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Unsterbliche Sehnsucht, prickelnde Leidenschaft und Spannung von der ersten bis zur letzten Seite
Die Welt der Götter und der Menschen wird von Dämonen bedroht. Der ewige Wächter Zander, dessen unbezwingbare Kräfte legendär sind, kämpft an vorderster Front gegen den Untergang beider Welten. Doch als Nachfahr des Achilles hat auch er eine Schwachstelle, die er um jeden Preis vor seinen Feinden verbergen muss. Und ausgerechnet jetzt kann er an nichts anderes denken als an die Frau, in der er seine Seelenverwandte entdeckt hat: die Heilerin Callia, mit der er einst Stunden voller Leidenschaft teilte ...
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Seitenzahl: 516
Das Buch
Es heißt, er sei unverwundbar. Es heißt, er kämpfe immer, als habe er nichts mehr zu verlieren. Es heißt, er sei ein direkter Nachfahre des Achilles. Doch eine Schwäche hat der unbesiegbare Zander, eine, die zu einer tödlichen Gefahr für ihn und all seine Mitstreiter werden kann – und dies gerade in dem Augenblick, als sich die Mächte der Finsternis zu ihrem letzten großen Schlag rüsten.
Denn der ewige Wächter hat sein Herz und seine Seele einer Frau geschenkt, die er nicht mehr vergessen kann. Die schöne Callia ist Zanders Seelenverwandte. Für sie riskiert er alles – auch das Schicksal der gesamten Menschheit, die auf seine magischen Kräfte angewiesen ist ...
Unsterbliche Sehnsucht, prickelnde Leidenschaft und Spannung von der ersten bis zur letzten Seite: Ein wahrer Pageturner!
Die Autorin
Elisabeth Naughton lebt mit ihrem Mann und drei Kindern in Oregon. Das Schreiben von romantischen, übersinnlichen Liebesromanen ist inzwischen nicht mehr nur eine Leidenschaft, sondern ihr Beruf. Wenn sie in Gedanken gerade nicht bei den Unsterblichen weilt, geht sie laufen – und denkt sich dabei neue Geschichten und Abenteuer aus.
Lieferbare Titel
978-3-453-40891-3 - Schwur der Ewigkeit
ELISABETH NAUGHTON
Bann der Ewigkeit
Roman
Aus dem Englischen
von Sabine Schilasky
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Das Original ENTWINED erschien
bei Dorchester Publishing, New York
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Vollständige deutsche Erstausgabe 07/2012
Copyright © 2010 by Elisabeth Naughton
Copyright © 2012 der deutschen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der
Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Covergestaltung: Nele Schütz Design, München
Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin
ISBN 978-3-641-06930-8V003
www.heyne.de
Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus,
Ihn, der entbrannt den Achaiern unnennbaren Jammer erregte …
Ilias, 1. Vers
Könnte er sterben, wäre dies der ideale Ort dafür.
Zander stand am Rande der Klippe und blickte gebannt hinab auf die Felsenschlucht unter sich. Eine dünne Schneeschicht knirschte unter seinen Stiefeln, als er das Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte und überlegte … Was wäre, wenn?
Die Temperatur lag deutlich unter null, so dass der Wind, der ihm ins Gesicht blies, alles betäubte, was er noch an Gefühl besaß. Als Argonaut, Nachfahre der größten Helden der griechischen Antike, war er stärker als bloße Sterbliche, stärker sogar als die Argoleaner und die unlängst entdeckten Halbblute, die er neuerdings beschützte. Seine Kraft war selbst der seiner Mitkrieger überlegen.
Nein, Unterkühlung würde ihn gewiss nicht töten. Leider. Erfrierungen wären nichts als eine vorübergehende Plage. Verdammt! Weil er nun einmal er war, könnte nicht einmal eine Kugel in die Brust verhindern, dass sein belämmertes Herz weiterschlug. Dies hier hingegen – er blickte in den Abgrund gute sechshundert Meter unter ihm, der nach unten so dunkel wurde, dass der dumpfgrüne Fluss unter einem dünnen Nebelschleier verborgen war – könnte eine Möglichkeit sein. Eine kleine Stimme in seinem Hinterkopf wisperte, Tu es einfach!
Er war nicht blöd. Er verbrachte mehr Zeit mit Menschen als irgendein anderer Wächter aus seiner Welt und wusste, dass solch ein Sprung bestenfalls einer gescheiterten Nike-Werbeaufnahme gleichkäme. Und dennoch … es war verlockend. Schließlich konnte er nicht ausschließen, dass er sich beim Sturz die eine Wunde zuzog, die ihn sofort tötete und seine Unsterblichkeit ein für alle Mal beendete.
Sein Kampfgefährte Titus kam zu ihm, bevor er sich entschieden hatte, und sah ebenfalls hinab. »Eine echt beschissene Art, aus dem Leben zu scheiden. Aber du hast recht. Es würde dich nicht umbringen, und mir steht übrigens nicht der Sinn danach, dich da unten wieder zusammenzuklauben und gesundzupflegen.«
Zander sah den jüngeren Argonauten verärgert an – den beträchtlich jüngeren, der, wer hätte das gedacht, sich hier runterstürzen und sterben könnte! Was für ein Glückspilz. »Hör auf, meine Gedanken zu lesen. Du weißt, dass mich das wahnsinnig macht.«
Titus grinste, hob eine Hand und wischte sich über den Mund. Im matten Licht der Dämmerung leuchteten die Zeichnungen auf seinen Unterarmen und Händen, die Erkennungsmale der Argonauten, besonders deutlich auf der hellen Haut. Sein Grinsen war verhalten, denn so richtig lächelte Titus nie. »Du bist schon wahnsinnig, Alter. Und denkst du, mir gefällt es, dauernd zu wissen, was in deinem wirren Hirn vor sich geht? Dann verrate ich dir was. Es steht definitiv nicht ganz oben auf meiner Liste besonders spaßiger Dinge!« Er wedelte mit seinen großen Händen. »Du projizierst deinen Mist auf alles und jedes hier, und, glaub mir, ich bemühe mich nach Kräften, nicht hinzuhören.«
Zanders Miene verfinsterte sich, als er einen Schritt vom Klippenrand zurücktrat. Er ärgerte sich, dass er nicht gesprungen war, ehe Titus den Mund aufmachte, und noch mehr, dass ihn dieser kleine freie Fall nicht so ausschalten würde, wie er es gern hätte. Seine ohnedies schlechte Laune wurde nur schlimmer, je länger sie unterwegs waren, ohne irgendwelche Dämonen zu treffen.
Wenig hilfreich war, dass Titus und er diesen Gebirgsabschnitt seit einer vollen Woche nach Nachzüglern absuchten und nichts gefunden hatten. Zander wollte nicht zurück nach Argolea; ebenso wenig wollte er zur Kolonie gehen oder nach mehr Halbbluten suchen, die sich in den Wäldern versteckten. Er lechzte nach einem üblen, gefährlichen Kampf, war düsterer gestimmt als Hades selbst, und sollte er nicht bald kämpfen können, würde es unschön. Für alle.
»Gehen wir«, sagte Titus, der zurücktrat und sich die kalten Hände rieb. »Hier ist keiner. Wäre da unten eine Siedlung, hätten wir sie schon entdeckt. Wir gehen nach Norden, Richtung Mount Hood, und sehen mal, was wir dort finden.«
Zwar wollte er nicht, aber Zander nickte. Die nächstgelegene Halbblutkolonie lag verborgen im Willamette National Forest südlich von hier, und die Menschen in der Gegend hatten keine Ahnung von deren Existenz. Unter den Argonauten herrschte die einhellige Vermutung, dass es weitere Halbblute oder Misos gab. Misos nannten sich die Geschöpfe, deren Eltern zur Hälfte menschlich, zur Hälfte argoleanisch waren, und sie mussten sich verstecken, weil die Dämonen sie jagten. Dank dem Anführer einer der Kolonien, Nick, wussten sie inzwischen von drei anderen, die über den Globus verteilt waren. Nick selbst war sowohl ein Halbblut als auch etwas, das bislang keiner ergründet hatte. Eine andere Kolonie befand sich in Afrika, eine in der Permafrosttundra von Nordrussland und die dritte im Dschungel von Südamerika.
»Hey«, begann Titus mit seinem typischen Grinsen, als sie den Pfad entlanggingen, der in den Wald zurück führte, »es könnte schlimmer sein. Du hättest auf Patrouille nach Siberien geschickt werden können, wie Cerek und Phineus.«
Die Erwähnung der beiden anderen Argonauten hob Zanders Stimmung kein bisschen. »Dann wäre ich wenigstens weit weg von dir und deiner ewigen Gedankenleserei!«
Titus lachte leise. »Du solltest dringend deine Einstellung ändern, Z. Unsterblichkeit ist eine Gabe, Mann! Ich würde meinen linken Arm geben, hätte ich die anstatt Gedanken zu …«
Zander drehte sich so rasch zu ihm, dass Titus mitten im Satz die Luft anhielt. »Es ist keine Gabe! Es ist ein verdammter Fluch!«
Titus blickte hinab auf Zanders Hand auf seiner Jacke. Eine dunkle Wolke huschte über seine Züge, konnte Titus es doch nicht leiden, angefasst zu werden. Nirgends. Nicht einmal von einem Bruder. »Tritt zurück. Sofort.«
Zanders und sein Blick begegneten sich. Die Wächter waren in etwa gleich groß, beide knapp zwei Meter, und brachten zweihundertfünfzig Pfund pure Muskelmasse auf die Waage; doch da endeten die Ähnlichkeiten. Titus’ welliges dunkles Haar war mit einem Lederband zurückgebunden, und Eiskristalle hingen in seinem schmalen Schnurrbart und dem dunklen Unterlippenbart. Für den durchschnittlichen Betrachter sah er menschlich aus, war es aber nicht. Und seine braunen Augen funkelten wissend und gefährlich, eine Kombination, die für jeden heikel wurde, der Titus verärgerte.
Langsam nahm Zander seine Hand herunter, wich jedoch nicht zurück. Einen Kampf würde er gewinnen, selbst gegen solch einen Hitzkopf wie Titus. Er konnte mehr Schläge einstecken als jeder andere und immer noch weiterkämpfen. Trotzdem könnte er verletzt werden und bräuchte Zeit, sich wieder zu erholen. Und so gern er heute eine anständige, blutige Prügelei austragen würde, wollte er sie nicht mit Titus.
Vielmehr sollte sein Waffenbruder endlich begreifen, erst recht wenn Zander wer weiß wie lange mit diesem sterblichen Mistkerl herumziehen musste. Er biss die Zähne zusammen. »Zuzusehen, wie jeder stirbt, an dem dir liegt, ist keine Gabe, Titus. Ich diente mit deinem Vater. Ich diente mit den Vätern aller Argonauten. Ich war dabei, als Eurandros König und Leonidas noch nicht einmal ein Jucken in seiner Hose war. Und nun stirbt Leonidas an Altersschwäche, aber ich nicht. Ich bin genauso stark und gesund wie immer.«
Der Zorn, den Zander tief in sich verschlossen hielt, nahm sekündlich zu. »Vielleicht willst du jetzt nicht sterben, Wächter, aber eines Tages wünschst du es dir. Eines Tages wirst du bereit sein, zu den Elysischen Feldern aufzubrechen oder wohin auch immer der Rest von euch geht, wenn eure Tage gekommen sind. Aber ich nicht. Nein, ich bleibe hier und tue, was ich die letzten achthundertzwanzig Jahre getan habe. Ich sehe euch alle sterben und wünschte bei Hades, ich könnte mit euch gehen.«
Er marschierte voran unter die Bäume, ehe er etwas tat, was er bereuen würde. Ja, er klang wie eine Heulsuse mit einem gigantischen Anfall von Selbstmitleid. Doch er war es so gründlich leid. Er war es leid, sich zu benehmen, als wäre es prima und herrlich, was ihm das Schicksal aufbrummte. Es hatte eine Zeit gegeben, eine lange Zeit, da dachte er wie Titus. Er hatte tatsächlich geglaubt, es wäre ein Geschenk, dass er seine verwundbare Stelle, seine Achillesferse noch nicht gefunden hatte, wie es seinem Vater und jedem anderen Mann aus seiner Linie widerfahren war. Das war vorher gewesen. Bevor ihm klarwurde, dass er in alle Ewigkeit hier festsaß, während ihm alles, was von Bedeutung war, genommen wurde. Vor zehn Jahren. Bevor er erkannte, dass Heras Fluch real war.
»Zander, warte!«
Er ignorierte Titus’ Rufen und stampfte weiter, den Kopf gesenkt, um dem Wind auszuweichen. Wut und Selbstekel erhitzten sein Blut. Ja, er war wahrlich in der Stimmung für einen blutigen Kampf. Und kam er nicht schnell genug von Titus weg, wäre es ihm am Ende egal, dass der Argonaut ein Freund, kein Feind war.
Er hatte es dreißig Meter weit in den Wald geschafft, als die erbärmliche Kälte einer Froststarre wich, bei der einem das Mark in den Knochen gefror.
Zander blieb stehen und blickte auf. Weiter vorn zur Rechten schlichen sechs Dämonen durchs Unterholz, die offensichtlich auch auf Patrouille waren: auf der Suche nach Halbbluten, die sie dezimieren konnten.
Ein müdes Lächeln trat auf Zanders Gesicht. Es war das erste seit Tagen. Alle Dämonen waren leicht über zwei Meter groß, hatten Hörner und Reißzähne, katzenähnliche Gesichter, hundeartige Ohren und die Körper von Männern. Von richtig stämmigen, hässlichen, unangenehmen Männern, wie man sie des Nachts in dunklen Seitengassen traf, wo sie nichts als Ärger suchten. Zanders Lächeln wurde breiter.
»Genau das, worauf ich gehofft hatte. Wollt ihr Freaks rauskommen und spielen oder einfach nur dastehen und blöd aussehen wie eure Kuh von einer Anführerin, Atalanta? Das könnt ihr nämlich echt gut. Ja, ich sehe sogar eine gewisse Ähnlichkeit. Du da, ganz vorn.« Er wies auf den Hässlichsten, dem irgendeine scheußliche Substanz von den Reißzähnen tropfte. »Bist du vielleicht ihr Bruder? Nein, Quatsch, gleich hab ich’s.« Er schnippte mit den Fingern. »Ihr Sohn!«
Der Angesprochene, der eindeutig das Kommando hatte, sah Zander an und knurrte, »Argonaut«; dann schnüffelte er in die Luft und fügte hinzu, »Zwei.« Die anderen fünf Dämonen schwärmten in U-Formation aus, umkreisten Zander und duckten sich, bereit zum Sprung.
Und, ja, aus den Ohren des Anführers qualmte es richtig! Ach, klasse. Das würde ein schöner Kampf. Sechs gegen einen. Vielleicht bekam er endlich eine richtige Abreibung. Und sollte er bei der Gelegenheit gleich ein paar Dämonen ausschalten, umso besser.
Titus kam hinter ihm angelaufen, als Zander gerade nach seinem Parazonium griff, dem antiken griechischen Dolch, der die klassische Waffe der Argonauten war, und den Zander hinten auf seinem Rücken trug. »Oh, Mist. Du musstest die auf die Zinne bringen, stimmt’s?«
»Und ob ich das musste.«
Titus zog seinen eigenen Dolch. »Okay, du Genie, welche willst du?«
»Alle.«
»Zander!«
»Halt dich zurück, solange ich dich nicht brauche«, murmelte er. »Ich kann nicht sterben, schon vergessen? Du sehr wohl.«
Er trat zurück in den Dämonenkreis und achtete nicht auf Titus’ Widerspruch, denn er wusste, dass der Argonaut auf ihn hören und es ihn zunächst allein versuchen lassen würde.
»Dann mal los, Mädels. Zeigt mir, was ihr draufhabt.«
Mit einem Brüllen bleckten die Dämonen ihre Keilzähne und griffen an.
Dies war ein Familienstreit, in den Callia ganz sicher nicht mit hineingezogen werden wollte.
»Das ist lachhaft. Isadora, verbiete es ihm!«, wandte sich Casey Simopoulos erschöpft an ihre Halbschwester, die künftige Königin von Argolea.
Von der gegenüberliegenden Seite des eleganten Schlafgemachs aus wechselte Callia einen Seitenblick mit Isadora. Die Prinzessin hatte ihr blondes Haupt gesenkt und betrachtete einen Flecken zwischen ihren rosa Pantoffeln. Ihre Hände hatte sie auf dem Rücken verschränkt, und ihr zartrosa Kleid schien die zierliche Gestalt buchstäblich zu verschlucken. Sie war der Inbegriff der Unterwürfigkeit und hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt, seit ihr Vater, der sterbende König Leonidas, seinen irrwitzigen Beschluss verkündete.
Sie würde bald Königin, war die Gynaíka, die in naher Zukunft über ihr Land herrschen, die Argonauten befehligen und sie in diesen gefährlichen Kriegszeiten anführen sollte. Atalanta trieb sich im Menschenreich herum, auf der Suche nach einem Weg, wie sie die Halbblute vernichten und nach Argolea gelangen konnte, um sich dafür zu rächen, dass sie nicht bei den Argonauten aufgenommen worden war. Folglich war eine willensstarke Anführerin für Argolea zwingender denn je.
Die Isadora indes nicht sein könnte, wie Callia schon eine ganze Weile dachte. Dennoch kam sie nicht umhin, sich zu fragen, ob Leonidas’ Dekret für alle das Beste wäre.
»Isadora, du darfst ihn das nicht tun lassen«, sagte Casey lauter und ging auf ihre Schwester zu. »Wir sind doch nicht in der Steinzeit!«
»Genug!«, keuchte der König, während er versuchte, sich auf den Kissen seines ausladenden Himmelbetts weiter nach oben zu stemmen.
Callia beachtete das Brummen nicht, das ihr seit zehn Minuten durch den Schädel dröhnte, legte ihre Instrumente ab und ging zum König, um ihm zu helfen.
Es ärgerte ihn sichtlich, Hilfe zu brauchen, aber er wehrte sich nicht. Heute war sein Verstand klar, was er nutzte, solange er konnte. »Isadora heiratet beim nächsten Vollmond. Keine Widerrede.«
Caseys Mundwinkel zuckten. »Es ist unrecht, und das weißt du.«
Der König wandte sich seiner dunkelhaarigen Tochter zu. Aus dem simplen Grund, dass ihre Mutter menschlich gewesen war, durfte sie niemals Königin werden, obwohl Casey die Stärkere war und die bessere Wahl wäre, wie jeder wusste. Leonidas blinzelte, denn er sah nichts mehr außer verschwommenen Umrissen. »Isadoras Vermählung mit einem Wächter meiner Wahl sorgt dafür, dass der Rat ihre Autorität nicht anficht. Du hast mir bereits den genommen, den ich als Ersten für sie bestimmt hatte, Acacia. Und es steht dir nicht zu, dich in meine Entscheidung einzumischen, wen ich an seiner statt wähle.«
Betretene Stille trat ein, die Callia bis in ihr Innerstes fühlte. Sie kannte sich leider sehr gut mit Dominanz aus, damit, was es bedeutete, von Patéres kontrolliert zu werden. Und nach geltendem Recht gab es sehr wenig, was eine Gynaíka tun konnte, außer zu gehorchen. Im Stillen verfluchte sie ihre patriarchalische Gesellschaft, in der Frauen die Chance hatten, zu werden, was sie wollten, solange der Mann, dem sie unterstanden, zustimmte.
Isadora hob weder den Kopf, noch sah sie ihren Vater oder ihre Schwester an. Callia und Isadora hatten einander zwar nie nahegestanden, aber ein Teil von Callia fühlte mit der Prinzessin. Jener Teil, den sie ungern zur Kenntnis nahm, geschweige denn zu Wort kommen ließ.
Da es ihr an Familiendrama reichte, packte Callia ihre restlichen Sachen zusammen und klappte ihren Arztkoffer zu. Als Privatheilerin des Königs verbrachte sie in letzter Zeit viele Stunden hier, linderte und behandelte seine Leiden, doch sie genoss es kein bisschen. Vor allem nicht, wenn sich, wie jetzt, Kopfschmerzen ankündigten. Und bei jedem Besuch in der Burg bestand die Gefahr, einem Argonauten in die Arme zu laufen. Was sie um jeden Preis vermeiden wollte. »Ich komme morgen früh wieder, um nach Euch zu sehen.«
Seine knorrige Hand schnellte vor und ergriff ihren Arm, bevor sie auch nur einen Schritt machen konnte. Selbst mit 684 Jahren und einem Körper, der schließlich dem Alter erlag, war er immer noch stark. Stärker als die meisten anderen. »Ich will, dass du bleibst.«
Ein Angstschauer lief ihr über den Rücken. »Das ist nicht nötig, Hoheit. Und auf mich wartet Arbeit in der Klinik. Ich muss dringend zurück.«
»Bis Vollmond ist es nur noch eine Woche. Nachdem ich den Argonauten meinen Beschluss mitgeteilt habe, musst du prüfen, ob mein Wahlkandidat bei bester körperlicher Verfassung ist. Ich brauche die Gewissheit, dass er sofort einen Erben zeugen kann. Die Untersuchung wirst du in meinem Studierzimmer vornehmen.«
Callia sah zu Isadora, die ihren Kopf noch tiefer neigte, falls das überhaupt möglich war. Es musste herrlich sein, als bloße Brutmaschine betrachtet zu werden!
Doch, gütige Götter, Callia hatte wahrlich andere Sorgen. Der König wollte eine Untersuchung, an einem Argonauten seiner Wahl, heute. Ihr fielen tausend andere Foltermethoden ein, die sie dieser vorgezogen hätte. »Ähm, ich bin sicher, ein anderes Mal wäre …«
»Das ist keine Bitte«, fiel er ihr schroff ins Wort und ließ sie los. »Althea!«
Seine Dienerin kam ins Zimmer geeilt und verneigte sich. »Ja, Euer Majestät?«
»Hol mir Demetrius. Er leitet die Wachen am Portal, wo er die neuen Rekruten ausbildet. Ich will ihn und die anderen Argonauten in einer Stunde hier versammelt haben.«
Altheas Augen weiteten sich im selben Moment, in dem ein Stich durch Callias Brust schoss. »Alle, Euer Majestät?«
Er wischte die Frage mit einer Handbewegung fort. »Geh schon.«
»Ähm, Hoheit«, begann Callia, als Althea aus dem Zimmer lief. »Ich denke wirklich …«
»Isadora«, sagte er, ohne auf Callia zu achten, »bring Callia in mein Schreibzimmer und sorge dafür, dass sie sämtliche Instrumente und Sonstiges hat, was sie für die Untersuchung braucht. Ich möchte, dass ihr beide wieder herkommt, sobald die Argonauten da sind.«
Isadora bemühte sich gar nicht erst, ihm zu widersprechen, drehte sich wortlos zur Tür und huschte auf ihren weichen Seidenschuhen hinaus. Callia seufzte resigniert. Ihr blieb keine andere Wahl, als der Prinzessin zu folgen.
»Acacia.« Der König wandte sich seiner anderen Tochter zu. »Such deinen Ehemann und lass ihn seine Wächter von ihrer Patrouille zurückrufen, egal, wo sie sind. Und keine Ausflüchte. Ich will sie hier, ausnahmslos. Ist das klar?«
Die Arme vor der Brust verschränkt, runzelte Casey die Stirn und trat näher an sein Bett. Nicht nur war sie mit ihrer ärmellosen weißen Bluse und der schwarzen Hose vollkommen anders gekleidet als Isadora; im Gegensatz zu ihrer Schwester hatte Casey auch keinerlei Hemmungen, ihn in seine Schranken zu verweisen. »Oh ja, ich werde zu Theron gehen und ihm genauestens berichten, was du vorhast, keine Bange.« Als sie glaubte, nahe genug zu sein, dass er sie einigermaßen erkennen konnte, tippte sie sich an den Kopf. »Das geht nach hinten los, wie dir hoffentlich bewusst ist.«
Der König schnaubte verächtlich und blickte stur geradeaus.
»Ja, wird es«, bekräftigte sie, beugte sich hinunter und küsste ihn auf die faltige Wange. »Glaub mir, Dad, Isadora wird nicht ruhig dasitzen und dich über ihr Leben bestimmen lassen.«
»Doch, wird sie«, murmelte er. »Weil sie nicht so ist wie du.«
Casey richtete sich wieder auf, und obwohl sie unverkennbar in Rage über das war, was mit ihrer Schwester angestellt wurde, sah Callia in den Zügen des Halbbluts auch Mitgefühl mit dem lange verloren geglaubten Vater. Ein Mitgefühl, von dem Callia wünschte, sie könnte es für ihren eigenen Vater empfinden.
»Du hast recht«, sagte Casey. »Ist sie nicht. Sie ist stärker als ich, stärker als wir alle. Und schon bald wirst auch du das erkennen. Wie jeder andere.«
Der König antwortete nicht. Weder als Casey sich abwandte und hinausging, noch als Callia ihre Tasche aufnahm und ihr folgte. Doch als sie an der Schwelle war, meinte Callia beinahe sicher, den alten Ándras murmeln zu hören, »Ich hoffe, du hast recht. Und um unser aller willen hoffe ich, dass sie endlich beweist, wie unrecht ich habe.«
Zander war blutig und zerschunden. Ein Hieb in die Nieren zwang ihn beinahe in die Knie zu gehen, doch er fiel nicht. Wenn überhaupt, stählte die Wunde nur seine Entschlossenheit. Schwungvoll drehte er sich zu dem Dämon um und versenkte sein Parazonium tief in der Brust des Gottlosen. »Nimm dies, du elendes Stück Dreck!«
Die Bestie brüllte und kippte nach hinten. Mit einem schmatzenden Geräusch glitt die Klinge aus seiner Brust. Doch ehe Zander seitlich ausholen und das Monster enthaupten konnte, auf dass seine Seele für immer gen Hades fuhr, stürzte sich von hinten ein anderer Dämon auf ihn und versenkte seine Zähne tief in Zanders Schulter.
Er schrie auf, als ihm der Schmerz bis in den Schädel fuhr, schaffte es jedoch, das Ungeheuer abzuwerfen. Alles färbte sich rot, als er um sich trat, ausschlug und seinen Dolch nach links und rechts hieb. Blut spritzte, traf ihn in die Augen, lief ihm über die Wangen. Sein Rücken tat weh, seine Lunge brannte, und seine Schulter stand nachgerade in Flammen, wo die Bestie ihm durch die Jacke die Haut zerbissen und Muskeln zerrissen hatte. Trotzdem gab er weder auf, noch rief er nach Hilfe. Dies hier war genau, was er wollte. Adrenalin pumpte durch seine Adern, befeuert von Jahren aufgestauter Wut, und verlieh ihm die Kraft, immer wieder zum Schlag auszuholen, bis ein weiterer Dämon erledigt war. »Kommt schon!«, schrie er. »Ist das alles, was ihr zu bieten habt?«
Die zwei, die er Sekunden zuvor niedergeschlagen hatte, griffen aus einem anderen Winkel erneut an. Pfeifend schwang er seine Klinge, um die beiden abzuwehren. Dabei entging ihm nicht, dass die anderen sich für die nächste Runde bereitmachten. Er hielt sich gut, doch diesen Kampf konnte er nicht gewinnen; nicht allein gegen sechs.
»Zander! Wir müssen gehen. Sofort!« Titus sprang mitten ins Getümmel, sein Schwert durch Fleisch und Knochen treibend, und dezimierte die Angreifer. Zander hörte Schreie und Kreischen, Ächzen und klatschende Fausthiebe auf Haut. Verdammt, ihm blieben nur Sekunden, bis Titus diese Schlacht für sie entschied, und noch war er nicht ausreichend verwundet.
Zorn regte sich tief in seiner Brust – wie so oft. Und dann fiel es ihm ein, als er gerade zwei weitere hässliche Kreaturen niedermetzelte. Die Lösung war so einfach.
Hör auf zu kämpfen.
Titus konnte sich selbst schützen. Auf diesem Berg gab es keine Halbblute zu schützen, niemanden, den sie in Sicherheit bringen mussten. Falls es brenzlig wurde, konnte Titus ein Portal öffnen und sich zurück nach Argolea retten. warum also kämpfte Zander hier, wenn er doch die Chance hatte, es ein für alle Mal zu beenden?
Ehe er es sich anders überlegen konnte, ließ er seine Waffe fallen, stellte sich gerade hin und sah die drei Dämonen an, die ihn umringten. Sie wirkten genauso benommen und blutig vom Kampf, wie Zander sich fühlte, waren indes noch lange nicht fertig. Jeder von ihnen verfügte über die Kraft von zehn Männern, und sie strahlten eine Bösartigkeit aus, die keinerlei Zweifel daran zuließ, dass sie ihn töten würden.
Ja, genau wie er es wollte.
Zander breitete die Arme aus und schloss die Augen. Schweiß lief ihm über die Stirn, vermischte sich mit dem Blut und anderem auf seinem Gesicht, über das er lieber nicht nachdenken wollte. Stattdessen klärte er seinen Geist und dachte an … nichts. Köstliche Leere war alles, was er sich noch wünschte.
»Du verfluchter Scheißkerl!«
Jemand rammte in ihn hinein und warf ihn um, wobei er mit dem Kopf gegen Fels schlug. Als er jedoch seine Augen öffnete, erkannte er, dass nicht etwa ein Dämon auf ihm lag, sondern Titus.
Die Augen des Argonauten sprühten Funken. Hinter ihm knurrten die Dämonen.
»Du Arsch, runter von mir!«, schimpfte Zander und wehrte sich gegen ihn, während ein vertrauter, unkontrollierbarer Drang in ihm wütete. Was hatte Titus denn vor?
»Dich retten, du Hurensohn.«
Bevor Zander begriff, dass Titus wieder einmal seine Gedanken gelesen hatte, legte der Argonaut seine Unterarme zwischen ihnen beiden zusammen. Nun drückten Titus’ Ellbogen in Zanders Rippen, doch was machte das schon? Wichtig war einzig, dass Titus seinen Plan durchkreuzte.
»Nein!«
Titus hatte die Hände zusammengelegt, und jene Zeichnungen, die von seinen Unterarmen bis hinunter zu den Fingern verliefen, begannen zu leuchten. Ein Blitz zuckte, als sich das Portal öffnete. Dann fühlte Zander nur noch Luft, als sie beide durch den Raum gewirbelt wurden.
Er landete rücklings auf hartem, kaltem Stein und wusste auch ohne hinzusehen, dass sie im Torhaus waren, dem Eingang von Argolea. Seine unsanfte Landung allerdings bescherte ihm keine Sterne vor den Augen; die verdankte er dem mächtigen rechten Haken, den er kassierte.
»Du gottverdammter Hurensohn!« Titus schlug ihn abermals, fest genug, dass es ihm vorkam, als klapperte seine Schädeldecke.
»Titus! Das reicht!«
Titus wurde mit einem Knurren von ihm weggerissen. Wie aus der Ferne nahm Zander Stimmen wahr, Therons und Demetrius’, sowie noch weitere Flüche, meistenteils von Titus. Dann lachte Gryphon ihm ins Ohr. »Gut gemacht, Z. Was hast du getan, das ihn derart in Rage bringt?«
Ach, egal! War es nicht wieder typisch, dass ausgerechnet jetzt alle Argonauten im Torhaus versammelt waren?
Starke Arme hakten ihn unter, und ein schneidender Schmerz jagte durch seinen linken Arm, als Gryphon ihn aufsetzte, doch Zander schüttelte ihn einfach ab. Als er die Lider hob und sich in der großen Halle mit dem hohen Deckengewölbe umschaute, sah er Demetrius, der Titus mit eisernem Griff zurückhielt, und Theron, der auf den aufgebrachten Argonauten einredete.
Das Portal glühte und schloss sich hinter ihnen. Titus blickte an Therons massigen Schultern vorbei zu Zander und versuchte, sich Demetrius zu entwinden.
Zander wies Gryphons Hilfe ab und stand auf. Wut brodelte in ihm, zerrte an seiner Selbstbeherrschung. Zum Hades mit allem. Zum Hades mit Titus, mit diesem verdammten Krieg und seinem unendlichen Leben. Zum Hades mit all den Argonauten und ihren ewigen Einmischungen.
»Wegen deiner beknackten Todessehnsucht wäre ich um ein Haar aufgefressen worden!«, brüllte Titus.
»Sei nicht so eine Memme«, konterte Zander, der das Gefühl hatte, seine Schulter wäre gebrochen; ein oder zwei Rippen ebenfalls; und er hatte recht viel Blut verloren, aber leider spürte er gleichzeitig, dass sein Körper bereits zu heilen begann. »Du kannst deinen erbärmlichen Hals doch jederzeit mit diesem Lichterspektakel retten, das du eben veranstaltet hast.«
»Genug!« Zorn loderte in Titus’ Augen auf, dann riss er sich von Demetrius los. »Dafür fordere ich deinen Kopf, du kranker Vollidiot.«
Zanders Adrenalin pulsierte in freudiger Erwartung eines neuerlichen Kampfes. Und die Wut, die er so sorgsam einzudämmen bemüht war, kochte über. Er streckte beide Arme zur Seite. »Nur zu, Arschloch.«
Titus bewegte sich blitzschnell und war fast auf Zander, ehe Theron ihn von hinten packen konnte. »Ich sagte, es reicht!«
Der Anführer der Argonauten schleuderte Titus durch den Saal, als wöge er nichts. Titus krachte mit einem unschönen Knacken von Stein und Knochen gegen eine Säule ein Stück entfernt, rutschte an dem glatten Marmor hinunter und blieb liegen.
»Memme«, murmelte Zander. »Mehr kannst du nicht bieten?«
»Du!« Theron drehte sich zu Zander. »Nach dem, was du getan hast, sollte ich dich von ihm in Grund und Boden prügeln lassen.«
Oh ja, der großmäulige Titus hatte längst alles ausgeplaudert. »Dann lass ihn doch«, sagte Zander bissig.
Theron stellte sich dicht vor Zander, und obgleich Zander nichts abhalten konnte, Titus in Rage zu bringen, war er doch hinreichend bei Verstand, es bei Theron lieber nicht zu tun. Als direkter Nachfahre von Herakles, dem größten aller Helden, war Theron stark genug, Zander sämtliche Gliedmaßen einzeln auszureißen und ihm Pein zu bereiten, wie er sie nie gelitten hatte – mit einer einzigen Ausnahme.
»Reiß dich besser am Riemen«, warnte Theron ihn so leise, dass Zander ihn kaum hören konnte. Was beabsichtigt war. »Finde jemanden, für den es sich zu leben lohnt, oder trenn dich für immer von den Argonauten. Denn ich erlaube nicht, dass einer meiner Wächter in Gefahr gebracht wird. Haben wir uns verstanden?«
In Zanders Brust herrschte plötzlich Eiseskälte. Die Argonauten verlassen? Ausgeschlossen. »Ja, haben wir.«
Theron blickte auf. Hinter ihm öffnete sich das Portal sirrend ein weiteres Mal. Cerek und Phineaus kamen hindurch, Schneeflocken hafteten ihnen im Haar und an den Schultern. Die beiden blickten verwundert in die Runde.
»Das hoffe ich«, sagte Theron. »Es ist mir ernst, Zander. Jede Loyalität hat ihre Grenzen, und wenn ich muss, werde ich deinen Ausschluss durchfechten.«
Einen Argonauten aus der Truppe auszuschließen war kein einfacher Vorgang. Er bedurfte der Zustimmung des Königs, des Rates und bedeutete gewaltige Mengen Papierkram, an den Zander nicht einmal denken wollte. Vor allem aber kam ein Ausschluss einem Todesurteil gleich, verlor der Betreffende doch nicht bloß seine Arbeit, sondern seine Identität.
Was nicht einmal das Schlimmste wäre, wie Zander erst jetzt aufging, als er seinen Anführer ansah. War er kein Argonaut mehr, durfte er auch nicht mehr durch das Portal in die Menschenwelt und verlor damit den einzigen Lichtblick in seinem gottverdammten Leben.
»So weit wird es nicht kommen.«
Theron bedachte ihn mit einem strengen Blick, bevor er sich an die übrigen Argonauten wandte. »Der König hat eine Versammlung einberufen.« Er sah zu Titus, der sich wieder aufgerappelt hatte und den Putz und Staub von seinen Kleidern klopfte. »Ihr habt fünfzehn Minuten, euch frischzumachen und zur Burg zu kommen.« Wieder zu Zander gewandt, fügte er hinzu: »Und die Zeitvorgabe ist nicht verhandelbar.« Mit diesen Worten stampfte aus dem Torhaus – 280 Pfund äußerst gereizter Argonaut.
Angespannte Stille trat ein. Der Erste, der nach ihm ging, war Demetrius; ihn hatten die anderen noch nie gekümmert. Als Nächstes folgten Cerek, Gryphon und Phineus, so dass am Ende wieder Zander mit Titus allein blieb.
Und nun, da sich sein Zorn gelegt hatte, war es wohl oder übel an ihm, das Eis zu brechen, nur wusste er nicht, was er sagen sollte. Entschuldigungen waren noch nie seine Stärke gewesen, nicht einmal wenn er einsah, dass er sich wie ein totaler Idiot aufgeführt hatte.
Mit polternden Schritten durchquerte Titus den Saal Richtung Ausgang.
»Warte, T.«
»Lass es gut sein, Zander. Ich bin nicht in der Stimmung für deinen Blödsinn. Wir alle, auch ich, tragen unsere eigene Hölle in uns, mit der wir fertig werden müssen. Aber das ist dir bislang nicht in den Sinn gekommen, nicht wahr? Du denkst nur an dich selbst.«
Als er allein war, stieß Zander einen langen Seufzer aus. Die Portalwachen hatten ihm den Rücken zugekehrt und bemühten sich, nicht auf ihn zu achten. Was nicht weiter verwunderlich war. Inzwischen dürfte sich der kleine Tumult bis zum Rat herumgesprochen haben, was Zander indes einen feuchten Dreck scherte. Letztlich entschied der König, was mit den Argonauten geschah, nicht der Rat. So war es immer gewesen, und so würde es immer sein.
Nach wie vor nicht willens, sich zu den anderen zu gesellen, lungerte Zander im Torhaus herum, dessen klobige Marmorarchitektur mit den hohen Säulen zu beiden Seiten dem Hermestempel von Arkadien nachempfunden war. In der Mitte befand sich das Portal, jene Schwelle zwischen zwei Welten, umrahmt von festem Stein. Zanders Blick fiel auf die Worte, die in den Stein gemeißelt waren und die er Tausende Male gelesen hatte, ohne sie je wirklich aufzunehmen.
Dies ist die Grenze zwischen den Welten, bewacht von dieser Seite, durch heiliges Land geschützt von der anderen. Wer sie überschreitet, tut dies auf eigene Gefahr. Doch seid gewarnt vor der Passage, lädt sie doch die Überbringer von Albträumen, die Hüter des Wahns im steten Fluss von Licht und Schatten ein. Und immerfort lauert euch der Dieb an der Pforte auf, der den unsterblichen Göttern dient.
Lief nicht alles auf sie hinaus: die verdammten Götter und deren Unsterblichkeit? Auf das, was Zander besaß, aber gar nicht wollte? Der Gang durchs Portal bereitete ihm nie Sorge, weil er wusste, dass er immer wieder zurückkam. Andere hingegen nicht. Solche wie Titus. Jedes Mal, wenn seine Gefährten die Schwelle übertraten, setzten sie ihr Leben aufs Spiel, und dennoch taten sie es ohne zu zögern, um ihrer Art willen.
Ein bleiernes Gewicht drückte ihm auf die Brust. Ja, Theron mochte recht haben. Vielleicht sollte Zander sich zusammennehmen und aufhören, die anderen mit seiner finsteren Dauerstimmung zu bedrücken. Dann war er eben alt und sein Leben die Pest, na und? Schließlich ging es ihm nicht erst seit gestern so. Wie es aussah, war der Tod jedenfalls keine Option, und von den Argonauten ausgeschlossen zu werden, war das Letzte, was er wollte. Folglich musste er etwas finden, wofür es sich zu leben lohnte, und das schnell – bevor Theron seine Warnung wahrmachte und ihn für alle Zeiten rauswarf.
Das Problem war nur, dass ihm beim besten Willen nicht einfiel, was das sein könnte.
Callia blickte sich im königlichen Studierzimmer um. Sämtliche Wände waren von Bücherregalen eingenommen, die vergoldete Decke mindestens drei normale Stockwerke hoch. Hinter dem antiken Schreibtisch, der bis auf eine Lampe in der rechten vorderen Ecke leer war, gewährten große Erkerfenster freie Sicht auf weiche grüne Hügel und einen schimmernden See in weiter Ferne.
Der Raum roch nach Tabak und Leder, war angenehm gewärmt und verfügte über eine hübsche Sitzgruppe aus drei Ledersofas vor dem großen Kamin, die einluden, in ihnen zu versinken. Callia wusste, wie herrlich sie waren, seit sie einmal nachts in einem von ihnen versunken war. Damals hatte die ganze Burg geschlafen, und Callia war nicht allein gewesen. Heute trübte nichts ihre Stimmung so verlässlich wie die Erinnerung an jene Stunden.
»Brauchst du sonst noch etwas?«, fragte Isadora, auf deren Frage hin Callia sich erschrocken umdrehte. Die Prinzessin stand in der Tür. Ein seltsamer Ausdruck lag auf ihrem Gesicht, als fürchtete sie sich, den Boden mit dem königlichen Siegel zu betreten.
Es ist reine Routine. Du bist schon Tausende Male hier gewesen, und es macht keinen Unterschied, dass du diesmal einen Argonauten vor dir haben wirst. »Nein, es müsste alles bestens sein.«
»Na schön, dann sollten wir zurückgehen.« Doch Isadora machte keinerlei Anstalten, sich zu rühren, und ihre Augen wirkten beinahe gefühllos, als widerstrebte ihr nichts so sehr wie zurückzugehen.
Schwankend zwischen dem Wissen, dass es sie nichts anging, und der Gewissheit, dass sie es bereuen würde, sollte sie den Mund halten, platzte Callia heraus: »Weigere dich, Isadora.«
Langsam blickten Isadoras braune Augen zu ihr auf, und Callia stockte der Atem. Nein, sie wirkten keineswegs emotionslos. Vielmehr sahen sie tot aus, als hätte Isadora jedwede Hoffnung aufgegeben.
»Es würde nichts nützen.«
»Doch, würde es«, widersprach Callia, die nicht sicher war, warum sie der Prinzessin so dringend helfen wollte. »Wehr dich. Beweise ihm, dass er im Unrecht ist, dass sie es alle sind.«
Isadora verzog keine Miene, und in Callia regte sich ein ungutes Gefühl. Was war mit der Prinzessin passiert? So dürfte sie nicht sein, nur weil ihr Vater sie bevormundete.
»Halte dich aus Dingen heraus, die dich nichts angehen.«
Ohne eine Antwort von Callia abzuwarten, drehte sie sich um und ging. Callia war für einen Moment sprachlos. Aber wahrscheinlich hatte die Prinzessin recht. Es ging sie nichts an. Ja, sie hatte Mitleid mit der Gynaíka, aber im Grunde war es närrisch, sich um jemand anderen zu Sorgen, hatte Callia doch sehr viel größere Probleme.
Also stellte sie ihre Tasche ab und folgte Isadora zurück in die Gemächer des Königs, dankbar, dass wenigstens vorübergehend das Summen in ihrem Kopf nachließ. Sie schafften es bis zur großen Treppe, dann wurde Callia von Stimmen gestoppt, die von unten heraufdrangen.
Männliche Stimmen. Alle von ihnen, wie der König befohlen hatte. Callias Magen machte eine Umdrehung, und Schweiß brach ihr aus, obwohl sie sich auf diesen Moment vorbereitet hatte, seit der König seinen Befehl erließ.
Theron führte die Gruppe an und verneigte sich rasch, als er die beiden oben an der Treppe im dritten Stock sah. »Isadora, Callia.« Seine dunklen Augen hielten bei Callia inne. »Wie geht es dem König heute?«
»Er hält sich.« Sie versuchte, sich auf seine Gesichtszüge zu konzentrieren, aber der Argonaut war riesig: über zwei Meter pure Muskelmasse, breite Schultern und Beine wie Baumstämme. Allein war er schon furchteinflößend, doch in Begleitung fünf weiterer Argonauten, die allesamt so groß und imposant waren wie er? Es war wie die Vorhut einer Flutwelle, die Callia zu ertränken drohte.
»Das ist gut«, sagte Theron. »Ich nehme an, er ist bereit, uns zu empfangen?«
Sie hätte geantwortet, wirklich, das hätte sie. Nur leider wanderten ihre Augen von selbst suchend die Gruppe hinter ihm ab, huschten über Demetrius und die anderen hinweg, bis sie am Ende Zander fanden. Er bildete den Schluss der Gruppe, drehte sich unten an der Treppe um und kam auf sie zu.
Okay, sich geistig auf die Situation vorzubereiten und tatsächlich im selben Raum mit ihm zu sein, waren definitiv zwei verschiedene Dinge. Sie holte erschrocken Luft, obwohl sie sich so fest vorgenommen hatte, genau so nicht zu reagieren. Aber es war nicht bloß er, der diese Reaktion hervorrief – zumindest redete sie sich das ein – es war das, was mit ihm geschehen war.
Sein Gesicht war auf der einen Seite von den Schläfen bis zum Kinn grün und blau geschlagen, und unzählige Schnitte und Schürfungen verunstalteten seine sonnengebräunte Haut. Während sein blondes Haar feucht und zurückgestrichen war, als hätte er sich eben erst Wasser ins Gesicht gespritzt, und sein weißes Hemd sauber und frisch gebügelt war, ließ sich nicht verkennen, welche Schmerzen er litt. Zudem hing sein linker Arm in einem merkwürdigen Winkel an ihm herunter.
Offenbar war er in der Menschenwelt gewesen, hatte gegen Dämonen gekämpft, wie es ihm von klein auf beigebracht worden war. Trotzdem schlug Callias Herz schneller vor Angst um ihn, wie immer, wenn sie daran dachte, was ihm alles widerfahren könnte.
Was natürlich komplett idiotisch war, denn ihn kümmerte nichts so wenig wie der Gedanke, was ihm zustoßen mochte.
»Callia?«
Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass Theron sie ansprach, und rasch sah sie wieder den Anführer der Argonauten an, der sie interessiert beäugte. Auf einmal bemerkte sie, dass auch die anderen sie komisch anguckten und sogar Isadora ihre Hände rang, verwundert ob der Szene.
»J-ja?«
»Der König?«, fragte Theron mit hochgezogenen Brauen.
»Oh, ja, stimmt.« Sie verdrängte die Flut von Gefühlen, welche Begegnungen mit Zander immer wieder lostraten, denn darin war sie im Laufe der Jahre richtig gut geworden, und wandte sich zu den Gemächern des Königs. »Er erwartet euch.«
Ihre Anspannung ließ nach, als die Männer ins Zimmer gingen, nur das verdammte Summen in ihrem Kopf nahm wieder zu.
Althea, die dem König geholfen hatte, sich mit Hilfe eines Kissenbergs halb aufzusetzen, huschte aus dem Raum, sowie sie die Argonauten sah, während sich Casey, die am Fenster stand, zu ihnen umdrehte. Callia bedauerte, kein Lavendel gegen ihren pochenden Kopf dabeizuhaben, und nahm ihren Platz in der hinteren Ecke ein, nahe genug beim König, falls er sie brauchte, und zugleich in angemessenem Abstand zu den anderen. Ihr entging Caseys warmes Lächeln beim Anblick ihres frisch angetrauten Ehemannes ebenso wenig wie das Aufleuchten in Therons Augen.
»Meli.« Theron schritt auf die Halbbluttochter des Königs zu, küsste sie auf Wange und Schläfe und wechselte leise einige Worte mit ihr. Während mehr und mehr Leute in den Raum kamen, verwandelte sich der furchteinflößende, finstere Theron in einen wirklich gut aussehenden Mann – eine Wandlung, die allein durch den Umstand bewirkt wurde, dass er Casey anlächelte und sie in seine Arme nahm.
Beim Anblick der beiden tat sich eine schmerzliche Leere in Callias Brust auf. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, gar nicht lange her, da war sie von derselben überwältigenden, elektrisierenden Emotion beherrscht gewesen. Ihr Blick wanderte über die Gruppe hinweg zu Isadora, die an der Wand lehnte, gleichfalls in einigem Abstand zu den anderen und weit entfernt von jenem Glück, das ihre Schwester gefunden hatte. Dann sah sie wieder zu Zander, der sich dicht an der Tür postiert hatte, auf dass er bei der erstbesten Gelegenheit die Flucht ergreifen konnte.
Ja, dieses Gefühl kannte Callia nur zu gut. Ihr ging es nicht anders, wann immer sie ihm begegnete. Wut regte sich in ihr, weil er seinen Blick auf alles andere richtete, bloß nicht auf sie. Einiges von dem Bart, den er letztes Mal noch trug, hatte er mittlerweile abrasiert, und selbst grün und blau geprügelt, hatte er größere Ähnlichkeit mit Adonis als sein Vorfahr Achilles: bronzefarbener Teint, blondes Haar, muskulös und wunderschön. Er war der Älteste der Argonauten, der einzige, von dem das Gerücht ging, er wäre unsterblich. Und der einzige, von dem Callia einmal dummerweise geglaubt hatte, sie würde ihr Leben mit ihm verbringen.
»Ich will keine Umschweife machen«, begann der König und riss Callia aus ihren düsteren Gedanken. Seine Stimme war von der Krankheit geschwächt, aber fest. »Eine Einigung mit dem Rat scheint zusehends unmöglicher. Zwar haben sie bislang noch nicht offen gedroht, aber es ist durchgesickert, dass sie sich bereitmachen, in dem Moment zuzuschlagen, in dem ich hinscheide. Theron und ich mögen in jüngster Zeit manche Meinungsverschiedenheit gehabt haben.« Er neigte den Kopf in die Richtung, aus der er zuletzt Therons Stimme gehört hatte. »Doch wir beide stimmen überein, dass die Zukunft der Argonauten nicht in den Händen des Rats liegen darf. Lucian macht keinen Hehl daraus, dass er die Argonauten durch die Portalwachen ersetzen will. Ich muss euch gewiss nicht erklären, dass dies unseren Untergang bedeuten würde.«
Er musste pausieren, um zu verschnaufen. Theron senkte den Kopf und konzentrierte sich auf Caseys Hand in seiner, als wüsste er, was nun käme, und wollte es lieber nicht hören.
»So glücklich ich bin, dass Theron eine meiner Töchter geheiratet hat, macht diese Verbindung unsere Monarchie nicht weniger angreifbar für den intriganten Rat. Ich sehe keine andere Möglichkeit, als bei dem ursprünglichen Plan zu bleiben. Theron und ich sind uns einig, dass Isadora sich vermählen muss …«
»Du wusstest das?« Casey sah ihren Ehemann empört an.
»Schh, Meli«, sagte Theron und tätschelte ihre Hand.
»… und zwar mit einem der Argonauten«, fuhr der König fort, was Casey nicht zu beschwichtigen schien. Wütend sah sie zu ihrem Vater. Zum Glück bemerkte der König ihre Reaktion nicht. Genauso wenig wie er mitbekam, dass sich sämtliche Argonautenschultern anspannten. »Wir konnten uns leider nicht einigen, welcher von ihnen es sein soll. Doch als König fällt mir diese Entscheidung zu.«
Er holte Luft und schien einige Zentimeter zu wachsen, so dass er auf einmal wieder die majestätische Ausstrahlung bekam, die er ehedem besaß. Selbst auf dem Totenbett verkörperte dieser Mann Autorität. »Da Jasons Linie die zweitstärkste unter den Argonauten ist, fällt die Verantwortung an dich, Demetrius.«
Es wurde sehr still, und sämtliche Augen richteten sich auf Demetrius, der recht weit hinten in der Gruppe stand, eine Schulter an die Wand gelehnt, und dem Geschehen nur begrenzte Aufmerksamkeit schenkte.
Offenbar begriff er erst, was der König gesagt hatte, als ihm bewusst wurde, dass alle ihn ansahen. Blankes Entsetzen spiegelte sich in seiner Miene, bevor er die verschränkten Arme löste und sich von der Wand abstemmte. Mit zwei Metern zehn war er der Größte unter den Argonauten, und seine tiefliegenden Augen, die Callia oft seelenlos vorkamen, verfinsterten sich, als er den König anblickte. »Kommt nicht infrage.«
»Demetrius«, warnte Theron ihn leise, ließ Caseys Hand los und richtete sich ebenfalls zu voller Größe auf.
»Ich werde es nicht tun«, sagte Demetrius kopfschüttelnd, »und ihr könnte mich nicht zwingen. Keiner kann das.«
Festen Schrittes durchquerte Theron den Raum und baute sich vor dem riesigen Argonauten auf, der nun vor Verachtung und Zorn bebte. Callia schluckte und fragte sich, ob die anderen Frauen dasselbe dachten wie sie, nämlich dass jeden Moment eine Prügelei ausbrechen würde, wenn nicht rasch etwas unternommen wurde.
»Demetrius, weggetreten.«
»Ich binde mich nicht an das«, knurrte Demetrius, wobei er über Therons Schulter hinweg zum König sah und mit dem Finger auf Isadora wies. »Und Ihr bringt mich nicht dazu.«
Theron sagte etwas, das Callia nicht hören konnte – im Gegensatz zu Demetrius’ Reaktion, die alle deutlich hörten. Vor allem Isadora, die in der Zimmerecke stand und noch mehr in sich zusammenschrumpfte.
»Werft mich aus der Argonautentruppe, wenn ihr wollt. Verbannt mich in die Menschenwelt, es ist mir gleich. Aber eines sage ich dir, Theron, ich werde das nicht heiraten! Eher sterbe ich.«
Theron klatschte eine Hand auf die Brust des Argonauten und stieß ihn nach hinten.
Oh nein, das war nicht gut, gar nicht gut.
Auf einmal redeten alle gleichzeitig: Casey, die auf die unübersehbar erschütterte Isadora zulief; Theron, der Demetrius für dessen verletzende Bemerkungen schalt; die anderen Argonauten, die sich gegenseitig Kommentare zu dem zuraunten, was hier geschah.
Der König hingegen blieb erstaunlicherweise stumm, bis eine Stimme hinten aus dem Raum rief: »Ich werde es tun.«
Und diese Stimme war Callia leider allzu vertraut.
»Wer hat das gesagt?«, fragte der König, der sich zu den Argonauten drehte, obwohl er sie nicht sehen konnte.
Abermals trat Stille ein, und alle wandten sich zur Tür um. Sogar Theron und Demetrius unterbrachen ihr Wortgefecht.
Ein Knoten bildete sich in Callias Bauch, als sich die Menge vor ihr teilte und sie Zander dort stehen sah, der den König mit einem Ausdruck vollendeter Resignation anstarrte.
Nein, er konnte unmöglich …
»Ich tue es«, wiederholte Zander ruhig. »Ich heirate Isadora.«
Okay, das war nicht die Reaktion, auf die Zander gehofft hatte.
Keiner sprach ein einziges Wort. Und, oh ja, er hätte sich wahrlich von jener Klippe stürzen sollen. Wenigstens wäre ihm dann diese nervenzerfetzende Stille erspart geblieben, von den entgeisterten Mienen seiner Gefährten ganz zu schweigen.
Er verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen, stemmte die Hände in die Hüften und wartete. Mit jeder Sekunde, die in angespannter Stille verging, wuchs sein Unbehagen. Schließlich brach er das Schweigen. »Na gut, ihr müsst mir nicht alle auf einmal danken.«
Theron blickte über seine Schulter hinweg zum König. »Wir brauchen einen Moment.«
Ehe Zander etwas entgegnen konnte, schob Theron ihn mit einer Wucht hinaus auf den Korridor, dass Zander beinahe umkippte. Der Anführer der Argonauten sprach erst wieder, als sie außer Hörweite waren; dann allerdings kannte er keine Zurückhaltung mehr.
»Was zum Henker machst du denn?«
Zander bereute sein Vorgehen schon, als er mit dem Rücken gegen die Wand stieß. Nicht dass er von Theron überschäumende Euphorie erwartet hätte, weil er sich wie ein ganzer Mann verhielt. Theron hatte allen Grund, misstrauisch zu sein. Dennoch wäre ein kleiner Dank wohl nicht zu viel verlangt.
»Ich helfe.«
»Das ist kein Witz, Zander.«
»Ich sehe auch niemanden lachen.«
»Warum zum Hades machst du dich über die Situation lustig?«
»Ich mache mich nicht …«
»Skata!« Theron fuhr sich mit der Hand durch sein schulterlanges Haar. »Ich bin schon so wütend auf Demetrius, dass ich nicht mehr klar denken kann. Es ist mir unerträglich mitanzusehen, wie Isadora genötigt wird, jemanden zu heiraten, doch es gibt keinen anderen Weg. Nicht, wenn wir den Rat aus den Argonautenangelegenheiten heraushalten und verhindern wollen, dass Atalanta nach Argolea kommt. Und da brauche ich nicht noch dich, der Öl ins Feuer kippt und alles verdirbt, wenn ich …«
»Ich gieße kein Öl ins Feuer, Theron. Es ist mir ernst. Ich heirate sie.«
»Ernst? Dir?«, fragte Theron ungläubig. »Das bezweifle ich. Dies hier ist keine Übung, bei der du dich freiwillig meldest, um wiedergutzumachen, was vorhin passiert ist. Oder um das Wohlwollen des Königs zurückzugewinnen. Eine Ehe mit Isadora würde nicht enden, sowie dir langweilig wird und du zu deinen menschlichen Frauen zurückkehrst. Sie wäre für immer. Die Zeremonie bindet beide …«
»Ein Leben lang, ja, das habe ich schon kapiert. Aber seien wir ehrlich, wir reden hier über ihre Lebensdauer, nicht meine.«
Theron war sprachlos, und Zander holte tief Luft. Ja, er konnte nicht mehr zurück, nicht nachdem er sich einmal angeboten hatte. Und ein Teil von ihm wollte es auch gar nicht. »Isadora hat wie lange, fünfhundert Jahre? Das ist eine lange Zeit, aber gemessen an meinem Leben? Wahrscheinlich nichts, und das weißt du auch.«
»Zander, du bist nicht …«
»Unsterblich? Lassen wir das. Uns beiden ist klar, dass du unrecht hast.« Er hatte nicht vor, sich von Theron umstimmen zu lassen. »Demetrius will es offenbar nicht, und du kannst ihn nicht zur Heirat zwingen, wenn er so vehement dagegen ist. Außerdem ist er unberechenbar. Der Mann würde ihr selbst an guten Tagen eine Todesangst einjagen. Was denkst du, das er mit ihr macht, wenn die zwei allein sind? Willst du, dass ihr für den Rest ihres Lebens elend ist, oder, schlimmer noch, dass sie sich dauernd vor dem fürchtet, was er ihr hinter verschlossenen Türen antun könnte?«
»Nein.« Theron verzog das Gesicht und blickte hinab auf seine Stiefel. Ihm widerstrebte die Vorstellung anscheinend ebenso wie Zander. »Selbstverständlich will ich das nicht. Demetrius ist der letzte Wächter, den ich für sie aussuchen würde, doch der König hört nicht auf mich.«
»Auch keiner der anderen will sie«, sagte Zander ruhig. »Das war ihnen deutlich anzusehen. Lass mich es übernehmen. Ich möchte es, und ich bin der Einzige, der nichts zu verlieren hat.«
»Zander«, begann Theron vorsichtig und sah Zander in die Augen, »falls du Isadora heiratest, opferst du eine große Chance.«
»Welche? Meine Seelenverwandte zu finden?«, höhnte Zander. »Die hatte ich bereits gefunden, Theron, vor Jahren. Nur wollte sie mich nicht.« Therons mitleidiger Ausdruck brachte Zander beinahe zum Lachen. Schließlich hatte er gelernt, den Schmerz tief in seiner Brust zu ignorieren. »Weißt du noch, Heras Fluch über den Argonauten, der seine Seelenverwandte findet und sie verliert, um fortan nichts als eine leere Hülle zu sein? Der ist kein Mythos, denn ich erlebe ihn am eigenen Leib. Vor ihr wusste ich gar nicht, dass mir etwas fehlte; seither aber ist es, als würde sich derselbe endlose Tag immerzu wiederholen, und ich bringe ihn einfach nicht hinter mich. Und weißt du noch was? Ich bin es gründlich leid.«
»Zander …«
Das Mitgefühl, das in Therons Stimme mitschwang, war zu viel des Guten. Ungeduldig wischte sich Zander über die Stirn. Wenn er das Gespräch nicht bald in andere Bahnen lenkte, würde er Theron am Ende den wirklich hässlichen Mist erzählen, der geschehen war, und das wollte er ganz gewiss nicht. Diese Dinge sollte er für sich behalten. Sie waren seine Sache.
»Hör zu, du hast mir gesagt, ich soll mir etwas suchen, für das es sich zu leben lohnt. Das versuche ich gerade.« Er nahm seine Hand herunter. »Das Einzige, was mir dieser Tage etwas bedeutet, ist das Kämpfen, was mir, falls ich so weitermache wie bisher, nicht lange bleiben wird. Keiner sonst will sich auf diese Heirat einlassen, und ich kann es. Also, sag Ja. Bewahre die anderen davor, ein Opfer zu bringen, dem sie, wie dir wohl bewusst ist, nicht gewachsen sind, und sag dem König, du würdest meine Vermählung mit Isadora unterstützen. Damit wäre die Geschichte vom Tisch.«
Theron betrachtete ihn so lange, dass Zander unsicher wurde, ob der Argonaut ihn gehört hatte. Sein Herz pochte schnell und hart, während er wartete. Sollte Theron ablehnen … Zander wusste nicht, was er dann tat. Ihm war, als hätte man ihm soeben eine Rettungsleine hingeworfen, etwas, das ihm Halt, einen Grund zum Leben gab und ihn aus dem ewig gleichen Einerlei erlöste. Und Theron allein hatte die Macht, diesen einen Funken Hoffnung, den Zander seit Jahren erblickte, zu zertrampeln.
Endlich sagte Theron: »Der König will Erben. Nur deshalb zwingt er Isadora diese Heirat auf.«
»Ist mir klar.«
»Und dazu bist du bereit?«
War er es? Das hieße, Sex mit einer Argoleanerin haben, nicht mit einer menschlichen Frau. »Muss ich wohl sein, oder?«
»Er würde dir untersagen, zu kämpfen. Der König nähme dich aus dem Dienst und würde dich verpflichten, Argolea nicht zu verlassen, ehe sie guter Hoffnung oder ein Erbe geboren ist.«
Das hatte Zander nicht bedacht. »Okay, ja, ich schätze, das ist nachvollziehbar.«
»Und dann wäre da die Frage deiner … Manneskraft. Du hast im Laufe der Jahre einiges an Prügel eingesteckt.«
Dies war Therons höfliche Art, Zander zu sagen, er könnte einen Tritt zu viel in die Eier abbekommen haben. Doch zumindest in diesem Punkt war Zander sich absolut sicher. Er lachte schnaubend. »Ich bin durchaus zeugungsfähig, keine Sorge.«
»Woher weißt du das?«
»Weil ich diese besondere Magie schon einmal gewirkt habe.«
Theron zog die Brauen zusammen. »Du hast ein Kind?«
Hatte wäre korrekter – oder hatte beinahe. Es versetzte ihm einen Stich. »Nicht mehr.«
»Skata. Zander …«
Nein, nur wurde dieses Gespräch entschieden zu vertraut für Zanders Geschmack. »Die warten auf uns. Sag Ja, Theron.«
Der Argonautenführer seufzte. Man sah ihm deutlich an, wie er mit sich rang. Er wusste besser als alle anderen, welches Opfer Zander brachte, war er doch der einzige andere, der seine Seelenverwandte gefunden hatte. Und offensichtlich genügte der Gedanke, er könnte Casey verlieren, ihn um den Verstand zu bringen. »Du kannst nicht mehr zurück. Sowie die Zeremonie stattgefunden hat, ist es endgültig, darf es keine andere außer ihr geben.«
»Ich weiß.«
»Bist du bereit, diese Verpflichtung Isadora gegenüber einzugehen? Obwohl sie noch … da ist?«
Zander dachte an die »Sie«, die Theron meinte, und fragte sich, wie der Argonaut reagieren würde, sollte er erfahren, dass die Betreffende sogar im Raum nebenan war. Dann dachte er an all die Jahre, die er sich gewünscht hatte, alles könnte anders sein, sie könnte sich anders entscheiden – für ihn und gegen ihren dominanten Vater. Oder dass er über ihren Verrat hinwegkommen und ihr verzeihen könnte. Aber er konnte es nicht. Jedes Mal, wenn er Callia ansah, nahm er weder ihre Schönheit noch die Macht wahr, die sie besaß, sondern sah nur, was sie getan hatte. Und die Erinnerung daran war heute so schmerzhaft wie am ersten Tag.
»Bin ich«, sagte er voller Überzeugung; wahrscheinlich sogar überzeugter, als es Theron verlangen würde. Andererseits galt seine Überzeugung auch weniger Theron. Vielmehr überzeugte er sich selbst von dem, was er vorhatte.
»Isadora wird niemals deine Seelenverwandte sein, Zander.«
»Und deshalb möchte ich die Bindung zu ihr eingehen.«
Theron wandte sich zur Tür um und rieb sich übers Gesicht, als wäre er erschöpft. Dann atmete er sehr langsam aus. »Na gut, meine Unterstützung hast du. Die Entscheidung liegt natürlich beim König.« Er sah zu Zander zurück, halb mitleidig, halb respektvoll, und es hatte etwas seltsam Beruhigendes. Dann legte er Zander eine Hand auf die Schulter. Die Argonautenzeichnungen, die uralten griechischen Zeichen, die sich über seine Arme bis zu den Fingern hinunter zogen, exakt wie bei Zander und den übrigen Argonauten. »Meine Hochachtung und mein Dank. Was du tust, tust du für uns alle. Ich werde es nicht vergessen. Keiner von uns.«
Das Gefühl, das sich in Zanders Brust regte, war ihm fremd. Es war keine Freude oder gar Glück, denn er war weder erfreut noch glücklich. Nein, dies war anders. Es war warm und wohltuend, und es breitete sich aus seinem Innern in seinen ganzen Körper aus.
Es war … Stolz, jetzt erkannte er es. Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit war er stolz, weil er etwas für andere tat, für seine Leute, zum Schutz ihres Lebens. Und es fühlte sich gut an. Verdammt gut, denn es bedeutete, dass er nicht mehr wie betäubt war.
Leider hatte er auf einmal einen peinlichen Kloß im Hals, so dass er nur nicken und Theron zurück in die königlichen Gemächer folgen konnte.
Drinnen verstummten erneut alle, sowie sie eintraten, und Zander beantwortete die erwartungsvollen Blicke seiner Gefährten mit einem angedeuteten Kopfnicken. Er sah jedoch nicht zu Callia, die unweit vom Bett des Königs stand. Das konnte er nicht; und er redete sich ein, dass es gut so war. Denn seine Vergangenheit mit ihr endete hier und jetzt. Seine Zukunft – für die nächsten fünfhundert Jahre mindestens – war der Gynaíka auf der anderen Seite des Raumes bestimmt. Der Frau, die er heiraten, mit der er das Bett teilen und die er schwängern würde, und zwar alles binnen der nächsten Woche.
Bei diesem Gedanken zog sich ihm der Magen zusammen, doch er hob den Kopf und ließ Theron das Notwendige übernehmen.
»Eure Hoheit«, sagte Theron, dessen tiefe, kräftige Stimme Zanders Schicksal besiegeln sollte, »ich empfehle Euch, Eure Wahl zu bedenken. Zander hat meine volle Unterstützung als der Wächter, der am besten geeignet ist, Isadora zu ehelichen.«
Keiner sprach ein Wort. Hinter sich konnte Zander Demetrius hören, der Atem holte und ihn anhielt. Ihm gegenüber waren Isadora und Callia, die ihn anstarrten. Der König runzelte die Stirn, überlegte offensichtlich, welche Möglichkeiten ihm blieben. Und er wirkte alles andere als ekstatisch.
Sag einfach Ja. Schweißperlen traten auf Zanders Stirn, als er abwartete. Ihm fiel die Unterhaltung wieder ein, die er vor Wochen mit dem König geführt hatte, als Theron im Begriff gewesen war, sich von den Argonauten zu verabschieden. Der König war sehr unerfreut darüber gewesen, dass Zander sich auf Therons Seite schlug. Und nun schien er noch viel unglücklicher. Sollte er Zander vorwerfen, was er an jenem Tag sagte …
Sag einfach Ja.
Die Spannung war schon unerträglich, da sprach der König endlich: »So sei es.«
Erst jetzt bemerkte Zander, dass auch er die Luft angehalten hatte, und er atmete aus, fast zeitgleich mit Demetrius, der hinter ihm stand.
»Die Bindungszeremonie von Zander und Prinzessin Isadora wird in sieben Tagen stattfinden«, verkündete der König. »Am Vorabend des Vollmonds. Ihr dürft gehen.«
Geschlossen wandten sich alle Argonauten zum Gehen. Um Zander herum waren lauter murmelnde Stimmen zu hören, von denen nur eine laut genug wurde, dass Zander sie verstand, und das war die von Demetrius: »Ich stehe in deiner Schuld, Z.«
Abermals empfand Zander diesen wohltuenden Stolz, obgleich ihm der Gedanke an das, was ihm bevorstand, wie ein Eisklotz auf sein Herz drückte.
Er tat das Richtige, das Einzige, was er konnte. Er bewahrte die anderen vor etwas, das sie nicht wollten, und rettete dabei hoffentlich auch einen kleinen Teil von sich.
Als er sich mit den anderen umwandte, rief der König nach ihm. »Zander!« Er drehte den Kopf zum Bett. »Enttäusche mich nicht, denn die Folgen wären fürchterlich.«
Und wieder jemand, der sich mit schlichter Dankbarkeit schwertat. Zander verneigte sich, um zu bedeuten, dass er den König gehört hatte, doch sein Stolz geriet ins Wanken.
»Ehe du wieder deinen Pflichten nachgehst«, fuhr der König fort, »findest du dich in meinem Studierzimmer ein, wo du einer gründlichen Untersuchung durch meine persönliche Heilerin unterzogen wirst. Solltest du die Überprüfung bestehen, wird die Bindungszeremonie wie geplant stattfinden. Falls nicht, wähle ich einen anderen Argonauten. Du kannst wegtreten.«
Zanders Blick fiel sogleich auf Callia, die den Boden anstarrte, als könnte er sie jeden Moment anspringen und beißen.
Bei allen Göttern des Olymp! Hatte er dieses Joch nicht auf sich genommen, um sie endgültig hinter sich zu lassen? Jedenfalls nicht, damit sie eine Gelegenheit bekam, seinen nackten Leib zu betatschen. Und, heiliger Hades, sein Blut wurde bei dieser Vorstellung nicht bloß warm. Noch viel weniger bei dem Gedanken, dass es ihre letzte Begegnung unter vier Augen sein könnte.
Callia wartete, solange sie konnte. Die Argonauten verließen den Raum, und auch Casey und Isadora gingen. Danach ließ Callia sich Zeit, den König richtig zu betten, schob den Moment auf, in dem sie mit Zander nach unten gehen musste.
Als er sich schließlich zur Tür wandte, schluckte sie. Oh, Götter! Er band sich an Isadora. In ihren wildesten Träumen hätte sie nicht damit gerechnet.
»Solltest du bei deiner Untersuchung etwas auch nur entfernt Bedenkliches entdecken, Callia«, sagte der König, »will ich es umgehend wissen. Hast du mich verstanden?«
Sie bejahte stumm, obwohl ihr nach Schreien zumute war. Zander band sich an eine andere; und nun musste sie mit ihm in jenes Zimmer gehen, ihn nackt sehen, ihn berühren, sich an alles erinnern, was sie miteinander getan hatten – und daran, was danach geschah.
Sie war so tief in Gedanken, dass sie gar nicht bemerkte, wie der König ihr Handgelenk umfasste. Erst als sie sich abwenden wollte und es nicht konnte, wurde ihr bewusst, dass sie festgehalten wurde. Sie sah den König an, dessen veilchenblaue Augen auf sie fixiert waren. Violette Augen, die sie unmöglich sehen konnten und sich dennoch auf sie richteten.