen Überzug des Kopfkissens gesucht hatte, trug erheblich zur stark ansteigenden Beklemmung Pribileks bei.
Fieberhaft überlegte er, was jetzt zu tun war. Erwartete man vom ihm irgendwelche Rettungsversuche, obwohl der Mann doch wahrscheinlich längst nicht mehr lebte? Vielleicht Rettungsmaßnahmen, bei denen er Hand anlegen, dem Toten möglicherweise noch Luft in den von bleichen, eingefallenen Wangen flankierten Mund blasen musste?
Während es den Schlafwagenschaffner bei dem Gedanken innerlich beutelte wie einen in den Stromkreis geratenen Badewaschl, meldete sich von hinten eine Stimme. »Lassen Sie mich einmal sehen«, meinte ein alter Herr, »ich bin Arzt.«
Pribileks Oma hatte immer davon gesprochen, dass Gott am nächsten war, sobald Gefahr drohte. Bei ihr hatte das allerdings viel bedeutungsvoller und gleichzeitig auch literarischer geklungen, dennoch hatte ihr der ›Werni‹ nie geglaubt. Jetzt hatte sich das mit einem Schlag geändert. Während er sich umdrehte, um Dr. Exler, wenn er sich richtig erinnerte, Platz zu machen, sandte er der alten Dame in Gedanken ein tief empfundenes Dankeschön, verbunden mit einer Abbitte. Dann nahm er sich noch ganz fest vor, gleich nach seiner Rückkehr die längst fällige Kirchensteuer für die vergangenen Jahre zur Einzahlung zu bringen. Ehrlich, kein Schmäh.
Während sich der Arzt mit einigen kundigen Griffen vergewisserte, dass dem mit knapp 1,90 m Körpergröße für die kleine waagrechte, euphemistisch ›Bett‹ bezeichnete Fläche viel zu großen Mann nicht mehr zu helfen war, gewann Pribilek langsam die Kontrolle über sich zurück. Er nestelte in seiner Uniformjacke herum, förderte ein Handy zutage und stellte eine Verbindung zum Zugführer her. Dieser, ein St. Pöltner namens Walter Hebreich, war innerhalb von zwei Minuten zur Stelle. Gerade rechtzeitig, um Dr. Exlers vorläufige Diagnose, nämlich: »Der Mann könnte eine Gehirnblutung gehabt haben. Endgültig kann das aber nur eine Obduktion klären«, noch mitzubekommen.
»Der Fahrgast ist aber schon eines natürlichen Todes gestorben?«, wollte der Zugführer wissen.
Der Arzt zuckte mit den Schultern: »Ich bin kein Gerichtsmediziner, aber irgendwie kommen mir die Umstände eigenartig vor. Ich würde Fremdeinwirkung nicht ganz ausschließen.«
Diese Aussage veranlasste Hebreich, sich sofort mit der Bahnhofsleitung Zürich in Verbindung zu setzen. Mit der Bitte, alles in dieser Situation Erforderliche zu veranlassen.
Das war genau um 6.17 Uhr, also drei Minuten vor der planmäßigen Ankunft des Zuges. Am Dienstag, dem 3. Juni, vier Tage vor dem Eröffnungsspiel der Fußballeuropameisterschaft in Österreich und der Schweiz.
* * *
Mario Palinski, der Leiter des von ihm ursprünglich nur als formale Basis für seine Beratertätigkeit gegründeten ›Instituts für Krimiliteranalogie‹ war zufrieden. Hundemüde, aber wirklich sehr, sehr zufrieden. Beides verdankte er letztlich dem in wenigen Tagen mit den ersten Spielen in Basel und Wien beginnenden Fußballfest.
Im April vergangenen Jahres war das Institut auf Anregung seines alten Freundes Dr. Michael Schneckenburger mit der Erstellung einer Studie zum Thema ›Verbrechen und terroristische Anschläge auf Großveranstaltungen in der jüngeren Literatur‹ beauftragt worden. Ministerialrat Schneckenburger war Vertreter des Innenministers im Koordinationskomitee der für die speziellen Sicherheitsmaßnahmen verantwortlichen österreichischen Behörden, wie die offizielle Bezeichnung lautete. Und er war überzeugt von Palinskis Theorie, dass sich die realen und die fiktiven Verbrechen in einem ständigen Prozess gegenseitigen Befruchtens befanden. Auf gut Deutsch, die Bösen ließen sich von den Autoren beeinflussen und diese wieder von Gerichtsreportagen, Strafprozessakten und Sensationsberichten. Und so ging das seit der Erfindung des Buchdrucks, die dadurch ausgelöste Spirale ging deutlich nach oben. Besonders gebildete Menschen nannten das auch Interdependenz.
Nach Abschluss der umfangreichen Vorarbeiten hatten 22 freie Mitarbeiterinnen, teils Studierende, teils arbeitslose Absolventinnen der Germanistik, Anglistik und Romanistik von September bis März mehr als 1.100 in den vergangenen 15 Jahren erschienene Krimis und Thriller mit den Schwerpunkten Terrorismus und Verschwörungstheorien gelesen und nach bestimmten Kriterien analysiert. An der Vorauswahl unter nahezu 900 infrage kommenden englischsprachigen Titeln war Palinskis amerikanisches Pendant – der in der Nähe von Baltimore beheimatete Will Scott – maßgeblich beteiligt gewesen. Dessen Datenbank ›Crimes United‹ war bis dahin etwas umfangreicher gewesen als die des ›Instituts für Krimiliteranalogie‹. Nach Abschluss der aktuellen Datenerfassung und -verarbeitung hatte sich das aber ganz eindeutig geändert.
Natürlich hatte Palinski auftragsrelevante Teilergebnisse sofort an das ›KoKo‹ (Koordinationskomitee) weitergeleitet und den Behörden damit ermöglicht, diese sofort zu berücksichtigen, an die jeweiligen Schweizer, österreichischen und internationalen Stellen weiterzuleiten oder wieder zu verwerfen. Angeblich sollten sich dabei tatsächlich einige Aspekte ergeben haben, die bisher noch nicht oder nur unzulänglich berücksichtigt worden waren.
Als finalen Höhepunkt hatte Palinski gestern schließlich die Studie im Innenministerium präsentiert und viel Lob dafür erhalten. Immerhin hatten auch die penibel nach den unterschiedlichsten Parametern erstellten Statistiken einige potenzielle Schwachstellen aufgezeigt, mit denen, da sie ausschließlich aus der Literatur abgeleitet worden waren, nur wenige gerechnet hatten. Natürlich hatten sich auch wieder die Skeptiker vom Dienst zu Wort gemeldet, die den Wert der Studie sowohl im Prinzip als auch im Detail anzweifelten. Diese Leute hatten bereits bei früheren Gelegenheiten kaum ein gutes Haar an Palinskis Arbeit gelassen. Nun ja, er hatte gelernt, mit diesen Typen zu leben. Die gehörten eben auch zu dem breiten Meinungsspektrum dazu.
Die letzten Wochen vor der Präsentation waren sehr hart gewesen, die Arbeitstage hatten mitunter bis zu 20 Stunden gedauert. Aber jetzt war das alles vorüber, die Ernte eingefahren. Und Palinski war zufrieden, sehr, sehr zufrieden. Und hundemüde, wirklich …
Nach dem kurzen Nickerchen brachte er die inzwischen zu Boden geglittene Tageszeitung wieder in Augenhöhe und setzte das unterbrochene Studium des Berichts über die Pressekonferenz nach Präsentation der Studie fort.
Seit gestern hatte Palinski den Eindruck, dass mehrere Medienvertreter den Ergebnissen seiner Studie mit Skepsis, nein, was schlimmer war, mit einem gewissen Unernst gegenüberstanden. Zugegebenermaßen machten es die manchmal wirklich etwas kühnen, an den Haaren herbeigezogen wirkenden Schlussfolgerungen der Autoren, mit welchen sie literarische Verbrechen in realistische Bedrohungsszenarien verwandelt hatten, Menschen ohne entsprechendes Vorstellungsvermögen schwer, ihnen zu folgen. Der ironisierende Ton und die mitunter leicht ins Lächerliche verzerrte Tendenz des vorliegenden Artikels waren ein neuerlicher Beweis dafür. Als ob die Möglichkeit eines terroristischen Angriffs auf eine Millionenstadt über ihre Trinkwasserversorgung oder aus dem Kanalsystem heraus unvorstellbar und daher absurd wäre.
Was den meisten dieser Schreiberlinge fehlte, war schlicht und einfach die zielorientierte Fantasie ergebnis- und erfolgsorientierter Autoren. Oder auch Verbrecher, schoss es Palinski durch den Kopf. Und die Schlussfolgerung gefiel ihm nicht, überhaupt nicht.
Aber egal, darüber musste er später noch nachdenken. Zurück zur Fantasie: Die konnte, zusammen mit geballter krimineller Energie sowie entsprechenden, noch so irren Motiven und der Konsequenz zu allem entschlossener Wahnsinniger reale Abgründe öffnen, gegen die sich die Apokalypse ausnahm wie ein verschlagener Lercherlschaß*.
Aber das war wohl so. Auch 9/11 war noch zu einem Zeitpunkt für unmöglich gehalten worden, als das schreckliche Geschehen live über die Fernsehschirme der ganzen Welt zu verfolgen war. Niemand hatte sich bis dahin vorstellen können, dass ein vollbesetztes Verkehrsflugzeug vorsätzlich in einen Wolkenkratzer gelenkt werden könnte.
Außer vielleicht ein gewisser Peter van Greenaway in seinem Roman ›The Medusa Touch‹, der bereits 1973 erschienen und 1978 mit Richard Burton und Lino Ventura in den Hauptrollen verfilmt worden war.
Palinski hatte die Szene mit dem von Burton gespielten Sonderling, der ein Flugzeug auf telekinetischem Wege in einen Wolkenkratzer lenkte, noch genau vor Augen.
Natürlich durfte man sich die Szene nicht 1:1 in die Realität umgesetzt vorstellen. Die Anregung für einen Terroristen wäre ja auch nicht gewesen, einen dieser riesigen Vögel nur mit der Kraft seiner Gedanken mit Millionen Tonnen von Beton und Stahl kollidieren zu lassen. Nein, das sicher nicht. Sondern schlicht und ergreifend auf die einfachste denkbare Art und Weise. Nämlich einzig und alleine mit der von seinen gewaltigen Düsen erzeugten Kraft. Und das aus keinem anderen Grund, als damit eine Botschaft zu platzieren. Oder etwas zu beweisen. Wie Jack Morlar bzw. Richard Burton im Film das getan hatte.
Gerade die Umgebung Wiens hatte ein besonders attraktives Ziel für einen allfälligen Megaanschlag aus der Luft zu bieten: nämlich die zwischen der Stadt und dem Internationalen Flughafen liegende Großraffinerie mit ihrem Zentraltanklager am nördlichen Donauufer. Gewiss ein Ziel mit geringerem Symbolcharakter als die Twin Towers, aber mit enormer strategischer und wirtschaftlicher Bedeutung für den Osten des Landes. Wie sich da ein simpler Unfall auswirken würde, konnte man sich nach dem schrecklichen Treibstofflagerbrand nahe London im Dezember 2005 nur zu deutlich vorstellen. Ganz zu schweigen von einem gezielten Anschlag. Da könnte man schon einiges an ›emotions‹ erwarten, oder?
Ein wirklich wirksamer Schutz dagegen war schwer bis kaum vorstellbar. Denn selbst ein nur temporäres Verbot, das gewaltige Areal zu überfliegen, war angesichts der mehr als eintausend täglichen Flugbewegungen am quasi benachbarten Airport Vienna kaum realisierbar, ohne den größten Flughafen der Region lahmzulegen. Da würden auch die regelmäßig äußerst martialisch über die Stadt düsenden Euroflyer sowie die in Permanenz patrouillierenden Hubschrauber nur wenig helfen. Die eleganten, ziemlichen Krach machenden Fluggeräte würden zwangsläufig zur dramatischen Staffage einer gigantischen Inszenierung reduziert und zum Placeboeffekt degradiert werden.
Es war erstaunlich, dachte Palinski, dass bei dieser Nähe des Flughafens zur Raffinerie noch nie etwas der Art vorgefallen war. Eingedenk Murphys Gesetz, dass nämlich ›alles, was schiefgehen kann, auch einmal schiefgehen wird‹, wurde die Wahrscheinlichkeit eines entsprechenden Vorfalls allerdings mit jeder Minute größer.
Was aber, wenn just er mit der Bekanntmachung seiner Überlegungen und Zweifel diesen Vorfall, dessen Möglichkeit er eigentlich nur aufzeigen wollte, das schreckliche Geschehen ungewollt initiierte, indem er jemanden auf dumme Gedanken brachte? Und die Katastrophe damit schlicht und ergreifend erst auslöste? War er in so einem Falle als unbestritten prominentes Glied in der Kausalkette dann auch für die unabsehbar grauenhaften Konsequenzen mitverantwortlich?
Im strafrechtlichen Sinne sicher nicht, aber …?
Andererseits, wenn der Autor wider besseres Wissen, aus Skrupel, Feigheit oder aus welchen Gründen auch immer geschwiegen und mit diesem Schweigen den Eintritt eines Verbrechens oder terroristischen Anschlages begünstigt hatte, wie sah es dann mit seiner Verantwortung aus?
War es ihm, Mario Palinski, nach diesen Überlegungen und den Fragen, die er sich gestellt hatte, überhaupt noch möglich, etwas unbewusst oder ungewollt zu tun oder zu lassen? Aber war das nicht das Schicksal jedes denkenden Menschen überhaupt, das Risiko des Lebens? Das waren nicht gerade einfache, beruhigende Gedanken für einen friedlichen Morgen, musste sich Palinski eingestehen. Über dieses Thema wollte er bei Gelegenheit unbedingt noch sehr gründlich nachdenken. Jetzt war es aber besser, das Sinnieren zu beenden.
Er blickte auf seine Uhr. Es war bereits nach neun und damit höchste Zeit, sich kurz in seinem Büro zu zeigen, ehe er zu seinem Termin mit Rechtsanwalt Dr. Herburger musste. Der Streit mit Hektor Wiener entwickelte sich langsam wie die Mücke zum sprichwörtlichen Elefanten. Eine blöde Sache, aber die Sauerei mit dem Schnitzel, seinem Schnitzel, wollte und konnte Palinski dem präpotenten Fast-Food-Kaiser auf keinen Fall durchgehen lassen.
* * *
Anselm Wiegele war 37 Jahre alt und Hauptkommissar in der friedlichen Stadt Singen im wunderschönen Hegau. Für alle, denen diese Gegend kein Begriff sein sollte: Es handelte sich dabei um die Region am Westende des Bodensees. Warum und wie eine Stadt dieser Größenordnung zu einem eigenen Hauptkommissar gekommen war, war eine eigene Geschichte*. Aber dafür war jetzt keine Zeit.
Wiegele hatte seine noch nicht konsumierten Urlaubstage und den für zahlreiche Überstunden angefallenen Zeitausgleich zusammengelegt. Gemeinsam mit den drei Monaten unbezahlter Auszeit, deren Genehmigung man ihm nach der glänzenden Erledigung seines letzten Falles nicht hatte verweigern können, befand er sich derzeit in einer für mehr als ein halbes Jahr anberaumten Dienstfreistellung. Einer Art Urlaub, zumindest im technischen Sinne, denn tatsächlich hatte Wiegele in den vier Monaten seit Antritt dieses Urlaubes mehr gearbeitet als je zuvor im Rahmen seiner normalen Tätigkeit in Singen. Wiegele war nämlich stellvertretender Leiter des Security-Teams, das im Auftrag des Fußballbundes für die Sicherheit der deutschen Mannschaft bei der Europameisterschaft 2008 zu sorgen hatte.
Einmal hautnah bei einem dieser Megaevents des Fußballs dabei sein zu können, hatte sich der kleine Anselm schon gewünscht, bevor er noch als Schüler mehr engagiert als talentiert bei der SV Böblingen gestürmt war. Das war jetzt auch schon ein halbes Leben her, sinnierte Wiegele, aber jetzt war es endlich so weit. Er stand mit einigen seiner Kollegen und Mitarbeitern der Airline neben der Ladeluke des gewaltigen Airbusses A-320-232 im verspielten Design ›FlyNikis‹ und überwachte die Verladung des umfangreichen Gepäcks. Und das war wirklich nicht ohne, denn neben den persönlichen Sachen der Funktionäre, Spieler und Betreuer wurde beispielsweise auch knapp eine halbe Tonne speziell ausgewählter und streng kontrollierter Lebensmittel nach Österreich mitgenommen. Nicht, dass man befürchtet hätte, bei den Ösis nichts Ordentliches zwischen die Zähne bekommen zu können. Das wussten alle aus eigener Erfahrung besser. Aber in dieser von paranoiden Verschwörungstheoretikern infizierten, um nicht zu sagen dominierten Zeit musste man jede Eventualität berücksichtigen, durfte nicht das geringste Risiko eingehen. Wie schnell konnte beispielsweise eine auch nur leichte Magenverstimmung des einen oder anderen wichtigen Spielers den Ausgang eines Matches oder des gesamten Turniers beeinflussen. Und nach dem Abschneiden bei der WM vor zwei Jahren erwartete die Öffentlichkeit zwischen Flensburg und Rosenheim von der deutschen Elf schließlich nicht mehr und nicht weniger als den Titel des Europameisters.
Anfänglich hatte Wiegele die selbst für einen akkuraten Polizeimenschen etwas überzogen wirkenden Vorsichts- und Kontrollmaßnahmen ein wenig belächelt. Ja, sogar einiges Verständnis für den Wutausbruch des Küchenchefs des renommierten Wiener Schlosshotels ›Hermannskogel‹ gezeigt, als dieser hörte, dass er in seiner Küche nichts zu sagen haben würde, wenn es um das Essen der deutschen Kicker ging.
Nachdem er aber erfahren hatte, dass Emile Bergeron gebürtiger Elsässer und mit einer Wienerin verheiratet war, war auch für ihn natürlich nicht ganz von der Hand zu weisen gewesen, dass der Chef Tendenzen zu seinen alten Landsleuten haben könnte. Oder Sympathie für das Team seiner neuen Heimat. Nicht, dass Wiegele dem Haubenkoch deswegen unlautere Absichten unterstellt hätte, aber wozu etwas riskieren? Bei Frank Heberlein aus Eschborn, der die DFB-Auswahl schon seit der EM in Portugal bekochte, konnte man eben zu 150 Prozent sicher sein, für wen sein Herz schlug.
Wiegele freute sich schon auf Wien. Trotz des auch ohne die immer zu erwartenden unvorhergesehenen Ereignisse dichten Arbeitsprogrammes würde er zwischendurch etwas Zeit mit seiner Freundin Marianne Kogler verbringen können. Daneben freute er sich schon auf ein Wiedersehen mit seinem alten Freund Mario Palinski, mit dem gemeinsam er schon einige ›Schlachten‹ geschlagen hatte.
Ein Blick auf seine Uhr zeigte Wiegele, dass sie gut im Zeitplan lagen. Und der Hauptkommissar im Urlaub hoffte schon, dass dem für 12.30 Uhr terminierten Abflug der Sondermaschine von Frankfurt nach Wien nichts im Wege stand, als sein Blick auf ein etwa ein Meter im Kubik großes Paket fiel, das sich gerade das Förderband hinaufbewegte und in Kürze im gewaltigen Schlund der Maschine verschwinden würde.
»Band anhalten!«, rief Wiegele mit befehlsgewohnter Stimme, die auch sofort gehört wurde. »Was ist das für ein Paket?«, er deutete auf das in braunes Packpapier gewickelte Ding. Eine Schachtel, wie er vermutete. »Ist dieses Gepäckstück überhaupt in den Transportpapieren verzeichnet?«
War es nicht, und damit hatte sich die Situation innerhalb einer Sekunde um 180 Grad gewandelt. Der bislang freundliche, vielversprechende Tag hatte plötzlich etwas Feindliches, Gefährliches angenommen, das den Beamten trotz der angenehmen Außentemperaturen eine Gänsehaut über den Rücken jagte.
Wiegele musste nicht überlegen, was in so einem Fall zu tun war, und auch die anderen wussten es. Für so einen Fall sahen die Sicherheitsvorschriften eindeutig vor, dass man bei dem anonymen Gepäckstück vom denkbar Negativsten ausgehen musste, von dem man nur ausgehen konnte.
Im Falle eines Flugzeuges war das ein Gegenstand, der durch die chemische Reaktion zweier oder mehrerer Substanzen plötzlich ungeheuer viel Energie entwickeln und diese nach allen Seiten hin abgeben konnte. Auf gut Deutsch, man befürchtete das Vorhandensein einer Bombe, im Fachjargon Explosivkörper genannt.
Und das bedeutete jede Menge Ärger, gefährliche ›Action‹ für die für die Entschärfung vorgesehenen Spezialisten und vor allem auch, dass die Sondermaschine des DFB mit Sicherheit erst mit einiger Verspätung nach Wien starten konnte.
Seufzend holte Wiegele sein Handy heraus und setzte sich mit seinem Chef, dem ehemaligen Grenzschutzmajor Herwig Riesser, der bereits in Wien war, sowie mit der Delegationsleitung in Verbindung, um sie über die aktuelle Entwicklung zu informieren.
* * *
Die Bahnhofspolizei in Zürich hatte rasch reagiert und den Ankunftssteig bei Einfahrt des Zuges aus Wien bereits gesperrt. Bis zum Eintreffen Oberleutnants Beat Vonderhöh von der Mordkommission bei der Zürcher Kantonspolizei vergingen allerdings 20 Minuten. Das bedeutete, dass die Fahrgäste der Schlaf- und Liegewägen, die man bisher freundlich, aber bestimmt am Verlassen des Bahnsteiges gehindert hatte, langsam sauer wurden. Noch dazu, da die meisten nicht wussten, worum es eigentlich ging.
Vonderhöh hatte drei Kollegen mitgebracht und im ohnehin schon reichlich gut besuchten Bahnhofsrestaurant einen kleinen Raum requirieren lassen. Zum großen Ärger des Managements, das sich aus Erfahrung und zu Recht von der Kantonspolizei nicht allzu viel Umsatz erwartete.
Viel konnten die vier Beamten zu diesem Zeitpunkt nicht machen. Mithilfe von Fotos, die mit einer Sofortbildkamera gemacht worden waren, versuchten sie herauszubekommen, welche Fahrgäste Arthur Mellnig überhaupt wahrgenommen hatten oder möglicherweise sonst etwas zur Klärung der Angelegenheit beitragen konnten. Die Namen und Anschriften dieser Personen, aus dem vorderen Zugsteil waren das nur ganz wenige, wurden schließlich notiert. Dann konnten sie gehen.
Als deutlich ergiebiger erwiesen sich schließlich einige Fahrgäste der drei am Zugschluss gereihten Wagen der ›Caile Ferate Romane‹ (CFR), also der Rumänischen Staatsbahnen. Mit diesen hatte die rumänische Fußballnationalmannschaft samt Betreuerteam die Reise in die Schweiz angetreten. In den beiden Liegewägen hatte man zwar nicht sehr viel mitbekommen, in dem zwischen dem übrigen Zug und den beiden anderen Waggons geführten Speisewagen dagegen so einiges.
Das Zugrestaurant war eigentlich nur für die rumänische Reisegruppe bestimmt gewesen. Aber die Crew war nicht nur gastfreundlich, sondern auch gut bevorratet und einem kleinen Nebengeschäft gegenüber nicht abgeneigt gewesen. Langer Rede kurzer Sinn: Reisende aus Wien, die nach der vergeblichen Suche nach Speis und Trank im vorderen Zugsteil endlich auf den leicht verschmutzten, in dieser Situation ungemein einladend riechenden und von freundlichen Menschen bewirtschafteten Fresswaggon aus Bukarest gestoßen waren, waren herzlich willkommen geheißen und mit Cierba de Burta, Sarmale und Pasca, ungarischem Schnaps und österreichischem Bier verwöhnt worden.
Mellnig war unabhängig voneinander von zwei Mitarbeitern, drei Spielern und zwei Funktionären im Speisewagen gesehen worden. Und das in Gesellschaft einer einhellig als hinreißend beschriebenen Frau, die lediglich von der einzigen weiblichen Zeugin etwas abwertend als ›ein wenig hurig aussehend‹ bezeichnet wurde, wie der recht ordentlich Deutsch sprechende Ersatztorhüter übersetzte.
Aber das Beste kam erst am Schluss zutage. Marian Adelescu, Funktionär des Rumänischen Fußballverbandes, gab schließlich sogar ohne Umschweife zu, dass er den Toten – ›Herr Mellnig, is …, äh, war Referee‹ – sofort erkannt hatte. Er hatte den Mann bei einem UEFA-Cup-Spiel zwischen Steaua Bucuresti und Legia Warschau, das Mellnig vor etwas mehr als einem Jahr gepfiffen hatte, gesehen und sich an ihn erinnert. »Ich aber nicht mit ihm sprechen«, erklärte Adelescu in akzeptablem Deutsch, »wegen der wilde Frau vielleicht nix gut.« Er zuckte vielsagend mit den Achseln: »Na hoffentlich er hat noch gehabt ein gutes Fick, bevor tot.« Er lächelte gutmütig, blickte auf seinen dicken Bauch und sah seine eigene Sterblichkeit möglicherweise plötzlich in einem ganz anderen Licht.
Der Tote im Schlafwagen also ein Schiedsrichter, in Begleitung einer wilden Frau, das war mehr, als Oberleutnant Beat Vonderhöh auf die Schnelle zu erfahren gehofft hatte, viel mehr. Ein Anfang, der ihn optimistisch stimmte.
* * *
Harry Bachler war 20 Jahre jung, der Sohn von Wilma Bachler und Mario Palinski, und auf dem Weg zur Ballprobe. Ballproben waren Anfang Juni grundsätzlich eine Rarität, auch in der ballverrückten österreichischen Hauptstadt. Aber – ›Expect emotions‹* – es wäre nicht Wien, würde die Stadt der Geiger und der Tänzer die Gelegenheit einer Europameisterschaft nicht wahrnehmen, um dem Kontinent und dem Rest der Welt zu zeigen, dass es Dinge gab, die die Österreicher besser beherrschten als das Spiel mit der runden Kugel. Und davon gab es eine ganze Menge.
Daher fanden heuer neben dem traditionellen Presseball, der jedes Jahr im Juni im Wiener Rathaus veranstaltet wurde, einige weitere festliche Veranstaltungen statt. Allen voran der ›Europäische Sportball‹ am 12. in der Hofburg und der ›Ball der Österreichischen Bundesliga‹ am 16. im Palais Auersperg.
Wie auch immer, in Wien stand wieder einmal eine Ballsaison vor der Türe, diesmal allerdings im Juni und im doppelten Sinne des Wortes. Eine der besonderen Art also.
Für Harry Bachler war tanzen oder besser das, was er bis vor Kurzem darunter verstanden hatte, lediglich Mittel zum Zweck gewesen. Ein Weg, um sich bei entsprechenden Gelegenheiten an ein Mädchen heranzumachen und dieses in einer auf einer Abfolge von verrückten Zuckungen oder engem Körperkontakt basierenden nonverbalen Kommunikation davon zu überzeugen, dass er, Harry, der Richtige für sie war. Zumindest für die nächsten Stunden. Ausgerechnet bei Irmi Weinbrugger, der einzigen Tochter des Generalsekretärs des Österreichischen Sportförderungsfonds, war Palinskis Bub mit dieser Masche besonders erfolgreich gewesen. Rasch war die knapp 19-jährige Irmgard von Harrys Einzigartigkeit überzeugt und fasziniert gewesen, und daran hatte sich seit mehr als einem halben Jahr nichts geändert.
Im Gegenteil, der jungen Frau gelangen Dinge, die sie in Wilmas und Palinskis Augen als begeisternde Mischung aus wundersamer Fee und faszinierender Hexe erscheinen ließen. Aus dem postpubertären Monster Harry war plötzlich ein angenehmer junger Mann geworden. Als er seinen Eltern vor etwas mehr als drei Monaten anvertraut hatte, mit Irmi im Jungdamen- und Herrenkomitee für den ›Sportball‹ mitmachen zu wollen und daher in zwei Monaten des Linkswalzers mächtig sein zu müssen, war Palinski so viel reaktionäre Anpassung fast suspekt und zu viel des Guten gewesen.
Aber bitte, auf einen Crashkurs Linkswalzer in Wiens traditionsreichster Tanzschule sollte es Palinski nicht ankommen. Harry und Linkswalzer, allein die Vorstellung war schon lächerlich. Das würde sein Sohn nie schaffen. Never. Doch da musste der junge Mensch selbst draufkommen.
Und dann geschah das Unfassbare: Schon bald nach Beginn des Kurses überraschte Irmi mit der unglaublichen Nachricht, dass ›Harry links walzte wie ein junger Gott‹. Zunächst war Palinski erschüttert über den Befund, schließlich aber stolz. Sehr sogar. Denn einen Sohn zu haben, der ein Naturtalent war, gefiel ihm nicht schlecht. Wirklich nicht.
Da Harry noch etwas Zeit hatte, bis er Irmi traf, um zur Probe zu gehen, machte er einen kleinen Umweg über den Stephansplatz. Obwohl das große Fußballfest erst in einigen Tagen beginnen sollte, war das Zentrum bereits von zahlreichen Schlachtenbummlern bevölkert, die in ihrer teilweise komischen Bekleidung und den mitgeführten Fähnchen das ohnehin schon bunte Stadtbild noch mehr belebten. Ebenso bemerkenswert war aber auch die nicht zu übersehende Präsenz der teilweise sehr martialisch wirkenden Burschen in Kampfanzügen und mit automatischen Waffen, die die Polizei verstärkten und das Geschehen genau beobachteten. Das schuf eine etwas beklemmende Atmosphäre, die auch durch die beiden, wie zwei putzige Alpen-Meckies im Eingangsbereich des Haas-Hauses herumalbernden EM-Maskottchen Trix und Flix nicht aufgelockert wurde. Kein Witz, die beiden hießen so. Sie verdankten ihre Namen einem kollektiven Kraftakt zentraleuropäischer Originalität.
Vor dem Haupttor war der Zugang in den Stephansdom durch eigens aufgebaute Metallbarrieren auf eine Breite von vielleicht 1,5 bis 2 Metern verengt worden. Menschen, die in den Dom wollten, mussten sich ausweisen und eine Untersuchung mit einem Metalldetektor über sich ergehen lassen. Da die Prozedur einige Zeit in Anspruch nahm, hatte sich eine lange Schlange gebildet, die weit in den Platz hineinreichte.
Harry wunderte sich über diese seinem Empfinden nach übertriebene Maßnahme, die ihm irgendwie Unbehagen bereitete. Die Antwort auf seine unausgesprochene Frage erhielt er von einem neben ihm stehenden älteren Paar. »Angeblich hams a Attentatdrohung kriegt«, erklärte der Mann der Frau. »Irgendwöche Irre wolln den Stephansdom in’d Luft sprengn.«
Das rechtfertigte wahrscheinlich das rigorose Vorgehen der Polizei, musste Harry einräumen, die über der Szene lastende Stimmung wurde dadurch aber noch bedrückender. Aber es entschuldigte sicher nicht das teilweise etwas ruppige, ja grobe Verhalten einiger junger Beamter im Kampfanzug. Gerade hier und jetzt hätte es besonderer Höflichkeit bedurft, um die Lage zu entspannen. Aber entweder waren die Burschen selbst so unsicher und versteckten diese Unsicherheit hinter schlechtem Benehmen. Oder sie machten sich einen Spaß daraus, die Menschen zu schikanieren, und damit schlichtweg einen schlechten Job.
Komisch, wunderte sich Harry, dass so viele kleine Kinder mit ihren Eltern in den Dom wollten. Wenigstens gegenüber den Kleinen waren die Vertreter der Ordnungsmacht etwas umgänglicher, nicht so geschäftsmäßig grob. Sie untersuchten die Kinder, wenn überhaupt, nur höchst oberflächlich und versuchten dabei, freundlich zu blicken. Ja, einer der Beamten riskierte sogar ein bescheidenes Scherzlein mit einem kleinen Buben in einem roten T-Shirt mit der Nummer 8 am Rücken. Und der Versuch stand dem Mann gar nicht schlecht zu Gesicht.
In den zehn Minuten, die Harry die Szenerie beobachtet hatte, hatten etwa ebenso viele Kleinkinder mit ihren Eltern den Dom betreten. Buben und Mädchen, Schwarzhaarige, Blonde und Brünette, modisch und ärmlich gekleidete sowie brave und schlimme Kinder. Trotz aller Unterschiede hatten sie aber eines gemeinsam: etwas sehr Banales, in der konkreten Situation aber doch höchst Ungewöhnliches. Das sollte Harry allerdings erst später bewusst werden und noch viel später sehr seltsam vorkommen.
* * *
Nachdem das Bombenentschärfungsteam am Flughafen Frankfurt angerückt war, alle Zivilpersonen vom Ort des Geschehens verwiesen und das auf keiner Ladeliste verzeichnete Paket oberflächlich untersucht hatte, herrschte zunächst Ratlosigkeit. Zwar deutete nach dem derzeitigen Erkenntnisstand nichts darauf hin, dass es sich bei dem Inhalt um einen Explosivstoff handelte. Andererseits arbeiteten die internationalen Bombenleger in den letzten Jahren auf einem derart hohen technologischen Niveau, ja, waren den Sicherheitskräften häufig sogar einen Schritt voraus, sodass alleine der Transport des herrenlosen Frachtgutes von seinem derzeitigen zu einem sichereren Standort nicht ohne erhebliche Risiken möglich war.
Deshalb entschieden sich die Verantwortlichen dafür, das Paket durch einen eigens dafür vorgesehenen Roboter an eine weniger exponierte Stelle und dort zur Explosion bringen zu lassen. Der Plan war gut, alleine, er funktionierte nicht. Nachdem der Roboter sein komplettes, nicht unbeträchtliches Spektrum an Bomben auslösenden Maßnahmen ohne Erfolg durchgespielt hatte, entschied Hauptmann Wegener, der Leiter der ›Bomb Squad Airport Frankfurt‹, dass das ›Scheißding‹ jetzt endlich geöffnet werden sollte.
Auch dafür war der Roboter konstruiert, und daher war nach wenigen Sekunden klar, was den unerschrockenen Mannen von der BSAF um ein Haar um die Ohren geflogen wäre. Nämlich, und das erklärte auch das befreiende Gelächter, in das alle Umstehenden nach Abklingen des Überraschungsmoments einfielen, vier Original ›Oldenburger Landschinken‹ am Bein, zu je rund 16 Pfund das Stück. Der beiliegende Brief an Chefkoch Frank Heberlein beseitigte schließlich auch noch das letzte Dunkel um diese explosive Angelegenheit: Der Lieferant der auf den Ladelisten und Transportpapieren ordnungsgemäß verzeichneten übrigen Fleischwaren hatte mit dieser inoffiziellen Geste seinen Dank und dem Team seine besten Wünsche für die Europameisterschaft zum Ausdruck bringen wollen.
So erfreulich harmlos sich die ganze Sache schließlich dargestellt hatte, sie bedeutete doch eine mindestens zweistündige Verspätung des Fluges nach Wien, wie Wiegele mit einem missvergnügten Blick auf seinen Chronometer konstatierte. Aber besser später angekommen als gar nicht.
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»Dann gehen wir am besten mit einer einstweiligen Verfügung gegen ›Wieners Beisl-Bar‹ vor«, empfahl Rechtsanwalt Dr. Rainer Maria Herburger. »Damit wird Ihr Kontrahent gezwungen, dieses Schnitzel, dessen Rezept er gegen Ihren Willen verwendet, sofort von der Karte zu nehmen. Und dann verklagen wir den Laden in aller Ruhe auf Schadenersatz.« Palinski nickte zustimmend. So hatte auch er sich das vorgestellt. Eine normale Klage auf Unterlassung hätte im konkreten Fall wenig Sinn. Die würde vielleicht in drei Monaten, also lange nach Ende der EURO, verhandelt werden und dem miesen Geschäftemacher lediglich ein müdes Lächeln kosten. Nein, um Wiener das präpotente Lachen aus dem feisten Gesicht zu vertreiben, musste sofort etwas geschehen.
Die ganze Sache hatte eigentlich schon vor knapp zwei Jahren begonnen. Palinski hatte damals aus schierer Lust am Spaß an einem Schnitzelwettbewerb anlässlich der Eröffnung eines neuen Lokals Hektor Wieners teilgenommen. Dabei hatte er mit seiner Kreation, dem ›Palinski-Schnitzel‹, den beachtlichen, für ihn persönlich aber eher enttäuschenden 5. Platz belegt*. So weit, so gut.
Vor etwas mehr als drei Wochen war Palinski eine ganzseitige Anzeige der Wiener Beisl-Bars in einer Tageszeitung ins Auge gesprungen, in welcher der smarte Gastronom sein spezielles Angebot für die Fußballverrückten aus allen Ländern Europas vorgestellt hatte. Nämlich Schnitzelkreationen aller teilnehmenden Nationen.
Und da war er dann auch unübersehbar zu sehen gewesen, sein, Palinskis Wettbewerbsbeitrag, der jetzt plötzlich ›feurig-scharfes Schnitzel à la Polska‹ hieß. Wiener hatte sich nicht einmal entblödet, den Hinweis ›nach einem Originalrezept der Familie Palinski‹ anzubringen. Hatte wohl gemeint, mit der Angabe der Quelle wäre alles erledigt.
Da war dem sonst eher langmütigen Mario der Hut hochgegangen. Das war nicht nur eine schamlose Aneignung seines Rezeptes, sondern auch eine ungeheuerliche Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte. Und nicht zuletzt in der dargestellten Form auch schlicht und einfach irreführend. Mit einem Wort, eine Riesensauerei.
Von schierer Frechheit zur veritablen Chuzpe mutierte die Angelegenheit dann aber angesichts eines seit etwa einer Woche landesweit ausgestrahlten Fernsehspots, in dem eine kurze Sequenz der seinerzeitigen Wettbewerbsreportage verwendet worden war. Nämlich jene, in der Palinski sein Schnitzel, leicht dümmlich lächelnd, in die Kamera hielt. Die Aufnahme war seinerzeit im Zuge des finalen Schnitzelbackens von einem lokalen TV-Team gemacht worden.
Zornig hatte Palinski in Wieners Zentrale angerufen, den Herrn über österreichweit inzwischen insgesamt 71 Betriebe aber nicht zu sprechen bekommen. Und ein Dr. Rambader von der Geschäftsleitung hatte ihn nur kalt abfahren lassen. »Die ganze Kampagne ist juristisch wasserdicht«, hatte der unmögliche Kerl behauptet und ihn beinahe ausgelacht. »Sie können uns ja verklagen.«
Dazu war Palinski ursprünglich auch wild entschlossen gewesen. Jetzt aber ging es ihm nur mehr darum, die Sache in Ordnung zu bringen. Und dazu waren außergerichtliche Regelungen ebenso gut, oft sogar besser geeignet als der vor allem optisch sehr gewichtig wirkende Weg zu Gericht.
»Wissen Sie was?«, meinte er jetzt zu seinem Anwalt. »Wir geben den Säcken noch eine letzte Chance. Rufen Sie Wiener oder diesen unmöglichen Dr. Rambader an und setzen Sie ihm eine kurze Frist. Entweder er macht uns bis, sagen wir, morgen 17.00 Uhr ein geeignetes Angebot, die Angelegenheit zu bereinigen, oder wir holen uns am Donnerstagmorgen die einstweilige Verfügung beim Gericht. Und dann finito, adios, großes Schnitzelgeschäft während der Europameisterschaft.«
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Während sich der deutsche Teamchef in Frankfurt die Zeit bis zum Abflug im Gespräch mit einigen Journalisten vertrieb, hatte sein österreichischer Kollege seine Schützlinge gerade für zwei Nächte nach Hause entlassen. Die Burschen waren die letzten zehn Tage in der Sportschule Lindabrunn kaserniert gewesen. Da sie ihre Familien oder Freundinnen andernfalls erst nach Abschluss der Gruppenphase, also nach mehr als weiteren zwei Wochen wiedersehen würden, war dieser Heimaturlaub nach Ansicht des Bundestrainers unbedingt notwendig, um einem Lagerkoller vorzubeugen.
So, jetzt musste er nur noch die tägliche routinemäßige Pressekonferenz über sich ergehen lassen, auf die die Damen und Herren der schreibenden Zunft so knapp vor Beginn eines Events dieser Art einfach nicht verzichten konnten. Hannes Nickelsbacher, der zwischen Achmed Attamachi, dem offensiven Mittelfeldspieler Rapids, und Freddie Weinbauer, dem Ersatztorhüter der Austria, saß und die immer gleichen Fragen der Journalisten beantwortete, hatte ein gewisses Verständnis dafür. Immerhin hatten sie die Seiten in den Blättern ja mit irgendwelchen Neuigkeiten zu füllen. Auch wenn es eigentlich nichts zu berichten gab, außer den sich lediglich in Nuancen ändernden Befindlichkeiten der Spieler, die er häufig bewusst ein wenig in die eine oder andere Richtung aufbauschte, um überhaupt etwas zum Erzählen zu haben.
Ja, ja, Fußball war ein Spiel, das lange vor dem Anpfiff begann und nach 90 Minuten keineswegs zu Ende war. Wie mancher Naivling vielleicht annahm. Nickelsbacher war schon sehr lange dabei, sowohl als Spieler als auch als Trainer. Er kannte die Gesetzmäßigkeiten des Sports, und er beherrschte seine Regeln. Dass das österreichische Team in den letzten Jahrzehnten im internationalen Vergleich immer schwächer geworden war und außer gelegentlicher Überraschungen, guter zweiter Halbzeiten und zahlreicher Hättma-Spielen* nicht viel zu bieten gehabt hatte, gehörte auch zu diesen Gesetzmäßigkeiten.
Und dennoch, 30 Jahre nach der legendären Schlacht von Córdoba, diesem Triumph der Hoffnung über die Wahrscheinlichkeit, dieser Allzeitgröße im Leben eines österreichischen Fußballnarren seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts, war es an der Zeit, dem großen Bruder im Nordwesten endlich wieder einmal auch im Fußball auf die Zehen zu steigen.
»Ich habe ein gutes Gefühl …«, entfuhr es Nickelsbacher völlig ungefragt, ja unbewusst und Achmeds Einschätzung der Klasse seiner zu erwartenden Gegenspieler damit unterbrechend.
Verwundert und interessiert richteten sich alle Blicke auf den Trainer, dem sein geistiges ›Trenzen‹ damit erst so richtig bewusst wurde.
»Wie meinen Sie das?«, rasch hatte sich Franz Zeschke von der ›Alles vom Tag‹ auf die unerwartete Steilvorlage gestürzt. »Generell oder auf ein bestimmtes Spiel bezogen?«
Der Teamchef war erfahren genug, seine geistige Blähung jetzt wie das Ergebnis eines ausgewogenen Nachdenkprozesses aussehen zu lassen. Dramaturgisch eindrucksvoll ließ er einige Sekunden vergehen, ehe er mit seinem Sprüchlein begann:
»Bei der WM 1954 haben wir nach einem legendären 7:5 gegen die Schweiz Uruguay im Spiel um den 3. Platz besiegt«, er holte bewusst weit aus, um etwas Zeit zu gewinnen. »1978 haben wir es den Deutschen in Córdoba gezeigt. Und ich denke, 54 Jahre nach Bern und 30 Jahre nach Córdoba ist es endlich wieder an der Zeit, der Fußballwelt zu zeigen, dass man auch hierzulande mit dem Ball umgehen kann.«
Das war mehr eine patriotische Absichtserklärung denn eine realistische Einschätzung der Lage, fanden nicht nur die Journalisten, sondern auch die beiden Kicker am Podium. Aber egal, das war der Stoff, aus welchem Träume gemacht wurden. Der zunächst nur zögernd einsetzende Applaus steigerte sich zunehmend zu einer begeisterten Akklamation des Bundestrainers. Diese eindrucksvolle Demonstration patriotischen Optimismus in Verbindung mit einem kleinen, aber nicht zu übersehenden Touch von Naivität, die man bei diesem Mann ganz und gar nicht vermutet hätte, berührte alle Anwesenden sichtlich. Wie schön, dass es noch Visionäre gab in dieser ach so pragmatischen, von Vernunft erdrückten Zeit
Ehe sich das Ganze zu einer etwas peinlich wirkenden Huldigung mit ›Standing Ovation‹ und so auswuchs, wurde plötzlich die Türe aufgerissen und ein aufgeregter, seiner völligen Auflösung entgegenschwitzender Alois Mengler, seines Zeichens Tormanntrainer, stürmte in den Raum.
»Hannes, Hannes«, schrie er, »eine Katastrophe! Der Pkw vom Lumpi ist auf der Fahrt nach Wien in einen Verkehrsunfall verwickelt worden. Er und der Hatscherte sind verletzt und ins Unfallkrankenhaus Meidling gebracht worden.«
»Jetzt habe ich echt ein schlechtes Gefühl«, murmelte Nickelsbacher, und damit war es ihm diesmal ernst. Er stand auf. »Meine Damen und Herren, wir müssen die Pressekonferenz …« leider abbrechen musste er schon gar nicht mehr sagen, denn die Journalisten waren bereits unterwegs zu ihren Fahrzeugen. Um so rasch wie möglich ihre Redaktionen zu informieren und dann ins Krankenhaus zu rasen. Lumpi und der Hatscherte verletzt. Gott, was für eine Schlagzeile das wieder geben würde!
Die Nachricht von Arthur Mellnigs Tod hatte im Hauptquartier der UEFA eingeschlagen wie eine Bombe. Die Information war zuerst bei einer noch in Probezeit befind-lichen Mitarbeiterin im Generalsekretariat gelandet, die ihre Bedeutung zunächst nicht erkannte und sie erst mit einiger Verzögerung an ihren Chef weiterleitete.
Nun war der unnatürliche Tod eines Schiedsrichters, korrekter formuliert, eines UEFA-Schiedsrichters, schon an und für sich keine erfreuliche Angelegenheit. Und schon gar nicht einige Tage vor Beginn einer Megaveranstaltung der Art, wie sie nun bevorstand. Der Grund, warum sich die größtenteils in Nyon anwesenden Mitglieder der UEFA-Schiedsrichterkommission innerhalb einer knappen Stunde zu einer ersten Krisensitzung zusammenfanden, war aber ein ganz anderer.
Sportliche Großereignisse wie eine Fußballeuropameisterschaft setzten unvorstellbare Geldmengen in Bewegung. Darunter auch in Bereichen, die es Menschen ermöglichten, in kürzester Zeit viel Geld zu machen. Oder, die zumindest als Möglichkeit dafür angesehen wurden. Wie vor allem das schon immer und derzeit mehr denn je boomende Wettgeschäft.
Off- oder online, offiziell oder schwarz, in Zeiten wie diesen wurde gezockt, als ginge es um das ewige Leben und auch noch die Zeit danach.
Zur Durchsetzung egoistischer Interessen und zur Verbesserung der eigenen Chancen wurde dabei auch nicht auf den Einsatz krimineller Methoden verzichtet. Einzelne Fälle von Manipulationen und Wettbetrug im normalen Spielbetrieb waren ja aus der jüngeren Vergangenheit noch in Erinnerung.
Wenn aber jetzt schon Spiele wie ›Muttersberg gegen Grabanz‹ oder ähnliche Highlights von bestenfalls regionaler Bedeutung zigtausende Euro an Bestechungsgeldern zum Fließen brachten, um wie viel mehr war der globalen Wettmafia dann ein ›vorhersehbares‹ Ergebnis bei ›Italien gegen Spanien‹ oder ›Deutschland gegen England‹ wert?
›Wette‹ wurde definiert als ›unbestimmtes, in Zukunft liegendes Ereignis‹. Auf den Ausgang dieses unbestimmten Ereignisses wurde nun gewettet. Und je vorhersehbarer der Ausgang, desto geringer die Quote für den Fall, dass man mit seiner Einschätzung richtiglag.
Umgekehrt bedeutete das aber auch, dass die Quoten förmlich in das Universum schossen, falls man auf einen höchst unwahrscheinlichen, ja fast unmöglichen Ausgang setzte. Da war viel, sehr viel Musik drinnen.
Wie schön wäre es erst, dachten einige böse Buben, scheinbar höchst unwahrscheinlich, ja unmöglich erscheinende Ausgänge unbestimmter zukünftiger Ereignisse für eine ganz kleine, exklusive Gruppe ein wenig wahrscheinlicher, möglicher werden zu lassen. Nämlich indem man mittels entsprechenden Kapitaleinsatzes den Wettausgang beeinflusste. Bei den enormen möglichen Gewinnen geschickt manipulierter Wetten konnte man sich das schon einiges kosten lassen.
Hohe Gewinnchancen bei geringem Verlustrisiko, das machte das Zockerleben erst so richtig schön. Obwohl, mit Zocken hatte das dann eigentlich nichts mehr zu tun.
Auf jeden Fall fürchtete die Schiedsrichterkommission nichts mehr als schwarze Schafe in den eigenen Reihen. Referees, die in speziellen, heiklen Situationen durch eine Entscheidung wissentlich und willentlich ein Spiel in die eine oder andere Richtung hin beeinflussten. Die Zunft der Pfeifenmänner hatte ohnehin schon genug unter dem Stigma der Fehlpfiffe zu leiden, also den nach bestem Wissen und Gewissen erfolgenden Entscheidungen, die aber auf falschen Voraussetzungen fußten. Das war oft sehr hart für die betroffene Mannschaft, ja entscheidend.
Doch was half das Jammern: Shit happens nun einmal.
Gegen Geld ein Spiel zu verkaufen, war dagegen eine ganz andere Sache und geeignet, das gesamte Fußballbusiness in Misskredit zu bringen. Die leidige Affäre in Italien vor einigen Jahren war allen noch in schlechtester Erinnerung.
In so einem Fall konnte man gar nicht hart genug gegen die Verantwortlichen vorgehen.
Vor vier Tagen hatte sich Arthur Mellnig telefonisch mit Ian McBrody, dem schottischen Vertreter in der Kommission, in Verbindung gesetzt. Mellnig hatte den Briten bei einer Schulung kennengelernt und zu dem bulligen Spitzenschiedsrichter, den er als Vorbild ansah, Vertrauen gefasst. Nach Abschluss der Fortbildungsveranstaltung hatte McBrody den ehrgeizigen jungen Wiener eingeladen, sich doch bei Gelegenheit einmal bei ihm zu melden. Was Mellnig vor einigen Tagen auch getan hatte, wenn auch nicht ganz in der von dem Schotten ursprünglich gemeinten Unverbindlichkeit.
»Arthur war ganz aufgeregt und hat etwas von ›Die wollen die EM zerstören, die wollen tatsächlich unseren Sport kaputt machen‹ gestammelt«, musste der Schotte bereits zum dritten Mal wiederholen. Mehr wusste er auch nicht, denn Mellnig hatte sich geweigert, am Telefon darüber zu sprechen. Er hatte befürchtet, beobachtet und abgehört zu werden. Darum hatte er auch von einem Münzautomaten aus angerufen und sich sehr kurz gehalten.
Nach Rücksprache mit Generalsekretär de Graaf hatte McBrody den Österreicher aufgefordert, so rasch wie möglich nach Nyon zu kommen und zu berichten.
Betroffen bestätigte der korpulente Niederländer den letzten Satz des Schotten mit einem Kopfnicken. »Vielleicht hätten wir Vorsorge für seine Sicherheit treffen müssen«, räumte de Graaf ein, »aber wer hat schon ahnen können, dass diese Leute diesmal so weit gehen würden?«
»Nun ja«, gab der Römer Ernesto Baldini zu bedenken, »diesmal geht es eben nicht nur um ein paar geschobene Spiele der Serie A oder der Bundesliga, sondern um die Europameisterschaft. Je größer der Kuchen, desto schärfer das Kuchenmesser. Eine alte umbrische Bauernweisheit«, meckerte er lustlos. Was die anderen Anwesenden in dieser Situation als absolut unpassend empfanden.
»Aber wieso haben sich diese …, wer immer sie auch sein mögen, Personen gerade an Mellnig gewandt?«, grübelte McBrody. »Der Mann war lediglich auf der Standby-Liste für die Assistenten. Es besteht«, er korrigierte sich betroffen, »bestand lediglich eine minimale Chance, dass er überhaupt zum Einsatz kommen würde, geschweige denn bei einem bestimmten Spiel.«
»Wir müssen aber davon ausgehen, dass die Schweine, die hinter dem Ganzen stecken, damit rechneten, dass Mellnig im Zuge der Ereignisse an eine für sie wichtige Stelle gerückt wäre, eine entscheidende Position eingenommen hätte«, schlussfolgerte der Schwede Per Svenson messerscharf. Kein Wunder, er war im Zivilberuf Staatsanwalt. »Und damit haben wir jetzt zwei riesige Probleme. Einmal den Mord an Mellnig und zweitens …«
»Wie sollte unser ermordeter Kollege in eine Situation gebracht werden, in der er in der Lage sein würde, ein Spiel maßgeblich zu beeinflussen?«, fiel ihm de Graaf ins Wort, der Anwalt und daher auch nicht gerade ein Langsamdenker war. »Welche weiteren Kollegen sind dadurch in Gefahr? Und welche sitzen möglicherweise im Boot mit diesen Schweinen?«
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Nach der Ballprobe waren Irmi und Harry noch eine Kleinigkeit essen gegangen, eher er sie zu ihrer Vorlesung an der Wiener Hauptuniversität brachte. Sie studierte Soziologie und Politikwissenschaften und wollte später einmal in die Politik gehen. Und da sie sowohl ihr Studium als auch ihren Berufswunsch sehr ernst nahm, konnte Harry sie auch nicht zum ausnahmsweisen Schwänzen ihrer heutigen Verpflichtungen überreden.
»Wäre ich jedes Mal, wenn das Wetter schön und dir danach ist, nicht zu meinen Vorlesungen gegangen, hätte ich im Mai die Uni kein einziges Mal von innen gesehen«, wehrte sie seine stürmischen Versuche mit liebevoller Strenge ab. »Wenn es dir egal ist, wie lange du für dein Studium brauchst, ist das deine Sache«, stellte sie dann ernsthaft fest. »Aber ich möchte mit meinem so rasch wie möglich fertig werden. Verstehst du?« Jetzt gab sie ihm einen liebevollen Klaps auf den Oberarm, dann noch einen Kuss auf die Wange und verschwand in dem altehrwürdigen Gebäude am Ring.