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Die Schatten der Vergangenheit
Nach 18 Jahren kehrt Samantha Parker in ihr Heimatstädtchen Hidden Falls zurück, um ihrer kranken Mutter beizustehen. Doch als diese unerwartet stirbt, hat Sam keine andere Wahl, als länger zu bleiben - obwohl sie nichts lieber will, als dem Ort den Rücken zu kehren, wo sie als junges Mädchen mitansehen musste, wie ihr Bruder ermordet wurde. Sie nimmt zähneknirschend einen Job als Lehrerin an. Dabei trifft sie auf den Kinderpsychologen Dr. Ethan McClane, mit dem sie zusammenarbeiten soll. Obwohl Sam ihm skeptisch gegenübersteht, kann sie sich dem Charme, den Ethan versprüht, nicht entziehen. Da geschehen immer seltsamere Unfälle, in die Sam verwickelt wird. Sie und Ethan beginnen nun, hinter Fassaden zuschauen - und bald wird offenbar, dass Geheimnisse ans Tageslicht drängen, die eigentlich verborgen hätten bleiben sollen. Und jemand schreckt nicht davor zurück, das zu verhindern. Wenn nötig mit tödlicher Gewalt ...
"Elisabeth Naughton erschafft Geschichten, die unwiderstehlich, spannend und definitiv unvorhersehbar sind! Ein absolutes Muss!" The Coffeeholic Bookworm
Auftakt der mitreißenden Deadly-Secrets-Reihe
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Seitenzahl: 479
ELISABETH NAUGHTON
Düstere Geheimnisse
Roman
Ins Deutsche übertragen von Michaela Link
Die Schatten der Vergangenheit
Nach 18 Jahren kehrt Samantha Parker in ihr Heimatstädtchen Hidden Falls zurück, um ihrer kranken Mutter beizustehen. Doch als diese unerwartet stirbt, hat Sam keine andere Wahl, als länger zu bleiben – obwohl sie nichts lieber will, als dem Ort den Rücken zu kehren, wo sie sie als junges Mädchen mitansehen musste, wie ihr Bruder ermordet wurde. Sie nimmt zähneknirschend einen Job als Lehrerin an. Dabei trifft sie auf den Kinderpsychologen Dr. Ethan McClane, mit dem sie zusammenarbeiten soll. Obwohl Sam ihm skeptisch gegenübersteht, kann sie sich dem Charme, den Ethan versprüht, nicht entziehen. Da geschehen immer seltsamere Unfälle, in die Sam verwickelt wird. Sie und Ethan beginnen nun, hinter Fassaden zuschauen – und bald wird offenbar, dass Geheimnisse ans Tageslicht drängen, die eigentlich verborgen hätten bleiben sollen. Und jemand schreckt nicht davor zurück, das zu verhindern. Wenn nötig mit tödlicher Gewalt …
Für Jane Droge,
eine Frau, die wirklich weiß, was unsterbliche Liebe bedeutet. Tante Jane, dein Glaube und deine Aufopferung sind eine Inspiration für uns alle.
Lauf ihm nach.
Angst trieb ihren Adrenalinspiegel in die Höhe. Ihr Puls schlug hart und schnell. Geh nach Hause, hatte Seth gesagt, aber sie konnte nicht, denn Seth steckte in Schwierigkeiten. Vielleicht brauchte er sie.
Ihre Füße bewegten sich, bevor sie überhaupt begriff, was geschah. Frische Luft füllte ihre Lungen, als sie den Weg entlang in den Wald eilte. Sie sprang über Steine und Äste und passte auf, dass sie nicht stolperte und sich wehtat. Ihr Atem ging schwer. Als sie zwischen den dichten Bäumen die Hütte entdeckte, war sie mit einer dünnen Schweißschicht bedeckt.
Sie lief langsamer. Ihr Puls brauste ihr in den Ohren und ihre Finger zitterten, als sie von einem Baum zum nächsten huschte, damit man sie nicht sah. Ein unheimliches orangefarbenes Licht fiel durch die schmutzigen Fenster der verfallenen Hütte. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, durch die Scheiben zu spähen.
Von innen ertönte ein Krachen, und sie fuhr zusammen. Sie huschte hinter einen Baum und lugte zitternd um den Stamm. Wo war Seth?
Bitte, sei nicht da drin. Bitte, sei nicht da drin …
Sie hörte ein Poltern und zuckte zurück. Holz krachte gegen Holz. Furcht packte sie wie eine eisige Hand um die Kehle. In der Hütte war ein Kampf im Gange, aber sie konnte nicht sehen, wer daran beteiligt war, wusste nicht, was geschah. Sie wusste nur, dass sie hier wegmusste, konnte ihre Beine aber nicht dazu bringen, sich zu bewegen.
Die Tür flog auf. Entsetzt beobachtete sie, wie zwei schattenhafte Gestalten eine dritte nach draußen zerrten und von der Hütte wegschleiften.
Es war Seth. Sie erkannte ihn an den langen Beinen und dem schlanken Körper, erkannte im Mondlicht sein ungebärdiges hellbraunes Haar.
Aber die Stimmen erkannte sie nicht, verstand nicht, was sie sagten. Sie entfernten sich von ihr. Seth trat um sich und schrie die schlimmen Wörter, über die Mommy sich bei ihr immer so aufregte. Tränen brannten ihr in den Augen. Hier geschah etwas Schlimmes. Seth geschah etwas Schlimmes.
Ihr Magen krampfte sich vor Angst und Unsicherheit zusammen. Sie musste ihm helfen. Sie musste ihn retten. Sie durfte nicht zulassen, dass sie ihm etwas antaten.
Adrenalin spülte in ihre Adern. Sie stieß sich von dem Baumstamm ab und rannte durch den Wald, folgte dem Klang von Seths Stimme.
Bitte, bitte, bitte … tut ihm nichts. Tut meinem Seth nicht weh …
Ein Gefühl der Vertrautheit durchströmte sie. Sie kannte diesen Teil des Waldes, war im Sommer oft hier gewesen. Jetzt hielt sie sich vom Weg fern, damit sie sie nicht sahen oder hörten, während sie parallel zu ihnen lief und auf ihre Stimmen lauschte. Aber noch bevor sie das Wasser platschen hörte, wusste sie, wohin sie unterwegs waren.
Vor ihr hallte das Brüllen des Wasserfalls. Stimmen mischten sich in das Rauschen des Wassers. Seth ging hier mit ihr schwimmen, wenn es heiß war. In dem großen Teich am Fuß des Wasserfalls hatten sie immer viel Spaß. Aber diese Stimmen hatten keinen Spaß. Sie waren zornig, schrien, brüllten. Wieder platschte Wasser, gefolgt von Seths Stimme. Nur dass sie diesmal verzweifelt klang. Gehetzt.
Verängstigt.
»Nein! Nicht …«
Das Herz sprang ihr in die Kehle. Ihr taten die Beine weh, die Lunge brannte, aber sie blieb nicht stehen. Als sie den Fluss erreichte, rannte sie an ihm entlang, bis sie zum Wasserfall kam. Die Gischt sprühte ihr ins Gesicht, aber sie wischte die Tröpfchen weg und hielt sich am Stamm eines kleinen Ahorns fest. Der Hügel fiel steil ab und öffnete sich zehn Meter tiefer in den Teich.
Irgendwo in der Nähe brüllten Stimmen, aber ihr Blick schoss zu den Kreisen, die das Wasser von der Mitte des Teiches aus zog, und zu dem Jungen, der einen schlaffen Körper unter Wasser drückte.
Der Junge zog den Körper aus dem Wasser hoch. Das Mondlicht fiel auf tropfendes hellbraunes Haar. Sie kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Betete, dass es nicht Seth war. Keuchte auf, als sie das leblose Gesicht erkannte, die Augen starr zum Himmel gerichtet.
Nein. Ein sengender Schmerz durchschoss ihre Brust. »Nein! Seth!«
Kies knirschte, aber sie sah nicht hin, um zu schauen, was das Geräusch verursacht hatte. Sie sah nur den Jungen, der Seths leblosen Körper vorne am Hemd im Wasser hielt. Den Jungen, der jetzt mit aufgerissenen, schuldbewussten Augen zu ihr hochschaute.
Obwohl er zehn Meter unter ihr stand, obwohl sie kaum mehr sehen konnte als Schatten und das Weiße seiner Augen, wusste sie, wer er war. Sie hatte ihn in der Stadt gesehen. Sie hatte von dem Ärger gehört, den er machte, hatte ihre Eltern gehört, als sie Seth sagten, dass er sich von dem Jungen fernhalten solle.
Aber Seth hatte nicht auf sie gehört. Und heute Nacht hatte der Junge mehr als nur Ärger verursacht. Heute Nacht hatte er ihr das Einzige genommen, was sie je geliebt hatte. Und ihre ganze Welt zerstört.
Achtzehn Jahre später …
Es sagte viel über den geistigen Zustand eines Menschen, wenn ihm ein Iglu mitten in der eiskalten Arktis reizvoller erschien als ein warmes, behagliches Haus.
Samantha Parker machte die auf stumm geschaltete Dokusendung aus, die sie sich ohne rechte Begeisterung angeschaut hatte, warf die Fernbedienung aufs Bett und stieg dann wieder auf die klapprige Leiter, um einen weiteren Versuch zu unternehmen, die neuen Vorhänge auf die alte Gardinenstange aufzuziehen. Der Stoff blieb an einem verrosteten Teil der Stange hängen. Samantha schob fester. Ein Reißen erklang, dann glitt der Stoff über das Hindernis.
»Mist.« Sam drehte die Stange, um die kaputte Stelle in Augenschein zu nehmen. Vorne am Tunnel war ein kleiner Riss zu sehen.
Perfekt. War ja auch nicht anders zu erwarten, so wie der Abend und das ganze Jahr gelaufen waren. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und murmelte: »Geht noch.« Mit einem Stoßgebet, dass die alte Leiter ihr Gewicht trug, legte sie die Stange auf die Halter, die sie vorher angebracht hatte, und zog die Schrauben fest. Dann kletterte sie hinunter, trat zurück und betrachtete stirnrunzelnd ihr Werk.
Nicht mal ansatzweise toll, aber es ging. Die roten Vorhänge passten zu dem roten Kringelmuster auf der Tagesdecke, die sie online bestellt hatte, und verdeckten den Sprung im Putz an der rechten Seite des Fensters. Der Riss war nur zu sehen, wenn man genau hinsah, aber das war ihr inzwischen herzlich egal. Sie hätte wahrscheinlich einknicken und eine neue Stange kaufen sollen, aber sie wollte nicht noch mehr Geld in dieses alte Haus stecken. Einfache Schönheitsreparaturen, mehr nicht. Seit dem Tod ihrer Mutter ging es ihr nur noch darum, das Haus für den Verkauf halbwegs anständig herzurichten, damit für sie ein paar Dollar dabei heraussprangen, und dann nichts wie weg aus der Stadt.
Sie klappte die Leiter zusammen, lehnte sie an die Wand und stieg wieder aufs Bett. Sie hatte nur vorübergehend nach Hidden Falls zurückkommen wollen, aber die Wochen vergingen schneller als gedacht, und die Schwäche des Immobilienmarktes machte es auch nicht besser. Sie wollte raus aus dieser Stadt. Abgesehen davon, dass sie zu klein war, wimmelte sie auch vor klatschfreudigen Einheimischen. Aber vor allem lauerten hier einfach zu viele schlimme Erinnerungen – Erinnerungen an ihren Bruder, an ihre Eltern und an die Ereignisse, die ihre Familie auseinandergerissen hatten.
Bilder jener kalten, dunklen Nacht vor achtzehn Jahren gingen ihr durch den Kopf. Die unheimliche Hütte im Nebel, der flüsternde Wald, das Tosen des Wasserfalls. Aber vor allem die Schreie. So viele Schreie, dass sie nachts immer noch davon wach wurde. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sie schob die Bilder weg und zwang sich, nicht an die Vergangenheit zu denken, denn sonst würde sie wieder in einen Strudel von Albträumen gesogen, die sie nicht noch einmal durchleben wollte. Es hatte sie so viel Mühe gekostet, sich aus diesem Abgrund zu ziehen. Sie musste sich einfach auf die Arbeit konzentrieren, musste sich mehr um den Verkauf des Hauses kümmern. Dann konnte sie endlich ein für alle Mal diese Stadt verlassen und nie mehr zurückschauen.
Ein Blick auf die Uhr an der Wand verriet ihr, dass es Viertel nach elf war, aber sie war noch nicht müde. Seufzend lehnte sie sich in den Berg von Kissen zurück, ließ den Stapel Chemiearbeiten, die sie benoten sollte, links liegen, und griff nach ihrem Laptop.
Grimly, ihr vierjähriger Golden Retriever, jaulte und schob ihr die Nase unter den Ellbogen, bevor sie die erste Taste drücken konnte, dann stupste er ihren Arm an.
»Lass das, du Idiot.« Sie nahm den Arm weg und überflog die Links auf dem Bildschirm. »Es dauert nur ein paar Minuten.«
Nach dem Unterricht war sie nicht mit Grimly Gassi gegangen; sie wusste, dass er rauswollte. Sie war zu lange in der Schule geblieben, um sich auf den Unterricht morgen vorzubereiten, und dann war sie nach Hause gekommen und hatte versucht, ein paar der magischen Schönheitstricks umzusetzen, die das Haus ihrem Makler zufolge garantiert verkaufen würden. Jetzt wollte sie den Psychologen im Internet nachschlagen, der sich morgen laut Ankündigung des Direktors ein Bild vom Unterricht an der Highschool machen wollte. Der Mann interessierte sie, und sie ließ sich von Grimly nicht stören.
»Dr. McClane«, sagte sie und tippte den Namen in das Suchfeld des Browsers ein. Wahrscheinlich war er ein weißhaariger alter Knacker mit Brille und Tweedjacke. Entweder das, oder so oberschmierig, wie es nur ein hoch qualifizierter Manipulator der Emotionen sein konnte. Durch den Tod ihres Bruders hatte Sam mehr als reichlich Stunden auf der Couch eines Seelenklempners verbracht, und wenn sie im Laufe der Jahre eins gelernt hatte, dann, dass Therapeuten mehr Macht besaßen als jeder andere Arzt. Sie konnten einen Menschen aufbauen oder ihn vollkommen fertigmachen, aber meistens verwirrten sie den Verstand ihrer Patienten so gründlich, bis nichts mehr übrig war als Selbstzweifel und Paranoia.
Sie ignorierte die unerwünschten Erinnerungen, die sich wieder hereinschleichen wollten, blätterte vorwärts und blickte auf einen Bildschirm voller Fotos. Einige waren in einem Klassenzimmer aufgenommen worden, andere im Freien in einem Jugendcamp. Die meisten zeigten die Gesichter von Kindern aus allen Schichten.
Sam scrollte durch die Fotos, las Bildunterschriften und suchte nach dem schleimigen Psychologen. Schließlich machte sie halt bei einem Foto von zwei Männern, die mit einem Halbwüchsigen vor einem Picknicktisch standen. Der eine war alt und zottelig, der andere jung und gepflegt.
»Oh, das muss er sein.« Sam betrachtete den weißhaarigen Welterklärer mit der Nickelbrille auf der linken Seite und las die Bildunterschrift.
Sie zog die Brauen zusammen. Dann schaute sie wieder auf das Foto und las noch einmal die Bildunterschrift. »Nie im Leben.«
Dr. Ethan McClane war der Mann auf der rechten Seite, der junge Typ, nicht der runzlige Richter, der neben dem Jungen stand, den er ins Hanson House eingewiesen hatte, ein Heim für schwererziehbare Jugendliche, wo Dr. McClane dem Text nach in seiner Freizeit ehrenamtlich tätig war.
Fest davon überzeugt, dass die Einbildung ihr einen Streich spielte, rief Sam ein neues Browserfenster auf und ließ eine Bildersuche laufen. Das erste Foto war tatsächlich richtig gewesen, aber Mann, es war ihm nicht gerecht geworden. Er war total heiß – Anfang dreißig, dichtes dunkles Haar, olivfarbene Haut, ein Körper, auf den er offensichtlich achtete, und ein Lächeln, das den Verkehr zum Erliegen bringen konnte.
Er ist immer noch ein Psychologe, auch wenn er einemHerrenmagazin entsprungen sein könnte.
Sam klappte angewiderte den Laptop zu, warf ihn aufs Bett und griff nach ihrem grünen Stift und dem Stapel Chemiearbeiten. Dann war er eben heiß, na und? Er war trotzdem ein unerwünschter Shrink, und sie würde ihn nicht in die Nähe ihres Schülers Thomas lassen.
Sie überflog die erste Arbeit, verdrehte die Augen über die idiotische Antwort und wollte sie gerade anstreichen, als unten eine Tür so heftig zuschlug, dass das Haus wackelte.
Sams Puls schoss hoch. Grimly knurrte und rannte zur Treppe. Sie richtete sich langsam auf und sagte sich, dass das Geräusch nicht aus dem Haus gekommen sein konnte, weil sie allein lebte und immer die Türen verschloss, aber …
Es hatte sich ganz eindeutig so angehört, als käme es aus dem Haus.
Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie legte den Stapel Arbeiten aufs Bett und stand auf. Barfuß, nur mit einem dünnen Baumwollpyjama bekleidet, ging sie in den Flur und spähte über das Geländer in den Eingangsbereich hinab. Kisten stapelten sich an den Wänden, aber sie sah nur Grimly, der auf den Hinterbeinen stand und die Vorderpfoten gegen die hölzerne Haustür stemmte, während er wie ein Wahnsinniger bellte.
Angst wich Frustration, dann kalt brennendem Zorn. Es war keine Innentür, sondern wahrscheinlich eine Autotür draußen. Diese Jugendlichen spielten ihr wieder einen Streich.
Wütend eilte sie die Treppe hinunter. Zuerst hatten sie die Bäume mit Klopapier verunziert. Dann hatten sie Eier an die Fenster geschmissen. Letzte Woche hatten sie den Rasen vor dem Haus mit weißen Plastikgabeln gespickt und so die Worte »HAU AB« geschrieben.
Als neue Lehrerin, die von den Schülern erwartete, dass sie die Aufgaben machten, die sie ihnen aufgab, statt im Unterricht nur faul rumzuhängen, war sie zur Zielscheibe der Wahl geworden. Aber wenn sie dachten, dass sie sie herumschubsen konnten, dann waren sie auf dem Holzweg.
In der Diele bog sie um die Ecke und ging zur Küche im hinteren Teil des Hauses. Ihre Handtasche, Schlüssel und Bücher waren auf der Arbeitsplatte, wo sie sie abgelegt hatte, als sie aus der Garage ins Haus gekommen war. Ihr Handy war jedoch nirgendwo zu sehen, und in der Handtasche war es auch nicht. »Verdammt.«
Grimly kam in die Küche gerannt und bellte so laut, dass Sam zusammenfuhr und den Inhalt ihrer Handtasche auf der Theke verteilte. Der Hund kam schlitternd an der Tür zur Garage zum Stehen, jaulte und knurrte und wetzte dann wieder zur Haustür, wobei er Sam beinahe umgerissen hätte.
»Verdammt, Grimly.« Diese elenden Kinder waren immer noch da draußen.
Sie marschierte ins Büro, schnappte sich das schnurlose Telefon vom alten Schreibtisch ihrer Mutter und kehrte in die Diele zurück. Sie trat um die halb gepackten Kartons herum, schob den völlig durchgedrehten Grimly von der Tür weg, entriegelte sie, riss sie auf und brüllte: »Ihr macht mir keine Angst! Ihr haltet euch wohl für ganz harte Kerle, was? Ihr seid Feiglinge. Zeigt euch, ihr kleinen Monster!«
Grimly schoss dicht an ihr vorbei nach draußen. Sein wildes Bellen erfüllte die kühle Nachtluft. Sam verlor das Gleichgewicht, prallte mit der Schulter gegen den Türrahmen und hielt sich mit der freien Hand fest. Schmerz schoss ihr den Arm hinab, während Grimlys unablässiges Gebell jetzt von der Rückseite des Hauses kam.
»Blöder Hund.« Er würde sie in seinem Ungestüm noch umbringen. Sie trat auf die Veranda.
Blöder Hund …
Sams Füße wurden langsamer. In ihrer Brust breitete sich eine Kälte aus und brachte alles stockend zum Stillstand. Er war ein blöder Hund.Nur ein blöder Hund. Und das Letzte, was sie wollte, war, dass jugendliche Missetäter ihn für gefährlich hielten.
Ihr Puls schnellte in die Höhe. Sie suchte mit den Augen den dunklen Vorgarten ab. Die einsame Straßenlaterne links beleuchtete die verlassene Sackgasse. Eine kahle alte Eiche stand da wie ein klappriges Skelett. Zu dieser Uhrzeit – kurz vor Mitternacht an einem Mittwochabend – rührte sich nirgends etwas.
Grimlys Gebell auf der anderen Seite des Hauses wurde lauter und hektischer. Sam eilte die wackelige Verandatreppe hinunter und lief zu ihm, ohne sich darum zu scheren, dass der Boden feucht und schlammig und sie barfuß war. Hauptsache, sie war vor den Kindern bei ihrem Hund. Schwer atmend erreichte sie endlich die angebaute Garage und sah Grimly, wie er vor der Seitentür auf- und absprang und das schmuddelige Fenster wild ankläffte.
»Grimly.« Erleichtert, dass es ihm gut ging, verlangsamte sie ihre Schritte. »Komm hierher! Sofort!«
Grimly bellte weiter. Frustriert trat Sam hinter den Hund und fasste ihn am Halsband. »Ich sagte, komm her.«
Sie wollte ihn wegziehen, aber Grimly riss sich los und bellte noch lauter. Ihr Fuß rutschte auf dem matschigen Gras weg, aber sie fing sich, bevor sie fiel. Leise vor sich hin fluchend schimpfte sie über sich selbst, ihren Hund und die ganze Situation. Sie richtete sich auf, doch dann erstarrte sie, als sie sah, was Grimlys Aufmerksamkeit fesselte.
Von dem quadratischen Fenster, das in die obere Hälfte der Tür eingelassen war, tropfte rote Farbe wie Blut. Jemand hatte in großen Buchstaben »KAPIER ENDLICH SONST …« darauf geschmiert.
Sam wirbelte herum und ließ den Blick über den offenen Garten und zu den dunklen Hügeln dahinter schweifen. Auch dort rührte sich nichts. Nur düstere Kiefern und Douglasfichten, so weit das Auge reichte. Aber der Wald war ein perfektes Versteck, ein noch besserer Ort zum Warten, und sie zweifelte nicht daran, dass die Jugendlichen, die ihr das Leben zur Hölle machten, irgendwo da draußen waren.
Der Zorn kehrte zurück, eine heiße, drängende Wut. Kindische Streiche waren eine Sache, aber das hier war Vandalismus, und sie hatte die Nase voll.
Sie hob das schnurlose Telefon, das sie immer noch in der Hand hielt, tippte eine Nummer ein und drückte sich den Apparat ans Ohr. »Ja«, sagte sie, als die Telefonistin sich meldete. »Chief Branson, bitte. Hier ist Samantha Parker.«
Die Frau murmelte, dass der Chief zu beschäftigt sei, um persönliche Anrufe entgegenzunehmen, aber Sam hörte ihr kaum zu. Will war ein enger Freund der Familie. Als sie vor einigen Monaten nach Hause gekommen war, um ihre Mutter zu pflegen, hatte er gesagt, sie könne ihn anrufen, falls sie etwas brauchte, und jetzt brauchte sie ihn mehr als irgendjemanden sonst. Er konnte Fingerabdrücke nehmen, die die Schuldigen festnageln würden. Diesmal würde sie wirklich Anzeige erstatten. Jetzt war Schluss mit lustig.
Sie drehte sich wieder zur Tür um und schaute an den tropfenden Buchstaben vorbei in die Garage, während sie darauf wartete, dass Will ans Telefon kam. Ihr Wagen war unberührt und stand genauso da, wie sie ihn verlassen hatte. Aber der benutzte Pinsel und die Dose mit roter Farbe, die auf dem Hocker vor der alten Werkbank ihres Vaters stand, waren neu.
Sams Blick schoss zurück zu den Worten, die auf die Scheibe gemalt worden waren. Ihr Herz schlug im Stakkato gegen die Rippen. Langsam strich sie mit den Fingern über die Buchstaben.
Sie fühlte nichts als kaltes Glas.
Ihr schnürte sich die Kehle zu. Ohne an die Fingerabdrücke zu denken, griff sie nach der Klinke und drückte sie herunter.
Die Tür rührte sich nicht.
»Sam?«
Ihr Puls schoss nach oben, und Wills vertraute Stimme, die durch die Leitung drang, konnte nicht verhindern, dass ihr die kalte Hand der Angst über den Rücken strich.
Denn irgendjemand war in ihrer verschlossenen Garage gewesen. Irgendjemand konnte genau in dieser Sekunde in ihrem Haus sein.
Ethan McClane brauchte eine verdammte Zigarette.
Nein, brauchen und wollen waren zwei völlig verschiedene Dinge. Er wollte eine Zigarette. Was er brauchte, war ein ordentlicher Schlag vor die Stirn, dass er sich überhaupt auf diese dämliche Idee eingelassen hatte.
Er schob sich einen Life Saver mit Kirschgeschmack in den Mund, der sein Rauchverlangen auch nicht stillen konnte, und blickte aus seinem BMW zu dem betagten Ziegelbau der Hidden Falls Highschool hinüber. Es sah nicht so aus, als hätte sich viel verändert, aber andererseits hatte er auch nicht viel erwartet. Der Schulhof war immer noch breit und kahl bis auf zwei Eichen, die größer waren, als er sie in Erinnerung hatte. Ein paar Kinder standen draußen herum und plauderten in der spätnachmittäglichen Sonne miteinander. Von dem angrenzenden Sportplatz drangen Rufe herüber, das Footballteam trainierte.
Der vertraute Anblick wirkte ruhig und friedlich, aber Ethan hatte Magenkrämpfe vor Nervosität. Auch nach fast zwanzig Jahren wurde ihm bei dem bloßen Gedanken, in dieser beschaulichen Stadt im nordwestlichen Oregon zu sein, hundeelend.
Reiß dich zusammen. Denk an den Grund, warum du hier bist. Diesmal ist es nichts Persönliches.
Er nahm die Sonnenbrille ab und warf sie auf die Konsole. Als Richter Wilson ihn wegen des Falles angerufen hatte, hätte er sofort ablehnen sollen. Er führte jetzt seine eigene Privatpraxis und arbeitete nicht mehr für den Staat. Er brauchte jugendliche Straftäter nicht zu beurteilen oder zu behandeln, wenn ihm nicht danach war. Aber er war dem alten Richter etwas schuldig, weil er bei einem seiner Jungs Nachsicht hatte walten lassen. Und wenn er richtig darüber nachdachte, musste er zugeben, dass es ihm guttun würde, diesen Fall kostenlos zu übernehmen. Vielleicht zwang es ihn, sich seinen Dämonen zu stellen, sodass er die Vergangenheit ein für alle Mal hinter sich lassen konnte.
Zu diesen Überlegungen war er natürlich gekommen, bevor er hier war.
Mann, er brauchte eine Kippe. Und eine verdammte Lobotomie.
Er drückte die Tür des BMW auf, nahm seine Tasche vom Beifahrersitz und stieg aus dem Wagen. Er war Thomas Adler erst einmal begegnet, gleich nachdem der Junge wegen eines Einbruchs in Portland aufgegriffen worden war. Thomas’ Vorstrafenregister war lang – Diebstahl, Körperverletzung, Vandalismus –, aber statt ihn nach seinem letzten Zusammenstoß mit der Polizei in Gewahrsam zu nehmen, hatte Richter Wilson beschlossen, dass Thomas vielmehr einen Tapetenwechsel und eine Therapie brauchte. Jetzt lebte Thomas bei seiner ihm fremden Großmutter in der Kleinstadt Hidden Falls, und Wilson hatte Ethan gebeten, dem Jungen zu helfen, sich in seiner neuen Umgebung einzugewöhnen.
Ethan war nicht naiv. Aus seiner jahrelangen Arbeit für den Staat wusste er, dass manchen Kindern nicht zu helfen war. Er hoffte nur, dass Thomas nicht auch zu dieser Gruppe zählte.
Der frische Wind des frühen Novembers wehte raschelndes Laub über den Weg, und aus dem angrenzenden Obstgarten drang ihm der würzige Duft reifer Äpfel und frisch umgegrabener Erde in die Nase. Als er sich dem Gebäude näherte, zwang er sich, ein junges Mädchen anzulächeln, das ihm von der Treppe einen vorsichtigen Blick zuwarf. Sie machte ihm Platz und flüsterte dem Jungen neben sich, der ganz in Gothic-Schwarz gehüllt war, etwas zu.
Nett.
Stirnrunzelnd zog er die schwere Tür auf. Als er in das Gebäude trat, schlug ihm der Geruch von altem Holz, Industriereiniger und Tinte entgegen. Eine lange Vitrine mit Trophäen zierte die linke Seite der Eingangshalle. Er betrachtete die Stücke und las die Namen auf den Schildchen. Als sein Blick an dem Foto des Basketballteams hängen blieb, das in der Meisterschaft gespielt hatte, verkrampfte er sich.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Ethan schaute zu der Bürotür rechts von ihm, aus der eine grauhaarige Frau ihn ansah, als wollte er gerade etwas stehlen. Ein klägliches Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Selbst er wusste, dass es gezwungen wirkte. »Ja. Ethan McClane. Ich habe einen Termin bei Direktor Burke.«
Die Sekretärin schob sich die rot gerahmte Lesebrille auf der Nase nach oben. »Ah, ja. Sie sind der Psychologe«, stellte sie geringschätzig fest, drehte sich um und bedeutete ihm, ihr zu folgen. »Nehmen Sie hier Platz und warten Sie. Mister Burke ist in einer Besprechung.«
Supernett. Da musste was im Wasser sein.
Mit einem gemurmelten »Danke« folgte Ethan der Sekretärin in das beengte Vorzimmer. Eine hohe Theke zog sich durch die Mitte des Raumes. Rechts an der Wand standen drei Stühle.
Da die Sekretärin sich setzte und sich wieder an die Arbeit an ihrem Computer machte – sie hatte nicht das geringste Interesse daran, mit ihm zu plaudern –, ließ er seine Tasche auf den Stuhl fallen und studierte ein Schwarzes Brett mit Neuigkeiten und Ankündigungen bevorstehender Aktivitäten der Schule. Die Tür hinter ihm wurde geöffnet, bevor er den Aushang über das Wintermusical zu Ende gelesen hatte.
»Es ist mir ein Rätsel, wie ich bei dem mickrigen Budget für Verbrauchsmaterial, das Sie mir zugeteilt haben, meine Arbeit machen soll«, beklagte sich eine Frauenstimme.
»Das hier ist nicht die Privatwirtschaft«, antwortete ein Mann. »Und ich habe im Moment keine Zeit, mich mit Ihnen zu streiten. Ich habe jetzt den nächsten Termin.«
Schritte erklangen, dann erschien ein Mann in der offenen Bürotür. Die Frustfalten in seinem Gesicht waren nicht zu übersehen. Er war durchschnittlich groß, Ende vierzig, und hatte dunkles, an den Schläfen angegrautes Haar und einen vollen Bart. Er sah Ethan an, als sei er derjenige, der schreiend aus dem Gebäude laufen wollte, nicht andersherum. »Sie müssen Dr. McClane sein. David Burke. Kommen Sie rein.«
Mit Vergnügen. Ethan griff nach seiner Tasche.
»Wann haben Sie denn Zeit, mit mir zu streiten?«, fragte die Frau in dem Raum. »Ich würde den Termin gern in Ihren Kalender eintragen, damit Sie Ihre Ablehnung vorbereiten können.«
Der Rektor seufzte. »Wie wäre es mit morgen? Ich werde sogar früher kommen, damit Sie reichlich Zeit haben zu schimpfen. Wäre Ihnen das recht?«
Die Frau antwortete nicht sofort, und als Ethan das Büro betrat, riss sie den Blick hoch und schaute ihn an.
Sie war jünger, als ihre Stimme vermuten ließ – Ende zwanzig vielleicht. Ihr dunkles lockiges Haar wurde im Nacken von einer Spange zusammengehalten. Sie hatte hohe Wangenknochen, eine gerade Nase und trug sehr wenig Make-up, das die dunklen Ringe unter ihren Augen kaum kaschierte. Aber selbst mit dem finsteren Gesicht und der unübersehbaren Erschöpfung war sie ein Hingucker. Und diese Augen … sie waren faszinierend. Wie warme geschmolzene Schokolade mit winzigen Tröpfchen Honig. Augen, die sagten: Schau mich an, obwohl sie offenbar versucht hatte, sich absichtlich unvorteilhaft zu kleiden, indem sie den hässlichsten grauen Hosenanzug trug, den er je gesehen hatte.
Ethan lächelte – nicht gezwungen –, und zum ersten Mal, seit er den Fall angenommen hatte, dachte er, dass es vielleicht doch keine so schlechte Entscheidung gewesen war, hierherzukommen. Nicht wenn das der Anblick war, auf den er sich jeden Tag freuen konnte.
Ihr Blick wurde schmal. Neugier flammte in ihren faszinierenden Augen auf. Aber statt die Fragen zu stellen, die ihr ganz sicher im Kopf herumgehen mussten, sah sie wieder Direktor Burke an. »Sollten Sie plötzlich die Besprechung vergessen oder praktischerweise krank werden, David, dann stehe ich bei Ihnen zu Hause auf der Matte.«
»Daran habe ich keinen Zweifel«, murmelte Burke, als die Frau sein Büro verließ. Sie würdigte Ethan keines zweiten Blickes, sondern rauschte einfach an ihm vorbei, als sei er gar nicht da. Die Duftwolke aus Lavendel und Vanille, die sie dabei verströmte, schwebte zu Ethan herüber, und es fuhr ihm heiß in den Bauch.
Aus dem Vorzimmer drangen gedämpfte Stimmen herein, gefolgt von dem Knallen der Tür. Als das Geräusch verklang, griff Burke nach einer Akte auf seinem Schreibtisch und seufzte. »Tut mir leid. Verärgerte Lehrer sind oft unangenehmer als mürrische Postangestellte.«
»So schlimm?« Da der Direktor sich nicht setzte, stellte Ethan seine Tasche auf einen der beiden Stühle vor dem Schreibtisch und steckte die Hände in die Hosentaschen.
»Sie haben ja keine Ahnung. Die Frau ist nur glücklich, wenn sie mich regelmäßig bei den Eiern hat.«
Ethan lachte leise. Seltsamerweise war das eine gleichzeitig schmerzhafte und lustvolle Vorstellung. »Sie Glückspilz.«
Burke reichte ihm den Ordner. »Ich muss leider gleich weg, weil ich in fünfzehn Minuten ein Meeting im Bezirksamt habe. Für morgen ist alles vorbereitet. Solange Sie nicht stören, werden wir Sie nach besten Kräften unterstützen.«
»Sie werden gar nicht merken, dass ich da bin.« Ethan klappte den Ordner auf und überflog die oberste Seite. »Sind das die Beurteilungen von Thomas’ Sozialverhalten durch die Lehrer?«
»Ja, es fehlt nur die von Sam Parker.«
»Und der ist …?«
»Chemielehrerin.« Burke schlüpfte in seine Anzugjacke und deutete mit dem Kinn auf die Tür. »Sie haben Sie gerade kennengelernt.«
»Ah.« Ethan zog einen Mundwinkel hoch. »Verärgerte Lehrerin. Ja. Ich glaube, ich erinnere mich.« Als ob er das Mädchen mit den funkelnden Augen vergessen könnte.
»Sie war auf dem Weg in ihr Klassenzimmer. Sie können sie wahrscheinlich noch einholen, falls Sie ihre Bewertung vor morgen brauchen.«
Eigentlich tat er das nicht. Er hatte genug Material, um anzufangen. Aber der Gedanke, diese Augen wiederzusehen, war eine schöne Ablenkung von der ganzen Scheiße, die ihm in dieser Stadt passiert war. Er klemmte sich den Ordner unter den Arm und schüttelte dem Direktor die Hand. »Danke.«
Burke richtete seinen Jackettkragen und ging zur Tür. »Annette wird Ihnen eine Kopie von Adlers Stundenplan und eine Karte des Schulgeländes geben, damit Sie sich nicht verlaufen. Falls es ein Problem gibt, sagen Sie mir Bescheid. Ich sehe Sie dann morgen früh.«
Ethan verabschiedete sich von dem Direktor. Annette, die grau melierte Sekretärin, beäugte ihn weiter, als ob er zwei Köpfe hätte, als sie ihm eine Campuskarte und einen Besucherpass aushändigte. Dann schlenderte er den langen Flur mit den mitgenommenen Wänden und ramponierten Schließfächern entlang. Plakate kündigten den bevorstehenden Ball an. Ein Deckenbanner erinnerte die Schüler daran, sich für die Spirit Week zu verkleiden. Am Ende des Ganges schob ein Hausmeister mit Kopfhörer einen Besen über den Boden. Der Mann sah auf, als Ethan näher kam, kniff die Augen zusammen und wandte sich dann schnell ab.
Noch ein freundlicher Angestellter der Schule. Sie wurde immer einladender.
Er warf einen Blick auf die Karte, ging weiter den Flur entlang und nahm die nächste Abzweigung nach rechts. Auf halbem Weg den Gang hinunter entdeckte er die Chemielehrerin. Sie stand neben einer wohlgerundeten Blondine in einem kurzen Rock und Stiletto-Absätzen, die keine Frau, die noch alle beisammen hatte, den ganzen Tag tragen konnte.
Sie mussten ihn gehört haben, als er um die Ecke kam, denn sie drehten sich beide zu ihm um. Und kaum schaute Sam Parker ihn mit ihren hypnotisierenden Augen an, klumpte sich ihm der Magen zusammen.
Mann, diese Augen sollte man echt mit einem Warnhinweis versehen.
Die Blondine brach mitten im Satz ab und warf Ethan einen hitzigen Blick zu. »Sie sehen aus, als hätten Sie sich verlaufen, Schätzchen.«
Ethan blickte von dem protzigen Diamantring an der linken Hand der Blonden zu dem Namensschild an ihrer Taille. Margaret Wilcox. Englischlehrerin, wenn er es aus den Akten, die er gerade überflogen hatte, noch richtig in Erinnerung hatte. »Ich bin hier genau richtig. Ich war auf der Suche nach Ms Parker.«
Margaret warf Sam einen Blick zu. »Na, das muss dann wohl eine Premiere sein.«
Ethan entging der spöttische Ton nicht, ebenso wenig die Feindseligkeit, die aus den Augen der beiden Frauen sprühte, wenn sie sich ansahen. Dahinter verbarg sich eindeutig eine Geschichte. Eine Geschichte, die ihn nicht interessieren sollte, die aber trotzdem seine Neugier weckte.
Sam Parker kniff die Augen misstrauisch zusammen. »Hat David Sie hierhergeschickt, Dr. McClane?«
Sie wusste, wer er war. Das war keine große Überraschung. Er versuchte es mit einem Lächeln, aber ihre versteinerte Miene bewies, dass sie für männlichen Charme nicht empfänglich war. Oder vielleicht galt das nur für seinen. »Ich wollte fragen, ob Sie Gelegenheit hatten, die Beurteilung des Sozialverhaltens von Thomas Adler fertigzustellen.«
»Ah, das erklärt es«, bemerkte Margaret Wilcox neben ihm. »Ich hätte auch nicht gedacht, dass Sie ihr Typ sind.«
»Sozialverhalten. Lassen Sie mich nachdenken.« Sam schloss kurz die Augen und kniff sich in den Nasenrücken. »Sie ist in meinem Klassenraum.«
Margaret kicherte. »Übersetzung: Sie ist nicht fertig. Das kann dauern, Dr. McClane. Sam macht nie etwas fertig. Wenn Sie sich langweilen, kommen Sie zu mir.« Mit einem letzten lüsternen Blick drehte sie sich um und ging, und ihre Absätze knallten wie Kanonenfeuer auf dem Zementboden.
»Nette Dame«, bemerkte Ethan, als sie weg war. »Freundin?«
»Schwarze Witwe.« Sam sah der Blondine den Flur entlang nach. Aber bevor Ethan fragen konnte, was sie damit meinte, klärten sich ihre Züge. Sie drehte sich um und sah ihn an. »Sie sind also der Seelenklempner, den der Staat geschickt hat, um Thomas auszuspionieren.«
»Therapeut«, korrigierte er sie. Ihre Verachtung war ihm nicht entgangen.
»Meinetwegen.«
Ethan gab sich alle Mühe, einen neutralen Gesichtsausdruck beizubehalten. Die Frau mochte zwar hübsche Augen haben, aber sie war eindeutig gereizt, und er hatte nicht die Kraft, sich jetzt mit ihr zu streiten.
»Ihre Bewertung liegt auf meinem Schreib…«
Das helle Klirren von zerbrechendem Glas schnitt ihr das Wort ab. Ein dumpfer Aufprall hallte durch den Flur, gefolgt von weiterem Klirren. Sams Augen wurden groß, dann nahm sie Kurs auf die Richtung, aus der die Geräusche gekommen waren.
»Ms Parker. Warten Sie.«
Sie schien ihn nicht zu hören. Ihr Blick war auf die Tür am Ende des Flurs gerichtet. Sie legte die Hand um dem Knauf, drückte mit der Hüfte gegen das massive Holz und murmelte: »Verdammt.« Sie fischte einen Schlüsselring aus der Tasche ihrer Schlabberhose, steckte einen davon in das Schloss und drehte ihn um.
Hinter ihr warf Ethan einen Blick durch das lange rechteckige Fenster in der Tür. Ein Schatten huschte durch den dunklen Raum.
Adrenalin schoss ihm ins Blut. Er legte ihr die Hand auf die schlanke Schulter. »Warten Sie.«
Die Tür gab mit einem Knall nach. Sam schüttelte seine Hand ab, aber er schob sich zwischen sie und die offene Tür, bevor sie einen Schritt tun konnte. Der Schatten flitzte hinter einen Arbeitstisch.
»He!«, rief Sam und trat hinter Ethan hervor.
Schuhe quietschten auf dem Fliesenboden. Ethan ließ die Tasche fallen und rannte auf den Eindringling zu. Das Kind oder der Erwachsene – Ethan konnte es nicht erkennen – teilte die geschlossenen Vorhänge und schlüpfte aus dem offenen Fenster. Ethan schlug den schweren Stoff beiseite und schloss die Hand um einen Knöchel in Bluejeans. Im verblassenden Licht der Dämmerung konnte er nur die Hose und ein Kapuzensweatshirt ausmachen, das der Eindringling sich hoch übers Gesicht gezogen hatte. Er trat nach hinten aus, löste sich aus Ethans Griff und landete mit einem dumpfen Aufprall draußen auf dem Boden. Dann rannte er davon.
Sam stellte sich rechts neben die Fensterreihe und zog die Vorhänge auf. Fahles Licht strömte herein. »Scheiße.«
Ethan drehte sich um und folgte ihrem Blick. Mehrere große Tische mit schwarzer Oberfläche waren umgekippt. Stühle lagen auf der Seite, Hocker standen auf dem Kopf. Glasscherben und zerfetzte Papiere übersäten den Boden, während ein scharfer chemischer Geruch im Raum hing.
»Was ist das?«, fragte Ethan naserümpfend.
Die Chemielehrerin rannte in den vorderen Teil des Raumes. »Gasleitung.«
Sie kniete sich hinter einen langen Arbeitstisch. Während sie an dem Hauptventil herumfummelte, öffnete Ethan die Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Ein Deckenventilator sprang an, das leise Sirren durchschnitt die Stille.
»So, jetzt müsste sie zu sein«, sagte sie und stand auf.
Ethan war sich da nicht so sicher. »Wir sollten jemanden rufen. Die Chemiewehr, die Gasfirma …«
Sie drehte sich langsam im Kreis und begutachtete den Schaden. »Das Ventil war noch nicht lange auf. Das Gas sollte in einer Minute verf…«
Sie erstarrte, und Ethan, der neugierig war, was sie jetzt wieder sah, folgte ihrem Blick zum Whiteboard. In großen roten Buchstaben stand dort: »KAPIER ENDLICH«.
Eine leise Vorahnung beschlich Ethan, gefolgt von einer Erinnerung, die fast zwanzig Jahre zurücklag. Eine kalte, mondlose Nacht. Das Tosen des Wasserfalls. Das Klatschen von Wasser, wieder und wieder. Eine eisige Flüssigkeit, die seine Lungen füllte. Und unheimliches und bösartiges Gelächter, das vom Ufer herüberhallte.
Die leise Ahnung verwandelte sich in seinen Ohren in ein Brüllen. Aber die Worte waren nicht für ihn bestimmt, mahnte er sich, niemand in der Stadt wusste, wer er war. Solange er den Mund hielt, würde niemand jemals die Wahrheit erfahren.
Sein Blick wanderte zu Sam. Bei dem gehetzten Ausdruck in ihren Augen sorgte er sich mehr um sie als um sich selbst. Er ging auf sie zu, doch bevor er fragen konnte, ob sie okay war, wandte sie sich ab und erstarrte.
Ethan schaute über die Schulter und entdeckte die offene Tür an der Rückwand, die ins Dunkle führte.
»Verdammt.« Sam kletterte über Stühle und zerbrochene Reagenzgläser.
»Warten Sie.« Ethan wollte sie zurückhalten, aber sie wich seinem Griff aus. »Sie wissen nicht, ob noch jemand da drin ist.«
Glassplitter knirschten unter ihren Schuhen, als sie in der Dunkelheit verschwand. Ethan folgte ihr schnell. Gerade als er die Türschwelle überschritt, ging eine Lampe an und beleuchtete eine kleine Kammer mit Regalen voller Chemikalien, von denen die meisten zum Glück noch aufrecht standen.
»Gott sei Dank«, murmelte Sam irgendwo in dem Raum. »Ich hatte schon Angst, dass sie das hier auch verwüstet hätten.«
Ethan ging tiefer in den Materialraum hinein, der kleiner war als sein Badezimmer. Rechts neben der Tür stand ein geschlossener Glasschrank mit Flaschen und Röhrchen mit der Aufschrift »gefährlich«. In den offenen Regalen waren ein paar Kanister umgeworfen worden, aber es schien nichts zerbrochen zu sein.
Er stellte eine Plastikflasche mit rosafarbenen Kristallen aufrecht hin. »Was bewahren Sie hier …«
Die Tür schlug mit einem lauten Krachen zu.
Ethan schaute in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. »Was zum …«
»Scheiße.« Die sexy Lehrerin schob sich an ihm vorbei und streckte die Hand nach dem Griff aus. »Das darf doch …«
Dunkelheit senkte sich herab, als das Licht ausging, und ein Kichern drang durch die Tür. Ein dunkles, bedrohliches Kichern, bei dem sich Ethan die Nackenhaare aufstellten.
Es war ein Kichern, von dem er sich fast sicher war, dass er es schon einmal gehört hatte.
Vor achtzehn Jahren, um genau zu sein.
Sam rüttelte am Türknauf, aber er wollte sich nicht drehen lassen.
»So ein verdammter Mist.« Sie trat gegen die Stahltür, so fest sie konnte, und schlug mit der Hand auf das glatte kalte Metall. »Du Arschloch! Wenn ich dich erwische, bist du dran!«
Das konnte sie heute echt nicht gebrauchen. Letzte Nacht hatte ihr mehr als gereicht. Sie wusste nicht einmal mehr, was genau passiert war, denn nachdem sie mit Will vom Polizeirevier zurückgekehrt war, waren die Worte, die sie an der Garagentür gesehen hatte, verschwunden.
Sie war die ganze Nacht aufgeblieben und hatte versucht herauszufinden, ob die Worte wirklich da gewesen waren oder ob sie sich das nur eingebildet hatte, ob sie langsam verrückt wurde oder ob ihr jemand übel mitspielte. Aber jetzt wusste sie, dass die Worte echt gewesen waren. So echt wie die Botschaft am Whiteboard. So echt wie der Mistkerl, der sie in diese kleine Kammer eingeschlossen hatte.
Sie fluchte wieder und versetzte der Tür einen weiteren festen Tritt.
Schmerz schoss ihr von den Zehen ins Bein. Sie verlagerte das Gewicht und hüpfte auf dem anderen Fuß, rieb sich die verletzten Zehen und gab schließlich dem Drang nach zu schreien.
»Sie brechen sich eher den Fuß, als dass Sie dieser Tür eine Delle verpassen.«
Sam erstarrte. Ein Herzschlag verstrich, bevor sie die Lider schloss.
Mist. Sie hatte total vergessen, dass sie nicht allein war. Als ob ihr Leben nicht noch schlimmer werden könnte.
In der Dunkelheit hinter ihr zerriss Papier. »Life Saver?«
Sie nahm einen tiefen Atemzug, der ihren rasenden Puls aber auch nicht beruhigen konnte. »Nein, Dr. McClane, ich brauche nichts im Mund, damit ich still bin, herzlichen Dank.«
Ein leises Kichern erklang. Zu spät ging ihr auf, wie zweideutig ihre Antwort geklungen hatte. Sie unterdrückte ein Stöhnen. Scheiße, sie hatte sich geirrt. Ihr Leben konnte doch noch schlimmer werden – viel schlimmer.
»Ich will Sie gar nicht zum Schweigen bringen, Ms Parker. Ich dachte nur, es würde helfen.«
»Helfen?« Sam drehte sich zu ihm um und funkelte ihn in der Dunkelheit an, obwohl sie wusste, dass er das nicht sehen konnte. »Es ist kurz vor fünf. Hilfe ist inzwischen längst weg.«
»Hoffentlich nicht.« Ein grünes Licht ging an, und sie begriff, dass es von dem Display seines Telefons kam. Es beleuchtete sein attraktives Gesicht, während er aufs Handy schaute und wählte. Sam rieb sich den Fuß und versuchte, Ethan nicht anzusehen. Sie mochte zwar kurz vorm Durchdrehen sein, aber sie war immer noch eine Frau. Und sie hatte schon auf den ersten Blick bemerkt, dass Dr. McClane in Fleisch und Blut tausendmal heißer war als auf den Fotos, die sie letzte Nacht aufgerufen hatte.
Was sie nur noch mehr ärgerte.
Er legte die Stirn in Falten und betrachtete den Bildschirm. »Verdammt.«
Sie unterdrückte das Ich hab’s Ihnen ja gesagt, das ihr auf der Zunge lag. »Lassen Sie mich raten. Kein Empfang.«
Als er ihr einen Blick zuwarf, drehte sie sich wieder zur Tür um und rüttelte erneut am Griff. »Die ganze Schule ist wie ein großes Funkloch. Hier hat niemand Empfang.«
Verdammt, sie wollte nicht die ganze Nacht mit diesem Kerl hier festsitzen. Sie schlug wieder gegen die Tür. »Kenny!«
Nichts als das Sirren des Ventilators in ihrem Klassenzimmer drang an ihre Ohren.
»Wer ist Kenny?«
Gegen die Tür zu hämmern war genauso nutzlos wie der Wunsch, sie wäre am besten gar nicht nach Hidden Falls gekommen. »Der Hausmeister. Aber er ist wahrscheinlich am anderen Ende der Schule, und selbst wenn nicht, trägt er bei der Arbeit immer diese dämlichen Kopfhörer.«
»Was ist mit den anderen Lehrern?« Dr. McClane trat neben sie, und seine Finger streiften ihre auf der Tür. Es überrieselte sie heiß. Sie trat schnell beiseite, dann biss sie sich auf die Lippe, um nicht aufzuschreien, als sie ein stechender Schmerz in ihrem Zeh durchzuckte.
»Waren Sie noch nie in einer Schule?«, fragte sie, als der Schmerz sich legte. »Um schlag vier machen die meisten Lehrer sich hier vom Acker. Ich garantiere Ihnen, dass keiner mehr da ist.«
Warum zum Teufel hatte sie das gerade gesagt? Okay, sie verlor ernsthaft den Verstand. Sie hatte gerade einem wildfremden Mann – einem Kerl, der aussah, als sei er mindestens fünfunddreißig Kilo schwerer als sie und der offensichtlich Sport trieb – erzählt, dass niemand sie befreien würde. Dass niemand auch nur wusste, dass sie hier drinnen eingesperrt waren.
Ja, das war echt schlau. Sie wich zurück, bis sie gegen die Regale prallte.
Er aktivierte die Taschenlampen-App seines Handys und beleuchtete damit die Tür, um sich das Schloss anzusehen. »Was ist mit der Lehrerin, mit der Sie sich gerade im Flur unterhalten haben? Die blonde Schwarze Witwe?«
Schwarze Witwe. Na toll. Sie hatte vergessen, dass sie Margaret vor einem Therapeuten so genannt hatte. Sie konnte nur ahnen, welche reichhaltigen Informationshäppchen über sie er diesem Gespräch entnommen hatte.
Sie schüttelte den Gedanken ab, als ihr klar wurde, dass selbst Margaret fort sein würde. An den meisten Tagen war sie die Erste, die das Gebäude verließ. Heute war sie nur wegen einer Lehrplanbesprechung länger geblieben. Aber das brauchte er nicht zu wissen. »Ähm … sie könnte noch da draußen sein, schätze ich.«
Er drehte sich zu ihr um. In dem fahlen Licht sah sie, wie seine grünen Augen schmal wurden. Er studierte sie wie eine Laborratte, so wie jeder andere Psychologe sie studiert hatte.
Aus Angst wurde Ärger, und der Ärger gab ihr Kraft. Guck, so viel du willst, Psychodoktor. Vor dir habe ich keine Angst.
Er wandte den Blick ab, stieß einen Seufzer aus und ließ sich zu Boden sinken, den Rücken an die Stahltür gelehnt, die langen Beine vor sich ausgestreckt. Sam blieb, wo sie war, aber nachdem sie mehrere Minuten schweigend auf einem Bein gestanden hatte, um ihren verletzten Zeh nicht zu belasten, gab sie schließlich nach und ließ sich ebenfalls zu Boden sinken. Sie lehnte sich an das Regal, zog die Füße neben sich und legte die Arme auf die Knie, während sie Ethan sorgfältig im Auge behielt, nur für den Fall.
»Ich mache jetzt das Licht aus, um die Batterie zu schonen«, sagte er.
Sam antwortete nicht. Der Raum wurde in Dunkelheit getaucht. Wieder beschleunigte sich ihr Puls, während sie darauf wartete, dass ihre Augen sich an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnten. Aber dann konnte sie nicht mehr sehen als den dünnen Lichtstrahl unter der Tür. Und in der Dunkelheit war sie sich mit allen Sinnen der engen Kammer, McClanes Nähe und der steigenden Temperatur im Raum bewusst.
McClane seufzte. »Also, da wir Gott weiß wie lange hier drin festsitzen, wie wäre es, wenn Sie die Zeit damit füllen würden, dass Sie mir erzählen, wer er es auf Sie abgesehen hat?«
Wenn man den Ärger bedachte, den Sam in letzter Zeit gehabt hatte, konnte das eine verdammt lange Liste werden. Und sie hatte nicht vor, sie einem Therapeuten anzuvertrauen. »Ich weiß es nicht.«
»Sie haben nicht einmal eine Ahnung?«
»Nein, Dr. McClane. Ich habe keine Ahnung, wer mich so hasst, dass er zu solchen Mitteln greift.«
»Ethan.«
»Was?«
»Mein Vorname ist Ethan.«
Sam biss die Zähne zusammen. Sie wollte seinen Vornamen gar nicht wissen. Sie wollte überhaupt nichts über ihn wissen. Warum war es nur so heiß hier drin? Sie knöpfte sich die Jacke auf und fächelte dem Tanktop, das an ihrer Brust klebte, mit der Hand Luft zu.
Stille breitete sich zwischen ihnen aus. Eine Stille, die gleichzeitig vertraut und beunruhigend war. Sie versuchte, weiter wegzurücken, und stieß mit der Schulter an ein Regal. »Verdammt.«
»Alles in Ordnung?«
»Bestens.« Sam gefiel die Sorge, die sie in seiner Stimme hörte, überhaupt nicht. Oder der heiße Schauer, der sie überlief und ihr sagte, dass er näher war, als sie gedacht hatte. »Bleiben Sie einfach da drüben an Ihrem Ende des Raums.«
»Ich spüre ihre Feindseligkeit, Ms Parker. Ich versuche nur zu helfen.«
Da war es wieder, dieses Wort: »Helfen.« Warum dachte jeder, sie brauche Hilfe? »Das sagen alle Therapeuten«, murmelte sie und rieb sich die Schulter.
»Möchten Sie das näher erläutern?«
Sam hörte auf zu reiben und war froh, dass es so dunkel war, dass er ihren frustrierten Gesichtsausdruck nicht sehen konnte. »Hören Sie, es ist nichts Persönliches, ich habe nur die Erfahrung gemacht, dass die meisten Shrinks …«
»Therapeuten«, fiel er ihr ins Wort.
»Na schön, Therapeuten. Die meisten Therapeuten richten am Ende mehr Schaden an, als sie eigentlich heilen wollten. Ich habe Probleme mit Seelenklempnern … Therapeuten«, korrigierte sie sich selbst, bevor er es tun konnte, »die Ratschläge verteilen, obwohl sie nicht den blassesten Schimmer haben, welche Folgen ihre Worte später einmal haben könnten.«
»Autsch.«
»Und was soll das jetzt heißen?«, blaffte sie, bevor sie sich bremsen konnte.
»Es heißt nur, dass es sehr persönlich klingt.«
Ja, es klang auch für Sam persönlich. Sie verfluchte ihre kurze Zündschnur und ihr schnelles Mundwerk, vor allem, da sie hier mit einem wildfremden Mann eingeschlossen war.
Wieder hörte sie das Reißen von Papier, und der süße Duft von Kirschen erfüllte den Raum. Sam knurrte der Magen. Sie hatte nicht gefrühstückt, weil sie wegen des Vandalismus’ an ihrem Haus vergangene Nacht zu gestresst gewesen war. Hatte das Mittagessen ausgelassen, um zwei Schülern zu helfen, ein Experiment zu wiederholen. Und die Handvoll Cracker, die sie nach der Schule geknabbert hatte, zählten nicht.
»Okay, also gut«, sagte sie, nachdem sie ihm eine Zeit lang zugehört hatte, wie er an seinem Bonbon lutschte. »Geben Sie mir eins.«
Er lachte leise. Einen Moment später stießen seine Finger in der Dunkelheit gegen ihre, und sie spürte einen heißen Schauer, bevor ihr das kleine ringförmige Bonbon in die Hand fiel.
Sie zog schnell den Arm zurück, steckte sich den Life Saver in den Mund und zwang sich, bei dem süßen Kirschgeschmack nicht zu stöhnen. Das fehlte gerade noch, vor einem heißen Psychologen zu stöhnen, der ohnehin schon dachte, sie hätte Probleme.
»Wie lange unterrichten Sie hier schon?«, erkundigte er sich.
»Seit sechs Wochen.« Sam wand sich innerlich angesichts ihrer schnellen Antwort.
»Erst sechs Wochen? Wow. Und wie lange unterrichten Sie insgesamt schon?«
Konnten sie nicht einfach nur dasitzen, ohne sich zu unterhalten? Wäre das zu viel verlangt? Sam rieb sich wieder die pochende Stirn und wünschte sich Ruhe, aber in der Dunkelheit wusste sie, dass sie festsaß. Sie hatte zwei Möglichkeiten: Entweder hielt sie den Mund und brachte den Mann durch ihre Unhöflichkeit auf die Palme, oder sie versuchte, die Situation zu entspannen, indem sie sich bemühte, nett zu sein. Er hatte sich ihr gegenüber in keiner Weise aggressiv gezeigt. Wenn sie sich recht erinnerte, hatte er versucht, sie daran zu hindern, in ihr Klassenzimmer zu laufen, als sie den Eindringling gesehen hatte. Er hatte sie sogar gewarnt, nicht in den Materialraum zu gehen, als sie die offene Tür gesehen hatte, aber blöd, wie sie war, hatte sie nicht auf ihn gehört.
Ein Teil ihrer Angst fiel von ihr ab. Sie konnte nett sein. Auch wenn er ein Seelenklempner war – Korrektur, Therapeut.
Sie schob das Bonbon auf die andere Seite des Mundes und bemühte sich, die Feindseligkeit aus ihrer Stimme herauszuhalten. »Wie gesagt, seit sechs Wochen. Ich wurde als Aushilfe angeheuert, um eine freie Stelle zu besetzen. Der letzte Chemielehrer hatte einen Nervenzusammenbruch.«
Wie passend. Gütiger Himmel, was war mit dieser Schule bloß los? Mit dieser Stadt?
»Aha. Und Sie denken nicht, dass er Sie vertreiben will, weil Sie ihm den Job weggenommen haben?«
Sam zog die Brauen herunter. Sie hatte automatisch angenommen, dass ein Schüler ihren Klassenraum verwüstet und ihr Haus beschmiert hatte. War es möglich, dass es der Mann war, den sie ersetzt hatte?
Ihre Gedanken wanderten zurück zu dem drohenden Kichern, das sie gehört hatten, als die Tür zugeschlagen war, und ein Schauer lief ihr den Rücken hinab. »Schalten Sie die Taschenlampen-App an. Ich habe hier irgendwo Pfefferspray.«
Das Licht ging an und erhellte den Raum mit einem warmen weißen Schimmer. Sie stand auf, stieg über seine langen Beine und ging zu dem Hocker in der Ecke. Dann zog sie ihn in den hinteren Teil der Kammer, stellte sich darauf und durchwühlte ein Regal.
»Na, jetzt fühle ich mich aber sicher.« Er erhob sich hinter ihr. »Eine Lehrerin mit einer gefährlichen Waffe. Ich glaube, auf der Highschool hatte ich Albträume davon. Was machen Sie in Reichweite von Kindern mit Pfefferspray?«
»David hat sich Sorgen um meine Sicherheit gemacht. Der letzte Lehrer ist nach seiner Entlassung ein paarmal mit der Polizei aneinandergeraten. Das Pfefferspray war eine Vorsichtsmaßnahme.«
»Ich verstehe. Versprechen Sie mir nur, dass Sie es nicht gegen mich benutzen. Meine Lehrerinnenfantasien drehen sich normalerweise um ein Lineal, einen kurzen Rock und die eine oder andere Peitsche. Nichts so Masochistisches wie Pfefferspray.«
Sie kam nicht dagegen an. Sie lächelte. Dann unterdrückte sie es schnell. »Wenn Sie die Hände bei sich behalten, verspreche ich es. Ah, da ist es ja.«
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und streckte die Hand in den hinteren Teil des Regals. Ihre Finger streiften den Behälter. Sie konnte ihn fast erreichen. Sie hielt sich am Regal fest und streckte sich höher. Der Hocker unter ihren Füßen schwankte.
»Mist.« Metall schepperte. Luft fuhr Sam den Rücken hinauf. Sie hielt sich an der Regalkante fest, aber der Hocker fiel polternd um. Und dann fiel sie …
»Ms Park…«
Sam landete mit dem Hintern auf dem Boden und ächzte. Schmerz schoss ihr in die Wirbelsäule. Sie sah zu den schwankenden Regalen hoch. Flaschen und Kanister stürzten direkt auf sie zu.
Sam kreischte und hielt sich schützend die Hände über den Kopf. Das Licht erlosch. Ein Poltern erklang, aber überraschenderweise wurde sie von nichts getroffen.
Sie blinzelte mehrmals, verwundert, dass das Regal nicht auf ihr lag, und ließ die Arme sinken. »Was ist pass…«
»Das gibt einen blauen Fleck«, knurrte McClane von irgendwo über ihr. »Wahrscheinlich mehrere.«
Sam stemmte sich auf den Händen hoch, nur um mit der Stirn gegen etwas Hartes zu stoßen.
»Verdammt«, murrte McClane. »Noch einer.«
Sam zuckte zusammen und rieb sich die Stirn. McClane war direkt über ihr. Sie war mit dem Kopf gegen seinen geknallt. Sie hatte nur zwei Sekunden gebraucht, um zu begreifen, dass er sich zwischen sie und die Gefahr geworfen hatte.
»Halten Sie still.« Er kauerte auf allen vieren über ihr. Als sie unter ihm hervorkroch, verteilte sie Flaschen und Zylinder über den Boden.
Ihre Finger schlossen sich um die Metallstütze des Regals, und sie mühte sich, es wieder aufrecht hinzustellen.
Das Regal schlug gegen die Rückwand, und Sam stieß hart die Luft aus. Dann drehte sie sich um und wollte zu McClane zurückgehen, aber ihre praktischen flachen Schuhe rutschten auf einem Pulver aus, und sie schwankte. »Verflucht.«
»Würden Sie mal kurz stillhalten?« McClane tastete zu ihren Füßen über den Boden. »Vielleicht kann ich mein Handy finden.«
Dosen rollten herum. Sam stellte sich vor, wie er auf Händen und Knien nach seinem Handy suchte, das in diesem Chaos überall liegen konnte. Gerade als sie sich sicher war, dass er es nie finden würde, ging ein weißes Licht an.
Beim Anblick der zerbrochenen Gläser und verstreuten Pulver auf dem Boden wurde ihr schlecht. Zum Glück hatten auf dem Regal keine gefährlichen Chemikalien gestanden, aber ihre Erleichterung war nur von kurzer Dauer, als sie McClane sah.
»Oh mein Gott. Sie sind verletzt.« Sie stieg über ein Pulverglas, um zu ihm zu gelangen. Sein weißes Anzughemd war an der Schulter gerissen, sein Haar mit feinem weißem Puder bedeckt, und etwas Feuchtes und Schwarzes rann ihm am Gesicht hinab. Sie berührte seine Stirn und stellte fest, dass die Flüssigkeit warm und klebrig war. »Nicht bewegen. Ich habe Handtücher.«
»Glauben Sie mir, ich hatte nicht vor, mich zu bewegen.« Er setzte sich auf den Boden. »Verdammt. Mein Tag wird nicht besser.«
»Meiner auch nicht.« Sam nahm das Handy, das er ihr hinhielt, damit sie das Regal beleuchten konnte. Sie nahm einen Stapel Handtücher, kniete sich neben ihn und presste ihm ein Tuch an die Stirn. »Ich habe keine Ahnung, wie das passiert ist. Die Regale sind an der Wand festgeschraubt.«
»Anscheinend nicht besonders gut.«
Sie nahm das Handtuch weg. Ihr wurde wieder übel, als sie sah, wie viel Blut an dem weißen Tuch klebte. Sie drückte es ihm wieder auf die Stirn.
Er sog zischend die Luft ein.
»Tut mir leid.« Sam verringerte den Druck. »Ich will versuchen, vorsichtiger zu sein.«
»So langsam glaube ich, dass Sie ein schlechtes Omen sind, Ms Parker.«
Sam verzog das Gesicht, denn sie fühlte sich allmählich selbst wie ein schlechtes Omen.
Sie untersuchte ihn auf weitere Verletzungen, während er sich mit geschlossenen Augen zurücklehnte und auf die Hände stützte. Buntes Granulat bedeckte seine linke Schulter, aber zum Glück fand sie keine weiteren blutenden Stellen. Ihr Blick glitt flüchtig über die harte Linie seines Kinns, die Muskeln an seinen Armen und seiner Brust und die schmale Taille, die in seiner Hose verschwand.
In ihrem Bauch wurde es warm. Die Wärme kam wie aus dem Nichts, aber sie wurde schnell verdrängt von der Erkenntnis, dass er sie gerade beschützt hatte – wieder einmal.
Alle Feindseligkeit fiel von ihr ab. Sie drehte das Handtuch um und drückte ihm eine saubere Stelle auf die sickernde Wunde. »Es tut mir leid, dass ich vorhin so zickig war. Es liegt nicht an Ihnen, es sind die …«
»Therapeuten. Ja, schon klar.«
Sie überprüfte wieder das Handtuch. Kopfverletzungen bluteten immer stark, aber sie machte sich dennoch Sorgen darüber, dass die Blutung nicht nachließ. »Es ist nicht nur das. Ich mag Thomas. Er gibt sich große Mühe, dazuzugehören. Ich weiß, wie es ist, der Außenseiter zu sein, und ich möchte nicht, dass man es ihm schwer macht. Ihre Anwesenheit hier könnte dazu führen. Ich weiß, dass er schon mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist, aber ich glaube ehrlich, dass er sich eine zweite Chance wünscht. Er ist ein guter Junge.«
Dr. McClanes Hand streifte ihren Unterarm. Hitzefunken schossen ihr über die Haut und warfen sie kurz aus der Bahn. »Ich bin nicht hier, um Thomas Schwierigkeiten zu machen. Solange er keinen Mist baut, ist meine Anwesenheit hier nur eine Formalität. Vertrauen Sie mir, niemand glaubt mehr an zweite Chancen als ich.«
Ihr Pulsschlag beschleunigte sich. Sie kannte diesen Mann kaum, und wenn man bedachte, womit er seinen Lebensunterhalt verdiente, hatte sie keinen Grund, ihm zu vertrauen. Aber irgendetwas in ihr sagte, dass er die Wahrheit sprach. Und dadurch, dass er sich gerade zwischen sie und die Gefahr gestellt hatte, obwohl sie ihn die ganze Zeit über nur gegen sich aufgebracht hatte, wurde ihr klar, dass er ganz anders war als ihr letzter Therapeut.
Sie blickte ihn an, und in dem schwachen Licht sah sie noch etwas. Es war etwas, das in seinen Augen lauerte und ihr verriet, dass dieser Mann trotz all des Grauens und des Unglücks, das sie in ihrem Leben durchgemacht hatte, viel mehr über zweite Chancen wusste, als sie jemals wissen würde. Und nicht nur aus klinischer Erfahrung.
Es knisterte zwischen ihnen. Es brachte sie völlig aus dem Gleichgewicht. »Dr. McClane …«
»Ethan.« Ein Lächeln umspielte seine weichen Lippen. Lippen, die tausendmal verführerischer waren als zuvor. »Mein Vorname ist Ethan. Und da ich gerade von Ihrem Regal plattgemacht worden bin, finde ich, dass es an der Zeit ist, die Förmlichkeiten hinter uns zu lassen.«
»Nein.«
Sein selbstbewusstes Grinsen erlosch, und sie sah die Enttäuschung in seinen Augen, aber ihr Herz klopfte plötzlich so heftig, dass sie nicht klar denken konnte. »Nicht weil mein Regal Sie plattgemacht hat. Sondern weil ich auch an zweite Chancen glaube. Ich heiße Samantha, aber alle hier nennen mich Sam.«
»Samantha«, wiederholte er leise. »Wollen Sie unseren Waffenstillstand mit etwas Süßem besiegeln?«
Er streckte die Hand aus, und in Erwartung seiner Berührung loderte Hitze in ihrem Bauch auf. Aber die Berührung kam nicht. Und als er erneut einen Mundwinkel zu diesem verführerischen Grinsen verzog, schaute sie hinab und sah, dass er ihr einen weiteren Life Saver anbot.