Bangen und Hoffen - Rike Thome - E-Book

Bangen und Hoffen E-Book

Rike Thome

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Beschreibung

Berührende Geschichte einer jungen Frau.

In einem Internat, umgeben von hohen Mauern und unter strengem Regime, verbringt Natalia, die zur Vollwaise wurde, ihre Jugend.

Dort lernt sie Jasmin kennen, zu der sich eine innige Freundschaft entwickelt und mit der sie sich nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis, als welches die Freundinnen es empfinden, eine gemeinsame Wohnung nimmt.

Nun vogelfrei erkunden sie Paris, ihre Heimat. Doch Natalia plagt noch immer ein Traum.

Erst später findet sie den Mut, die für sie hinterlassenen Briefe ihrer Mutter zu lesen. Was sie darin erfährt, bringt ihr ganzes Weltbild durcheinander. Und es wird noch schlimmer. Bei einem gemeinsamen Ausgang - sie war nur zur Toilette - muss sie vor zwei Männern flüchten, die ihr nachstellen. Dabei läuft sie den Brüdern Michael und Benjamin Althoff in die Arme, bei denen sie Schutz findet.

Mit einem Schlag passiert in ihrem Leben eine bedeutungsvolle Wandlung. Jedoch fürchtet sie sich vor deren Ausgang.

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Rike Thome

Bangen und Hoffen

Covergestaltung Kathy, dafür meinen Dank!BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Was zuvor geschah

 

Ich wachte wie jeden Morgen unausgeruht auf.

Immer wieder plagte mich in den frühen Morgenstunden derselbe Traum. Nur mit Mühe gelang es mir, meine langen, schlanken Beine aus dem Bett zu schwingen. Ich stapfte zum Schrank, nahm ein Badetuch und saubere Wäsche heraus und ging in den Flur, von dort aus ins Badezimmer.

 

Leider lebte ich nicht, wie so viele andere junge Damen, in einem wohlbehütetem und behaglichen Elternhaus, sondern im Max-Josef-Stift-Internat in St. Denis, Paris.

Im Alter von vierzehn Jahren, nahm mein Leben eine drastische Wende. Meine Mama starb bei einem Verkehrsunfall, als ich nichts ahnend in der Schule saß und fleißig lernte. Den Tag werde ich niemals vergessen. Jenen schrecklichen Tag, als zwei Polizeibeamte und eine ältere Frau in der Klasse erschienen. Danach ging alles so schnell und bevor ich mich versah, fand ich mich im Internat wieder. Das Wenige, dass man mir erzählte, war, dass meine Mama nicht gelitten hatte. Sicher hielten sie mich noch für viel zu jung, um mir alles zu erzählen. Später wollte ich es nicht mehr wissen. Meine Mama wollte ich in guter Erinnerung halten. Nicht blutverschmiert.

Zwar war das feige, aber ich hatte genug mit anderen Dingen zu kämpfen. Zum Beispiel, wie es nun mit mir weitergehen sollte. Es tat unwahrscheinlich weh, nun eine Vollwaise zu sein. Was nützte es mich da, das sie mich nicht mittellos zurückließ.

 

Im Bad angekommen, zog ich meinen Schlafanzug aus und stellte mich unter die warme Dusche.

„Oh, das tut gut!“, seufzte ich auf. „Gleich bin ich wach!“

Nach zwanzig Minuten stand ich fertig angezogen, das lange braune Haar, ordentlich zu einem Zopf geflochten, vor dem Spiegel und grinste mein Spiegelbild an, während ich sprach: „Und wieder ist ein Jahr vergangen!“

Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich mich spurten musste. Denn eines der Gebote des Internates, lautete Pünktlichkeit. Gefolgt von Zuverlässigkeit, Fleiß und Brüderlichkeit.

 

„Guten Morgen, allerseits!“, begrüßte ich die Gruppe, die heute für das Frühstück zuständig war, beim Einkehren in die Küche.

„Guten Morgen, Natalia!“, grüßten mich die fünf jungen Damen zurück.

Sogleich ging ich daran, die Tische einzudecken. Wir fünf wurden im Laufe der Zeit zu Freundinnen und sind nun ein eingespieltes Team. Alle befanden sich schon lange im Internat und sehnten ihren Auszug herbei. Dana war erst siebzehn Jahre, aber schon seit sieben Jahren im Internat, ebenso wie Monika, die ein paar Monate älter war. Pia kam vor drei Monaten zu uns, zählte aber schon fast achtzehn. Vera war auch siebzehn Jahre.

Nur Jasmin und ich waren mit einundzwanzig die Ältesten. Obwohl wir doch mit achtzehn vor dem Gesetz, als Erwachsen galten, mussten wir durch einige Umstände, länger hier ausharren. Zu Anfang waren wir darüber sehr erbost, haben aber beide einsehen müssen, dass es vielleicht gar nicht so schlecht in unserem Fall war. Denn wir beide hatten ja niemanden. Für diese Verlängerung hatte in meinem Fall, das Testament meiner Mama gesorgt und in Jasmins Fall, ein ihr unbekannter Onkel. Ich verzieh meiner Mama, aber Jasmin diesem Onkel leider nicht. Seit sieben Jahren leben wir schon hier und sehnen den Tag des Auszugs herbei.

 

Jasmin und ich waren aber am engsten befreundet. Wir wollten uns bald zusammen eine Wohnung mieten. Zuerst aber hieß es, zweiundzwanzig zu werden, denn erst dann konnten auch wir das Internat verlassen. Und einen festen Arbeitsplatz mussten wir auch vorweisen können. Was nichts anderes hieß, als noch ein Jahr auszuharren. Was die Arbeitsplätze betraf, sind wir beide in unserem jeweiligen Beruf, nach unserer Lehre übernommen worden. Jasmin arbeitete als Zimmermädchen in einem fünf Sterne Hotel und ich, Natalia, bin Konditorin. Damit hatte ich mir meinen Traum erfüllt, denn ich liebte es, zu backen und mir immer wieder neue Kreationen auszudenken. Ich musste nur aufpassen, dass ich nicht zu viel davon naschte. Was mir noch heute unsagbar schwerfällt. Für Süßes würde ich manchmal töten wollen, aber meine schlanke Linie wollte ich gerne behalten.

Also heißt es für mich „Finger weg von kleinen Törtchen!“

 

Nachdem wir mit zwanzig Mädchen im Alter von acht bis siebzehn Jahren gefrühstückt hatten, durften wir uns für eine Stunde zurückziehen. Dann hieß es für diejenigen, die nicht zur Arbeit mussten, die hauseigenen Arbeiten verrichten. Was nichts anderes bedeutete als spülen, putzen, Staub wischen, Betten beziehen und, und, und. Mein Pech, dass ich heute meinen freien Tag hatte. Jasmin, die zwar nicht jeden Sonntag, aber ab und an auch dann arbeiten gehen musste, war dadurch fein raus.

 

„Schade Natalia, dass ich gehen muss. Gerade, wo du doch heute Geburtstag hast, hätte uns die alte Schrulle von Madame Seyer, sicher ein Eis essen gehen lassen.“

Über ihre Bezeichnung für die Heimleiterin, schmunzelte ich nur.

„Mach dir keine Sorgen. Wir haben es so lange ausgehalten, da kommt es auf ein paar Monate auch nicht mehr an.“

Meine Freundin machte ein zerknirschtes Gesicht. „Ich weiß! Trotzdem kann ich es kaum erwarten, aus dieser Gefangenschaft heraus zu kommen.“

„Bald!“, sagte ich. „Und jetzt geh', ehe du zu spät kommst. Du weißt ja, dass wir einen festen Job nachweisen müssen, damit wir an unserem zweiundzwanzigsten Geburtstag gehen können.“

Jasmin stöhnte. „Oh ja! Mir tut es nur leid, das du meinetwegen drei lange Monate länger bleiben musst, bevor auch ich zweiundzwanzig bin.“

Jetzt lachte ich herzlich und dirigierte meine Freundin sachte in Richtung Ausgang. „Ich werde es überleben. Also los jetzt.“

 

Als sie um die Ecke verschwand, machte ich mich auf den Weg in mein Zimmer, das zwar klein war, aber mir allein gehörte. Dort schwang ich meinen Hintern aufs Bett und schrieb in meinem Tagebuch, was ich führte, seit ich hier gelandet war. Später einmal wollte ich es meinem Kind, wenn ich denn eines haben würde, zum Lesen geben, damit es sah, wie gut sie es bei mir hatte. Ich werde sicher eine gute Mama abgeben, so wie es meine gewesen war.

 

Nach fünf Minuten Eintragungen schweiften meine Gedanken ab. Wieder fragte ich mich, was mir dieser Traum, der mich nun schon seit sieben Jahren verfolgte, nur sagen wollte. Ein Schauer lief mir über den Rücken, als ich in Gedanken, Mamas Stimme wieder weinend sagen hörte: „Bitte such Sie, Natalia! Ich habe dich doch nur schützen wollen.“

Ich schüttelte die Gedanken ab, die mich immer mehr verwirrten und auch ängstigten. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass ich noch eine halbe Stunde Zeit hätte, bis ich wieder nach unten gehen musste, um meine Arbeiten zu verrichten. Da ich nichts anderes zu tun hatte, las ich meine Eintragungen, beginnend am Anfang, noch einmal durch.

 

Der nächste Tag begann für mich wie jeder Morgen.

Träge schleppte ich mich ins Bad und machte mich für die Arbeit in der Bäckerei fertig.

Mist, ich hätte besser nicht mein eigenes Tagebuch lesen sollen. Nun wurde die Stimme meiner Mama in meinem Kopf, immer lauter. Fast klang es wie ein Hilfeschrei. Was wollte sie mir nur damit sagen?

Schnell steckte ich die Brosche an, die mir meine Freundinnen zum Geburtstag geschenkt hatten, trug ein wenig Parfum auf, das ich von den Betreuerinnen bekommen hatte und lief nach unten, um schnell zu frühstücken. Auf dem Weg begegnete ich Jasmin.

„Was hast du gestern gemacht? Hat dich Madame Seyer allein shoppen gehen lassen?“, wollte sie von mir wissen.

 

Wo dachte ihre Freundin immer nur hin? Auch wenn es mein Geburtstag war, aber niemals würde Madame Seyer, die Internatsleiterin, irgendein Mädchen allein losziehen lassen. Wir konnten bei ihr froh sein, wenn wir mal als Gruppe ausgehen durften. Allerdings dann in Begleitung der Wächterinnen, wie wir sie nannten. Madame Seyer war eine der älteren Generation. Womöglich auch noch altjüngferlich. In all den Jahren hatte ich sie noch nie herzhaft lachen hören. Sie war streng, wachte über uns wie ein General und erlaubte keinem unter achtzehn, sich abends außer Haus zu befinden. Durch diesen Onkel von Jasmin und den letzten Willen meiner Mama, machte sie auch bei uns keine Ausnahme. Eigentlich waren wir selbst schuld, denn wir wagten uns nicht, uns gegen Madame Seyer aufzulehnen. Jasmin hatte nur eine große Klappe darin und ich war viel zu ruhig dafür. Ergo! Wir alle kannten das Leben außerhalb der Internatsmauern nicht mehr. Und Jungs bekamen wir nur im Fernsehen, auf Fotos in Zeitschriften, oder bei unseren Ausflügen, die allerdings auch in Begleitung der Wächterinnen stattfanden, zu sehen. Schade eigentlich, dass das Max-Josef-Stift- Internat ein reines Mädchengefängnis war, fanden wir.

 

„Nö! Hatte alleine keine Lust“, sagte ich nur.

Sie sah mich an und grinste. „Warte nur, bis wir hier raus sind. Dann holen wir alles nach. Wir werden es so richtig genießen.“

Ja klar! Aber was sie nicht ahnte war, dass mir angst und bange wurde, wenn ich nur daran dachte. Wie sollte ich mich draußen bewegen, wenn wir doch so abgeschottet von allem lebten? Nach Jasmins Erzählungen hatte sie da draußen ja schon einiges erlebt. Mit zwölf verlor sie ihre Unschuld, da sie mit so einer Clique herumzog, die ebenfalls auf der Straße lebte.

 

Viele der Kinder taten Dinge, die sie in einem geordnetem Leben niemals getan hätten. Sie stahlen, randalierten, im schlimmsten Falle gingen sie anschaffen. Nur um aus dieser Armut heraus zu kommen. Es gab so viel davon da draußen. Zu wenig Arbeitsplätze, keine finanzielle Unterstützung von Ämtern, wenn einige mutige Menschen, eines Jobs wegen, eine Umschulung oder Fortbildung in Kauf nehmen wollten. Eltern schlugen aus Verzweiflung ihre Kinder, verfielen aus Frust dem Alkohol, oder nahmen Drogen, nur um dem Alltag entfliehen zu können. Daher sollte man die Kinder auf der Straße nicht vorschnell verurteilen. Viele nahmen lieber das in Kauf, als zusehen zu müssen, wie ihre Eltern langsam daran zu Grunde gingen.

 

Bis man Jasmin von der Straße nahm und sie hierher brachte.

Ein ihr unbekannter Großonkel, bezahlte für ihren Aufenthalt hier. Ihre Mutter war Alkoholikerin, weshalb sie von zuhause weglief. Sie konnte es nicht mehr mit ansehen, wie diese sich langsam zu Tode soff. Sie hasste sie dafür. Später erfuhr sie von einem, der mit ihnen auf der Straße lebte, dass man ihre Mutter in einem Sarg aus dem Haus getragen hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt glaubte ich, dass es so was nur in Filmen gab. Ihr Großonkel nahm zwar an, dass Jasmin nach ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag, zu ihm nach New York ziehen würde, aber da hatte er die Rechnung ohne sie gemacht. Jasmin wollte nichts davon wissen. Zudem war unsere Freundschaft so eng, das keiner den anderen im Stich lassen wollte. Was mir nur recht war. Denn momentan war Jasmin die einzige Konstante in meinem Leben.

Mit meiner Mama hatte ich alles verloren, was mir lieb und teuer war. Meinen Vater kannte ich nicht. Er soll schon früh gestorben sein und Mama wollte nie darüber reden. Geschwister? Fehlanzeige! Verwandtschaft? Keine Ahnung! Auskünfte über irgendwas? Wo denkt ihr hin! Meine Mama war verschlossen wie eine Auster. Dennoch habe ich sie geliebt und sie mich auch. Was ich weiß, ist, dass wir nicht arm waren. Ich hatte eine schöne Kindheit, die leider mit vierzehn Jahren ein jähes Ende fand.

 

Obwohl es mir hier im Internat nicht gefiel, muckte ich niemals auf. Dank meiner Erziehung wusste ich, dass es falsch wäre, die Hand wegzuschlagen, die einen nährte. Und was blieb mir anderes übrig? Ich war allein und auf deren Hilfe angewiesen. Wenn das Internat nicht gewesen wäre, wer weiß, was dann aus mir geworden wäre. Und das sollte auch Jasmin nicht vergessen. Also bin ich das ruhige, brave Mädchen geblieben, die zwar wohlhabend war, dennoch die Nase nicht hoch trug. Dafür habe ich viel zu viel zu Hören und Sehen bekommen. Und wenn ich mit zweiundzwanzig mein Erbe antrete, werde ich bedürftigen Menschen helfen.

Zuallererst gäbe ich mein Elternhaus in die Obhut einer Heimleitung für misshandelte Mütter mit deren Kindern. Sicher könnte man daraus eine Mutter- Kind - Einrichtung machen. Immerhin besaß unser Haus ganze zehn Zimmer und einen großen Garten. Was sollte ich denn auch alleine dort? Dort würden mich doch nur die wehmütigen Erinnerungen heimsuchen. Nein, nach so vielen Jahren wollte ich einen Schlussstrich unter der Vergangenheit ziehen, mich auf eigene Beine stellen und anfangen, mir ein eigenes Leben aufzubauen.

 

„Hey, Erde an Natalia! Sag' mal, träumst du?“, hörte ich Jasmin fragen. Ich sah sie an und lächelte reumütig.

„Sorry, habe über einiges nachgedacht“, antwortete ich.

„Schon paletti! Sehen wir uns nach der Arbeit?“

„Klar! Wie immer in meinem Zimmer. Und vergiss die Zeitschriften nicht“, sagte ich noch.

 

Mit Zeitschriften meinten wir, sämtliche Zeitungen, die uns auf das Leben draußen aufmerksam machten. Die Internatsschule tat in den Jahren sein Übriges. Das war nicht nur Gutes. Vor Drogen und Alkoholmissbrauch, den Besuch von Bars, Kneipen und Diskotheken, bis hin zum männlichen Geschlecht, vor den man sich besonders in Acht nehmen sollte, wurden wir gewarnt.

Laut den Warnungen der Wächterinnen, angeführt von Madame Seyer, wie sollte es auch anders sein, wäre mancher Mann im Stande, die Frau zur Prostitution zu zwingen, oder sie zu schwängern und dann sitzen zu lassen. Und noch einige Hiobsbotschaften mehr. Viele der älteren Mädchen, nahmen dies als Herausforderung an und spekulierten darauf, dass Madame Seyer entweder bitter enttäuscht oder gar nicht erst beachtet wurde. Jasmin behauptete sogar, dass sie von ihren Eltern im Keller eingesperrt wurde, damit sie niemals die Freuden des Lebens kennenlernen sollte. Ich selbst verurteilte sie nicht so sehr. Wer weiß schon, warum sie so geworden ist?

Alles in allem nahm man sie aber, als eine gerechte, wenn auch strenge Leiterin war. Das übrige Personal verhielt sich so normal wie jedermann. Aber keiner von denen hätte sich gewagt, sich über die Regeln von Madame Seyer hinwegzusetzen.

 

 

 

Der Auszug aus dem Internat

 

Endlich war der lang ersehnte Tag gekommen. Unser Auszug aus dem Internat. Jenem Gefängnis, welches uns acht Jahre unseres Lebens geraubt hatte. Stimmt, wir hatten wenigstens ein Dach über dem Kopf. Bekamen regelmäßige Mahlzeiten, waren sauber und hatten immer frische Wäsche zum Anziehen. Und doch standen Diane, Monika, Jasmin und ich nun da, wie Kinder, die zum ersten Mal, das ungewohnt hektische Leben da draußen zu spüren bekommen sollten.

 

Nach dem Frühstück begaben sich Jasmin und ich, gleich nach oben in unser Zimmer, um augenblicklich mit dem Packen zu beginnen. Mit Hilfe einer guten Kundin aus der Bäckerei, in der ich arbeitete, fanden wir vor ein paar Wochen eine Dreizimmer Wohnung in der '63 Rue Vieille du Temple Straße'. Es war nichts Besonderes, aber fürs Erste gut genug. Ich war mir sicher, dass mit ein paar schönen Möbelstücken durchaus etwas aus dieser Wohnung zu machen sei. Zudem lag es nicht weit von unseren Arbeitsplätzen entfernt.

Zwar rümpfte Madame Seyer über dieses Wohnviertel kurz die Nase, schien aber weiter keine Einwände zu haben. Oder sie war froh darüber, dass vier uns, von nun an, auf eigene Füßen stellten. Somit war wieder Platz für neue Opfer.

Ich weiß, ich bin jetzt ein wenig ungerecht. Aber ihr könnt euch nicht vorstellen, wie es ist, eingesperrt und vom Leben abgeschottet zu sein. Glaubt mir, ihr wäret auch froh, endlich da raus zu kommen.

Okay, Okay, ihr habt recht!

Ich war dankbar, dass sie mich in ihre Obhut nahmen und ich nicht in einem gewöhnlichen Heim, oder gar auf der Straße landete. Dafür kassierten sie ja auch monatlich genug Moneten, denn so ein Internat war nicht gerade billig.

Wie dem auch sei, heute traten wir den Schritt in Richtung Selbstständigkeit an.

 

Es klopfte kurz an meine Zimmertür und schon kam Jasmin in mein Zimmer geschneit.

„Wie weit bist du? Bist du fertig? Soll ich dir noch bei was helfen?“, sprudelte es nur so aus ihr raus. Nur mit Mühe, schaffte ich es, nicht laut loszulachen. „Soweit, so gut! Jetzt bekomm' dich erst mal wieder ein. Hast wohl Angst, sie könnten es sich anders überlegen und dich noch länger hier behalten“, frotzelte ich, wodurch ich mir einen bösen Blick von ihr einfing.

„Pah! Sie sollen es nur wagen. Ach übrigens! Ehe ich es vergesse. Du sollst, wenn du fertig bist, zu der Alten kommen.“

Fragend sah ich Jasmin an. Sie verstand und beruhigte mich.

„Ich komme gerade von ihr. Sie hat mir nur meine persönlichen Unterlagen gegeben und ein Startkapital ausbezahlt, welches mein Großonkel hinterlegt hat. Vermutlich für die Reise nach New York. Aber da kann er lange warten.“

Erleichtert atmete ich auf. „Stimmt, die habe ich mir ja noch nicht abgeholt. Wenn du schon fertig bist, mache doch bitte für mich weiter. Dann gehe ich gleich runter zum General. Umso schneller kommen wir hier weg“, kicherte ich und ließ Jasmin meine restlichen Sachen verstauen, während ich mich auf den Weg in die Höhle des Löwen begab.

 

Vorschriftsmäßig klopfte ich an die Bürotür und wartete auf die Aufforderung einzutreten.

„Herein!“, vernahm ich Madame Seyers Stimme und gehorchte sofort.

„Ah, Mademoiselle Zukar! Bitte setzen Sie sich, junge Dame.“

Wie ich das Wort hasste. Mademoiselle, Igitt! Auf dem Besucherstuhl vor ihrem Schreibtisch, nahm ich Platz und wartete geduldig, bis sie aufhörte, in ihrer Schublade zu kramen und sich mir zuwandte.