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Schon in jungen Jahren sehnte sich Titiou Lecoq nach einer Zeit, in der Schriftsteller noch Superstars waren. An einem emotionalen Tiefpunkt angelangt, hört sie im Radio von dem Balzac-Haus in Passy und beschließt kurzerhand, sich auf die Spuren ihrer literarischen Jugendliebe zu begeben. Doch das Haus ist überraschend leer, die Einsamkeit des legendären Autors spürbar. Statt einen Psychologen aufzusuchen, entscheidet sich Lecoq, eine Biografie Balzacs zu schreiben und der Frage nachzugehen, warum der große Schriftsteller sich in dieser kleinen Wohnung verkrochen hat und die Besucher dort heute nur noch eine hässliche Vase vorfinden. Sie entlarvt den Mythos des Literaturgenies und zeigt uns einen Mann, der schrieb, um zu Geld und Ruhm zu gelangen, der sich nach Liebe sehnte, aber sein Glück nur erträumen konnte, der seine unvorteilhaften Körperproportionen durch extravagante Kleidung zu kaschieren suchte, der ein Faible für Luxus hatte und dafür ein finanzielles Fiasko nach dem anderen in Kauf nahm. Kurzum: einen Mann aus Fleisch und Blut. Mit schwungvoller Feder fegt Titiou Lecoq in Balzac und ich den Staub von dem literarischen Denkmal Balzac und führt uns seine ungeheuerliche Modernität vor Augen: sein Engagement für die Frauen, seinen Unternehmergeist, seine Verirrungen in einem System, in dem Geld eine notwendige Voraussetzung für Glück zu sein scheint.
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Seitenzahl: 270
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Titiou Lecoq
Wie man sein Leben meistert, indem man grandios scheitert
Aus dem Französischen von Nicola Denis
Friedenauer Presse
Vorwort
KAPITEL I
Wo verständlich wird, dass auf Honoré von Anfang an ein Fluch lastet
KAPITEL II
Wo sich Honoré zum ersten Mal richtig auf die Nase legt
KAPITEL III
Wo sich Honoré auf einem Dachboden wiederfindet, bevor er ein Star wird
KAPITEL IV
Von der Schwierigkeit, vernünftig zu sein, wenn man Balzac heißt
KAPITEL V
Wo Honoré sich verliebt und die Welt zu erobern meint
KAPITEL VI
Wie man eine geniale Idee haben und doch immer noch tiefer in der Tinte sitzen kann
KAPITEL VII
Wo das Besitzerpech über die Kunst siegt
KAPITEL VIII
Wo sich alles zum Besten hätte wenden sollen, aber das Leben Einspruch erhob
KAPITEL IX
Post mortem
Postskriptum
Seither bin ich mir bei jedem Attentat noch gewisser,
dass ich in einer Welt sterben werde,
in der die Romanhelden Balzacs
für niemanden mehr existieren.
Philippe Lançon,
Der Fetzen
Ich habe nur eine einzige gute Eigenschaft,
nämlich die beharrliche Energie von Ratten,
die Eisen zerfräßen,
wenn sie so lange wie die Raben lebten.
Honoré de Balzac,
Brief an Zulma Carraud,
28. August 1835
Ich hatte soeben einen Essay über Frauen und Hausarbeit abgeschlossen.1 Ich fühlte mich ausgebrannt und untätig, hing den ganzen Tag lang in meinem schmuddeligen Schlafanzug herum und überlegte, was ich tun könnte. Als ich eines Morgens gerade mal wieder faul auf der Couch lag, hörte ich, wie im Radio das Balzac-Haus in Passy erwähnt wurde. Ich war wie elektrisiert. Balzac war die große Liebe meiner Jugend. Ich war mit seinen Figuren aufgewachsen und mit der Sehnsucht nach einer Zeit, in der Autoren noch Superstars waren. Und wenn ich einfach hinfahren würde?
In der Metro dachte ich, wie grotesk das Ganze doch war. Fast wäre ich wieder umgekehrt. Was sollte ich völlig allein dort? Meine Langeweile überlisten, meine Trübsal vertreiben? Trotz allem gelangte ich bis zur Rue Raynouard, die sich dadurch auszeichnet, egal von wo aus man startet, genau am entgegengesetzten Ende von Paris zu liegen. Vor dem Museum zögerte ich wieder. Der Eintritt war frei. Ich ging hinein. Es war düster. Keine Besucher weit und breit. Ich streifte durch die ersten beiden Räume, in denen es nicht viel zu sehen gab. Ein paar posthume Porträts, die Balzacs Schaffenskraft inszenierten – Untätigkeit schien er offensichtlich nicht zu kennen. Die Gemälde hingen an Wänden, die in einem Lila gestrichen waren, das an einen Einrichtungskatalog aus den Nullerjahren erinnerte. Das Ganze hatte nichts von einem Wohnhaus, alles wirkte unpersönlich. Ich versuchte mir einzureden, dass ich diesen Augenblick genoss, aber in Wirklichkeit war ich ziemlich enttäuscht.
Doch dann betrat ich den hintersten und kleinsten Raum, das Arbeitszimmer des Schriftstellers, das sich noch fast in seinem ursprünglichen Zustand befand. Die Wände waren mit rotem Stoff bespannt, urplötzlich fühlte ich mich ins 19. Jahrhundert katapultiert. Zu sehen waren Balzacs Schreibtisch, sein Sessel, seine Büste sowie ein von ihm erstandener Kamin. In einer Vitrine wurde neben seinem mit Türkisen besetzten Spazierstock auch eine scheußliche Vase präsentiert. Ein Hinweisschild gab folgende Auskunft dazu:
Vase, Geschenk der Gräfin Ida de Bocarmé
»Sie hat mir aus Böhmen ein Glas (…) bringen lassen, auf dem ›Divo Balzac‹ steht, nebst einer mich bekrönenden Muse und einer weiteren, die auf einen Folianten ›Menschliche Komödie‹ schreibt! Der Gipfel der Geschmacklosigkeit.«
Zu den wenigen Objekten, die hier zu sehen waren, zählte also diese Vase, die selbst Balzac abscheulich gefunden hatte. Darüber musste ich lachen und fühlte mich sofort besser. Ich betrachtete den Raum im Ganzen, alles schien mir friedlich und unvergänglich. Draußen riss eine Wolke auf, plötzlich strahlte die Sonne durch die kleinen Fensterscheiben. Ein Strahl fiel schräg auf das Intarsienparkett, und etwas berührte mich zutiefst: Balzac war hier gewesen, in diesem Raum, er hatte seine Nächte hier verbracht, zurückgezogen, allein mit seinen Papieren und Hunderten von Figuren im Kopf, und jetzt war er tot. Sein Tod erschien mir auf einmal als das Schrecklichste auf der ganzen Welt.
Ich dachte an sein Leben, von dem ich wusste, dass es nicht sonderlich glücklich gewesen war.
Über Balzac gibt es Aussprüche, denen man nicht entkommt: Ein »Schreibwütiger« sei er gewesen, mit einer »herkulischen Arbeitskraft«, »ein Prometheus, der achtzehn Stunden täglich an seinen Schreibtisch gekettet ist und nur pausiert, um sich mit Kaffee zuzudröhnen« – und damals handelte es sich nicht um verdünnten Instantkaffee. Er schrieb nachts, um nicht von den Geräuschen der Welt oder den Gerichtsvollziehern gestört zu werden. Dieser Arbeitsrhythmus sowie die Anzahl seiner Werke, insgesamt über neunzig Romane und Erzählungen, erklären, weshalb, wenn es um Balzac geht, gern ein beliebiger Begriff aus dem Wortfeld der Stärke mit dem Namen eines Halbgottes kombiniert wird und der Eindruck entsteht, er hätte im Wald von Saint-Cloud eigenhändig Bäume gefällt, um daraus Papier herzustellen. Der Mythos von der Balzac’schen Kraft geht auf den Tag seiner Beerdigung zurück, als Victor Hugo im Regen vor seinem Sarg stand und »den gewaltigen, unermüdlichen Arbeiter«2 rühmte, der sich radikal der modernen Gesellschaft verschrieb, der herausriss, grub, sezierte, prüfte und sondierte. Diese Überbewertung der körperlichen Kraft zur Darstellung einer Tätigkeit – dem Schreiben –, die im Wesentlichen darin besteht, in einem Sessel zu sitzen, trug maßgeblich zum Mythos des großen Mannes bei.
Worüber weniger gesprochen wurde, sei es bei seiner Beerdigung, sei es im Französischunterricht, ist die Tatsache, dass Balzac nicht nur das Denkmal der französischen Literatur, das monströse, Lammkeulen und Kaffeekannen verschlingende Genie war, sondern auch jemand, dem praktisch alles misslang. Es gibt einen intimen, menschlichen und erschöpften Balzac, der als größter Pechvogel der Literaturgeschichte gelten könnte und den ich weitaus anrührender und interessanter finde als die Figur des Halbgottes. Wie sollte man ihn nicht ins Herz schließen, ihn, der mit allen möglichen Mitteln nach Reichtum gestrebt und sich als König des Reinfalls erwiesen hat?
In der Literatur wird nicht gerne über Geld gesprochen, geschweige denn ein bedeutender Autor als jemand präsentiert, der sich bereichern will. Balzac jedoch verfolgte drei Ziele im Leben: Er wollte bekannt, geliebt und reich werden. In seiner Korrespondenz wimmelt es von Überlegungen dieser Art: »Werden meine beiden einzigen und unermesslichen Wünsche, berühmt zu sein und geliebt zu werden, je in Erfüllung gehen?«3 Die Kunst um der Kunst willen interessierte ihn nicht. Erfolg war für ihn kein Ideal des verabscheuenswürdigen Bürgers. Er wollte berühmt sein und am Arm einer schönen Frau durch die modischen Salons stolzieren, bevor er in die teuerste und vornehmste Kutsche von Paris stieg.
Es sollte ihm ungleich leichter fallen, berühmt zu werden als reich. Honoré de Balzac hat sich daran aufgerieben, jenes mythische Stadium zu erreichen, in dem man leben kann, ohne rechnen zu müssen. Er hat alles versucht und ist in allem gescheitert. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet ist Balzacs Geschichte die eines Mannes, der Geld verdienen wollte und sein Leben lang keines hatte.
Die Einsamkeit, die sein Arbeitszimmer noch immer ausstrahlte, erschütterte mich. Ich sah den erwachsenen Mann vor mir, der andere Leben erfunden hatte, um die eigenen Enttäuschungen zu kompensieren.
Da betrat eine Frau den Raum. Ich tat so, als betrachtete ich ein Bildnis von Ewelina Hanska, bis die ungebetene Besucherin mich wieder in Ruhe ließ. Sie hatte mich in meiner Rührung gestört.
Als ich herauskam, kaufte ich sofort diverse Biografien. Dann nahm ich mir Balzacs Korrespondenz vor. Er ließ mich nicht mehr los. Was hatte er falsch gemacht, um sein Glück zu verpassen? Hatte er sein Leben zu Recht oder zu Unrecht so geführt, wie er es geführt hatte? Nächtelang saß ich in meinem Arbeitszimmer und las Beschreibungen seines Mobiliars. Ich begann im Internet zu recherchieren, wo seine Lieblingsobjekte gelandet sein könnten. Ich vertiefte mich in die Archive der Bibliothèque nationale de France, in die digitalen Ausgaben der Auktionskataloge. Ich stöberte ein Buch aus dem Jahr 1938 auf, in dem Balzacs jährliche Kostenaufstellungen verzeichnet waren, und verschlang es wie einen Krimi. Sobald ich meinen Schreibtisch verließ, hatte ich den Eindruck, dass mich alles im Leben ständig auf Balzac zurückwarf. Ich sah Lila, seine Lieblingsfarbe, schon dachte ich an ihn. Es war Pfirsichzeit, er liebte Pfirsiche. Ich setzte mir in den Kopf, vor jedem seiner Wohnhäuser, selbst vor den inzwischen zerstörten, ein Foto von mir zu machen. Ich hatte das Gefühl, in eine Spirale gezogen zu werden, die sich mit rasender Geschwindigkeit drehte, aber nirgendwohin führte.
Nach ein paar Wochen dieser Art musste ich einsehen, dass es nur zwei Möglichkeiten gab: Entweder trieb ich einen guten Psychologen auf, der meine obsessive Störung behandeln könnte, oder ich schrieb eine Biografie über Balzac. Eine Biografie, die erklärte, weshalb er sich am anderen Ende von Paris in dieser kleinen Wohnung verschanzt hatte und weshalb die heutigen Besucher dort nur noch eine abgrundhässliche Vase vorfanden. Ein Text, der im Gegensatz zu Ratgebern à la Elegant wie eine Pariserin erklärte, wie man mit Balzac sein Leben in den Sand setzen konnte.
Sein Beispiel lädt dazu ein, die hochtrabenden, in den sozialen Netzwerken kursierenden Zitate über Scheitern und Erfolg zu relativieren, die Behauptungen von Churchill (»Erfolg heißt einmal mehr aufstehen als hinfallen«), Einstein (»Sie scheitern nie, bis Sie aufhören zu versuchen«), Lao Tse (»Scheitern ist die Grundlage des Erfolgs«) oder den folgenden, triefenden Satz von Oscar Wilde: »Man muss immer den Mond ins Visier nehmen, denn auch im Falle des Scheiterns landet man in den Sternen.«
Eben weil er es verbockt hat und ständig ruiniert oder verschuldet war, weil er sein Leben lang dem Geld hinterhergelaufen ist, weil er seine Miete nicht zahlen konnte, weil er von all dem genug hatte, aber immer irgendwann schwach wurde und sich den schönen Mantel kaufte, den er haben wollte, auch wenn ihm das Geld dafür fehlte; eben weil er sich weigerte zu akzeptieren, dass es anderen materiell besser ging als ihm, ist Balzac unser Bruder. Es tut seinem Gedenken keinen Abbruch, von seinen finanziellen Rückschlägen zu erzählen, ebenso wenig wie es der Literatur Abbruch tut, von seiner Geldgier zu berichten. Im Gegenteil lässt sich erst so verstehen, warum sein Werk immer noch und sogar zunehmend aktuell ist. Wir lernen, uns selbst und unsere Gesellschaft besser zu begreifen. Balzac vermochte die tiefsitzende, durch Geldmangel bewirkte Frustration zu schildern, den Neid angesichts des Lebens der Reichen und die moralischen Kompromisse, die man einzugehen bereit ist, um selbst daran teilzuhaben. Wie lässt es sich in einem System leben, in dem Geld die notwendige Voraussetzung zum Glück zu sein scheint? Balzac war ein Genie und ein sympathischer Loser, von dem wir lernen können, unser Leben selbstbestimmt zu führen. Und für eine erfolgsverliebte Gesellschaft wie die unsere ist er ein strahlendes Gegenbeispiel.
ÜBER BALZAC gibt es vor allem zwei Klischees: Er habe zu viel Kaffee getrunken, und seine Mutter sei eine hysterische Megäre gewesen. Letzteres folgt einer mehr oder weniger impliziten Regel der Literaturgeschichte, der zufolge Schriftsteller entweder eine glückliche Kindheit oder eine böse Mutter hatten. Gleich mehrere Briefe Balzacs zeichnen ein erschreckendes Bild der Frau, die ihm das Leben geschenkt hat: »Ich habe nie eine Mutter gehabt«, »Wenn Sie wüssten, wer meine Mutter ist. Gleichzeitig ein Monster und eine Monstrosität (…). Sie hasste mich schon, bevor ich überhaupt geboren war«, »Meine Mutter ist der Grund für alles Unglück in meinem Leben«.4 Die Biografen zitieren diese Auszüge gern, nicht ganz so gern allerdings den dazugehörigen Kontext.
Balzac ist dreiundvierzig Jahre alt. Trotz der Geldberge, die seine literarischen Erfolge ihm eingebracht haben, trotz seines Status als Epochenstar und seines Konterfeis in den Zeitungen ist er, sagen wir es freiheraus, komplett ruiniert. Eine subtile Mischung aus verkorksten Entscheidungen und Pech sorgte dafür, dass er keinen müden Groschen mehr hat. Kurz davor, im Gefängnis zu landen, verkriecht er sich in einer kleinen, von einem Metzger vermieteten Wohnung in Passy. Seine letzte Rettung ist eine Frau, die er davon überzeugen muss, dass er keinerlei Verantwortung für die wandelnde Katastrophe trägt, zu der sein Leben geworden ist. Er braucht einen Sündenbock, und seine Mutter scheint für diese Rolle wie gemacht. Also schreibt er lange Briefe, in denen er sie anklagt und sein vergangenes Leben in ein neues Narrativ kleidet. Warum sollte man sein Leben nicht nach Belieben umschreiben können wie seine Bücher?
Selbstverständlich haben seine Biografen den Topos der monströsen Mutter aufgegriffen. Was über Frauen geschrieben wurde, ist stets mit Vorsicht zu genießen – auch im Rahmen einer Biografie.
Sie wurde abwechselnd als »trockenes Herz«, als »steif und kalt«, »leichtfertig und autoritär« beschrieben, als Verkörperung der »Lieblosigkeit«. Die haarsträubendste frauenfeindliche Darstellung, die von ihr überliefert ist, stammt von Stefan Zweig: Sie habe »die schlimme Eigenschaft, sich ständig unglücklich zu fühlen«5 (wobei er nicht einen Augenblick in Erwägung zieht, dass sie womöglich tatsächlich unglücklich war). Sie stelle »den leidigen Typus der immer Gekränkten in sämtlichen spiegelnden Farben der Hysterie dar. Vor allem im Hause fühlt sie sich nicht genug geliebt, genug geachtet, genug gewürdigt.«6 Während er ein Loblied auf den Vater singt, sieht Zweig der Mutter nichts nach: »Aus einer typischen Kleinbürgerfamilie stammend, die harpagonhaft mit Kurzwarenhandel Sou für Sou ihren Sparstrumpf füllte, bringt sie all die muffigen ehrgeizigen Instinkte der unteren Bourgeoisie in den jungen Haushalt; vor allem einen kleinkrämerischen Geiz, der aber gleichzeitig immer happig nach guten Anlagen und einträglichen Spekulationen schielt.«7
Doch wer verbirgt sich wirklich hinter dieser furchtbaren Hexe, über die sich Männer, die ihr niemals begegnet sind, ein Urteil anmaßen? Unter ihrem Mädchennamen Laure Sallambier kam sie 1778 in Paris in einer auf den Tuchhandel spezialisierten bürgerlichen Familie zur Welt. Mädchen hatten es damals grundsätzlich schwer, aber Laure erfuhr eine besonders strikte Behandlung. Schon als Kind erstellten ihre Eltern für sie einen genauen Zeitplan, damit ihre Tage nahtlos ausgefüllt waren. Bloß nicht träumen oder, schlimmer noch, nachdenken. Trotz ihrer unleugbaren intellektuellen Fähigkeiten verbrachte sie ihre Jugend mit so abwechslungsreichen Tätigkeiten wie Nähen, Stricken oder Spitzenklöppelei. Sie war den ganzen Tag mit irgendeiner Nadelarbeit beschäftigt und hatte gefälligst den Mund zu halten, es sei denn, jemand richtete ausdrücklich das Wort an sie. Nicht einmal in den Spiegel durfte sie schauen, um nur ja keine fragwürdige Eitelkeit aufkommen zu lassen.
Mit achtzehn Jahren wurde sie, natürlich ungefragt, mit einem Freund ihrer Eltern verheiratet, einem gewissen Bernard-François Balzac, Proviantverwalter der Militärdivision in Tours. Er war fünfzig, was einen Altersunterschied von zweiunddreißig Jahren bedeutete. Das war selbst für die damalige Zeit ungewöhnlich. Laure Sallambier wurde also aus der Vormundschaft ihrer Eltern entlassen, um sich zu einem sexuellen Verhältnis mit einem Fünfzigjährigen zu verpflichten, der 1,62 Meter groß und, nach dem von ihm erhaltenen Porträt zu urteilen, nicht gerade eine Schönheit war.
Bernard-François Balssa, so sein richtiger Name, hatte bereits ein gut gefülltes Leben geführt. Er stammte aus einer einfachen Bauernfamilie aus dem Departement Tarn. Allen Mitgliedern der künftigen Familie Balzac war die Tatsache gemeinsam, dass ihnen der Ehrgeiz in der Brieftasche saß. Bernard-François hatte nicht die Absicht, sein Leben lang Vieh zu hüten. Mit dreizehn Jahren fiel er dem Pfarrer auf, der ihm Lesen und Schreiben beibrachte, dann wurde er Laufbursche bei einem Notar. 1766 aber, mit zwanzig, war er mit einem ernsthaften Problem konfrontiert: Er hatte Marianne Mouychoux, die Tochter des Dachdeckers, geschwängert. Es gab einen Skandal, zumal sich Bernard-François kategorisch weigerte, durch eine Ehe mit Mademoiselle Mouychoux auf seine gesellschaftlichen Ambitionen zu verzichten. Der widerspenstige Erzeuger wurde verhaftet, doch Marianne willigte ein, gegen eine finanzielle Entschädigung von einer weiteren Strafverfolgung abzusehen. Großvater Balssa verkaufte einen Teil seiner Ländereien, um die Summe bestreiten zu können, Marianne gebar einen Sohn, der bereits vier Tage später starb, und Bernard-François suchte das Weite. Er ging nach Toulouse, wo er in den Dienst eines parlamentarischen Beraters trat, der bald in den königlichen Rat berufen wurde und Bernard-François nach Paris holte. Dort änderte Balssa seinen Namen in Balzac, an den er später gerne ein Adelsprädikat hängte.
Er absolvierte eine recht ansehnliche Laufbahn und stellte eine unbestreitbare Begabung unter Beweis, seine Meinungen der komplizierten Politik der damaligen Zeit anzupassen. Eine Disziplin, die dem olympischen Kunstturnen angehören könnte, bedenkt man, dass er nacheinander mit dem Ancien Régime, der Revolution samt Schreckensherrschaft, dem Direktorium, dem Konsulat, dem Kaiserreich und der Restauration zu tun und zu kämpfen hatte.
Doch Bernard-François wollte es nicht nur in beruflicher Hinsicht wissen. Wie an vielen der künftigen Figuren seines Sohnes nagte auch an ihm eine fixe Idee, eine alles beherrschende Obsession: Er wollte hundert Jahre alt werden. Das ganze Trachten seines Lebens bestand darin, seinen Tod so lange wie möglich hinauszuzögern. Dafür griff er auf ein ganzes Arsenal an Tricks zurück, wie zum Beispiel Baumsaft zu trinken, abends nur Obst zu sich zu nehmen oder vor der Sonne ins Bett zu gehen. Überzeugt davon, hundert zu werden, kümmerte es ihn nicht, dass er erst mit fünfzig heiratete, was in seinen Augen für seine die Hundertergrenze nicht erreichenden Altersgenossen in etwa einem Alter von fünfunddreißig entsprach. Er heiratete also die Tochter seines Freundes Sallambier. Bernard-François war sich gewiss, ein gutes Geschäft zu machen. Er hatte ein unschuldiges, tugendhaftes und sanftes junges Mädchen geheiratet, denn wohlerzogene achtzehnjährige Töchter waren natürlicherweise sanft und tugendhaft.
Der Mann war verblüffend naiv.
Fünfzehn Monate nach der Hochzeit, am 20. Mai 1798, kam die junge Laure mit einem Sohn nieder. Das Ehepaar Balzac hatte zumindest ein gemeinsames Interesse: Beide waren begeisterte Leser von Rousseau und seiner Theorie der Rückkehr zur Natur. Die junge Mutter beschloss daher, ihr Kind selbst zu stillen, anstatt es, wie damals üblich, zu einer Amme zu geben. Der Säugling starb nach dreiunddreißig Tagen. Der Verlust muss sehr schmerzvoll gewesen sein für die junge Frau, die überzeugt war, ihr Neugeborenes mit der eigenen Milch vergiftet zu haben.
Ein paar Wochen später wurde Laure erneut schwanger, mit Honoré.
Das erste Pech seines Lebens: Er kam am 20. Mai 1799 zur Welt, auf den Tag genau ein Jahr nach der Geburt des verstorbenen Kindes. Vielleicht ist hier ein Anhaltspunkt für das schwierige Verhältnis zu seiner Mutter zu finden.
Stefan Zweig aber hatte eine weitaus verstiegenere Erklärung parat: Laure habe sich »instinkthaft« von Honoré ferngehalten. Und er setzt noch einen drauf: »Kaum, dass sie ihren Sohn geboren hat, als Wöchnerin noch, schafft sie ihn wie einen Aussätzigen aus dem Haus.«8 In Wirklichkeit wurde Honoré zu einer Amme aufs Land gegeben. Der angeblich verdrängte Mutterinstinkt lässt sich eher als Absicht deuten, ihn vor dem gleichen Unheil zu schützen, das den Erstgeborenen ereilt hatte. Zwei Jahre später kam schließlich ein weiteres Baby zu Honoré aufs Land – seine kleine Schwester Laure.
Ein Paradox ist bemerkenswert: Balzacs Verhalten wird oft mit seiner Kindheit zu erklären versucht (wenn er sich von einer älteren Frau angezogen fühlte, dann selbstverständlich deshalb, weil seine Mutter eine Hexe war), aber niemand denkt daran, das gleiche Prinzip auf seine Mutter anzuwenden. Als wären Mütter natürlicherweise lieb oder abgrundtief böse – biografische Erklärungen braucht es da nicht. Es gibt die geborenen Mütter (sprich die liebevollen, die die Natur mit dem berühmten »Mutterinstinkt« begabt hat), und es gibt die schlechten, verdorbenen Mütter.
Doch selbst wenn man Balzacs Standpunkt einnimmt – mein Leben ist wegen dieser furchtbaren Frau gescheitert –, lässt sich nachvollziehen, dass sie zwischen der arrangierten Ehe mit einem alten, Baumsaft trinkenden Mann und dem Tod ihres ersten Kindes abgestumpft war. Sie war streng mit ihren Kindern, keine Mutter, die ständig vor Bewunderung verging. Tochter Laure schrieb in einem 1858, nach dem Tod ihrer Mutter veröffentlichten Buch: »Meine Mutter, die reich, schön und sehr viel jünger als ihr Ehemann war, hatte eine selten rasche Auffassungs- und Erfindungsgabe, eine große Entschlusskraft und widmete sich ihrer Familie mit grenzenloser Hingabe. Ihre Liebe zu ihren Kindern schwebte permanent über ihnen, aber sie brachte sie eher durch Handeln als durch Worte zum Ausdruck.«9 Auch der große Balzac-Spezialist Pierre Barbéris hat die Darstellung der furchterregenden hysterischen Megäre und des sympathischen Familienvaters etwas ausdifferenziert: »Die Mutter war in jungen Jahren mit einem eigensinnigen, autoritären Fünfzigjährigen verheiratet worden (…), die Verkörperung des progressiven Bürgers, solange es die Niedertracht zu besiegen und über die Zivilisation zu dozieren galt, aber durch und durch konservativ, wenn es um die gesellschaftliche Mikrozelle ging, deren Oberhaupt er war.«10
Honoré war vier Jahre alt, als er die Amme verließ, um zum ersten Mal bei seinen Eltern in Tours zu leben, auch wenn sich dort vor allem eine furchteinflößende Gouvernante um die Kinder kümmerte. Zugegebenermaßen hatte Laure Balzac anderes im Kopf. Bernard-François, der Proviantverwalter blieb, wurde 1803 außerdem zum Generalverwalter des Hospizes in Tours und zum stellvertretenden Bürgermeister ernannt. Die Balzacs zählten zur lokalen Oberschicht, und Madame ging gerne aus. Man schrieb ihr mehrere Liebschaften zu, namentlich mit Jean de Margonne, der ein Freund der Familie bleiben würde und Honoré regelmäßig in seinem Schloss in Saché empfing (das ihm später als Museum gewidmet wurde). Diese Beziehung war umso bedeutungsvoller, als Laure und Jean ein Kind zusammen hatten: Henry wurde 1807 geboren und von Bernard-François als leiblicher Sohn anerkannt. Laure sollte ihr Leben lang eine besondere Zuneigung für Henry hegen, was bedeuten könnte, dass ein Kind, das während des einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs mit einer geliebten Person gezeugt wird, die Mutterliebe steigert. Honoré hingegen litt lange unter der Vorzugsbehandlung, die seine Mutter dem unerträglichen kleinen Bruder angedeihen ließ.
Doch Honorés Aufenthalt in seiner Familie war von kurzer Dauer. Mit acht Jahren wurde der pausbäckige, sanfte und lustige Junge in den Höllenschlund geschickt, den das Collège de Vendôme im Loir-et-Cher für ihn darstellte. Dort blieb er, bis er vierzehn war. In seinem Roman Louis Lambert (1832) schilderte er diese Zeit als die furchtbarste Erfahrung seines Lebens – er hatte einen ausgeprägten Hang zum Selbstmitleid.
Vendôme war ein traditionelles Internat, sprich, es glich mehr oder weniger einer Strafvollzugsanstalt. Man geizte nicht mit körperlichen Züchtigungen, und die jeder emotionalen Bindung beraubten Kinder durften das Pensionat während ihrer gesamten Schulzeit, selbst in den Sommerferien, nicht verlassen. Einmal im Jahr waren die Eltern eingeladen, sie anlässlich der Zeugnisübergabe zu besuchen, aber Honorés Eltern beschlossen, nur dann zu kommen, wenn es gute Noten zu belohnen gäbe. Honoré war allerdings ein mittelmäßiger Schüler und berichtete, er habe seine Eltern in sechs Schuljahren nur zweimal gesehen. Er fühlte sich komplett im Stich gelassen.
Fürs Erste stand Honorés Leben also nicht unter dem besten Stern: Er war vermutlich das Ergebnis einer ehelichen Vergewaltigung, kam am selben Tag wie sein verstorbener Bruder zur Welt, hatte einen gleichgültigen Vater, eine frustrierte Mutter und wurde die ganze Schulzeit über körperlich misshandelt.
Dennoch ereignete sich in Vendôme etwas Entscheidendes. Schüler, die bestraft worden waren, wurden in den Alkoven geschickt, einen Abstellraum im Treppenhaus, in dem man sie mehr oder weniger lange einschloss. Honoré gelang es, diese Probe zu seinem Vorteil zu nutzen. Er überredete den Oberaufseher, ihn Bücher in den Alkoven mitnehmen zu lassen. Und so wurde aus dem Bestrafungs- ein Zufluchtsort, wo er in aller Ruhe und fern der anderen die Bibliothek des Collège verschlingen konnte. Wie alle lesehungrigen jungen Menschen lernte er im Laufe seiner Lektüre immer mehr über sich und die Welt. Er verbrachte sogar ein halbes Jahr damit, ein philosophisches Traktat über den Willen zu verfassen, das leider von einem Lehrer einbehalten wurde. Honoré sollte diesem Manuskript sein Leben lang nachtrauern – auch wenn es vermutlich meiner eigenen, mit fünfzehn verfassten »Abhandlung über den Willen« glich, die nichts anderes als ein schülerhafter zweiter Aufguss von Der Existentialismus ist ein Humanismus war.
Honoré gelang es, mithilfe von Büchern in der Hölle von Vendôme zu überleben. Der scheinbar mittelmäßige Schüler begann, von geistigem Ruhm zu träumen.
1813 fiel er in einen komatösen Zustand, der seine Lehrer alarmierte. Er antwortete nicht mehr, wenn er angesprochen wurde, schien im Wachzustand zu schlafen und sich in einer beängstigenden Apathie zu verschließen. Die Kinderärztin und Psychoanalytikerin Françoise Dolto hätte bei dem Vierzehnjährigen schlicht einen Hummerkomplex diagnostiziert: Er hat den Panzer der Kindheit abgeworfen und steht plötzlich schutzlos da. Die Leiter des Collège Vendôme aber fürchteten, dass er an Kretinismus leiden könne, was nur beweist, wie wenig sie von ihm hielten. Balzac seinerseits erklärte seinen Zustand mit einer Überfülle an Ideen, die sich in seinem Hirn tummelten. Was auch immer es sein mochte, es lief auf dasselbe hinaus: Der Schulleiter zitierte seine Mutter herbei, die ihn sofort nach Hause holte. Damit war sein Aufenthalt in der Hölle beendet, und er sollte wieder bei seiner Familie leben. Bernard-François war gerade auf einen anderen Posten als Proviantverwalter ernannt worden, nun in Paris. Honoré, Laure (die Mutter) und Laure (die Schwester), seine andere, 1802 geborene Schwester Laurence, die Großmutter Sallambier und der kleine Henry zogen ins Marais, in die Nummer 122 der heutigen Rue du Temple.
Die Eltern hatten eine recht genaue Vorstellung von der Karriere, die ihr Ältester durchlaufen sollte. Ihr großer Traum, ihr ganzer Ehrgeiz bestand darin, ihn zu einem Notariatsgehilfen zu machen. Das Zivilgesetzbuch und Honoré hatten fast das gleiche Alter – der Code Civil war 1804 erlassen geworden – und interessierten sich beide für die gleiche Frage: Was macht eine Familie aus? Für das Zivilgesetzbuch war es das Eigentum, das die Familie begründete. Es regelte daher die finanziellen Beziehungen zwischen ihren Mitgliedern. Honoré sollte Zeit haben, sämtliche Konsequenzen dieser These zu studieren, denn seine Eltern schrieben ihn nicht nur an der juristischen Fakultät ein, sondern taten parallel dazu auch einen Platz bei einem Notar für ihn auf, wo er drei Jahre lang arbeitete und sich mit familiären, sprich finanziellen Zwistigkeiten beschäftigte, die später das Handlungsgerüst seiner Romane bilden würden.
Honoré verstand sich gut mit seinen Kollegen in dem schmuddeligen, düsteren Raum voller Staub, in dem es nach Essen roch und sich die Papiere stapelten. Er arbeitete zwar nicht übermäßig, war aber ein beliebter, stets gut gelaunter Mitarbeiter, der alle zum Lachen brachte. Eines Tages ließ der Bürovorsteher ihm diese Nachricht übermitteln: »Monsieur Balzac wird gebeten, heute nicht zu erscheinen, denn es gibt allzu viel zu tun.« Und der Literaturkritiker Gustave Lanson machte folgende ruppige Bemerkung: »Schon als Notariatsschreiber fand er Gefallen an diesen widerwärtigen Scherzen, die er in seinen Romanen so weitschweifig ausgebreitet hat.«11
Zu seinem privaten Vergnügen war Honoré parallel zudem als Gasthörer eingeschrieben. Er interessierte sich für Philosophie und Biologie, für die Einheit von Welt, Körper und Seele. Noch mochte er es seinen Eltern nicht sagen, aber er sah sich nicht als zukünftigen Notar. Eher als einen Literaten des 18. Jahrhunderts, gleichzeitig Philosoph und Künstler, Dichter und Denker. Durch eine familiäre Katastrophe überstürzten sich die Ereignisse. Im Jahr 1819 trat das Unvorstellbare ein: Bernard-François wurde in den Ruhestand versetzt. Mit nur dreiundsiebzig Jahren, was für eine Schande! Diese Einkommenseinbuße zwang die Familie, sich in Villeparisis im Departement Seine-et-Marne niederzulassen, einer kleinen Gemeinde, die berühmt geworden ist, weil ein Gastwirt dort den auf der Flucht befindlichen Ludwig XVI. anhand seines Porträts auf einer Münze erkannt haben soll.
Zur gleichen Zeit bot der Notar, bei dem Honoré damals arbeitete, ihm an, seine Kanzlei zu übernehmen. Perfekt, jetzt brauchte er nur noch zu heiraten, um dank der Mitgift die Kanzlei kaufen und die finanzielle Zukunft der Familie sichern zu können.
Damit befinden wir uns am ersten Kipppunkt im Leben Balzacs. Bisher hatte er einen für seine Zeit im Großen und Ganzen klassischen Werdegang fern der literarischen Welt durchlaufen. Welche Abzweigung würde er jetzt nehmen, um Honoré de Balzac zu werden?
Heutzutage sind wir geneigt zu denken, dass unser Leben einem Drehbuch folgt. Mit Filmen, Serien, Büchern und Videospielen übersättigt, die alle ähnlichen narratologischen Gesetzmäßigkeiten gehorchen, warten wir darauf, dass die Geschichte unseres Lebens Fahrt aufnimmt, wie wir es aus diesen Fiktionen kennen: Die Handlung wird durch ein auslösendes Moment angestoßen, sei es ein äußeres Element oder eine innere Offenbarung. Einer Art von Bovarysmus gehorchend, folgen wir einem Weg, ohne eine wirkliche Entscheidung zu treffen, und warten als Zuschauer darauf, dass unser Leben irgendwann tatsächlich anläuft. Dabei basiert das Leben nicht auf einem Drehbuch, und es gibt nur selten ein auslösendes Moment: Es beschränkt sich auf das Verrinnen einer stets unsichtbaren Zeit.
Honoré war mittlerweile fast zwanzig Jahre alt, und auch er hätte auf ein auslösendes Moment warten können. Er hätte einwilligen können, das Notariat zu übernehmen, hätte abends nach der Arbeit schreiben und darauf hoffen können, dass sich der literarische Ruhm eines Tages wie von selbst einstellen würde. Doch Honoré hatte schon damals ein gesundes Selbstvertrauen und zwang sich nur ungern zu etwas, das er nicht wollte. Und er wollte nicht warten. Warum sollte er um jeden Preis vernünftig sein, wenn er doch an sein Genie glaubte? Also führte er das auslösende Moment seines Lebens selbst herbei: Er verkündete seinen Eltern, er wolle weder heiraten noch Notar werden.
Schriftsteller wollte er sein.
Seine Eltern waren leidenschaftliche Leser und hatten keine grundsätzlichen Einwände gegen eine literarische Laufbahn. Nur eins bereitete ihnen Sorge: Konnte man mit dem Schreiben zu Geld kommen?
(Eher selten.)
So beschlossen sie, ein gelinde gesagt merkwürdiges Experiment zu wagen: Honoré sollte zwei Jahre in Paris bleiben, um ein Meisterwerk zu verfassen. Da man sich jedoch seines Genies noch nicht sicher sein konnte, durfte es keiner wissen. Offiziell hielt er sich daher in der Provinz auf, bei Cousins in Albi. Tatsächlich lebte er monatelang eingeschlossen auf einem Dachboden in der früheren Nummer 9 der Rue de Lesdiguières in der Nähe von Bastille. Er durfte tagsüber nicht auf die Straße gehen, damit er ja keine Bekannten traf, und vor allem beschränkte sich das ihm zur Verfügung stehende Budget auf das absolute Existenzminimum.
Die Dinge lassen sich aus zwei Perspektiven betrachten. Der positiven Version zufolge sehen wir hier eine Familie, die ihrem zwanzigjährigen Sohn zwei Jahre lang ermöglichte, sich in Paris dem Schreiben zu widmen, ohne arbeiten oder studieren zu müssen – eigentlich ein Luxus. Doch Honoré und seine Biografen sollten der negativen Version den Vorzug geben: Seine böse Mutter habe seine Entscheidung nur scheinbar gutgeheißen und seine finanziellen Mittel auf das Nötigste reduziert, um ihn zu entmutigen. In einem Brief des Vaters aus jener Zeit (Dezember 1819) ist allerdings zu lesen: »(…) der, auf den ich am meisten gezählt habe, um meine Familie zu etablieren, hat binnen weniger Jahre den Großteil der Schätze, mit denen die Natur ihn ausgestattet hat, vergeudet, worüber ich immer zu klagen haben werde. Man wollte eben nicht auf mich hören: Man hat ihn mit Annehmlichkeiten verweichlicht, als er den dornigen und mühsamen Weg zum Erfolg beschreiten sollte. Anstatt den Durchbruch zu schaffen und Bürovorsteher zu werden, erschien ihm die Arbeit hart und schwierig, und nichts konnte ihm recht sein.«12 Demnach sieht es so aus, als wäre Bernard-François strikt gegen die Idee gewesen, Honoré in Paris schreiben zu lassen, während die Mutter sich dafür eingesetzt hätte.
Eines ist sicher: In seiner Mansarde entdeckte Balzac die Armut. Wenn er sich in seinen Romanen auf diese Epoche seines Lebens bezog, entschied er sich für eine ausnehmend negative Darstellung: »Nichts konnte schrecklicher sein als diese Mansarde mit ihren schmutzigen gelben Wänden, die nach Elend roch und nur auf den armen Gelehrten zu warten schien. Das Dach senkte sich auf beiden Seiten gleichmäßig darüber, und die auseinanderklaffenden Ziegel ließen den Himmel hindurchsehen. Es war Platz für ein Bett, einen Tisch, einige Stühle (…).« Es sei ein »Käfig, den die Bleikammern von Venedig wohl kaum übertrafen«.13 Er war ein junger Mann, der in Paris zwar seine Freiheit, nicht aber die finanziellen Mittel hatte, um sie auch zu genießen. Nur hereinspaziert, Eugène de Rastignac, Lucien de Rubempré, Raphaël de Valentin.
Seiner Korrespondenz nach zu urteilen, war Honoré damals in Wirklichkeit jedoch glücklich; frei und ganz der Literatur verschrieben. Er fühlte den baldigen Ruhm nahen. Er machte sich oft darüber lustig, dass er eigenhändig einkaufen, kochen und putzen musste. Er begann sich für etwas zu interessieren, das ihn sein Leben lang beschäftigen und gigantische Ausmaße annehmen sollte: die Inneneinrichtung. Er strich sein Zimmer neu, bastelte sich einen Wandschirm, und obwohl er 16,90 Franc ausgab, um den ganzen Winter über zu heizen, und sich permanent über Hunger und Kälte beklagte, beschloss er, als er in einem Laden einen entzückenden Spiegel für 20 Franc entdeckte, ihn auch zu kaufen. Natürlich konnte er ihn sich nicht sofort leisten, er musste einen kleinen Kredit aufnehmen. Dieses Mikro-Ereignis, das ihm eine mütterliche Rüge eintrug, war das erste Symptom für das, was ihn im Folgenden in den Ruin führen sollte.