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Haiti ist der Ort, an dem 1804 zum ersten Mal die Sklaverei dauerhaft abgeschafft und damit die Ideale der Französischen Revolution auf radikale Weise weitergedacht wurden. Dieses weltbedeutende Ereignis taucht im öffentlichen Diskurs über Haiti heute nur wenig auf, stattdessen dominieren Superlative der Misere, die dem Land, seiner Literatur und seiner Geschichte nicht gerecht werden. Angesichts dessen möchte diese Studie aus einer post-kolonialen Perspektive einen Beitrag dazu leisten, Haiti als literarischen und Denkraum für ein globales und gerechteres Zusammenleben sichtbar zu machen. Im Fokus stehen dabei vier französischsprachige, haitianische Romane, die nach dem Ende der gewaltvollen Duvalierära (1957-1986) erschienen sind, und die sich auf unterschiedliche Weise Fragen von Vergemeinschaftung und Zusammenleben widmen. Es wird gezeigt, wie die Texte Schlüsselbegriffe der französischen Aufklärung aufgreifen, kommentieren und transformieren, historische Erfahrungen diskutieren und dabei über die Grenzen Haitis hinaus mögliche (neue) Formen des Zusammenlebens entwerfen.
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Lisa Brunke / Andreas Gelz
Banm yon ti limyè: Vergemeinschaftung und Zusammenleben in haitianischen Romanen nach 1986
Umschlagabbildung: Josué Azor / April 2016 / Port-au-Prince / Präsentation des Fotoworkshops für Kinder „Timoun jodi, sitwayen.èn modèl demen“.
Die vorliegende Publikation wurde durch Mittel der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen des Projektes Transatlantische Ideenzirkulation und -transformation: Die Wirkung der Aufklärung in den neueren frankokaribischen Literaturen gefördert.
DOI: https://doi.org/10.24053/9783381108824
© 2024 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen
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Internet: www.narr.deeMail: [email protected]
ISSN 1861-3934
ISBN 978-3-381-10881-7 (Print)
ISBN 978-3-381-10883-1 (ePub)
Banm yon ti limyè
[…]
Ban m yon ti limyè
Pou m wè sa k ap pase
[…]
Poukisa se nèg pa ka manje
Poukisa yo mande lanmò ò
Jan yo di la vi dous
Men se pa tout moun ki jwi privilèj sa
[…]
Si n ap ret chita tann
Nou gen pou n pase tout vi n lan
Se touse ponyèt nou pou n lite
Car lamann pa tonbe ankò
Solèy a klere pou nou tout
E nou tout va jwenn menm chalè
……
Donnez-moi un peu de lumière/ Eclairez-moi
[…]
Donnez-moi un peu de lumière
Je veux voir ce qui se passe
[…]
Pourquoi il y a que les pauvres qui ne peuvent pas se nourrir
Pourquoi vouent-ils tous mourir
On dit souvent que la vie est belle
Mais tout le monde ne jouit pas ces privilèges de la vie
[…]
Si nous restons assis à attendre
Nous passerons toute notre vie dans une salle d'attente
[…]
Retroussons les manches pour lutter
Parce que la manne ne tombe plus
Le Soleil brillera pour nous tous
Et nous tous jouirons de la même chaleur
…
Manno Charlemagne „Banm yon ti limyé“, in: Soukar, Michel (2016): Manno Charlemagne. Pou lavie fleri. Haiti: C 3 Editions. (Französische Übersetzung Junior Borgella, 2022)
1988 erscheint das Album Organizasyon Mondyal des haitianischen Sängers und Aktivisten Manno Charlemagne, auf dem sich ein Stück mit dem Titel „Banm yon ti limyè“ findet. In diesem Lied, dessen Veröffentlichung in die Zeit unmittelbar nach Ende der Diktatur fällt, klagt Charlemagne miserable Lebensbedingungen und soziale Ungleichheit an. Als einziger Ausweg, so der Text, verbleibt der gemeinsame Kampf der Armen, um zu erwirken, ‚dass die Sonne für alle scheinen wird und alle von der gleichen Wärme profitieren werden’1. Licht und Sonne fungieren in dem Song sowohl als ein Symbol für Erkenntnis, vergleichbar mit der Motivik der Lumières, als auch als Bild einer besseren Zukunft, ähnlich ihrer metaphorischen Verwendung in Jacques Stephen Alexis’ Roman Compère Général Soleil (1955) oder in L’Internationale (Pottier 1871).2 Damit vereint dieses Stück Charlemagnes die Frage nach neuen Formen des Zusammenlebens und die Kritik an bestehenden Ungleichsverhältnissen nach 1986, mit der Bildsprache der Lumières und dem haitianischen kreyòl,3 weshalb das Musikstück als Auftakt ausgewählt wurde.4
Die vorliegende Studie entstand im Rahmen des von der DFG geförderten Forschungsprojektes Transatlantische Ideenzirkulation und – transformation: Die Wirkung der Aufklärung in den neueren frankokaribischen Literaturen von Ende 2017 bis Mitte 2022. Ebenso wie der Titel des Gesamtprojektes evoziert auch die Thematik dieser Studie unter dem Begriff der Zirkulation die Präsenz mehrerer Orte, Epochen und kultureller Kontexte. Das Frankreich der Aufklärung und das revolutionäre Haiti des 18. und 19. Jahrhunderts sowie der post-koloniale Karibikstaat der Gegenwart spielen dabei ebenso eine Rolle wie philosophisch-politische Konzepte und literarische Entwürfe. Damit vollziehen sich unter dem Begriff der Wissenszirkulation nicht nur Zirkulations-, Transformations- und Austauschprozesse zwischen verschiedenen Räumen der Welt und Übertragungen aus vergangenen Epochen, sondern auch Wechselwirkungen zwischen Ideengeschichte, politisch-philosophischen Texten und literarischen Werken. In diesem Sinne verbindet das Projekt unterschiedliche geisteswissenschaftliche Disziplinen und Forschungsbereiche, darunter die politische Ideengeschichte und kulturtheoretische, post- koloniale Ansätze aus der Karibik sowie die aktuelle Literatur Haitis, und bewegt sich somit an der Schnittstelle zwischen politischer Philosophie, frankoromanistischer Literaturwissenschaft und post-kolonialen Caribbean und Haitian Studies.
Grundlegend für diese Studie sind mehrere Annahmen: erstens die Prämisse, dass mit dem Komplex Aufklärung/Kolonialismus bzw. Frankreich/Haiti Zirkulationsbewegungen in Gang gesetzt wurden, welche die Universalisierung5 aufklärerischer Ideen durch die Haitianische Revolution ermöglichte; zweitens die Annahme, dass Formen des Zusammenlebens und der Vergemeinschaftung6 sich in starkem Maße über narrative und imaginäre Formen vermitteln, weshalb Literatur ein prädestiniertes Medium für ihre Auseinandersetzung und Untersuchung ist, und abschließend, dass mit dem Ende der Duvalier-Diktatur 1986 Fragen des Zusammenlebens in Haiti an Relevanz gewinnen, und dass die Literatur den Entwicklungen dieser Zeit Rechnung trägt. Diese Auseinandersetzung mit dem konvivialen Potential der haitianischen Literatur nach 1986 ist zentral für das dargestellte Forschungsvorhaben. Konkret wird gefragt: Welche Bilder der Vergemeinschaftung und Entwürfe von Zusammenleben werden in den haitianischen frankophonen Romanen ab 1986 verhandelt und auf welche Weise reflektieren diese die Übergangsphase nach der Diktatur? Inwiefern greifen diese Texte Konzepte bzw. Denktraditionen der Aufklärung wie citoyenneté und contrat social, Freiheit, Humanismus und Kosmopolitismus auf? Welche Antworten auf aktuelle Herausforderungen in der haitianischen Gesellschaft, aber auch welche Entwürfe für ein globalisiertes Zusammenleben in einer post-kolonialen Gegenwart lassen sich in der Literatur finden? Damit untersucht diese Arbeit die Wirkung der Aufklärung und die Entwürfe von Zusammenleben und Vergemeinschaftung in haitianischen Romanen nach 1986 und stellt die Frage, welche Tendenzen sich daraus für den spezifischen haitianischen Kontext, aber mitunter auch für globale Zusammenhänge,7 ableiten lassen. Es lässt sich kritisch fragen, ob tatsächlich die Aufklärung, als eine von Europa her gedachte Annäherung, die beste bzw. einzige Wahl für die Auseinandersetzung mit der Literatur Haiti sein kann und sollte. So birgt dieser Zugriff die Gefahr eurozentrische Denkweisen zu reproduzieren, die literarischen Erzeugnisse in bestimmte Konzepte einzupassen oder andere mögliche (afrodeszendente) Interpretationen zu vernachlässigen. Trotz dieses berechtigen Einwandes kann eine eindeutige Austauschbeziehung zwischen Konzepten der Aufklärung und Haiti zur Zeit der Revolution nachgezeichnet und auch eine verstärkte Präsenz dieser Konzepte ab 1986 festgestellt werden. Es ist das Ziel dieser Studie, dieser Tendenz in literarischen und gesellschaftlichen Diskursen in Haiti nach Duvalier nachzugehen und dabei den Versuch zu unternehmen, die Aufklärung konsequent aus der Perspektive der Haitianischen Revolution und damit von der ‚Unterseite‘ her post-kolonial und nicht hegemonial zu lesen. Aufgrund der Zielrichtung dieser Studie kann die Auseinandersetzung mit der Genese philosophischer Schlüsselbegriffe nicht erschöpfend erfolgen. Gleichsam knüpft der Zugriff über reaktualisierte Konzepte der Aufklärung, nicht nur an Fragen an, die Natascha Ueckmann und Gisela Febel in ihrer Einleitung zu Pluraler Humanismus. Négritude und Negrismo weitergedacht (2018) aufwerfen, sondern diese Perspektivierung erweist sich als hochgradig produktiv für die Lektüre der ausgewählten Romane und erfährt durch aktuelle Stellungnahmen haitianischer Autor:innen Bestätigung (vgl. u. a. Lahens 2019, 2021; Trouillot 2017; Le Nouvelliste 2019; Peck 2021). Febel und Ueckmann verweisen auf die Karibik als Ort der Kritik an universalisierten Menschheits- und Vergemeinschaftungskonzepten und als einer der prädestinierten und produktivsten Orte für Kulturtheorien der Gegenwart zugleich. Angesichts der Beobachtung ausgeprägter kollektiver Tendenzen in der Karibik, die sich im ‚aufgeklärten‘ Europa längst verindividualisiert haben, werfen sie die Frage auf, ob die Karibik nicht heute sogar als besserer Erbe des humanistischen Denkens betrachtet werden könnte und fragen dabei ebenso nach den humanistischen Ideen, der Präsenz und Form von citoyenneté und volonté générale, wie auch nach dem Transzendieren der Aufklärung. Als erste anti-koloniale Republik und freier, frankokaribischer Staat kommt Haiti hierbei eine besondere Position zu, die die Insel zusätzlich für post-koloniale Perspektiven auf Fragen des Zusammenlebens auszeichnen.
Im Anschluss an diese Reflexionen und an meine eigenen Beobachtungen lautet die These dieser Studie, dass die in den Romanen verhandelten Vergemeinschaftungen und Entwürfe des Zusammenlebens die Rolle des Individuums auf eine Weise verhandeln, die einem bürgerlichen bzw. liberalistischen Individualismus westlicher Traditionen widerspricht. Dabei jedoch, so der zweite Teil der These, verfallen diese alternativen Entwürfe keinesfalls einem starren Kommunitarismus und abgeschlossenen, kollektiven Gebilde, sondern bringen innovative Formen hervor, die Vernetzung, Interdependenzen und Kollektivität privilegieren und so der post-kolonialen Vergangenheit, der Präsenz unterschiedlicher kultureller Einflüsse, aber auch der starken Verbreitung kollektiver Lebensformen in Haiti, Rechnung tragen.
Um diese These im Rahmen der vorliegenden Studie zu überprüfen und dabei neuen Vergemeinschaftungsentwürfen und Konzepten des Zusammenlebens für ein post-koloniales und egalitäreres 21. Jahrhunderts nachzugehen, beginnt diese Untersuchung mit dem Zeitalter der Aufklärung, d. h. in der Zeit zwischen 1650 und 1800. So wendet sich die Einleitung: Haïti et les Lumières — Zwischen Emanzipation und Unterdrückung dieser Epoche und einer Auswahl ihrer Vergemeinschaftungskonzepte zu und nimmt dabei eine universalisierenden Relektüre zentraler Schlüsselbegriffe (citoyenneté/contrat social, Freiheit, Humanismus und Kosmopolitismus) durch die Ereignisse und Ideen der Haitianischen Revolution vor.
Das darauffolgende Kapitel Zwischen Vergemeinschaftung und Konvivialität – Grundzüge des Gemeinsamen nähert sich dem Begriff der Vergemeinschaftung an und legt dabei u. a. dar, weshalb dieser in der vorliegenden Studie anstelle von ‚Gemeinschaft‘ gebraucht wird. Desweiteren setzt sich dieser Teil mit der Operationalisierung zentraler vergemeinschaftender Prozesse und Strukturen für die Erzähltextanalyse auseinander und stellt in diesem Zuge soziale Formen vor, die für den karibischen, post-plantation-Kontext und Haiti zentral und relevant sind. Eine Besonderheit der vorliegenden Studie stellt die Anwendung eines prozeduralen Gemeinschaftsbegriffes und dessen Anwendung auf narrative, literarische Texte dar. Bereits Celia Britton, Valérie Loichot, und Raphaël Lambert haben sich mit der Verhandlung von Gemeinschaft in (franko)karibischen Texten auseinandergesetzt,8 ihre Arbeiten legen jedoch keinen Fokus auf haitianische Texte und die von den Autor:innen verwendeten Begriffe von Gemeinschaft unterscheiden sich erheblich von dem in dieser Studie entwickelten prozessualen, offenen Vergemeinschaftungsbegriff. Dieser besitzt den Vorteil, dass er, ähnlich wie das Konzept der Universalisierung, stärker auf Dynamiken und unabgeschlossene Prozesse, als auf festgeschriebene, monolithische Entitäten referiert. Dabei integriert er verschiedene, sich ergänzende, soziologische Ansätze zur Gemeinschaft, macht diese für die literarische Analyse operationalisierbar und vermag so letztlich auch diffusere Formen von Vergemeinschaftung zu erfassen. Das sich anschließende Kapitel Haïti — ein kurzer literaturgeschichtlicher Einstieg führt in die literarischen Traditionen und zentrale Texte der franko-haitianischen Literatur ein und gibt unter dem Gesichtspunkt der Verknüpfungen zwischen politischen Raum und literarischem Feld einen Überblick über wichtige literarische Akteur:innen. Dieser Teil verbindet folglich das Zeitalter der Aufklärung und der Haitianischen Revolution mit der Gegenwart und schlägt auf diese Weise eine Brücke hin zum zeitlichen Entstehungskontext der analysierten, literarischen Texte.
Die Zeit ab 1986 wurde als Untersuchungszeitraum9 für diese Studie gewählt, wobei die exemplarisch analysierten Romane zwischen 1991 und 2011 erschienen sind. Alle ausgewählten Romane wurden damit nach Ende der fast 30jährigen Duvalier-Diktatur und in einer bis heute andauernden Phase der Transition veröffentlicht. Diese Zeit ist gezeichnet von einer Vielzahl politischer und gesellschaftlicher Ereignisse, die die Lebensbedingungen und Konzeptionen des Zusammenlebens in dem Karibikstaat nachhaltig geprägt haben. Der Fokus liegt dabei ausschließlich auf französischsprachigen Romanen von Autor:innen, die in Haiti geboren und aufgewachsen sind, und blendet damit die kreyòlsprachige Literatur weitestgehend aus. Bei der Auswahl waren vor allem drei Kriterien ausschlaggebend: die implizite oder auch explizite Verhandlung von Vergemeinschaftung und Zusammenleben (z. B. in Gestalt von intertextuellen Verweisen und von in dem Text verhandelten Diskursen oder durch Figurengruppen), eine gewisse Heterogenität der ausgewählten Texte — d. h. insbesondere hinsichtlich ihrer Figuren und deren Konstellationen sowie im Hinblick auf Handlung, Raumstruktur und Aufbau — sowie weitestgehend unterschiedliche Erscheinungsjahre. Ausgewählt wurden vier Romane: Emile Olliviers Passages (1991), Kettly Mars’ Kasalé (2003), Louis-Philippe Dalemberts L’île du bout des rêves (2003) und Lyonel Trouillots La belle amour humaine (2011). Im Analysekapitel Zusammenleben erschreiben: Entwürfe von Vergemeinschaftung und Konvivenz in literarischen Texten werden die verschiedenen theoretischen Fäden zusammengeführt und die vier Texte exemplarisch auf die Repräsentationen von Vergemeinschaftung und Zusammenleben, die Konzeptualisierungen von citoyenneté, contrat social, Humanismus, Freiheit und Kosmopolitismus, sowie auf die Bearbeitung von Fragen der Konvivialität mit Blick auf eine haitianische Gegenwart und Zukunft, untersucht. Die Analysen der vier Romane weisen dabei eine gewisse Autonomie auf und stehen für sich, werden jedoch auch immer wieder auf die in den vorangegangenen Kapiteln explizierten Fragestellungen und herausgestellten Konzepte und Tendenzen befragt. Eine Auseinandersetzung mit haitianischen Texten seit 1986, die nicht die Auseinandersetzung mit der Diktatur oder die Verarbeitung des Erdbebens 2010 ins Zentrum stellt, sondern das in die zukunftsgerichtete Potential der Literatur befragt, erweist sich dabei als wichtig, denn es konturiert die Hoffnungen der Zeit seit 1986 neu. In dieser spezifischen Perspektive gilt es keineswegs die einschneidenden traumatischen Ereignisse zu nivellieren, gleichzeitig aber darüber auch nicht die Produktivität der Literatur und den Veränderungswillen großer Teile der haitianischen Bevölkerung außer Acht zu lassen, der sich in den Protesten seit 201810 abermals bestätigt. Ein solches Vorgehen ist in der Lage vorhandene Zukunftsentwürfe zu erfassen und damit Haiti nicht auf Gewalt, Katastrophen, Ausweglosigkeit und Misere zu abonnieren. Zugleich zielt dieser Ansatz darauf ab, das Bild von Haiti als reine Empfängerin von Hilfeleistungen, Aufklärung und Demokratisierungsmission zu dekonstruieren und auch das produktive, universalisierende und emanzipatorische Potential vergangener und z.T. auch gegenwärtiger Denk- und Schreibbewegungen sichtbar zu machen. Es wird dementsprechend Aufgabe des Fazits sein, die Kontinuitäten und Divergenzen der vier Texte noch einmal deutlich herauszustellen und dabei hinsichtlich ihrer Bedeutung und Aussagekraft bezüglich literarisierter, haitianischer Zukunftsentwürfe zu befragen.
Concrètement, la modernité c’est le moment où la subjectivité est reconnue dans sa souveraineté, et où l’individu se détache du monde et du corps social pour se constituer dans son autonomie […] Le monde est devenu le monde de l’homme et pour l’homme. Prise en charge du monde et prise en charge de l’homme par lui-même, telle est la spécificité de la modernité à partir de laquelle le monde a pu rêver comme habitable [..] Mais dans la Caraïbe, […] quelle signification revêt-elle pour nous ? Il est clair que nous avons éprouvé la modernité avant tout comme phénomène dont les effets se nomment : déportation par rapport à notre espace […], assujettissement politique […], déracinement par rapport à nos cultures (Hurbon 2001a:88f).
Der Soziologe Laënnec Hurbon eröffnet in seinem Resümee zwei Perspektiven auf die Moderne: Eine europäische, welche den Menschen als freies Individuum in die Welt stellt, und eine karibische, in welcher sich stattdessen der gewaltsame Verlust jeglicher räumlichen und kulturellen Verortung und Selbstbestimmung zeigt. Um sich einem umfassenden Bild der Moderne anzunähern, bedarf es der Diskurse und Konzepte der Französischen Aufklärung samt der politischen Umwälzung von 1789 ebenso wie dem häufig verleugneten Wissen um den transatlantischen Sklavenhandel und die anti-koloniale Revolution von 1791- 1804 in Saint-Domingue, welche die Sklaverei auf der Karibikinsel beendete, wie Carey und Festa in der Einleitung zu The Postcolonial Enlightenment schreiben:
The denied or disavowed history of revolutionary antislavery is a constitutive element of a heterogeneous modernity, rather than a strangely intractable barrier hindering the consummation of an as-yet unfinished project of Enlightenment (Carey/Festa 2015:16f.).
Im Sinne einer modernity disavowed (vgl. Fischer 2005) durchaus als neuralgischer Punkt des Komplexes Aufklärung und Kolonialismus zu betrachten, bietet die historische Beziehung zwischen Saint-Domingue/Haiti und Frankreich die Gelegenheit transatlantische Zirkulationen samt den komplexen Verflechtungen und Überlagerungen nachzuverfolgen, sowie das kolonial-repressive als auch das anti-koloniale, emanzipatorische Potential aufklärerischer Konzepte herauszustellen. Die unhintergehbare Bedeutung der Kolonien als ‚Laboratorien der Moderne‘ tritt erst vor dem Hintergrund ihrer politischen und ökonomischen Einbettung deutlich hervor. Die Haitianische Revolution nimmt in diesem Gesamtkomplex als Universalisierung der Französischen Revolution (vgl. Sternfeld 2007), als anti-koloniale Kritik und konsequenter Ausdruck marginalisierter Handlungsmacht, aber auch als radikale Relektüre von zentralen Konzepten der Französischen Aufklärung eine herausragende Stellung ein.
Bevor wir uns jedoch der Relektüre zentraler Begriffe der Französischen Aufklärung aus der Perspektive der Haitianischen Revolution und der Erweiterung hegemonialer Konzepte durch marginalisierte Erfahrungen und situiertes Wissen (vgl. Sheller 2012:2ff.) im zweiten Teilkapitel zuwenden, gilt es zunächst den Komplex Aufklärung-Kolonialismus zu umreißen, sowie einen Einblick in die Bewegungen und Relationen zu geben, die sich über den Atlantik hinweg erstreckten und Entwicklungen nachzuzeichnen, die sich in der Zeit von 1650- 1800 — zwischen Plantagenökonomie und Revolution — vollzogen.
Im Übergang von der Frühen Neuzeit zu der Moderne durchläuft das Zusammenleben in vielen Teilen der Welt grundlegende Veränderungen: Die Beziehungen zwischen Mensch und Umwelt, Individuum und Gruppe werden neu justiert. Es werden neue Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und der politischen Ordnung geschaffen und politisch eingefordert. Modernisierte ökonomische Produktionsweisen und wissenschaftliche Erkenntnisse stellen ein Netz globalisierter Beziehungen her und bringen neue Formen der Vergemeinschaftung1 hervor. In der Zeit zwischen 1650 und 1800 vollzieht sich ein umfassender Wandel des Zusammenlebens, welcher bis heute in die Gegenwart ausstrahlt.2 Diese Epoche wird gemeinhin als Zeitalter der Aufklärung verstanden und wirkt bis heute als eines der stärksten vergemeinschaftenden Narrativen für das Selbstverständnis Europas nach.3 Die Jahre zwischen 1650 und 1800 gelten dabei als philosophisch-politische Grundsteinlegung für den Aufbruch in die ‚bürgerliche‘ Moderne und den Beginn liberaler Denktraditionen (vgl. Mbembe 2015:93). In einem epochalen Umbruch, in dem die „tradierten Verkehrs- und Denkformen dysfunktional wurden“ (Thoma 2015a:67) und die Zustimmung zu Herrschafts- und Weltordnungen wie z. B. dem Gottesgnadentum und der Ständegesellschaft aufgekündigt wurden (vgl. Thoma 2015a), werden Vorstellungen zum Naturrecht und vertraglichen Grundlagen des Zusammenlebens, Reflexionen über religiöse Toleranz sowie neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse und die ‚Entdeckung‘ neuer Weltteile zukunftsweisend. Kaffeehäuser, Akademien, Salons, Lese- und Geheimgesellschaften ebenso wie (Reform)Universitäten zwischen Edinburgh und Glasgow, Paris, Göttingen, Halle, Amsterdam, Den Haag oder Genf sowie neu gegründete Zeitschriften und Revuen werden zu wichtigen Orten des intellektuellen Austausches (vgl. Füssel 2017; Meyer 2018).4 Besonders rege entwickeln sich Strömungen der Aufklärung in England, Frankreich und Deutschland, sie bleiben jedoch keineswegs auf diese Gebiete beschränkt (vgl. Thoma 2015a), so dass ebenfalls von einer italienischen, niederländischen oder jüdischen Aufklärung zu sprechen ist (vgl. Thoma 2015b). Während sich zum Teil länderspezifische Diskursformationen und Akzentuierungen herausbilden (vgl. Lilti 2019:10), so ist zugleich eine gegenseitige Beeinflussung über Grenzen hinweg zu verzeichnen (vgl. Füssel 2017:279). Die Aufklärung(en) können als Teil eines „sukzessive[n] Erkenntniswandel[s]“ begriffen werden, der sich seit dem 16. Jahrhundert vollzog und von der Forschung allgemeinhin in drei Phasen periodisiert wird: die wissenschaftliche Revolution der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, die Frühaufklärung des 17. Jahrhunderts und die Spätaufklärung des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts (vgl. Füssel 2017:278; Meyer 2018:34). Während die wissenschaftlichen Entdeckungen der ersten Phase zur Destabilisierung des mittelalterlichen Weltbilds beitrugen und alternative Perspektiven auf das Verhältnis zwischen Welt und Mensch aufkommen, erfahren diese Deutungsangebote in der zweiten Phase eine Radikalisierung, welche wiederum in der Spätaufklärung, neben materiellen Notwendigkeiten, zu ihrer Übersetzung in politische Forderungen beiträgt (vgl. Meyer 2018:34). Für die Thematik dieser Untersuchung ist insbesondere diese letzte Periode und die in ihr angesiedelte Übertragung — mehr oder weniger — abstrakter Reflexionen und Entwürfe in (radikale) konkrete, politische Forderungen und Handlungen relevant, denn der Zugriff auf die Texte und Theoreme des 17. und 18. Jahrhunderts erfolgt vor dem Hintergrund eklatanter politischer Umwälzungen. So schreiben Lynn Festa und Daniel Carey in ihrem Aufsatz „Some answers to the question: ‚What is Postcolonial Enlightenment?’ ”: „That the age of Enlightenment is also sometimes characterized as the age of revolutions reminds us that we cannot approach the century through texts alone” (Carey/Festa 2013:16). Die Paradigmenwechsel, welche sich von 1650-1800 als Aufklärung(en) vollzogen, greifen über die Ideenwelt hinaus und materialisieren sich als politische Umstürze u. a. in (Nord)Amerika, Frankreich und in der französischen Kolonie St. Domingue (heute Haiti), wodurch auch Vergemeinschaftungsnarrative und Formen des Zusammenlebens nachhaltig verändert wurden. Während die Erinnerung an die Haitianische Revolution weitgehend aus dem kolonialen Gedächtnis abgespalten und verdrängt wurde (vgl. Trouillot 2015), wurden die Amerikanische und die Französische Revolution zu identitätsstiftenden Ereignissen für den Okzident:
In der politischen Geschichtsschreibung firmiert das Zeitalter der europäischen Revolutionen als Entstehungszeitraum der politischen Moderne […] Spätestens die Französische Revolution wird als Austragungsort der politischen Ziele der Aufklärung interpretiert. Sie gilt als historischer Geburtsort der Moderne, an dem ihre zentralen Ziele formuliert wurden (Meyer 2018:16).
Es ist vor allem die Französische Revolution von 1789-1799, die als radikalster Ausdruck der Aufklärung verstanden wird und das Bild Frankreichs als „Kernland“ und „Maßstab der Aufklärung“ nährt, welches bis heute in einem gesamteuropäischen Selbstverständnis als ‚Wiege der Menschenrechte‘ nachwirkt (vgl. Thoma 2015b:95). Während der Sturm auf die Bastille, die Überwindung des absolutistischen Ancien régime und die Etablierung der ersten französischen Republik über die Grenzen Frankreichs hinaus als lieux de mémoire (vgl. Nora 1984) gelten kann, fristete die Haitianische Revolution (1791-1804), welche nur wenige Jahre auf die Französische folgte, lange ein Schattendasein in globalen Erinnerungspolitiken.5 Die Revolutionen in den Amerikas (konkret in Nordamerika und Haiti) lenken den Blick, von Europa weg, hin auf die ‚neue‘ kolonial(isiert)e Welt. Diese Hinwendung über kontinentale Ränder hinaus kommt nicht an der Handels- und Kontaktzone Atlantik vorbei, welche mehrere Revolutionen miteinander verbindet. Denn nicht nur in Amerika und Frankreich, so schreibt Janet Polasky in Revolutions without borders — The Call to Liberty in the Atlantic world (2015), stürzten Revolutionen vorherige Regime:
Revolutions cascaded through all of the continents bordering the Atlantic. From the Americas to Geneva, the Netherlands, Ireland, the Belgian provinces, France, Saint-Domingue, Guadeloupe, Poland, Martinique, Sierra Leone, Italy, Hungary, and Haiti, revolutionaries challenged the privileges of aristocrats, clerics, and monarchs to claim their sovereignty (Polasky 2015:2).
Angesichts dieses turbulenten, globalen Geschehens scheint es angebracht nicht nur von einem Zeitalter der Aufklärung, sondern von einem Zeitalter der (atlantischen) Revolutionen6 zu sprechen. Obwohl viele der hier von Polasky genannten revolutionären Bewegungen Verbindungen zu Ideen der Aufklärung(en) aufweisen, stehen im Zentrum dieser Studie vor allem zwei historische Ereignisse, welche die vorherigen politischen Ordnungen radikal infrage stellen und als solche in die damalige Welt ausstrahlten: die Französische Revolution von 1789-1799 und die Haitianische Revolution von 1791-1804. So sind die Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts, in denen Elemente der Ideenwelt und abstrakte Ideale mit materiellen Notwendigkeiten und konkreten politischen Handlungen eine Allianz eingehen, Ausdruck einer Verzeitlichung des Denkens, mit der sich durch die Vorstellung vom Fortschritt des Menschen ein neues historisches Bewusstsein etabliert (vgl. Meyer 2018:15). In der Übertragung des vormals astronomischen Begriffes ‚Revolution‘ auf grundlegende politische Umwälzungen kündigen sich neue Denkkonstellationen im Zeichen der Aufklärung an (vgl. Meyer 2018:16). Revolution, dieses Schlüsselwort des Zeitalters der Aufklärung rückt nicht nur den Menschen als historischen Akteur ins Zentrum, er zeugt auch von einem neuen, säkularisierten Weltbild sowie eines Geschichts- und Politikverständnisses, welches auf Emanzipation und Fortschritt zielt (vgl. Reichardt 2014:1079). Jenes Geschichtsverständnis, welches das Fortschreiten der Menschheit in Richtung einer besseren Zukunft verinnerlicht hat, wird sowohl zum Motor kritischer und emanzipatorischer Bewegungen und Analysen als auch von zentraler Bedeutung für imperiale Herrschaftspraktiken, die mit der Vorstellung der mission civilisatrice ihre Legitimation erhalten. Dieses Verhältnis zwischen universalisme des lumières und impéralisme coloniale beschreibt der Romanist Hans-Jürgen Lüsebrink folgendermaßen:
L’universalisme des Lumières, qui constitue le fondement de l’universalisme occidental, est à la fois un récit – une narration historiographique – et un ensemble de concepts et de valeurs. Ce grand récit du progrès universel des Lumières oppose un passé souvent qualifié de ténèbres à un présent et un futur caractérisé par les lumières de la raison et du progrès, la barbarie (située dans le passé ou dans un ailleurs géographique lointain) à la civilisation, tout en établissant, au sein des sociétés et des cultures du globe, de fortes différenciations […] Le concept de civilisation […] impliquait un projet civilisateur et une politique civilisatrice.[…] Cette formation discursive fondée sur le grand récit du progrès civilisationnel et développée en premier lieu en France au XVIIIe siècle, plus précisément entre 1751 et 1789, est enracinée sur un versant, dominant et même hégémonique, du discours des Lumières sur l’évolution de l’humanité et la diversité des cultures (Lüsebrink 2021:55ff.).
Wie Lüsebrink in seinem Artikel anhand von Guillaume-Thomas Raynals Histoire philosophique et politique des établissements et du commerce des Européens dans les deux Indes (1770) herausstellt, bestehen enge Verknüpfungen zwischen für die Aufklärung relevanten, universalistischen Konzepten von Zivilisation und Fortschritt und der kolonialen Expansion samt ihrer als mission civilisatrice begriffenen, gewaltsamen Unterwerfung nicht-europäischer Bevölkerungen (vgl. Ziai 2012:291; Castro Varela/ Dhawan 2015:34; Thoma 2015b:96; Lüsebrink 2021:59;). Nicht nur im Hinblick auf die zwei von Lüsebrink angeführten Pole, emanzipatorischer Universalismus und kolonialer Imperialismus, erweist sich eine eindeutige Bewertung der Aufklärung(en) als schwierig bis unmöglich und eine Reduktion der diversen, mitunter widersprüchlichen, Strömungen und Positionen auf einen schlichten Rationalismus als sehr verkürzt (vgl. Lifschitz 2021).7 Vielmehr lässt sich sagen, dass sich in den knapp zwei Jahrhunderten von 1650- 1800 unter den Namen Aufklärung, Enlightenment, Illuminismo oder Lumières ein heterogenes diskursives Kraftfeld aufspannt, welches bis heute gleichermaßen Anziehung und Abstoßung produziert (vgl. Garcés 2020).
Statt eines engen starren Aufklärungsbegriffes legen Polyphonie, Ambivalenz und Unabgeschlossenheit des Phänomens (vgl. Stollberg-Rilinger 2010:133) Begriffsbildungen nahe, die auf die Kommunikativität, Prozessualität und Diskursivität explizit verweisen (vgl. Füssel 2017:280). So sind es weniger die spezifischen Ideen, welche die europäischen Ständegesellschaften des 17. Jahrhunderts revolutionieren, vielmehr handelt es sich um „neue Formen Ideen zu artikulieren, auszutauschen, zu verbreiten und vor allem in die Praxis umzusetzen“ (Stollberg-Rilinger 2010:132), welche die Besonderheit des Zeitalters der Aufklärung begründen. Die Mobilität von Ideen, Wissen und Weltbildern, ihr Austausch, ihre Transformation, ihre Zirkulation, aber auch die Versuche Ideen zu materialisieren,8 kann als ein zentrales Kennzeichen der Konfiguration Aufklärung betrachtet werden (vgl. D’Aprile 2016). Diese Bewegung, welche ab dem 17. Jahrhundert in beschleunigter Form jahrhundertelang verfestigte Besitzstände, Machtgefüge, Wahrnehmungsmuster und Deutungshoheiten dynamisiert, findet nicht nur in den Köpfen und Institutionen statt. Vielmehr laufen die großen intellektuellen und politischen Mobilisierungen des 17. und 18. Jahrhunderts parallel zur Bewegung von Menschen und Waren über den Atlantik. Die expansive Entdeckung neuer Welten seit dem 15. Jahrhundert ist ebenso vorstrukturierend für die Herausbildung des Diskursnetzes Aufklärung wie die europäischen Glaubenskriege (Stollberg-Rilinger 2010:134). Damit ist die außereuropäische Welt von Beginn an Bestandteil dieses europäischen Projektes und die Präsenz fremder Dinge im Europa des 18. Jahrhunderts evident für dessen Konstruktionsprozesse (vgl. Neumann 2015:9). Die europäische Expansion, die ausgehend von Spanien und Portugal, über Frankreich, England, Belgien, die Niederlande, Dänemark und Deutschland nach und nach große Teil der Erde ‘entdeckt‘, ausbeutet und besetzt, etabliert eine neue hegemoniale Weltordnung. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts wird auf diese weltgeschichtliche Periode und die durch sie ins Werk gesetzten Machtverhältnisse mit dem Begriff ‚Kolonialismus‘ Bezug genommen (vgl. Brahm 2017:287), wenngleich dieser Begriff im 18. Jahrhundert so nicht geläufig war (vgl. Tarrade 2014:271).9 Grundsätzlich lässt sich eine Fülle an sozialen, kulturellen, epistemologischen, ökonomischen und politischen Prozessen und Erscheinungen beobachten, die als kolonial eingestuft bzw. deren enge Verbindung zum Kolonialismus nachgewiesen wurden. Konkretisieren lässt sich der Begriff Kolonialismus durch folgende drei Elemente: „ein territorial bestimmtes Herrschaftsverhältnis“;10 Fremdherrschaft, wobei die kolonisierte und die kolonialisierende Gruppe unterschiedlich gesellschaftlich strukturiert sind; sowie „die Vorstellung seitens der Kolonisatoren, dass beide Gesellschaften durch einen unterschiedlichen Entwicklungsstand voneinander getrennt sind“ (Conrad 2012:3).11 Zugleich jedoch ist die genaue Bestimmung der Begriffe Kolonialismus und Kolonialisierung sowohl in den Geschichtswissenschaften als auch in den Postcolonial Studies immer wieder Gegenstand von Diskussionen, wie Maria do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan aufzeigen (vgl. Castro Varela/Dhawan 2015:20ff.). Die beiden Wissenschaftler:innen sprechen in diesem Zusammenhang im Rückgriff auf Stuart Hall von Kolonialisierung/Kolonialismus als einem „Kräftefeld […], welches von Macht und Wissen regiert wird“ und dessen „Diskurs essentiell auf einer Bedeutungsfixierung, die in der Konstruktion und Festsetzung der ausnahmslos Anderen zum Ausdruck kommt“ beruht (Castro Varela/ Dhawan 2015:22). Trotz dieser groben Eingrenzungen des Begriffes weisen doch die konkreten historischen Kolonisierungsprozesse und -perioden in den fast 500 Jahren des Kolonialismus vom 15. Jahrhundert — als Zeitalter der Entdeckungen — bis in die 1960er-Jahre, wo weltweit anti- koloniale Befreiungsbewegungen an Bedeutung gewinnen, eklatante Unterschiede auf (vgl. Castro Varela/Dhawan 2015:27f.). Für den Kontext dieser Studie liegt der Fokus auf den karibischen Territorien, die in der Forschung als Siedlungskolonien12 gelten. Im Zuge des Prozesses der „allmähliche[n] Unterwerfung weiter Teile der Welt unter europäische Herrschaft“ und der „immer intensiveren Vernetzung unterschiedlichster Regionen“ (Zimmerer 2012:10) werden diese im Atlantik gelegenen, dem mittelamerikanischen Kontinent vorgelagerten, karibischen Inseln im 16. und 17. Jahrhundert zu wichtigen wirtschaftlichen und geostrategischen Faktoren, wie der Historiker Michael Zeuske zusammenfasst:
In der Karibik, insofern ein globaler Sklaverei-Verdichtungsraum par excellence, entstanden Enklaven-Plantagenwirtschaften auf Inseln, an Flussmündungen oder auf Küstenebenen unter englischer, französischer, dänischer und niederländischer Kontrolle […] Die karibische Sklaverei als kolonialer Plantagen-Kapitalismus menschlicher Körper begründete und prägte zusammen mit dem afrikanisch-atlantischen Slaving eine lange Phase der Atlantisierung Afrikas, Amerikas und der Globalisierung Europas sowie die Durchsetzung des Merkantil-, Manufaktur- und Industriekapitalismus in Europa (1650-1880) und in den Amerikas 1800- 1900 (Zeuske 2018:210).
Die Inseln Martinique, Guadeloupe und der westliche Teil der Insel Hispaniola, St. Domingue (Ayiti), werden im 17. Jahrhundert im europäischen Ringen um Einflusssphären zu französischen Besitzungen und zu bedeutsamen Produktionsorten für koloniale Luxusgüter. Die auf den Inseln lebenden indigenen Bevölkerungen der Kariben und Taïno werden bereits im 15. Jahrhundert durch die spanischen Eroberer erheblich dezimiert und im Verlauf der Jahrzehnte nahezu vernichtet. Die bald darauffolgende Kolonialgeschichte des Zuckers ist, so schreibt Nikolay Kamenov (2016), eine Geschichte der Karibik, wo schon in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts Zuckerplantagen in französischen und englischen Kolonien gegründet wurden. Die sich etablierende Plantagenwirtschaft, welche Zucker und andere Luxus- und Genussmittel produzierte und in die europäischen Metropolen verschiffte, basierte maßgeblich auf der Ausbeutung versklavter Menschen vom afrikanischen Kontinent, vorrangig der Westküste. Mit den Kolonien als Produktionsstätte von Konsumgütern für die ‚zivilisierte Welt‘, Europa als Produktionsort für Tausch- und Handelsgüter sowie als größter finanzieller Profiteur13 und Afrika — zynisch gesprochen — zur Lieferantin ‚verwertbaren Humankapitals‘ reduziert, entspannte sich ein transnationales Handelsgeflecht auf der Basis von Menschenhandel, welches unterschiedlichste Gruppen zusammenwarf.14 Für diese „Expansion der europäischen Mächte in Asien und Afrika wie auch in den Amerikas“ (Castro Varela/ Dhawan 2015:33) sind eine neue Form der Zirkulation von Waren, Ideen und Menschen sowie Transfervorgänge zentral, wie Jürgen Osterhammel aufzeigt:
Diese Gesellschaften — man denke an das englische Jamaika oder das französische Saint- Domingue — sind unter dem Gesichtspunkt des Wissenstransfers von höchstem Interesse, waren sie doch in einer historisch beispiellosen Weise selbst Produkte von Transfervorgängen […] Technologietransfer und Sklavenhandel zusammen schufen die Voraussetzung dafür, dass die Plantagenwirtschaft auf den so genannten Zuckerinseln zu einem der dynamischsten Wachstumspol der Weltwirtschaft im 18. Jahrhundert wurde (Osterhammel 2006:30).
Im Zuge dieser wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen steigerte sich der Atlantik zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert zu einer hochproduktiven Sphäre des Austauschs, zur Kontaktzone, zum Begegnungsraum sowie zu einem Dazwischen der Zirkulation und Transformation (vgl. Mayer 2005:81). Mit dem Begriff der (Wissens-)Zirkulation wird hierbei auf eine Bewegung zwischen verschiedenen Orten, bei welcher auf nichtlineare und multidirektionale Weise Aneignungs-, Modifikations- und Übertragungsprozesse stattfinden und das solchermaßen Transformierte als Verändertes an den ersten Ort der Übertragung zurückgesendet wird (vgl. Bandau/ von Mallinckrodt 2010:22). Statt eindimensionaler Ursache-Wirkungsbeziehungen produziert die Zirkulation vielfältige Kontakte und ephemere Begegnungen, ist dabei aber trotzdem im hohen Maße durch Machtkonstellationen strukturiert und mit diesen verflochten (vgl. Bandau/ von Mallinckrodt 2010:22). Obwohl Bandau und von Mallinckrodt vor allem „Zirkulationen und Verflechtungen von Wissen“ (vgl. Bandau/ von Mallinckrodt 2010) ins Zentrum ihrer Überlegungen stellen, ist diese immaterielle Zirkulation von Wissen, Kulturtechniken und Ideen unbestreitbar von materiellen Zirkulationen im Rahmen des transatlantischen Sklavenhandels bedingt. Um die 13 Millionen Männer, Frauen und Kinder waren zwischen der zweiten Hälfte des 16. und dem Ende des 19. Jahrhunderts von dem atlantischen Sklav:innenhandel betroffen, von dieser Gesamtsumme entfällt die französische Verantwortlichkeit auf 13 Prozent (vgl. Gualdé 2017:49f.).15 Die erzwungene Überfahrt über den Atlantik transformierte nicht nur Wissensformen, sie modifizierte auch diejenigen, die sie erleiden; wie sie auch jene Gesellschaften veränderte, die von ihr profitierten. Der Bauch des Sklavenschiffes markiert, um mit den Worten des martinikanischen Schriftstellers Edouard Glissant zu sprechen, den Ursprung der kreolisierten, karibischen Gesellschaften: „La Genèse des sociétés créoles des Amériques se fond à une autre obscurité, celle du ventre du bateau négrier. C’est ce que j’appelle une digenèse“ (Glissant 1997:36). Die destruktive Neugeburt aus dem Bauch des Sklavenschiffes, welche Glissant anführt, kann in Verbindung gesehen werden mit der natal alienation, welche Orlando Patterson als ein konstitutives Element der Sklaverei ausmacht (vgl. Patterson 1982:5). Der Soziologe Patterson definiert die Versklavten als socially dead person, womit er auf den Ausschluss von der Zugehörigkeit zu jeglicher legitimen sozialen Ordnung, Ansprüchen oder Verpflichtungen gegenüber Nachkommen oder Verwandten sowie die kulturelle Isolation vom sozialen Erbe der Vorfahren hinweist (vgl. Patterson 1982:5) , wodurch vorherige Formen des Zusammenlebens und der Vergemeinschaftung weitgehend zerstört sind. Gleichwohl, so führt Patterson an, ist die natal alienation nicht gleichzusetzen mit der Abwesenheit jeglicher Art von sozialen Beziehungen, sondern vor allem dadurch bestimmt, dass die von Sklav:innen unterhaltenen Beziehungen niemals als legitim oder bindend anerkannt werden (vgl. Patterson 1982:6). Diese ‚Verwandlung‘, welche Sklav:innen mit der middle passage widerfährt, findet ihren Ausdruck auch in symbolischen Praktiken wie der Neubenennung durch koloniale Autoritäten (vgl. Patterson 1982:57). Vor diesem Hintergrund wird die Moderne in der Karibik zu einer Erfahrung der Deportation (Sklavenhandel, Versklavung, Kolonisation), der Unterwerfung (Besetzung) und der kulturellen Entwurzelung (kulturelle Amnesie, Verlust der Sprache, des Namens und der Abstammung) (vgl. Hurbon 2001a:88f). Die Dehumanisierung und Objektivierung Schwarzer16 Menschen wird im kolonialen Handels- und Produktionsprozess auf verschiedenen Ebenen (juristisch, materiell, ideologisch und diskursiv) vollzogen und mit dem von Jean-Baptiste Colbert auf den Weg gebrachtem und ab 1685 gültigen Edit du Roi concernant la discipline, l’état et la qualité des nègres17 esclaves aux Isles de l‘Amérique, bekannt als Code Noir, juristisch festgeschrieben. So heißt es im Artikel 44 des besagten Dokumentes: „Declarons les esclaves être meubles“ (Sala-Molins 2007:178). Angesichts dessen liest der Philosoph Louis Sala-Molin in seiner vielbeachteten Studie Le Code Noir ou le calvaire de Canaan ([1987] 2007) Texte der Französischen Aufklärung vor dem Hintergrund des Code Noir. Trotz seines hochgradig problematischen Charakter erweist sich der Code Noir doch als ein komplexes Dokument, der die Bedingungen von Heirat und Freilassung (affranchissement) regelt, sprich, eine gewisse humanité anerkennt18 und doch zugleich vor allem die Dehumanisierung festschreibt (vgl. Niort 2012:6). Festzuhalten bleibt, dass der Wert der Versklavten als Menschen hinter ihrem Wert als Produktionsmittel und Reproduktionsmittel verschwindet, wie der Philosoph und Politikwissenschaftler Achille Mbembe deutlich zum Ausdruck bringt:
Dans la perspective de la raison mercantiliste, l’esclave nègre est à la fois un objet, un corps et une marchandise. En tant que corps-objet ou objet-corps, il a une forme. Il est également une substance potentielle. Cette substance, qui fait sa valeur, découle de son énergie physique. C’est la substance-travail. Le Nègre est, de ce point de vue, une matière énergétique. Telle est la première porte par laquelle il rentre dans le processus de l’échange. Il existe une seconde porte à laquelle il a accès par son statut d’objet d’usage qui peut être vendu, acheté et utilisé. Le planteur qui achète un esclave nègre ne l’achète ni pour le détruire ni pour le tuer, mais pour l’utiliser, pour produire et augmenter sa propre force (Mbembe 2015 :129).
Achille Mbembe legt diesen Prozess der Objektivierung und Kapitalisierung von Schwarzen Menschen in Critique de la raison nègre mit direktem Bezug zur Aufklärung dar. Die Kapitalisierung von vorrangig Schwarzen und afrikanischen Körpern war wesentlich für den transatlantischen Sklavenhandel, seine Kolonien und Plantagengesellschaften. Diese Kapitalisierung von Körpern vollzieht sich im Kontext von Sklaverei in verschiedenen Bereichen wie Tausch, Geschenk, Kauf-Verkauf, Ausbeutung der Arbeitskraft, der Produktivität, der Energie sowie der Reproduktionskraft von Sklav:innen, Dienstleistungen (auch sexuelle), militärische Überlegenheit durch Sklavensoldaten und Leibwächter, Status- und Luxus-Präsentation (vgl. Zeuske 2018:4). Die Kapitalisierung von Körpern (v. a. in Form von Ausbeutung der Produktions- und Reproduktionskraft) im Zuge europäischer Kolonialisierungspolitiken bedeutet nicht nur die Reduzierung jener Körper auf wertschöpfende Produktionsmittel sowie die ursprüngliche Akkumulation großer Kapitalmengen (vgl. Habermann 2012:20), sie etabliert auch mit fortschreitender Entwicklung neuartige Produktions-, Handels-, Finanz- und Arbeitsformen, welche zentral für die Herausbildung der modernen kapitalistischen (Industrie-) Gesellschaften werden:19
Die systemischen Grundlagen der Moderne entstanden außerhalb Europas und wurden erst spät, im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts, importiert. Sie wurden weniger in Madrid, Paris und London ausgehandelt als auf den unzähligen Schiffen, die die Ozeane kreuzten: Hier begegneten sie sich, oft gewaltsam, die verschiedensten Menschen und Dinge, Wissenssysteme und Weltanschauungen; auf ihnen wurde die massenhafte Migration und Entrechtung von Arbeitern erprobt; sie wurden getragen von Börsenhandel, Versicherungen, Banken und waren Auslöser der ersten globalen Finanzkrisen; die Zuckermühlen, die sie versorgten, waren die Vorläufer industrieller Massenproduktion; und die atlantischen Sklavenaufstände und Revolutionen markieren die ersten organisierten Widerstände gegen ein sich etablierendes bürgerlich-kapitalistisches Weltsystem (Eckstein/Peitsch/Schwarz 2016:175).
Ebenso wie die Literatur- und Kulturwissenschaftler:innen Eckstein, Peitsch und Schwartz betont auch der Historiker Kamenov (2016) den technologischen Stand der kolonialen Zuckerproduktion, der in vielen anderen wirtschaftlichen Bereichen erst sehr viel später erreicht wurde und damit als protoindustriell gelten kann. Buck-Morss betrachtet diese kapitalistische Form als das Moderne an der Sklaverei in den Kolonien. Konkret versteht sie dabei unter kapitalistischer Form die Profitmaximierung durch die Ausbeutung von Land und Arbeiter:innen,20 um „die unstillbare Nachfrage der Konsumenten zu befriedigen“, welche die kolonialen Genuss- und Suchtmittel (Tabak, Zucker, Kaffee, Rum) erst hervorgebracht hatten (vgl. Buck-Morss 2011:119). Die karibischen Plantagenökonomien waren für das vorrevolutionäre Frankreich ein unverzichtbarer wirtschaftlicher und geostrategischer Faktor. Insbesondere St. Domingue, die reichste Kolonie zur damaligen Zeit, von welcher zwei Drittel des Gesamthandelsvolumens zwischen Frankreich und den westindischen Kolonien stammte (vgl. Fischer 2001:1122), nahm in einer Welt, in der gut „zwanzig Prozent der Angehörigen der Bourgeoisie von Handelsaktivitäten abhängig [waren], bei denen Sklaven in irgendeiner Form eine Rolle spielten“ (Buck-Morss 2011:50), einen wichtigen Platz in der Wirtschaft Frankreichs ein. Die hier skizzierte Bedeutung der Kolonien für den französischen Handel und die Entwicklungen neuer Produktionsformen verdeutlicht, dass der bis in die Gegenwart bedeutsame gesellschaftliche, ökonomische, soziale und epistemologische Umbau, welcher zwischen 1650 und 1800 stattfand, nur unter Einbeziehung des Kolonialismus, der Plantagenwirtschaft und ihrer transnationalen und transatlantischen Zirkulationsbewegungen verstanden werden kann. Haiti und die Karibik als Ganzes können vor diesem Hintergrund, wie Hurbon schreibt, eine gewisse Vorzeitigkeit bei der Entfaltung der Moderne (vgl. Hurbon 2001a:89) und in der Erprobung von Konvivenz und Kohabitation unter veränderten Bedingungen (d. h. Erfahrungen von Migration, Verschleppung und Entwurzelung; das Brüchigwerden tradierter Vergemeinschaftungen; das Zusammentreffen verschiedener Sprachen, Glaubenssysteme und Kulturpraktiken sowie die Herausbildung neuer kultureller und konvivialer Formen) für sich beanspruchen. Im Anbetracht dieser Vorzeitigkeit gilt die Karibik vielen Theoretiker:innen wie Aimé Césaire oder Edouard Glissant als Laboratoire du colonialisme, Laboratoire humain (vgl. Chamoiseau/Confiant/Ette/Ludwig 1993 :10f. )21 oder als Laboratorium der Moderne (vgl. Ueckmann 2014:37). Olaf Breidbach und Hartmut Rosa sprechen vom Laboratorium als „exzeptionellem Reaktions- und Verdichtungsraum“ (Breidbach/Rosa 2010:14), eine Beschreibung, die auch auf die koloniale Karibik übertragbar ist. So kommen auf Saint-Domingue nicht nur Menschen aus den unterschiedlichsten sozialen, kulturellen und sprachlichen Hintergründen zusammen, vielmehr geschieht dieses Zusammentreffen in einer spannungsreichen gesellschaftlichen Konstellation unter dem Druck enormer Gewaltanwendung. Dementsprechend findet Verdichtung nicht nur im geografischen Raum, durch die insulare Situation, sondern vor allem auch im sozialen Raum statt. Die Reaktionen, welche aus diesem Raum heraus entstehen, reichen von neuen Produktionsweisen und kapitaler Akkumulation;22 über Techniken der Disziplinierung und der Subordination samt einer rassistischen Ideologie, welche diese Ungleichheit zu stützen vermag; über neue kulturelle Formen und neue Weisen des ZusammenLebens (Ette 2010a); hin zu Widerstandspraktiken und erfolgreichen Revolutionen. In einem solchen Zusammenspiel kann der Raum des Laboratoriums nicht nur als ein produktiv-schaffender Ort verstanden werden, sondern insbesondere auch als ein hochgradig destruktives, explosives und störanfälliges Gefüge. Eng verknüpft mit naturwissenschaftlichen Techniken der Wissensproduktion ist das Laboratorium zugleich ein Ort der menschlichen Kontrolle über die Natur (vgl. Jackson 2017:244) und im Falle der Karibik auch über Menschen. Jene werden im kolonialen Laboratorium der Moderne durch mühevolle (Zwangs-)Arbeit diszipliniert, transformiert und verbraucht. Als Laboratorium und kolonialer Experimentalraum wird die Karibik zur Erprobung der Zukunft. Jene Maschinerie, welche die Moderne hervorbringt, wird dabei jedoch angetrieben von einem verzehrenden Motor. So zeigt sich das Plantagensystem auf den karibischen Inseln nicht nur als heterotopisches Laboratorium einer abstrakten Moderne, sondern konkret auch als ein Experiment an Menschen, die durch diese kollektive Erfahrung irreversibel und transgenerational traumatisch geprägt sind. Laboratorium, Zirkulation, Transfer und Transformation sind allesamt kennzeichnend für die Gleichzeitigkeit von Kolonialismus bzw. transatlantischen Sklav:innenhandel und Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert. Hinsichtlich dieser destruktiven Erfahrung der Moderne in der Karibik hebt Laënnec Hurbon mit Bezug auf Haiti hervor:
Sur cette base, la modernité paraissait mériter une condamnation en bloc, sans reste. Et le seul repli sur ce que nous avons pu sauver de nos cultures […] semble nous servir d’abri précaire contre une modernité perçue comme une apocalypse. Ou alors, on s’épuise dans des lamentations ou des imprécations contre cette modernité dont on sait pourtant l’envahissement inexorable. Cette attitude finit par rendre aveugle par rapport à soi-mêmecomme par rapport à la modernité. Or ne faudrait-t-il pas s’interroger sur les impasses d'une telle attitude, quand elle risque d’abandonner à l’Occident les capacités de s’approprier le monde et de l’habiter ? Plus précisément, n’y aurait-il pas des valeurs à portée universelle donc non attribuables à l’Occident, qu’il faudrait savoir reconnaître, en vue de nous mettre sur le chemin d’une réappropriation de notre espace sans pourtant tomber dans une relation mimétique par rapport à l’Occident ? (Hurbon 2001a:88f).
Diese Fragen nach der Universalität von Werten und nach dem Platz, welchen nicht- hegemonialen Erfahrungen in der Modernität geschaffen werden kann, werden uns im weiteren Verlauf dieser Untersuchung im Hinblick auf Konfigurationen des Zusammenlebens immer wieder beschäftigen. Wie es bei Hurbon bereits anklingt, gilt es gleichwohl die kolonialisierten und versklavten Subjekte in einer Erzählung der Moderne nicht auf passive Opfer- und Nebenrollen festzuschreiben, sondern auch ihre Handlungsmacht und Widerstände zu erzählen. Kolonialisierte, Versklavte und andere marginalisierte Gruppen bewegen sich im kolonialen System nicht nur als Objektivierte, vielmehr sind sie immer auch als Akteur:innen, die Wissen weitertragen und bewahren, neue soziale Praktiken entwickeln, Widerstand und Zusammenleben organisieren und rebellieren, präsent. Zu diesen verschiedenen Formen des Widerstandes gehörten: ‘Suizide‘, Abtreibungen, Vergiftungen, Brandstiftung, Infantizide, Revolten sowie eine Vielzahl kultureller Praktiken (Kampfkünste wie Capoeira und Damnyé, Arbeitsgesänge wie den Blues, afro-christliche Kulte wie Santeria und vodou23), mit denen die Versklavten ihre humanité neu erfanden‘ (vgl. Bona 2016:13). Dementsprechend trugen viele der Versklavten trotz der existentiellen, traumatischen Erfahrungen von Dehumanisation, gewaltsamer Verschleppung, Ausbeutung und Objektivierung, ihre Sprachen, Religionen und Lebensformen mit in die ‚Neue Welt‘ und bewahrten so Fragmente ihres kulturellen Gedächtnisses, aus denen „neuartige Kulturen der Sklaverei“ (vgl. Osterhammel 2006:30) hervorgingen. Diese Kulturen sind defensiv, widerständig und Ressource einer „afro-amerikanischen Erneuerung — nicht nur in den prekären Gemeinschaften geflüchteter Sklaven, der cimarrons oder marrons, sondern auch im Herzen der Sklavensysteme selbst“ (Osterhammel 2006:30). Dementsprechend war es nicht nur das europäische Herrschaftswissen, welches weitergetragen und verändert wurde, auch indigenes Wissen (z. B. in dem Wissen um die Zubereitung von Maniok oder in der Wiedereinführung des indigenen Namens Ayiti)24 und afrikanische Wissensbestände wurden übermittelt. Der Atlantik nimmt in diesem weltumspannenden Gefüge eine wesentliche Rolle ein und es ist der Verdienst des britischen Kulturtheoretikers Paul Gilroy mit seinem Konzept des Black Atlantic (1993) die Komplexität und Multidirektionalität Schwarzer Beziehungen über und durch den Atlantik jenseits nationalstaatlicher, afro-zentrischer Festschreibungen theoretisch zu fassen und dabei auch ihre kulturelle Produktivität herauszustellen (vgl. Gilroy 1993:16; Mayer 2005:81). Wie Sergio Costa betont, muss Gilroys Black Atlantic durchaus als ein Komplement zu den Bewegungen des Slav:innenhandels und dessen Macht- und Herrschaftsbeziehungen verstanden werden (vgl. Costa 2012:153). Das spatiale Konzept begründet Vergemeinschaftung nicht mehr auf der Grundlage von Herkunft im Sinne von Roots (Wurzeln), vielmehr erfasst es sie als Routes, also auf Grundlage geteilter Erfahrungen und Bewegungen (vgl. Gilroy 1993:19; Costa 2012:153). Als Speichermedium (Ette 2010b:29) eines diasporischen Gedächtnis (vgl. Mayer 2005:81) und Ersatz für eine „dialogisch organisierte […] bürgerliche […] Öffentlichkeit“, von der Sklav:innen völlig ausgeschlossen waren, sind kulturelle Ausdrucksformen wie z. B. Musik und Tanz als „Ausdrucks- und Kommunikationsmedium“ (Costa 2012:157f.) im Rahmen des Black Atlantics unerlässlich. So verhandelt der Black Atlantic kritisch die Widersprüche und Brüche der Moderne (vgl. Costa 2012:159), wie Gilroy verdeutlicht:
The distinctive historical experiences of this diaspora’s populations have created a unique body of reflection on modernity and its discontents which is an enduring presence in the cultural and political struggles of their descendants today […] This discontinuous “tradition” has been occluded by the dominance of European and American writings elites whose loud modernist voices have dominated the clamour of philosophical and political discourse that reaches out from the eighteenth century to haunt us now. […] In other words, I am seeking to contribute to some reconstructive intellectual labour which, through looking at the modern cultural history of blacks in the modern world, has a great bearing on ideas of what the West was and is today (Gilroy 1993:45).
Post-koloniale Ansätze wie jener des Black Atlantic ermöglichen das schärfere Hervortreten von Rupturen und brechen so mit einer eindimensionalen Erzählung vom Übergang in die Moderne. Gleichzeitig richten sie den Blick auf vergemeinschaftende Widerstandstechniken und Versuche der körperlichen Wiederaneignung gegen die offiziell verordnete und praktisch, in den Kolonien umgesetzten Verfahren der Dehumanisierung und Kapitalisierung Schwarzer Körper.25 Wird vor dem Hintergrund der aufgezeigten transatlantischen Verwobenheiten bedacht, dass auch in den Salons der Aufklärung Kaffee, Tabak, Rum oder Zucker konsumiert wurde, dass Charles-Louis de Secondat, Baron de La Brède et de Montesquieu durchaus Bewunderung für die Zuckerkolonien übrig hatte (vgl. Pečar/ Tricoire 2015:117), Voltaire sein Vermögen zum Teil in die Compagnie des Indes Orientales investierte und damit am Kolonialismus verdiente, oder dass Rousseau in seinen Schriften überraschend schweigsam die Existenz des Code Noir ausspart (vgl. Buck-Morss 2011:52), so scheinen Aufklärung und Kolonialismus nicht mehr als Antagonismen derselben Epoche, sondern als auf enge Weise ökonomisch,26 epistemologisch-philosophisch und politisch verwobene Phänomene. In diesem Zusammenhang muss die koloniale, außereuropäische Welt verstanden werden als imaginiertes Anderes, Projektionsfläche und Kontrastfolie, als Experimentierfeld und Laboratorium, als Quelle für ökonomischen Reichtum und intellektuelle Inspiration. Über die außereuropäische Welt bildeten sich zentrale Konzepte, aber auch politische und ökonomische Grundlagen für den Eintritt in die Moderne überhaupt erst heraus, wie Patterson schreibt:
The idea of freedom and the concept of property were both intimately bound of with the rise of slavery, their very antithesis […] The joint rise of slavery and the cultivation of freedom was no accident. It was, as we shall see, a sociohistorical necessity (Patterson 1982: viii).
Die vermeintliche Antithese zwischen aufklärerischen Freiheitsideal und Realität der Sklaverei, jedoch nicht das dialektische Verhältnis, verliert einen großen Teil ihrer Kraft in dem Moment, indem wir die Aufklärung zum einen nicht als eindimensionalen, linearen Diskurs begreifen und zum anderen, wenn wir der Versuchung widerstehen, materielle Implikationen auszusparen. Mit dem Wissen um den transatlantischen Sklavenhandel als existentielle Erfahrung der Entmenschlichung und des Social Death (Patterson 1982) müssen wir lernen, aufklärerische Entwürfe zum Zusammenleben wie citoyennèté, contrat social oder Humanismus und Kosmopolitismus neu zu betrachten, zu hinterfragen und zu denken. Mit dem Wissen um die Haitianische Revolution als Befreiung aus der Sklaverei und Emanzipationsbewegung unterworfener Subjekte sind wir gefordert, Postulate wie Freiheit und Gleichheit in ihrer idealistischen, vergemeinschaftenden Kraft aber auch in ihrer materiellen Realisierung ebenfalls neu zu betrachten, zu hinterfragen und zu denken. Genau um diese Betrachtungen wird es im Folgenden gehen: Es wird zu zeigen sein, wie die Haitianische Revolution die Französische Revolution universalisierte und so repressive wie emanzipatorische Potentiale der Aufklärung sichtbar machte. Des Weiteren geht es um die Frage, wie die anti-kolonialen Kämpfe auf Saint-Domingue aufklärerische Konzepte aufgreifen, transferieren und in dem Kontext eines post-kolonialen Zusammenlebens transformieren und somit Ansätze für ein dekoloniales 21. Jahrhundert bieten.
Die Haitianische Revolution (1791-1804), in welcher Schwarze Sklav:innen und (libres) gens de couleurs1 über 13 Jahre lang, die Abschaffung der Sklaverei sowie die Unabhängigkeit Saint-Domingues von Frankreich erkämpften und mit Haiti die erste Schwarze Republik2 begründeten, stellt ein globalgeschichtlich „einzigartiges“ politisches Ereignis „von überragendem Interesse“ (Fischer 2001:1121) dar.3 In den über zwei Jahrhunderten, die seitdem vergangen sind, war die Haitianische Revolution immer wieder Gegenstand unterschiedlicher ‚Lektüren‘, welche bestimmte Aspekte fokussierten und auf dieser Grundlage die Revolution vor dem Hintergrund marxistischer, anti-kolonialer (vgl. James [1938] 2001) und liberaler Traditionen interpretierten oder gar in rassistisch-kolonialer Manier als gefährliche „Perversion der Idee der Befreiung“ (Fischer 2001: 1122) dämonisierten.4 Neben, oder besser gesagt, vor5 diesen Reinterpretationen und Aneignungen der Revolution stellte ihr Ausstreichen aus den Narrativen der (revolutionären) Moderne eine Konstante dar. Der Anthropologe Michel-Rolph Trouillot arbeitet diesen Mechanismus in seinem 1995 publizierten Werk Silencing the Past. Power and the production of history anhand zweier Tropen heraus:
The first kind of tropes are formulas that tend to erase directly the fact of revolution. I call them, for short, formulas of erasure. The second kind tends to empty a number of singular events of their revolutionary content so that the entire string of facts, gnawed from all sides, becomes trivialized. I call them formulas of banalization (Trouillot [1995] 2015:96).
Diese Formen der diskursiven Auslöschung und Banalisierung stellen Versuche dar, ein Ereignis ‚zum Schweigen zu bringen‘, welches zum Zeitpunkt seines Geschehens undenkbar („unthinkable“, vgl. Trouillot 2015:95) scheint. Durch jene machtvolle Aussparung gelingt es nicht nur koloniale Narrative der Geschichtslosigkeit und der Barbarei weiterzuerzählen, sie erleichtert auch eine eurozentrische, hegemoniale Erzählung der Befreiung fortzuschreiben, in welcher Widersprüche nur als nachträgliche, an die Epoche der Aufklärung herangetragene erscheinen und in der radikaler, anti-kolonialer Widerstand und emanzipatorische Agency6 nicht vorkommen.7 Entgegen jedweder kolonialen Einverleibungen lese ich die Haitianische Revolution als anti-koloniales Gründungsmoment, als Universalisierung von 1789, vor allem aber als eine historische Etappe, in der wirkmächtig aus einer marginalisierten Position Anspruch auf eine radikale Neuordnung des Zusammenlebens erhoben wurde. Als gesellschaftlich und politisch radikalste Revolution in den Amerikas (vgl. Grüner 2020:57f.) stellte die Haitianische Revolution eine grundlegende Transformation der dominanten sozialen, politischen, ökonomischen, ideologischen und kulturellen Strukturen dar, die entscheidend für die Moderne war. Schauen wir auf die demografischen und politischen Begebenheiten in Saint-Domingue am Vorabend der Französischen Revolution, so bestand der Großteil der Bevölkerung aus ungefähr einer halben Million Schwarzen Sklav:innen, die auf den Plantagen schufteten und denen eine, hauptsächlich städtische, weiße Minderheit von 30.000 Personen8 gegenüberstand (vgl. Lammel 2015:26). Zwischen diesen beiden gegensätzlichen Bevölkerungsgruppen existierten des Weiteren die affranchis, in der Mehrheit Freie mit afro-eurodeszendenter und vereinzelt afrodeszendenter Herkunft (vgl. Lammel 2015), die ebenfalls um die 30.000 Personen umfasste. Die Bevölkerung Haitis bestand folglich aus verschiedenen sozialen Gruppen: Schwarze Sklav:innen, libres gens de couleurs sowie arme petit blancs und reiche grand blancs, die in einem gewaltsamen Kontext ungleicher Besitzverhältnisse, Lebensbedingungen und Rechte zusammenlebten, welcher notwendigerweise politische Spannungen hervorbrachte. Die Entladung dieser Spannungen9 erfolgte im Zusammenhang mit den revolutionären Ereignissen in Paris. Denn als dort 1789 die Generalstände ausgerufen wurden, geriet der Umstand, dass die affranchis zwar durch den Besitz von Plantagen und Sklav:innen wirtschaftlichen Einfluss besaßen, aber ungeachtet dessen nicht im Besitz vollständiger politischer und bürgerlicher Rechte waren, zur Initialzündung. Während den weißen Plantagenbesitzern daran gelegen war, Saint-Domingue gänzlich durch weiße Abgeordnete zu repräsentieren, verfolgte die abolitionistische Organisation Société des Amis des Noirs, zu deren Mitgliedern u. a. Henri Grégoire und der Marquis de Condorcet gehörten, das Ziel den Einfluss der weißen Sklavenhalter mit dem Argument, dass diese unmöglich die libres gens de couleurs und die Sklav:innen repräsentieren könnten, zurückzudrängen (vgl. Fischer 2001:1123). Im Zuge der Auseinandersetzungen treten die Verwebungen von Eigentum, Freiheit, Bürgerrechte und epidermischen Logiken des Ausschlusses in der neu entstehenden post-feudalen Gesellschaft offen zu Tage (vgl. Fischer 2001:1123). So sind es zunächst konkrete Fragen von Bürgerrechten und Eigentumsverhältnissen und nicht grundsätzliche Forderungen nach Abschaffung von Sklaverei und Plantagenwirtschaft,10 welche die Debatten im revolutionären Frankreich anheizten. Nachdem die Forderung der afro-eurodeszendenten Gesandtschaft unter Vincent Ogé nach bürgerlicher Gleichstellung scheiterten (vgl. Lammel 2015:29f.),11 entflammten ab 1790 erste bewaffnete Aufstände unter der Führung Ogés und Jean-Baptiste Chavannes (vgl. Bénot 2005b; Lammel 2015:29); diese wurden niedergeschlagen und die beiden Anführer hingerichtet.Während in Paris unterschiedliche revolutionäre und reaktionäre Gruppen über die Zukunft Saint-Domingues und der Sklaverei debattierten, schuf der Aufstand der Sklav:innen in der Nacht vom 22. auf den 23. August 1791 Fakten. Die der bewaffneten Erhebung vorausgehende Zeremonie vom Bois Caiman in der Nähe von Cap Haïtien im Norden der Insel, bei der sich unter Leitung der vodoupriester:innen Dutty Boukman und Cécile Fatiman Sklav:innen aus den umliegenden Plantagen zusammenfanden, illustriert, dass kulturelle und politische Praktiken aus dem afrikanischen Erbe der Versklavten für die Revolution ebenso von Bedeutung waren wie Konzepte der Aufklärung.12 Angesichts anhaltender Kämpfe sendet die Assemblée in Paris im April 1792 eine Kommission unter der Führung von Léger-Félicité Sonthonax in die umkämpfte Kolonie, betraut mit der Aufgabe den Aufstand der Sklav:innen niederzuschlagen und zugleich die politischen Rechte der freien gens de couleurs anzuerkennen (vgl. Gauthier 2008:31f.). Während, so schreibt Sybille Fischer, der französische Kommissar und Jakobiner Sonthonax sich „mit den Mulatten gegen die weißen Royalisten mit dem Ziel, Saint-Domingue in einen republikanischen Außenposten zu verwandeln“ (Fischer 2001:1124), verbündet, übernimmt der ehemalige Sklave Toussaint Louverture die Führung der revolutionären Schwarzen Truppen (vgl. Fischer 2001; Lammel 2015).13 Seinen Truppen gelingt es durch politisch wie militärisch geschicktes Vorgehen die Revolution zu verteidigen und am 4. Februar 1794 erklärt die französische Assemblée die Sklaverei in einem Dekret für abgeschafft.14 Im Mai 1801 konsolidiert Louverture mit einer Verfassung seine Macht (vgl. Lammel 2015:41) und etabliert eine Präsidialautokratie, in der Frankreich nur noch formaler Einfluss zukommt. Das vormalige Plantagensystem hingegen wird, trotz Abschaffung der Sklaverei, in eine Art Zwangsarbeitssystem überführt, welches den wirtschaftlichen Erfolg sichern soll. Dieser caporalisme agraire (vgl. Trouillot 1990:43) bringt Louverture vehemente Kritik und bewaffnete Aufstände ein (vgl. Dubois 2005:256; Lammel 2015:81f.), ermöglicht jedoch zugleich die militärische Aufrüstung, welche angesichts des Risikos der Invasion durch konterrevolutionäre und kolonialistische Mächte, unvermeidlich scheint. Mit der Machtübernahme Napoleon Bonapartes wird diese Gefahr Realität:
Bonaparte […] se présentait comme l’artisan du nouvel empire colonial français et avait annoncé sa volonté de mettre fin à la révolution de l’égalité de l’épiderme […] Bonaparte avait annoncé que la liberté générale n’était plus un principe constituant, mais une simple concession du gouvernement français (Gauthier 2008 :38f.)
Gegenüber dem erneuten Erstarken kolonialer Ansprüche durch Napoléon bekräftigt Louverture erneut seine Bereitschaft die Revolution zu verteidigen, deren universellen Anspruch er in den folgenden Worten deutlich zum Ausdruck bringt:
Ce n’est pas une liberté de circonstance concédée à nous seuls que nous voulons, c’est l’adoption absolue du principe que tout homme né rouge, noir ou blanc ne peut être la propriété de son semblable (Gauthier 2008 :39).
Wenig überraschend ändert die radikale Berufung auf das Prinzip der Freiheit nichts an den imperialen Machtinteressen Frankreichs15 und im Januar 1802 landet eine von Napoléon entsandte militärische Expedition mit dem Auftrag die Kolonien zurückzuerobern und die Sklaverei wieder einzuführen auf Hispaniola (vgl. Gauthier 2008:39; Lammel 2015:44). Nach mehreren Kämpfen und Verhandlungen wird Louverture am 7. Juni 1802 festgenommen und im Anschluss daran nach Frankreich überführt, wo er bis zu seinem Tod im April 1803 im Fort de Joux im Jura im Gefängnis zubringt (vgl. Dubois 2005:277ff.). Ungeachtet der Verhaftung Louvertures formiert sich ab Oktober 1802 unter Alexandre Sabès Pétion, Augustin Clervaux, Henri Christophe und Jean-Jacques Dessalines erneut militärischer Widerstand (vgl. Lammel 2015:49ff.; Gauthier 2008:39).16 Dieser führte Ende Oktober 1803 zur Flucht der französischen Armee und zur Proklamation Saint-Domingues, unter dem Namen Haiti, zur ersten Schwarzen Republik durch Dessalines in Gonaives am 01. Januar 1804 (vgl. Lammel 2015:51).17 Trotz dieses bemerkenswerten Erfolges fand das anti-koloniale Staatsprojekt in einer Welt unter der Hegemonie kolonialer und imperialistischer Staaten wenig Anerkennung und Unterstützung. Tatsächlich ‚bestrafte‘ Frankreich die Unabhängigkeit seiner ehemaligen Kolonie mit hohen Reparationszahlungen, deren Schuldenlast den Karibikstaat für lange Zeit belasten sollte.18
Die materiellen Entwicklungen der Postrevolutionszeit beiseite lassend wenden wir uns im Folgenden der konzeptuellen Bedeutung der Revolution zu, die einer „radikale[n] Intervention innerhalb der aufklärerischen Ordnung“ (Nesbitt 2010:229) gleichkam:
Les Haïtiens n‘ont pas seulement répliqué à la Déclaration des Droits de l’homme et du citoyen de 1789 en la transplantant sous les latitudes tropicales; c’est précisément dans la transformation de ce texte qu’ils ont fait preuve d’une autonomie conceptuelle (Nesbitt 2010:229).