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Es ist wirklich kein guter Tag für Hans Garber, so kurz vor Weihnachten: Erst wird der Wiener Bankdirektor der versuchten Vergewaltigung beschuldigt, dann erfährt er, dass seine Villa in Klosterneuburg in die Luft geflogen ist. In den Trümmern wurde seine tote Frau entdeckt. Gleichzeitig wird der Kriminologe Mario Palinski mit einem merkwürdigen Fall beauftragt: Dr. Axel Rossbach, dessen Zahnarztpraxis sich im selben Haus wie Palinskis Büro befindet, bittet ihn um Schutz. Vor 30 Jahren hatten er und sechs Schulfreunde einen Pakt geschlossen und sich zur "Siebener-Tontine" zusammengefunden, um ihre Freundschaft über die Schule hinaus für das ganze Leben zu besiegeln. Doch mittlerweile sind fünf der sieben Freunde auf höchst fragwürdige Weise verstorben. Axel Rossbach hat Angst, der nächste zu sein. Palinski nimmt die Herausforderung an. Und schon bald ist er sich sicher, dass es zwischen den beiden Fällen einen Zusammenhang geben muss.
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Seitenzahl: 301
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Pierre Emme
Florentinerpakt
Palinskis achter Fall
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von Georg Mladek
ISBN 978-3-8392-3042-8
Es war kurz vor Mitternacht, als das Taxi vor einer schönen, alten, etwas sanierungsbedürftig wirkenden Villa in Klosterneuburg hielt.
Eine elegante Dame mittleren Alters stieg aus, bezahlte den Fuhrlohn und nahm die Reisetasche entgegen, die der Chauffeur aus dem Kofferraum geholt hatte. Dann öffnete sie das unverschlossene schmiedeeiserne Gartentor, durchquerte den großzügig dimensionierten Vorgarten und suchte die Taschen ihres teuren Silberfuchsmantels nach dem Schlüsselbund ab.
Sie hatte das Haus vor fünf Tagen nach einem heftigen Streit mit ihrem Mann verlassen und war zu ihrer Mutter nach Gmunden gefahren. Diese Auseinandersetzung war exakt jener Tropfen gewesen, der das seit einigen Jahren immer voller gewordene Fass endgültig zum Überlaufen gebracht hatte.
Eigentlich hatte sie gar nicht vorgehabt, vor dem 23. des Monats wieder nach Hause zurückzukehren. Sowohl sie als auch ihr Mann brauchten viel Zeit zum Nachdenken. Denn so wie bisher konnte es wirklich nicht weitergehen. Aber nach dem Anruf heute Mittag hatte sie das Gefühl gehabt, dass es vielleicht doch besser wäre, selbst nach dem Rechten zu sehen. Und das sofort. Was immer sie auch vorfinden würde, es würde ihre Zukunft stark beeinflussen. Da war sie sich ganz sicher.
Der Schlüsselbund musste doch irgendwo im Gepäck sein, in den tiefen Taschen ihres Edelpelzes hatte sie ihn nicht finden können. Komisch, wie viele Menschen sich inzwischen über den wunderschönen Mantel aufregten. Alles Neidhammel, die sich den Luxus einfach nicht leisten konnten und diesen Umstand mit pseudotierschützerischen Parolen zu kaschieren versuchten. Artenschutz, so ein Blödsinn. Wo doch jeder wusste, dass diese Viecher speziell gezüchtet wurden. Ohne ihren Mantel hätten die armen Tiere keine Chance gehabt, überhaupt auf die Welt zu kommen. Und sie kannte sogar den Züchter. Ein tierliebender Mensch, der sein Kapital sicher sehr gut behandelte.
Heute im Zug war sie wieder von so einem verwirrten Wesen angesprochen worden, das etwas von »Webpelz« gefaselt hatte. Mein Gott, konnten oder wollten diese Leute wirklich nicht den Unterschied zwischen einem echten Pelz und billigen Imitaten erkennen?
Wo war bloß dieser verdammte Schlüsselbund? Die Frau entschloss sich, nachzusehen, ob ihr Mann seinen Reserveschlüssel »für alle Fälle« noch immer am selben Ort versteckt hatte.
Er hatte, und so stand sie wenige Augenblicke später in der dunklen Eingangshalle. Inzwischen war auch ihr Schlüsselbund aufgetaucht, er hatte sich in eine Falte der Manteltasche verirrt. Komisch, dass nicht einmal die kleine Tischlampe eingeschaltet war, die ihr Mann scherzhaft das »ewige Licht« nannte, weil sie sonst immer brannte.
Es roch eigenartig. Kein Wunder, ihr Mann achtete nicht darauf, das Haus regelmäßig zu lüften. Was war das bloß? Na egal. Jetzt wollte sie nur noch in die Wanne und dann nichts wie ins Bett. Alles andere würde sich morgen finden, dachte sie, als sie den Schalter für die Deckenbeleuchtung anknipste.
Die Explosion zerstörte nicht nur die alte Villa fast zur Gänze, sondern brachte auch die meisten Fensterscheiben in einem Umkreis von 200 Metern zum Bersten. Aber davon bemerkte die Frau absolut nichts mehr.
*
Knapp sechs Stunden vor dem großen Knall hatte Hans Garber, Direktor der Filiale der ›Kreditbank Austria‹ in der Obkirchergasse, sein Reich durch den Nebenausgang verlassen und war in die sieben Tage vor dem Fest bereits zum Erbrechen weihnachtliche Stimmung des Adventsmarktes am Sonnbergplatz eingetaucht.
Er hasste dieses überkommerzialisierte, jedes Jahr noch früher beginnende scheinheilige Getue, das sich der Geburt eines unschuldigen Kindes vor etwa 2.000 Jahren als Feigenblatt bediente, um den Menschen noch mehr Geld aus der Tasche zu ziehen als schon zwölf Monate zuvor. Und dann diese Musik. Es war fast unmöglich, sich dieser bereits Mitte Oktober gestarteten Dauerberieselung zu entziehen. Eines von vielleicht zwei Dutzend deutsch- und fremdsprachiger Weihnachtslieder, die die gängige »Endlosschleife« bildeten, begleitete einen ständig überall hin. Erstaunlich, an welchen Orten man noch ›Leise rieselt …‹ oder ›Jingle bells‹ bei seinen ganz normalen Verrichtungen erdulden musste.
Fast schon automatisch bahnte er sich seinen Weg zu einem der Punschstände, die um diese Jahreszeit wie die Schwammerln aus dem Boden geschossen waren. Viele dieser »Tankstellen« wurden von karitativen Einrichtungen betrieben, die die vorweihnachtliche Leichtigkeit des Geldausgebens und den Drang vieler Menschen nutzten, keinen Vorwand auszulassen, sich einen hinter die Binde zu gießen. Und ganz gratis noch das beruhigende Gefühl vermittelt bekamen, gleichzeitig etwas für die Armen dieser Welt getan zu haben. Denn mit den dabei erzielten Gewinnen und Spenden wurden soziale Projekte gefördert. Ein Ablasshandel oberhalb der Promillegrenze also.
Bis vor wenigen Tagen hatte Garber die ihm eher suspekte Mixtur namens Weihnachtspunsch nur olfaktorisch zur Kenntnis genommen. Bedingt durch diese eigenartige Geruchserinnerung seiner Kindheit nach, ja, nach Lebkuchen. Es waren wohl der Zimt und die Nelken, die diese Reminiszenzen an die›stillste Zeit des Jahres‹wieder und wieder in ihm hervorriefen.
Dann, am Tag, bevor Doris ihn und das Haus verlassen hatte, hatte ihn Olli Kiesler aufgesucht, die Präsidentin der lokalen Sektion der ›Caracals‹, einer weltweit tätigen Charityorganisation. Sie hatte ihn eingeladen, sie und ihre ›Caracal-Ladies‹ doch einmal am Punschstand zu besuchen, den sie die Tage bis zum Fest höchstpersönlich betreuen wollte.
Da Professor Kiesler, Ollies Mann, Kunde der Bank und ein wichtiger Macher in der Bundeskammer war, hatte Garber die etwas aufdringliche Einladung nach anfänglichem Zögern angenommen. Was war ihm schon anderes übrig geblieben? Und so hatte er auch Vally Gutruhn und Wilma Bachler kennengelernt, beides attraktive Mittvierzigerinnen und Freundinnen der umtriebigen Ollie, die ihr beim Brauen und bei der Verbreitung des ›flüssigen Lebkuchens‹ assistierten. Dass unter diesen Voraussetzungen an dem Abend der erste Weihnachtspunsch seines Lebens nicht zu verhindern gewesen war, lag auf der Hand.
Erstaunlicherweise hatte ihm das heiße, klebrige Zeug weit besser gemundet als befürchtet, sodass er sich noch zu drei weiteren »Das ist aber wirklich der Letzte« hatte überreden lassen.
Die Alkoholfahne, die er beim Nachhausekommen vor sich hergetragen hatte wie der Pfarrer die Monstranz, war dann auch der Auslöser für jene zunehmend unkontrollierter gewordene Auseinandersetzung mit seiner Frau gewesen, die schließlich zu ihrem Auszug geführt hatte. Auch egal, hatte er gedacht, einmal hatte es so weit kommen müssen.
Am nächsten Abend hatte ihn sein Weg fast automatisch wieder an den ›Caracal‹-Stand geführt, wo ihn Ollie und Vally in etwas mehr als zwei Stunden mit sechs Bechern Punsch abgefüllt hatten. Komisch, wie schnell man sich an das Gesöff gewöhnen konnte, hatte sich der seinen Mercedes mit deutlich mehr Alkohol im Blut als erlaubt nach Hause lenkende Garber noch gedacht und ein paar Mal kräftig gerülpst.
In diesem Stil war es auch an den folgenden Abenden weitergegangen. Und so würde es wohl auch an den restlichen Abenden bis Weihnachten noch weitergehen.
»Hallo, Herr Direktor«, säuselte ihm Ollie fröhlich entgegen, »wie laufen die Geschäfte?« Inzwischen gab Vally, ohne lange zu fragen, die benötigten Zutaten in einen Becher, goss das Ganze mit heißem Wasser auf, rührte zwei-, dreimal um und stellte das dampfende Gebräu vor dem Banker ab. »Zum Wohl«, meinte sie noch knapp, ehe sie sich dem nächsten Gast zuwandte.
»Ärger mit dem Freund«, Ollie deutete versteckt auf ihre Kollegin, »sie ist sonst nicht so unnahbar.« Sie zwinkerte Garber verschwörerisch zu.
»Wo ist eigentlich Frau Bachler?«, interessierte sich Garber scheinbar für die heute nicht anwesende Dritte im Bunde. In Wirklichkeit wollte er aber nur das Thema wechseln und so der etwas befremdend auf ihn wirkenden Vertraulichkeit Frau Kieslers entgehen.
»Ja, unsere Wilma, wo ist sie denn? Seit vorgestern die definitive Entscheidung gefallen ist, dass sie bei den nächsten Wahlen für die Grünen kandidieren wird, ist sie ständig unterwegs.« Die leicht giftige Ironie in Ollies Stimme war nicht zu überhören. »Tut so, als ob der Wahlkampf schon begonnen hätte. So eine verrückte Idee. Für die Grünen zu kandidieren.«
Unbemerkt war Frau Bachler wiederaufgetaucht. »Du bist doch bloß neidisch, Ollie«, gab sie zurück. »Nur weil dich die Schwarzen nicht einmal für die Bezirksvertretung aufgestellt haben.«
In der Zwischenzeit hatte sich eine junge, auffallend hübsche Frau neben dem Bankdirektor an die Budel geschoben und einen Grog bestellt.
Das war auch etwas, das Garber bisher nur dem Namen nach kannte. »Was kommt denn in einen Grog eigentlich alles hinein?« Er stellte die Frage einfach so in den Raum.
»Normalerweise Rum, Zucker und heißes Wasser«, antwortete die junge Schöne wie aus der Pistole geschossen und noch ehe die alles andere als mundfaule Ollie auch nur die Chance hatte, selbst etwas Sachdienliches beizutragen. »Ich weiß aber nicht, ob die hier«, sie deutete auf den Stand, »sich an das klassische Rezept halten.«
Garber stellte sich vor und prostete der Frau zu, die sich im Gegenzug als Marlene Mattig outete und das eben erhaltene Grogglas wie zum Salut erhob.
Nachdem Marlene ihr Glas in nur zwei Zügen geleert hatte, überraschte sich Garber dabei, wie er, ganz gegen seine sonstige Art, einfach eine neue Runde bestellte und irgendetwas Blödes in der Art von »Auf einem Bein kann man nicht stehen« murmelte. Die junge Frau zierte sich nicht lange und meinte nur, dass sie sich dafür revanchieren würde.
Wilma, die in den letzten Tagen ungewollt einiges von Garbers Schicksal mitbekommen und seine Entwicklung vom De-facto-Abstinenzler zum Punschsüchtigen mit leiser Sorge beobachtet hatte, versuchte vorsichtig, den Filialdirektor nach dem vierten Punsch beziehungsweise dem dritten Grog Marlenes einzubremsen.
Ihre wohlmeinende Warnung ging aber neben Marlenes gleichzeitig gestarteter Offensive völlig unter.
»Sind Sie nicht Direktor Garber von der Kreditbank?«, wollte Frau Mattig just in dem Moment von dem bereits erheblich Angesäuselten wissen, als Wilma gerade beiläufig feststellte, dass Autofahren nach mehr als drei Glas Punsch eigentlich höchst unverantwortlich sei. »Dann essen Sie wenigstens etwas dazu«, forderte sie das fröhlich vor sich hin süffelnde Paar auf und schob den beiden einen Teller mit Liptauerbroten hin.
Garber hatte aber nur Augen und Ohren für Marlene, die ihn offensichtlich anhimmelte. Mein Gott, was war das für ein Gefühl, von einer Frau respektvoll behandelt, ja, bewundert zu werden. Die letzten Jahre mit seiner Alten hatten ihn diese Empfindungen völlig vergessen lassen und sein Selbstwertgefühl als Mann total demontiert.
»Ja, der bin ich«, räumte er lächelnd ein. »Wieso, kennen Sie mich?«
»Ich habe vor einigen Wochen ein Bild von Ihnen in irgendeiner Zeitung gesehen. Im Wirtschaftsteil«, erinnerte sich Marlene. »Ich glaube, es war in Zusammenhang mit der Neubesetzung einer wichtigen Position bei der Bank, für die Sie vorgesehen sind.«
Das war der Stoff, der einer leidenden Seele wie Garber spontane Linderung versprach. Er erinnerte sich zwar nicht, diesen oder irgendeinen anderen Artikel solchen Inhaltes gelesen zu haben. Aber er las ja auch nicht regelmäßig sämtliche Zeitungen und Fachmagazine.
»Nun ja«, räumte er ein, »ich bin in engster Wahl für die Position des regionalen Kreditchefs für Wien-Nordwest. Das bedeutet immerhin 26 Filialen in der Stadt und weitere sieben in der unmittelbaren Umgebung«, merkte er nicht ohne Stolz an. »Die Entscheidung wird noch heuer fallen, und ich habe«, selbstgefällig fuhr er sich mit der Hand über die Haare, »beste Chancen. Das hat mir mein Vorstand selbst im Vertrauen gesagt.«
»Na, dann können Sie mir doch sicher einen Rat geben, wie ich die 200.000 Euro, die ich geerbt habe, am besten anlege?«, meinte die junge Frau mit gespielter Hilflosigkeit, wie für alle bis auf Garber selbst nicht zu übersehen war.
»So eine anlassige Schlampe«, zischte Vally Wilma zu, die stumm nickend ihre Zustimmung signalisierte. »Er könnte doch gut und gern ihr Vater sein. Und dann, sie ist kaum 1,70 groß und spielt erfolgreich das kleine, hilflose Mädchen. Er wieder fühlt sich mit seinen knapp 1,80 und gut 100 Kilogramm scheinbar als ›Big Daddy‹. Die Situation ist so was von lächerlich.«
Garber hatte ›200.000 Euro‹ sowie ›Veranlagung‹ gehört und war plötzlich hellwach geworden. Ein Deal dieser Größenordnung noch kurz vor Weihnachten und vor allem noch vor der Entscheidung über die Nachfolge Dr. Vasiceks würde sich sehr günstig für ihn auswirken. Aber Marlene war noch nicht fertig. »Da sind dann auch noch die Wertpapiere. Aber die sind angeblich derzeit nicht viel wert, meint mein Finanzberater. Er hat mir aber ein günstiges Angebot gemacht, angeblich.« Sie blickte dem Banker direkt in die Augen. »Könnten Sie einen Blick auf die Aktien werfen, bitte? Ich werde das verdammte Gefühl nicht los, dass mich der Mann über den Tisch ziehen will.«
»Gerne«, versicherte Garber, ohne lange nachzudenken. »Kommen Sie morgen Vormittag einfach zu mir, sagen wir, um 10 Uhr, und bringen Sie Ihre Papiere mit. Bis dahin überlege ich mir auch, wie wir Ihr Geld gut und sicher anlegen können.«
»Wenn Sie mir wirklich helfen wollen, müssen Sie sich meine Wertpapiere noch heute ansehen«, widersprach die junge Frau. »Denn das Angebot Mirkos gilt nur bis morgen früh. Ich muss ihm bis spätestens 9 Uhr Bescheid geben. Bitte, bitte, Herr Garber«, jetzt machte sie wieder auf hilfloses kleines Mädchen, »mit Ihrem Fachwissen genügt sicher ein Blick, um sagen zu können, ob das ›Bis zu 40.000 Euro Rendite‹ ein seriöses Angebot ist oder nicht.«
Garber zögerte noch etwas. Obwohl, warum sollte er eigentlich seine Expertise nicht heute Abend abgeben. So blau war er auch wieder nicht.
»Ich wohne ganz in der Nähe, in der Krottenbachstraße. Und während Sie sich die Papiere ansehen, brate ich Ihnen ein gutes Steak.« Marlene ließ nicht locker.
Ob es die Aussicht auf das Steak war oder die Krottenbachstraße, die den Ausschlag gab, oder beides, würde wohl nie herauskommen. »Also gut«, erklärte sich der Banker zu der kleinen Spezialberatung bereit. Immerhin rühmte sich sein Unternehmen ja »besonderer Flexibilität zum Wohle der Kunden« und warb mit »Wir sind immer für Sie da«. Also blieb ihm eigentlich gar nichts anderes übrig, als dem Wunsch der neuen Kundin zu entsprechen.
Die beiden gingen und gleich danach auch Wilma, die noch an einer Diskussion der Döblinger Grünen im ›Haus der Begegnung‹ teilnehmen musste. Dabei ging es um eine neue Tiefgarage im Grüngürtel der Stadt.
»Wetten, dass es nicht beim Ansehen der Wertpapiere bleiben wird?«, meinte Ollie zu Vally. »Das ist wieder einmal typisch, die Frau ist nicht zu Hause, und der Mann geht fremd.«
»Und bei Wilma ist es genau umgekehrt«, ätzte Vally, »der Mann sitzt zu Hause, und die Frau geht diskutieren, bis sie grün wird. Vielleicht sollte ich später noch kurz bei Mario vorbeischauen und mir einen Kriminalroman empfehlen lassen.« Sie lachte spöttisch.
*
Mario Palinski starrte geistesabwesend auf den Monitor seines Computers. Der Leiter des von ihm gegründeten ›Instituts für Krimiliteranalogie‹ und bisher bestens bewährter Berater der Döblinger Kriminalpolizei befand sich in einer Krise. Die letzten Wochen hatten deutliche Spuren hinterlassen, ihm vor allem psychisch zugesetzt. Dabei hatte noch im Oktober alles so wunderbar ausgesehen. Wie aus dem Nichts war seine 26-jährige Tochter aufgetaucht und hatte sich mit ihrem reizenden Mann, einem Südtiroler Hotelier, nach einigen aufregenden Tagen harmonisch in die Familie eingefügt. Dann hatte er sich auf der Suche nach einem …, na egal, er hatte sich im Badezimmer den linken Unterarm gebrochen. Das hatte zwar ziemlich wehgetan, war aber inzwischen Vergangenheit. Auch wenn er gelegentlich noch ein unbestimmtes Ziehen und Stechen verspürte. Aus heutiger Sicht betrachtet, war der Sturz aber zeitlich jenes Ereignis gewesen, mit dem die Misere der letzten Wochen begonnen hatte. Aber da musste er jetzt durch. In zehn Tagen sollte sich die ganze Familie im ›Rittener Hof‹ bei Bozen treffen. Dann würde alles wieder gut sein, hoffte er zumindest.
Im Moment aber gab es keine nennenswerte Arbeit für ihn, die dicke Daunendecke vorweihnachtlichen Innehaltens hatte sich über sein Institut gestülpt und drohte, ihn mit Untätigkeit zu ersticken. Was ihm aber am meisten zu schaffen machte, war der Umstand, dass sich alles um ihn herum veränderte und er nichts dagegen tun konnte. Seine bisher heile Welt begann auf einmal auseinanderzudriften.
Sein guter Freund Oberinspektor Wallner vom Koat Hohe Warte stand vor einem Karrieresprung. Er war mit Wirkung vom 1. Jänner kommenden Jahres als stellvertretender Abteilungsleiter zum Bundeskriminalamt versetzt worden. Wallners Stellvertreter Martin Sandegger, dessen beispielhaftes Verhalten im Fall »Göllner« ihm ein enormes Image in der Öffentlichkeit und die Sympathien des Innenministers eingebracht hatten, würde ab demselben Zeitpunkt einen bestbezahlten Top-Job als Leiter der Sicherheitsabteilung eines riesigen Einkaufszentrums am Rande der Stadt mit einem Zusatzvertrag als Security-Berater für drei weitere Standorte antreten.
Beide waren seit Anfang des Monats dabei, restliche Urlaubstage zu konsumieren oder sich auf ihre neuen Aufgaben vorzubereiten. Zum neuen Chef der Kriminalpolizei in Döbling war Inspektor Werner Musch ernannt worden, der bisherige zweite Mann im Kommissariat Liesing und jüngere Bruder Manfred Muschs vom Kriminalamt Wien. Er sollte sein Amt mit Jahresbeginn antreten, war aber schon jetzt fast ständig auf der Hohen Warte anzutreffen.
Die bösen Ahnungen, die Mario Palinski befallen hatten, nachdem ihm der Ruf des Neuen zu Ohren gekommen war, hatten sich bald mehr als nur bestätigt. Der mit knapp 1,70 etwas kurz geratene Einzelgänger, dessen fachlicher Ruf, na ja, sagen wir einmal, nicht ganz unumstritten war, war dazu noch egozentrisch, rechthaberisch und unzugänglich. Darüber hinaus gefiel er sich gelegentlich in martialisch anmutenden Posen, die wohl an den »Großen Korsen« oder ähnliche historische Vorbilder erinnern sollten und mit denen er nicht nur sein unmittelbares Umfeld nervte.
Beim ersten Aufeinandertreffen hatte der ›Kleine Musch‹, wie der korrektere der beiden in Polizeikreisen kursierende Spitzname des Neuen lautete, der andere dagegen war eindeutig zweideutig und wurde nur hinter vorgehaltener Hand geflüstert, Palinski gegenüber keine Zweifel offengelassen, was er von einer Zusammenarbeit mit dem »zivilen Kriminalspinner« hielt, nämlich gar nichts. »Ich weiß, dass Sie bisher eine große Nummer hier im Kommissariat waren. Aber die Zeiten sind vorbei. Ich halte Ihre Kriminologie oder wie der Scheiß heißt, nur für faulen Zauber und brauche Ihre Hilfe nicht.« Und das war’s gewesen.
Aber auch sonst schien alles um Palinski herum im Umbruch begriffen zu sein. Da war vor allem einmal Wilma, mit der er seit 25 Jahren zwar nicht verheiratet, bisher aber insgesamt recht glücklich gewesen war. Nicht nur, dass sie sich um die Leitung des Gymnasiums in der Klostergasse beworben und angeblich beste Chancen darauf hatte. Nein, sie war auch dem Lockruf der Politik gefolgt und wollte bei den kommenden Wahlen auf einem sicheren Listenplatz für die Grünen kandidieren. Praktisch bedeutete das seit einigen Wochen Sitzungen, Diskussionsveranstaltungen und sonstige Termine, bei welchen die Anwesenheit der neuen grünen »Bildungsexpertin« unabdingbar war. Ja gut, der Gedanke an eine Abgeordnete Wilma Bachler hatte etwas für sich, aber sie fehlte Palinski schon sehr in letzter Zeit. Und dann verplemperte sie den kargen Rest ihrer Freizeit in diesen Tagen noch an irgendeinem Punschstand, um ihre Freundinnen Ollie und Vally, das klang fast wie ein Komikerpaar aus der Stummfilmzeit, bei der Steigerung des Rumabsatzes in Österreich zu unterstützen. »Der Reinerlös dient karitativen Zwecken«, hatte Wilma festgestellt und damit seinen schüchternen Einwand gegen diese systematische Förderung des Alkoholismus im Lande vom Tisch gefegt. Na, vielleicht war er ein wenig übersensibel, sie fehlte ihm halt sehr.
Dann die Kinder: Zwar hatte er vor Kurzem eine Tochter dazubekommen, aber dass alle drei bereits flügge und damit quasi aus dem Haus waren, war auch etwas, mit dem er erst fertig werden musste.
Last, but not least hatte Margit Waismeier, seine heiß geliebte und unverzichtbare Bürochefin, seit Neuestem einen festen Freund. Einen Diplomingenieur aus München, der im Mai nächsten Jahres für seine Firma nach Prag übersiedeln sollte. Als Niederlassungsleiter oder etwas Ähnliches. Was würde sein, wenn sich diese Beziehung so entwickelte, dass der Mann Margit und ihren Sohn mit sich nahm? Unvorstellbar, dachte Palinski, aber was konnte er im Fall des Falles schon viel dagegen tun?
Ihm war natürlich klar, dass Leben ständige Veränderung bedeutete, aber dass ihm derzeit lediglich seine beiden Hunde Max und Moritz als Konstante geblieben zu sein schienen, machte ihn doch erheblich betroffen.
Ja, da war natürlich auch noch sein Assistent Florian Nowotny. Der junge Mann war jetzt schon etwas länger als ein Jahr bei ihm und hatte sich bereits als unersetzlich erwiesen. Wie auch immer, Palinski fühlte sich einsam und leer, unterfordert und ungeliebt. Simpel ausgedrückt also beschissen.
Während er jetzt seinen PC ausschaltete und sich für eine ausgedehnte Runde mit den beiden Hunden fertig machte, unterbrach das Klingeln des Festnetztelefons die Stille des Raumes.
Rasch und voll unvernünftiger Hoffnung, dass doch noch jemand im alten Jahr seiner Hilfe und fachmännischen Beratung bedurfte, nahm er den Hörer ab.
Es war ein Dr. Rossbach, der nach ihm verlangte und sich als Zahnarzt mit Ordination auf der Stiege 2 im Hause vorstellte. Richtig, Palinski erinnerte sich an das Schild neben dem Hauseingang. Komisch, er fuhr quer durch Wien, wenn er Probleme mit den Zähnen hatte, obwohl … Vielleicht sollte er den Anruf zum Anlass nehmen, einmal einen neuen Arzt mit seinem blutenden Zahnfleisch zu konsultieren.
»Guten Abend, Doktor«, meldete er sich. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich bin in Eile und möchte daher gleich auf den Punkt kommen«, eröffnete Rossbach etwas atemlos. »Ich habe Ihren Namen von Dr. Schneckenburger erhalten, den ich vom Fitnessstudio her kenne. Irgendwie lustig, wenn man bedenkt, dass wir quasi Nachbarn sind. Er hat gemeint, falls mir einer in meiner Situation helfen kann, dann Sie.«
Das war purer Balsam auf die wunde Seele Palinskis.
»Gestern hat man einen Mordanschlag auf mich unternommen«, fuhr der Zahnmediziner fort, »dem allerdings nicht ich, sondern ein Bekannter von mir zum Opfer gefallen ist. Vor vier Tagen hat es ein weiteres Ereignis gegeben, das ich nach dem, was Magister Blum passiert ist, auch als Mordversuch einstufen würde.« Der Mann war hörbar mit den Nerven fertig und schluchzte zwischendurch immer wieder verhalten auf.
»Es ehrt mich zwar sehr, dass Sie sich mit Ihren Problemen an mich wenden«, meldete sich Palinski erst mal zu Wort. »Aber wenn das stimmt, Herr Doktor, was Sie mir da eben erzählt haben, so ist das eindeutig ein Fall für die Polizei. Ich fürchte, ich werde da nicht viel für Sie tun können.«
»Ich habe natürlich mit der Polizei gesprochen, mit einem Inspektor Moussé oder so ähnlich«, entgegnete Rossbach. »Aber der Mensch ist unmöglich. Der hat mich absolut nicht ernst genommen und mir zwischen den Zeilen galoppierenden Verfolgungswahn unterstellt«, empörte er sich.
»Sie meinen doch nicht Inspektor Musch von der Hohen Warte?«, Palinski war plötzlich hellwach und bereit, diese Herausforderung unter allen Umständen anzunehmen.
»Ja, Musch, das war der Name«, bestätigte der Zahnarzt. »Und das Schlimmste war: Als ich ihm angekündigt habe, dass ich innerhalb der nächsten Tage einen weiteren Anschlag auf mein Leben befürchte, hat er nur gelacht und mich weggeschickt. Ein Skandal, kann ich Ihnen sagen.«
»Nun ja«, Palinski zögerte etwas. Wie sollte er seinen Zweifel formulieren, um den guten Mann nicht vor den Kopf zu stoßen oder gar zu verprellen? »Die Prognose eines zukünftigen Ereignisses dieser Art ist natürlich auch ein wenig schwer verständlich«, meinte er vorsichtig.
»Ohne weitere Erläuterungen natürlich«, räumte Rossbach ein. »Aber die Polizei war ja nicht willens, sich meine Geschichte anzuhören. Ist ja auch einfacher, jemanden als Spinner abzutun und wegzuschicken.«
»Also ich bin gerne bereit, mich mit Ihrer Geschichte auseinanderzusetzen«, versicherte Palinski. »Wo sind Sie jetzt? Wann könnten Sie hier bei mir im Büro sein?«
»Ich bin jetzt irgendwo in Niederösterreich unterwegs und werde mir demnächst ein Zimmer für die Nacht suchen«, erklärte ihm der Arzt. »Meine Familie habe ich auch aufs Land geschickt, denn in unserem Haus sind wir möglicherweise nicht mehr sicher. Können wir uns vielleicht morgen Vormittag treffen? Ministerialrat Schneckenburger hat mir verraten, dass Sie gerne im Café …«
»Keine Namen nennen«, unterbrach ihn Palinski ziemlich streng.«Man kann nie wissen, ob nicht irgendwer mithört. Ich werde ab 10 Uhr in dem besagten Café sein und auf Sie warten.«
»Sehr gut«, Rossbach atmete tief durch. »Jetzt geht es mir schon besser. Und danke, dass Sie mir helfen wollen.«
»Aber gerne«, versicherte Palinski, »und versuchen Sie zu schlafen. Sie werden morgen alle Ihre Kräfte brauchen.« Dann beendete er das Gespräch.
Rossbach würde wohl nie erfahren, wie sehr er Palinski allein schon mit diesem Telefonat geholfen hatte.
Langsam tauchte der Mann wieder aus den Tiefen des an Bewusstlosigkeit grenzenden Schlafes auf. Noch ehe ihm irgendetwas bewusst wurde, registrierte sein Körper instinktiv die ungeheure Kälte in und um ihn herum und begann, unkontrolliert zu zittern. Dagegen waren das dringende Bedürfnis zu kotzen und der fürchterliche Geschmack im Mund vergleichsweise Lappalien. Die Erinnerung an die schrecklichen Besäufnisse seiner Sturm- und Drangzeit schoss ihm durch den Kopf und veranlasste ihn zu einem versuchten Lächeln. Das er aber sofort wieder abbrach, da es schreckliche Kopfschmerzen auslöste.
Verdammt, dachte Hans Garber, so einen Kater hatte er sein Leben lang noch nicht gehabt, während er mühsam versuchte, die Augen aufzubekommen.
Der erste Eindruck seiner unmittelbaren Umgebung erschreckte ihn nicht wenig. Weiß, alles weiß. Weiß, so weit das Auge reichte. War er in eine Lawine geraten? Wenn ja, dann mit seinem Wagen, denn in dem saß er offensichtlich. Ein vorsichtiger Blick nach links, durch das Fenster der Fahrertüre, ließ ihn in der Dämmerung in etwa 15 Metern Entfernung eine Gartenmauer erkennen. Zwischen der Mauer und seinem frostigen Standort führte eine schmale Straße von oben nach unten. Oder auch umgekehrt. Vor dem matten Licht der Straßenbeleuchtung war der leichte Schneefall sehr gut zu beobachten. An sich ein schönes, friedliches Bild. Auch der Gedanke, dass es heuer möglicherweise wieder einmal weiße Weihnachten geben könnte, hätte Garber Freude gemacht. Wäre ihm bloß nicht so kalt gewesen.
Die Uhr am Armaturenbrett zeigte 5.12 Uhr an, die an seinem Handgelenk dagegen bereits 7.46 Uhr.
Wieso saß er eigentlich auf dem Beifahrersitz? Mühsam schob er sich auf den Platz des Fahrers und versuchte, den Motor zu starten. Aber vergebens.
Wie er insgeheim befürchtet hatte, ließ sich der Schlüssel nicht nach vorne drehen, da er sich bereits in der Startposition befand, die ganze Zeit befunden hatte. Dass die schon vorher nicht mehr allzu frische Batterie das nicht überlebt hatte, war klar, aber höchst unangenehm. Hoffentlich war zumindest sein Mobiltelefon noch intakt, denn er musste in 14, nein, in zwölf Minuten in der Bank sein. Das Handy, das die Nacht in der doch etwas weniger kalten Brusttasche von Garbers Sakko verbracht und dabei nicht unwesentlich von den Resten der animalischen Wärme seines Besitzers profitiert hatte, bedankte sich artig für diesen Komfort und funktionierte.
Während der Banker auf das Taxi wartete, versuchte er krampfhaft, aber ziemlich erfolglos die Ereignisse der vergangenen Nacht zu rekonstruieren, um so auf den Grund für seine doch ziemlich miese, zumindest aber reichlich unwürdige Lage zu kommen. Er erinnerte sich noch an diese junge Frau, an Marlene … , ihr Nachname war ihm entfallen. Nach einigen Gläsern Weihnachtspunsch hatte sie ihn überredet, sich ihre Wertpapiere anzusehen. Vermutlich war es keine sehr gute Idee gewesen, ihrem Drängen nachzugeben. Aber die Kleine hatte es geschickt verstanden, in ihm einige Seiten anzusprechen, die er schon seit geraumer Zeit für stillgelegt gehalten hatte.
Er erinnerte sich noch, dass er ihr vor der roten Ampel an der Einmündung der Friedlgasse in die Krottenbachstraße das Du angeboten hatte. Dabei war er sich noch ganz toll vorgekommen.
»Alter Trottel«, dachte er sich, doch diese Selbsterkenntnis brachte ihn jetzt auch nicht weiter.
Etwas später, in der Hartäckerstraße, hatte ihn die junge Frau gebeten, kurz anzuhalten, um sein Angebot anzunehmen. Der bei solchen Anlässen traditionellerweise folgende Kuss war aber gar nicht »bruderschaftlich« ausgefallen. Allein der Gedanke daran erregte ihn jetzt noch. Dann hatte Marli, wie sie hatte genannt werden wollen, einen »Flachmann« aus der Tasche gezogen, um den neuen Status zu begießen. Ein kräftiger Schluck aus der kleinen Flasche aus Edelstahl, ein weiterer Kuss mit allen Schikanen und dann das beginnende Nesteln der Frau an seiner Hose, das war das Letzte, woran er sich noch erinnern konnte. Danach … Filmriss, nichts, absolute Amnesie.
Aber was soll’s. Jetzt musste er nach vorne blicken. In einer halben Stunde hatte er seinen ersten Termin in der Bank. Bis dahin musste er sich so weit frisch machen, dass man ihm den Umfaller der vergangenen Nacht nicht auf Anhieb ansah. Gut, dass er in seinem Büro einen Rasierapparat und ein frisches Hemd hatte. Er blickte in den Rückspiegel, um den Zustand seines Bartwuchses festzustellen. Dabei bemerkte er, dass seine Krawatte nicht dort war, wo er sie eigentlich vermutet hätte. Der offene Kragen war zwar angenehm, aber ein krasser Verstoß gegen die Bekleidungsvorschriften seiner Zunft.
Falls er jetzt noch irgendwo einen Selbstbinder besorgen musste, würde es verdammt knapp werden. Hastig fuhr er in die Taschen seines Sakkos, aber da war nichts. Wo könnte er das lästige ›Bindl‹ noch hingesteckt haben?
Inzwischen hatte ein Taxi neben Garbers Wagen angehalten. Nachdem der Banker sein eiskaltes Nachtquartier verlassen hatte, ersuchte er den Fahrer, beim ›Zur-Seite-Schieben‹ des Pkws behilflich zu sein.
»Harte Nacht gehabt, Chef?«, flachste der schäbig grinsende Taxler, während er sich daran beteiligte, den in der Mitte des Parkplatzes vor dem Neustifter Friedhof befindlichen Mercedes ordnungsgemäß abzustellen.
Nachdem Garber das erfreulich gut beheizte Taxi bestiegen und sein Fahrtziel genannt hatte, entdeckte er die Krawatte in der linken Innentasche seines Mantels. Er nahm es als gutes Omen dafür, dass sich doch noch nicht alles gegen ihn verschworen hatte. Beim Versuch, sich das gute Stück wieder um den Hals zu knoten, musste er allerdings feststellen, dass sein Hemd nicht richtig geknöpft war. Der zweite Knopf von oben befand sich im dritten Knopfloch, ganz so, als ob er sich hastig und unachtsam angezogen hätte. Einen Moment lang war Garber versucht, sich eine angenehme Erklärung dafür vorzustellen, dann überkam ihn aber ein ungutes Gefühl. Was hatte das alles zu bedeuten? Und wieso konnte er sich ab dem Moment, da Marli den einzigen Zippverschluss seiner Hose geöffnet hatte, an rein gar nichts mehr erinnern?
*
Der Experte der Feuerwehr hatte nicht lange gebraucht, um festzustellen, dass es sich bei der Gasexplosion in der Villa der Garbers um keinen bedauerlichen Unfall handelte, der auf ein Leck in der Gasleitung des Gebäudes aus dem späten 19. Jahrhundert zurückzuführen war. Am Hauptventil im Keller war kräftig manipuliert worden, und da sich die Explosion vor allem nach oben gerichtet hatte, war das Corpus delicti weitgehend unzerstört geblieben. Darüber hinaus war festgestellt worden, dass in den Schlafzimmern Benzin als Brandverstärker zum Einsatz gelangt war. Da hatte jemand absolut auf Nummer sicher gehen wollen, dachte Major »Fink« Brandtner vom Landeskriminalamt Niederösterreich. Seinen richtigen Vornamen hütete er wie ein Staatsgeheimnis, den kannte kaum jemand und verwendete keiner. Alle nannten ihn »Fink«, nicht, weil er wie ein Vogel aussah, sondern weil er im Ruf stand, äußerst gefinkelt zu sein.
Brandtner war vor zehn Minuten am Tatort eingetroffen und noch immer ziemlich sauer, dass sein Assistent Inspektor Lorenz Egger ausgerechnet heute krank sein und er daher alles allein machen musste.
Das Ganze war schlimm genug und reichte in Verbindung mit dem devastierten Tatort aus, einem die Stimmung schon am Morgen zu versauen. Als die wahren Stimmungskiller erwiesen sich dann aber die fünf bisher gefundenen Teile eines menschlichen Körpers, der wahrscheinlich einmal einer Frau gehört hatte. Die zahlreichen kleinen Fleischfetzen, die über den gesamten ehemaligen Eingangsbereich verstreut waren, waren dabei noch gar nicht berücksichtigt. Die Vermutung hinsichtlich des Geschlechtes der menschlichen Überreste verdankte die Polizei vor allem dem Umstand, dass ein noch jetzt sehr teuer wirkender Pelzmantel die enorme zerstörerische Kraft der Detonation wesentlich besser überstanden hatte als seine mutmaßliche ehemalige Trägerin.
Mehlhammer, einer der beiden uniformierten Beamten der örtlichen Polizei, war zum Major getreten. »Da ist eben eine Frau Hebsack gekommen. Sie sagt, sie wäre die Putzfrau der Garbers, denen das Haus gehört. Hat«, fügte er nach einer Sekunde noch dazu. »Jetzt gehört ihnen ja nur mehr eine Ruine. Wollen Sie mit der Dame sprechen?«
Brandtner nickte zunächst automatisch, hielt den Polizisten aber dann kurz zurück. »Sagen Sie, Mehlhammer, gibt es in dieser schönen Stadt ein Café, das um diese Zeit schon geöffnet hat? Ich kann mich ja kaum mit dieser Frau bei Minusgraden im Freien unterhalten, die erfriert mir ja.«
Und du mit ihr, dachte der Befragte, während er auf seine Armbanduhr blickte. »Das Café Berger am Hauptplatz müsste schon offen sein«, erwiderte er, »die sperren um 7.30 Uhr auf, wenn ich mich nicht sehr irre. Sie können sich aber auch in der Polizeiinspektion aufwärmen. Unsere Hermine kocht Ihnen gerne einen Kaffee.«
»Nein danke, ich glaube, ich ziehe das Kaffeehaus vor«, winkte Brandtner ab. »Ich werde mich da einmal provisorisch einrichten. Bitten Sie die Putzinger, mich in einer halben Stunde dort zu treffen. Und falls sonst noch Zeugen auftauchen, die etwas zum Thema zu sagen haben, schicken Sie die auch hin. Und geben Sie auch den Kollegen von der Tatortgruppe Bescheid.« Sprach’s und machte sich auf den Weg zu einer wärmeren Umgebung.
*
»Soll ich dir noch etwas frischen Toast bringen?«, bot Palinski freundlich an, während er vom Tisch aufstand, um in die Küche zu gehen. Wilma, die erst spät von einer Diskussionsveranstaltung der Grünen nach Hause gekommen und noch ganz verschlafen war, nickte dankbar mit dem Kopf. Sie war froh, heute erst ab der dritten Stunde unterrichten zu müssen. Das Engagement für ihre neuen politischen Freunde war zeitraubender und anstrengender, als sie ursprünglich angenommen hatte. Falls sie im kommenden Jahr tatsächlich den Sprung in den Nationalrat schaffen sollte, würde sie um eine Freistellung von oder zumindest um eine Reduzierung ihrer Lehrverpflichtungen sicher nicht herumkommen.
»Lieb, wie du mich verwöhnst«, schnurrte sie Palinski an, der nicht nur mit Toast, sondern auch mit frischem Kaffee aus der Küche zurückkam und ihr Häferl neu füllte.
»Na, wie fühlst du dich so als grünes Zug-«, er hatte -pferd sagen wollen, fand das Wort im Zusammenhang mit Wilma aber eher deplatziert. «Ich meine, als grüne Zukunftshoffnung?«, er lachte verlegen.
»Gut, sehr gut sogar«, antwortete Wilma. »Ich bin vor allem überrascht, wie gut ich mit den jungen Leuten auskomme. Offenbar sind meine Erfahrungen aus der Schule doch recht hilfreich. Und inhaltlich habe ich ja nie Probleme mit den grünen Themen gehabt. Na ja, einige sind vielleicht ein bisschen überspitzt. Aber es gibt kein einziges Thema, das man nicht zumindest diskutieren könnte.«
»Und wie läuft es mit der Saufstation der ›Caracals‹? Ist es nicht irgendwie …«, er zögerte und suchte einen angemessen Begriff, »… bedenklich, die Alkoholgefährdeten unter dem Vorwand, einem guten Zweck zu dienen, sukzessive mit eurem Weihnachtspunsch zu vergiften?« Kaum war der Satz gesprochen, wurde sich Palinski auch schon seines Fehlers bewusst.
»Wie meinst du das?«, knurrte ihn Wilma an. »Zweifelst du die karitative Gesinnung von Ollie, Vally und den anderen an? Von dem Geld wird den Waisenkindern von St. Bartolomé ein schönes Weihnachtsfest bereitet. Was soll da falsch daran sein?«
Also so eindimensional konnte man die Dinge aber auch nicht betrachten, fand Palinski. »Hast du von dem Unfall vorgestern in Hernals gehört, bei dem eine alleinerziehende Mutter von einem Auto niedergestoßen und schwer verletzt worden ist? Der Lenker war mit 1,1 Promille unterwegs, von einem Punschstand nach Hause. Aus lauter Wohltätigkeit wären zwei Kinder fast zu Waisen geworden.« Er höhnte fast ein wenig. »Und für so was opferst du die letzten Reste deiner Zeit. Weißt du, wann wir das letzte Mal miteinander gesprochen haben? Vor drei Tagen. Da war ich zufälligerweise noch munter, als du in der Nacht nach Hause gekommen bist.«
»Aha, daher weht der Wind also«, konterte Wilma nicht ungeschickt. »Der Herr fühlt sich vernachlässigt. Merkt jetzt endlich auch einmal, wie das ist, allein zu Hause zu sitzen und auf den Partner zu warten. Wird er heute überhaupt nach Hause kommen oder ist er wieder in irgendeiner unheimlich wichtigen Sache unterwegs? Und falls er kommt, dann wann? Oder schläft er, wie so oft, in seinem Büro? Weil er ach so viel zu tun hat, in Wirklichkeit aber nur zu faul ist, die drei Stockwerke nach oben zu gehen?« Sie war richtig in Rage geraten, hielt jetzt aber inne, um Luft zu holen. Etwas ruhiger fuhr sie dann fort: »So ist es mir die letzten 15 Jahre gegangen. Und damit ist jetzt endgültig Schluss.«
Palinski war ziemlich verwirrt, so dezidiert hatte er Wilma noch nie erlebt.
»Aber warum hast du denn nie etwas gesagt?«, erwiderte er und fand die Floskel noch im selben Moment blöd, in dem er sie verwendet hatte. »Ich meine, warum hast du …«