Tödliche Wahrheiten - Elisabeth Naughton - E-Book

Tödliche Wahrheiten E-Book

Elisabeth Naughton

0,0
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der schlimmste Albtraum

Drei Jahre ist es her, dass Alec McClane und Raegan Deveraux den schlimmsten Albtraum aller Eltern durchleiden mussten: Als Alec seiner einjährigen Tochter Emma nur eine Minute den Rücken zukehrte, war sie plötzlich verschwunden - und ist nie wieder aufgetaucht, und die Polizei hält sie für tot. Angesichts dieses entsetzlichen Schicksalsschlags ging auch ihrer beider Ehe in die Brüche. Als jetzt eine Vierjährige auftaucht, die auf Emmas Beschreibung passt, keimt Hoffnung auf - reißen bei Alec und Rae alte Wunden wieder auf. Aber auch längst vergessen geglaubte Gefühle kehren heimlich zurück. Als Raegan dann auch noch die Ermittlungen in die eigenen Hände nimmt, entdeckt sie schon bald ein Muster. Sind sie und Alec etwas viel Düsterem auf der Spur? Die beiden beginnen, die Wahrheit immer weiter offen zu legen - und müssen erkennen, dass sie sich gegenseitig brauchen. Mehr denn je zuvor ...

"Elisabeth Naughton erschafft Geschichten, die unwiderstehlich, spannend und definitiv unvorhersehbar sind! Ein absolutes Muss!" The Coffeeholic Bookworm

Sexy und spannend - Band 2 der Deadly-Secrets-Reihe

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 487

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

TitelZu diesem BuchWidmung1234567891011121314151617181920EpilogDie AutorinElisabeth Naughton bei LYXImpressum

ELISABETH NAUGHTON

Tödliche Wahrheiten

Roman

Ins Deutsche übertragen von Michaela Link

Zu diesem Buch

Der schlimmste Albtraum

Drei Jahre ist es her, dass Alec McClane und Raegan Deveraux den schlimmsten Albtraum aller Eltern durchleiden mussten: Als Alec seiner einjährigen Tochter Emma nur eine Minute den Rücken zukehrte, war sie plötzlich verschwunden – und ist nie wieder aufgetaucht, und die Polizei hält sie für tot. Angesichts dieses entsetzlichen Schicksalsschlags ging auch ihrer beider Ehe in die Brüche. Als jetzt eine Vierjährige auftaucht, die auf Emmas Beschreibung passt, keimt Hoffnung auf – reißen bei Alec und Rae alte Wunden wieder auf. Aber auch längst vergessen geglaubte Gefühle kehren heimlich zurück. Als Raegan dann auch noch die Ermittlungen in die eigenen Hände nimmt, entdeckt sie schon bald ein Muster. Sind sie und Alec etwas viel Düsterem auf der Spur? Die beiden beginnen, die Wahrheit immer weiter offen zu legen – und müssen erkennen, dass sie sich gegenseitig brauchen. Mehr denn je zuvor …

Für Alia,meine liebste Bücherfreundin

1

Wenn Alex McClane noch ein Herz gehabt hätte, wäre es womöglich in diesem Moment auf dem Boden zerschellt. Doch so konnte er nur daran denken, dass gleich das Herz eines anderen brechen würde. Und dass er alles noch einmal durchstehen musste.

Er saß in dem sterilen Krankenhausflur, rieb sich mit Daumen und Zeigefingern die schmerzende Stirn und wartete. Als er den Anruf erhielt, hatte er gewusst, dass die Neuigkeiten nicht gut sein würden, aber er war trotzdem gekommen. Raegan dagegen war wahrscheinlich so aufgeregt, dass sie kaum klar denken konnte. Allein das Wissen, dass gleich ihre ganze Hoffnung zerstört werden würde, verursachte ihm solche Magenkrämpfe, dass er mindestens eine ganze verdammte Woche lang damit zu kämpfen haben würde.

Mann, er brauchte seinen alten Freund Jim. Bedauerlicherweise sprachen er und Jim Beam jetzt seit fast drei Jahren nicht mehr miteinander.

Er rutschte auf dem unbequemen Stuhl hin und her, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Eine Krankenschwester mit einem Stethoskop in der Hand eilte vorbei. Am Ende des Flurs unterhielten sich leise zwei Ärzte in weißen Kitteln und glänzenden Schuhen. Je länger er wartete, desto stärker empfand er den Druck in der Brust. Ein Druck, der in Selbstekel und Schuldgefühlen wurzelte, die nicht einmal Jim Beam hatte lindern können.

Er beugte sich wieder vor, stützte die Ellbogen auf die Knie und ballte und öffnete die Fäuste in dem schwachen Versuch, sich von seinen Gefühlen abzulenken. Er hätte Raegan anrufen sollen, sobald er das Mädchen gesehen hatte. Hätte ihr sagen sollen, dass sie nicht zu kommen brauchte. Dann würde er zumindest nicht hier sitzen und darauf warten, dass die Liebe seines Lebens durch die Tür kam, nur um sich danach noch fertiger und noch leerer zu fühlen als heute Morgen beim Aufwachen.

Verdammt, er brauchte einen Drink.

»McClane?«

Alec schaute nach links, von wo ein FBI-Agent den langen Flur entlang auf ihn zukam. In dem kantigen Gesicht des Mannes stand ein grimmiger Ausdruck. Langsam erhob Alec sich. »Hey, Bickam.«

Jack Bickam hatte Emmas Fall bearbeitet. Er war es gewesen, der ihn und Raegan angerufen hatte, als man die Vierjährige gefunden hatte, die jetzt hier in einem Zimmer lag. Der Park, in dem man sie entdeckt hatte, war nicht weit entfernt von dem, in dem Emma vor dreieinhalb Jahren verschwunden war.

Verschwunden, als Alec ihr für zwei Minuten den Rücken zugekehrt hatte, um einem Kind zu helfen, das von der Schaukel gefallen war.

Eine weitere Welle von Schuldgefühlen drehte ihm den Magen um, und Galle stieg ihm in die Kehle. Aber er schluckte kräftig und drängte beides zurück.

»Gut, dass ich Sie noch erwische«, sagte Bickam. »Haben Sie kurz Zeit?«

Alec warf einen Blick über die Schulter in die Eingangshalle des kleinen Krankenhauses. Immer noch keine Spur von Raegan. Nervosität gesellte sich zu den Schuldgefühlen, aber er konnte nicht viel dagegen tun. »Ja.« Er drehte sich wieder zu Bickam um. »Worum geht’s?«

»Tut mir leid, dass die Kleine nicht Emma war«, antwortete Bickam und strich sich die dunklen Haare aus der Stirn.

Darauf gab es keine gute Antwort, daher schob Alec die Hände in die Taschen seiner abgetragenen Jeans. »Sind Sie extra gekommen, um mir das zu sagen?«

»Nein. Ich wollte mit Ihnen über den Tipp reden, den wir wegen des Mädchens bekommen haben. Er stammte aus dem Bundesgefängnis in Santiam.«

Die Sorgen und der Stress traten in den Hintergrund. Was blieb, war ein siedender Zorn, der genauso hartnäckig war wie das Verlangen nach Alkohol. »Sind Sie sicher?«

»Ja, ich habe die Anrufdaten dreimal geprüft. Der Anruf kam mittags um halb zwei. Santiam ist eine Anstalt des offenen Vollzugs, die Straftäter wieder in die Gesellschaft eingliedert. Die Gefangenen haben von sechs bis zweiundzwanzig Uhr Zugang zu Telefonen, solange sie nicht mit einem Arbeitskommando unterwegs sind. Und Ihr Vater war bei keinem Kommando, als der Anruf getätigt wurde. Ich habe es gerade überprüft.«

Tausend Erinnerungen an eine vernachlässigte und beschissene Kindheit gingen Alec durch den Kopf. Der Mann im Gefängnis war nicht sein Vater. Väter kümmerten sich um ihre Kinder. Sie verprügelten sie nicht ständig, überließen sie nicht sich selbst oder benutzten sie als Kurier, um ihre illegalen Drogen zu transportieren. Nein, John Gilbert war nicht sein Vater. Er war einfach nur der Scheißkerl, mit dem Alec die DNA teilte.

Er war außerdem das Arschloch, das jeden Grund hatte, Alec leiden sehen zu wollen. »Ich bringe ihn um.«

»Nein, das werden Sie nicht.« Bickam versperrte Alec den Weg, bevor Alec in die Halle treten konnte. »Ich habe bereits jemanden hingeschickt, um Gilbert zu befragen.«

»Sie wissen ganz genau, dass er nicht reden wird. Wenn er von dem verschwundenen Mädchen gewusst hat, heißt das, dass er beim Verschwinden meiner Tochter die Hände im Spiel hatte.«

»Da bin ich mir nicht so sicher«, erwiderte Bickam. »Der Anrufer hat Emma ausdrücklich erwähnt. Deshalb habe ich Sie verständigt, als wir das Mädchen gefunden haben. Ich hatte auf einen Durchbruch in dem Fall gehofft, aber wenn Gilbert der Anrufer war, wie wir vermuten, dann könnte man davon ausgehen, dass er es getan hat, um Ihnen eins auszuwischen.«

»Sie meinen, um mich zu verarschen.«

»Ja, genau.« Bickam biss die Zähne zusammen. »Hören Sie, er könnte von dem verschwundenen Mädchen aus den Nachrichten erfahren haben, vielleicht hat er auch gehört, wie sich Vollzugsbeamte über den Fall unterhalten haben. Der Anrufer hat nicht den Park genannt, in dem das Mädchen aufgegriffen wurde, sondern den, in dem Emma verschwunden ist. Es könnte einfach nur Zufall sein.«

Nicht für Alec. Wenn es um John Gilbert ging, gab es keinen Zufall.

»Ich habe mir den Anruf angehört«, fuhr Bickam fort. »Für mich klang der Mann nicht wie Gilbert, aber ich weiß, dass das für Sie nichts heißen muss.«

Nein, das musste es allerdings nicht. Der Mistkerl könnte seine Stimme verstellt oder sogar einen anderen Insassen dazu überredet haben, den Anruf für ihn zu machen.

»Ich wollte nur, dass Sie es wissen«, sagte Bickam. »Wenn ich von meinen Leuten in Santiam höre, werde ich Sie informieren. Sie müssen ohnehin aufpassen. Gilbert soll nächste Woche entlassen werden. Seine sechsmonatige Haftstrafe wegen Verstoßes gegen Bewährungsauflagen ist fast vorbei, und er hat an den Resozialisierungsmaßnahmen teilgenommen. Wenn wir ihn mit dem Anruf in Verbindung bringen können, werde ich mit der Information zum Richter gehen, aber wenn nicht, ist er bald auf freiem Fuß.«

Alec stemmte die Hände in die Hüften und kämpfte gegen die Wut an, die ihn zu verzehren drohte. Egal, was Bickam dachte, Alec wusste, dass John Gilbert seine Tochter getötet hatte. Er war der Einzige, der ein Motiv hatte, der einzige Mensch auf der Welt, der Alec leiden sehen wollte. Alecs Zeugenaussage als Junge hatte Gilbert für vierzehn Jahre hinter Gitter gebracht. Den Tag im Gerichtssaal, als Gilbert verurteilt wurde, würde er sein Lebtag nicht vergessen – Gilbert hatte am Tisch der Verteidiger gestanden und Alec mit wutentbrannten Augen über den Zuschauerraum hinweg angesehen, während man ihm Handschellen anlegte und er schrie, dass er Alec büßen lassen werde. Und Alec hatte gebüßt. Er büßte seit jenem schrecklichen Tag im Park. Gilbert war noch keinen Monat auf freiem Fuß, als Emma verschwand. Alec wusste, dass Gilbert dort gewesen war, dass er Emma aus einem sadistischen Rachedrang heraus entführt hatte, so wie er wusste, dass Gilbert sie anschließend getötet hatte. Alec hatte es nur nie beweisen können.

»Ja, okay«, antwortete er dem Beamten, während er sich einen Plan zurechtlegte, wie er die Information aus dem Hurensohn herauspressen würde. »Danke, dass Sie mir Bescheid gesagt haben.«

Bickam nickte und warf über die Schulter einen Blick in die Halle. »Noch keine Spur von Devereaux?«

Alecs Magen zog sich zusammen. Die bloße Erwähnung von Raegan brachte ihm wieder ins Bewusstsein, warum er eigentlich in diesem leeren Flur stand. »Nein. Noch nicht.«

»Okay. Also, ich bin da drüben, falls Sie mich brauchen.«

Alec murmelte: »Danke«, während Bickam bereits in die Richtung zurückkehrte, aus der er gekommen war. Aber als er sich wieder auf den Stuhl sinken ließ und sich die pochende Stirn rieb, kehrte die Angst zurück.

Lange Minuten später gingen die Automatiktüren am Ende des Flurs auf, gefolgt vom Klappern von Absätzen auf dem Fliesenboden. Alec hob den Kopf und schaute nach rechts, und als er sie sah, verschlug es ihm den Atem.

Raegan Devereaux eilte mit wehendem Trenchcoat und wippenden Locken den Flur entlang auf ihn zu. Alec erhob sich und schluckte, als sie näher kam. Er dachte daran, wie er ihr mit den Fingern durch das seidige rotbraune Haar gefahren war, die zahllosen Stunden, die er ihr die Arme um die schlanke Taille gelegt und sie festgehalten hatte, und an die Nächte, die er damit verbracht hatte, ihrem perfekten Körper zu huldigen, so wie ein Bauer einer Göttin huldigt, deren Stellung meilenweit über seiner niederen Klasse ist.

»Wo ist sie?« Hoffnung spiegelte sich tief in Raegans wiesengrünen Augen, aber ihre engelhaften Züge waren angespannt und verkrampft, und ihre weichen, rosigen Lippen bebten vor Angst, einer Angst, die sie zu überwältigen drohte.

»Sie ist es nicht.« Alec hielt Raegan an den Unterarmen fest, bevor sie an ihm vorbeilaufen konnte. Der Duft ihres Jasminparfüms traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube und weckte Erinnerungen, in die er sich jetzt nicht hineinziehen lassen durfte. »Raegan. Stopp. Sie ist es nicht.«

»Woher weißt du das?« Ihre Stimme klang schrill vor Panik. »Agent Bickam sagte, sie passt ins Profil. Er sagte …«

»Sie ist es nicht«, wiederholte er lauter, ohne darauf zu achten, dass ihr Duft ihn benommen machte und ihre Wärme, die er durch die Mantelärmel spürte, ihn erhitzte. »Ich habe sie gesehen. Es ist nicht unsere Tochter.«

Die Hoffnung in ihren schönen grünen Augen erlosch. Sie suchte seinen Blick, als wollte sie ihn dazu bringen, mehr zu sagen, aber er konnte nicht, denn Hoffnung war gefährlich. Sie war eine ferne Fata Morgana, die im schwindenden Licht flimmerte und einen anlockte wie Wasser einen Verdurstenden, nur dass man schließlich nichts weiter vorfand als Sand – trockenen, körnigen Sand, der einem die Kehle verstopfte und einen umbringen würde, wenn man ihn ließ.

Er stand da, reglos und außerstande, ihre Hoffnung zu retten. Als ihr der altbekannte Schmerz in die Augen stieg und ihren Blick feucht werden ließ, spürte er, wie der Schmerz auch ihm tief in die Knochen kroch und an dem Herzen zerrte, von dem er sicher war, dass es nicht mehr existierte.

»Ich glaube dir nicht.« Genauso schnell trat ein anderes vertrautes Gefühl in ihre sanften Gesichtszüge. Ein Gefühl, das ihr Kinn verhärtete, ihre Augen verdunkelte und ihre üppigen Lippen zu einem schmalen Strich verzog. Sie entwand sich seinem Griff. »Du willst einfach nicht, dass sie es ist.«

Alecs Arme fielen herab, und etwas in seiner Brust erschlaffte wie ein Ballon, der Luft verlor. Es gab nichts auf der Welt, was er sich mehr wünschte, als dass das vierjährige Mädchen in dem Zimmer ihre Tochter wäre, aber sie war es nicht. Kein Mädchen, das in diesem oder einem anderen Krankenhaus auftauchte, würde ihre Tochter sein. Wegen John Gilbert.

Er sagte Raegan nichts davon, denn sie hatten bereits eine Million Mal darüber gestritten. Er versuchte nicht, sie aufzuhalten, als sie um ihn herumging. Warnte sie nicht vor dem, was sie gleich sehen würde. Wusste, dass es nichts nützen würde. Er hatte sich vor langer Zeit mit der bitteren Wahrheit abgefunden, dass Emma tot war und nie mehr zurückkommen würde. Raegan hingegen klammerte sich an eine Hoffnung, die sie nur für den Rest ihres Lebens quälen würde.

Er drehte sich um und sah ihr nach, wie sie sich an den Ärzten, die sich immer noch unterhielten, vorbeischob und zu Bickam eilte, der mit einem uniformierten Beamten vor einem Raum am Ende des Ganges stand. Schmerz durchzuckte seine Brust, als sie nickte und Bickam in den Raum folgte. Als er sie nicht mehr sehen konnte, biss er die Zähne zusammen und rieb sich den Nacken.

Ja, Hoffnung war etwas sehr Gefährliches. Gefährlicher als eine geladene.45er, die einem an den Kopf gehalten wurde. Und, scheiße, er sollte es wissen, denn dank seiner zerstörten Hoffnung hatte auch er dieses Grauen durchlebt.

Alles wegen eines Mannes, den er zur Rede stellen wollte, sobald er dieses Krankenhaus verließ.

Sie hätte auf ihn hören sollen.

Raegan trat aus dem Krankenzimmer, rieb sich mit einer zitternden Hand die Stirn und holte tief Luft, um ihren rasenden Puls zu beruhigen. Nichts half. Sie hatte das Gefühl, als würde das, was von ihrem Herzen übrig war, mit einem Presslufthammer bearbeitet. Der Schmerz war fast so stark wie an dem Tag, an dem Emma verschwunden war.

Sie drückte sich eine Hand auf die Brust und konzentrierte sich auf ihre Atmung. Er hatte versucht, sie zu warnen. Alec hatte versucht, sie davon abzuhalten, in den Raum zu eilen und von Neuem verletzt zu werden, aber sie hatte nicht auf ihn gehört. Er hatte sie zwar damals fertiggemacht, aber sie bedeutete ihm immer noch etwas, sonst hätte er nicht hier im Krankenhaus auf sie gewartet. Er wäre gegangen, sobald er wusste, dass das Mädchen in dem Zimmer nicht ihre verschwundene Tochter war.

»Entschuldigung, Miss?« Der Beamte vor der Tür trat auf sie zu. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«

Tränen brannten Raegan in den Augen, Tränen des Schmerzes, der Frustration, der zerstörten Hoffnung, doch sie blinzelte dagegen an, atmete tief durch und nahm sich zusammen. »Ja«, brachte sie hervor. »Es geht mir gut.«

Sie wandte sich ab und wischte sich über die Augen. Ein einziger Blick hatte genügt, und sie hatte gewusst, dass das Mädchen nicht Emma war. Das Haar war zu dunkel, die Augen zu rund, und das kleine erdbeerfarbene Muttermal am rechten Auge, mit dem Emma zur Welt gekommen war, hatte gefehlt. Raegan hatte gewusst, dass sie sich keine Hoffnungen machen durfte und dass die Chancen gering waren, aber sie hatte trotzdem gehofft. Und egal, was Bickam oder Alec sagten – sie würde weiter hoffen. Denn Hoffnung war alles, was sie noch hatte.

Reiß dich zusammen. Du schaffst das.

Sie hob den Kopf, holte tief Luft und strich sich die Bluse über der Hose glatt. Sie war nicht schlimmer dran als heute Morgen. Es würde sie nicht umbringen. Das würde sie nicht zulassen.

Sie drehte sich um und ging den Flur zurück zur Eingangshalle. Ihre Absätze klapperten auf dem Fliesenboden wie eine unheilvolle Warnung. Ihr Puls war immer noch zu hoch, aber sobald sie wieder im Büro war und sich in ihrer Arbeit vergrub, würde es ihr besser gehen. Vielleicht würde sie sogar früher Schluss machen und sich einen Drink gönnen, bevor sie sich abends zum Essen mit Jeremy und seinen Freunden traf.

Ihre Schritte gerieten ins Stocken, als sie Alec auf halbem Weg im Gang auf einem Stuhl sitzen sah. Er massierte sich die Stirn, als hätte er höllische Kopfschmerzen. Bei seinem Anblick krampfte sich ihr verräterisches Herz zusammen und schlug einen schmerzhaften Rhythmus gegen ihre Rippen.

Sie waren seit fast drei Jahren geschieden, aber sie reagierte immer noch mit jeder Faser ihres Körpers auf ihn, als hätten sie sich gerade erst kennengelernt. Ihr wurde heiß, ihr Mund wurde feucht, und ein Kribbeln breitete sich in ihrem Bauch aus und wanderte tiefer, bis ihr buchstäblich die Knie zitterten.

Er hörte mit seiner Massage auf und hob den Kopf. Und als seine himmelblauen Augen ihren Blick auffingen und festhielten, ging ihre Haut in Flammen auf.

Er erhob sich, ohne den Blick von ihr zu wenden. Mit einem hörbaren Schlucken zwang sie ihre Beine vorwärts und sagte sich, dass sie sich nicht aufregen sollte. Es war Alec. Der Mann, der ihr gesagt hatte, dass ihre Ehe ein Fehler war. Der auf ihrem Herzen herumgetrampelt war. Der sie allein gelassen hatte, als sie am Ende war und ihn am dringendsten gebraucht hätte.

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte er leise.

Verdammt, sie wollte ihn hassen, aber sie konnte es nicht. Er war nach Emmas Verschwinden genauso fertig gewesen wie sie. Er war nur ganz anders damit umgegangen. Jetzt, Jahre später, akzeptierte sie es, obwohl sie es nie verstehen würde.

»Ja«, brachte sie heraus und schob die Hände in die Taschen ihres Trenchcoats, denn sie wusste nicht, was sie mit ihnen machen sollte. »Es geht mir gut.«

Er nickte, aber sie sah in seinen Augen, dass er ihr nicht glaubte. Sie ertappte sich bei dem Wunsch, sich an ihn zu lehnen, um sich trösten zu lassen, wollte ihn anschreien, dass er hier war, wenn sie ein emotionales Wrack und körperlich ausgelaugt war, wünschte, dass so vieles zwischen ihnen anders wäre.

Doch nichts war anders. Das war ihre Realität: ein verschwundenes Kind, eine gescheiterte Ehe und ein Leben, das in Trümmern lag, während sie einfach nur nach vorn schauen wollte.

Er schob die Hände in die Taschen seiner alten Jeans. Durch die Bewegung straffte sich das schwarze Henley-Shirt über seinen starken Schultern. Sie verspürte ein leises Pochen im Leib, als sie ihn betrachtete. Er sah so gut aus wie immer – blondes Haar, ein schlanker, muskulöser Körper, auf den er offensichtlich immer noch achtete –, aber die Jahre hatten ihn vorzeitig altern lassen. Jetzt, mit Zweiunddreißig, zogen sich schmale Falten über seine Stirn, die früher nicht da gewesen waren, und sie sah einen Anflug von Grau in den blonden Bartstoppeln, die sein Kinn bedeckten. Dunkle Ringe verunstalteten die zarte Haut unter seinen Augen und verrieten ihr, dass er in letzter Zeit nicht viel geschlafen hatte. Bei dem Gedanken, dass er wieder trank, krampfte sich ihr vor Sorge der Magen zusammen. Aber ein Blick in seine klaren blauen Augen sagte ihr, dass er zumindest diesen Dämon aus seinem Leben verbannt hatte – doch die Schuldgefühle sah sie immer noch in ihren Tiefen.

Es gefiel ihr überhaupt nicht, dass sie ihn auch jetzt noch liebte und ihn so trösten wollte, wie er es ihr nie erlaubt hatte. Selbst nach all dem Kummer und dem Leid und der Trennung war er immer noch der Eine – der, der ihr Herz schneller schlagen und ihre Handflächen feucht werden ließ, der sie nur anzusehen brauchte, um ihr Verlangen zu wecken, der ihr von jetzt bis ans Ende der Zeit alle anderen Männer verleiden würde.

»Ich habe dich neulich abends in den Nachrichten gesehen«, sagte er in das verlegene Schweigen hinein.

Ihre Karriere als Journalistin war das Letzte, worüber sie reden wollte, erst recht mit ihm, aber ihr war klar, dass er versuchte, höflich zu sein. Und da sie wusste, dass er wahrscheinlich genauso enttäuscht war wie sie, ermahnte sie sich, nicht über ihren Scheißtag zu jammern, sondern darüber hinwegzukommen. »Das war nur eine Ausnahme. Ich bin am Moderatorentisch eingesprungen.«

»Doch, es war gut. Mir hat der Bericht über den Little-League-Trainer gefallen, der behinderte Kinder ermutigt, Sport zu treiben.«

»Wirklich?« Als ihr klar wurde, dass er die ganze Sendung gesehen hatte, durchlief sie ein Schauer der Erregung. »Das war mein Beitrag.«

»Das habe ich gemerkt.«

Natürlich. Er wusste, welche Themen ihr am Herzen lagen.

Sie riss den Blick von seinen Augen los und sah wieder zu Boden, denn es war einfach zu schmerzhaft, in dieses unergründliche Blau zu schauen und daran zu denken, wie er sie geküsst, gehalten und ihr gesagt hatte, sie sei sein Ein und Alles.

Sie suchte verzweifelt nach etwas, womit sie das unbehagliche Schweigen füllen konnte. »Es überrascht mich ein wenig, dass du hier bist. Ich dachte, du wärest irgendwo in Übersee.«

Er war ein unglaublicher Fotojournalist, der beste, der ihr je begegnet war. Er zeigte den menschlichen Aspekt einer Krise auf eine Art, die einen völlig anderen Blick auf den Krieg eröffnete. Das war einer der Gründe, warum sie sich so zu ihm hingezogen gefühlt hatte, als sie sich vor sechs Jahren kennengelernt hatten. Das und die Tatsache, dass sie sich gefühlt hatte, als sei sie in dem Moment zum Leben erwacht, in dem er sie angesehen hatte.

Sie war damals eine frisch eingestellte Lokalreporterin gewesen und hatte für ihren Sender über eine bunte Wahlkampfveranstaltung berichtet. Er war für die Associated Press dort gewesen und hatte nicht den Politiker, sondern die Gesichter der Zuschauer fotografiert. Sie hatte ihn dabei ertappt, wie er sie in der Menge beobachtete, und das war es gewesen. Mit nur einem Blick hatte er sie in seinen Bann geschlagen. Dann hatte sie von seiner Arbeit erfahren und das sanfte Herz kennengelernt, das er unter seiner markanten Attraktivität verbarg, und sie hatte sich Hals über Kopf verliebt. Diese Liebe war trotz des Leids, das sie durchgemacht hatten, immer noch das Schönste, was sie je erlebt hatte.

Er zuckte die Achseln. »Normalerweise wäre ich das auch, aber im Moment ist in der Familie einiges los.«

Der Gedanke an seine Familie versetzte ihr wieder einen Stich ins Herz. Diese Familie war bis zur Scheidung ihre Familie gewesen. Sie hatte sich ihr mehr zugehörig gefühlt als ihren eigenen entfernten Verwandten. »Ich habe gehört, dass Ethan sich verlobt hat. Das ist toll.«

»Ja. Für ihn.«

Der Stich im Herzen wurde schmerzhafter, und der Drang, wegzurennen, zu fliehen, raus aus diesem quälenden Gespräch zu kommen, beherrschte sie. »Nun, ich …«

Stimmen drangen aus der Halle in den Flur. Raegan blickte an Alec vorbei, um zu schauen, was los war. Er drehte sich ebenfalls um. Eine zerzauste Frau in den Dreißigern, der die Jacke halb von der Schulter hing, eilte in den Flur, neben ihr ein Mann mit aufgekrempeltem weißen Hemd und schief sitzender Krawatte.

Das Paar stürmte an ihnen und den Ärzten vorbei und blieb abrupt vor dem Polizisten am Ende des Flurs stehen. Selbst aus dieser Entfernung konnte Raegan die aufgeregten Worte der Frau hören.

»Wo ist sie? Wo ist Maggie?«

»Ma’am«, sagte der Beamte, »Sie müssen sich beruhigen. Wir dürfen Sie erst reinlassen, wenn Sie sich beruhigt haben.«

Die Frau schien die Worte des Polizisten nicht zu hören. Sie trat an ihm vorbei und blickte durch das Fenster in den kleinen Raum. Ein Aufschrei hallte durch den Flur, als die Frau nach dem Arm des Mannes griff. »Gary, sie ist es. Oh mein Gott, sie ist es.«

Die zwei schoben sich an dem Beamten vorbei in den Raum. Ihre überglücklichen Stimmen drangen in den Flur, als sie mit ihrer Tochter wiedervereint waren, und erinnerten Raegan an das, was sie nicht hatte und vielleicht auch nie bekommen würde.

»Scheiße«, murmelte Alec. »Das hättest du nicht mitansehen sollen.«

»Es geht mir gut, Alec.« Raegan wischte sich die dummen Tränen weg, die ihr bereits über die Wimpern quollen. »Ich freue mich für sie, das ist alles.«

Er trat neben sie und fasste sie am Ellbogen. Als seine vertraute Körperwärme sie umgab und sie seine Berührung spürte, stürmten tausend Erinnerungen auf sie ein. Faule Samstage mit ihm aneinandergekuschelt auf der Couch. Ein Mitternachtsessen bei Kerzenschein, wenn sie Spätschicht hatte und erschöpft nach Hause gekommen war und nichts anderes brauchte als ihn. Die Nacht, in der er von einem Auftrag in Afghanistan zurückgekehrt war und sie ihm gesagt hatte, dass sie schwanger war.

Sie hob den Blick und sah ihm in die Augen. Funken schossen zwischen ihnen hin und her. Funken, die die kältesten Stellen tief in ihrem Innern wärmten. Ihr Herz schlug schneller, als er den Blick über ihr Gesicht gleiten ließ. Und alles, was sie ihm schon vor langer Zeit hätte sagen sollen, kam ihr in den Sinn.

»Raegan?«

Raegan zuckte zusammen, als sie Jeremy Norris’ Stimme hörte. Eine neue Welle des Unbehagens überkam sie, als sie ihn mit großen Schritten den Flur entlang auf sich zuschreiten sah.

»Darling.« Jeremy ging direkt zu ihr, als sei Alec gar nicht da, und trat zwischen sie, sodass Alec gezwungen war, sie loszulassen. Jeremy zog sie an sich. »Ich bin gekommen, sobald ich es gehört habe.«

Raegan keuchte schockiert auf und sah Alec über Jeremys Schulter hinweg an. Alec biss die Zähne zusammen und straffte die Schultern, sagte aber nichts, und diese Tatsache erleichterte und enttäuschte Raegan zugleich.

Jeremy zog sich zurück, hielt sie aber immer noch an den Ellbogen fest, während er sie mit dunklen Augen ansah. »Was haben sie gesagt?«

»Es ist nicht Emma.« Ein heißes Kribbeln überlief Raegan. Es war jedoch keine gute Hitze, sondern eine, die sie reizbar machte.

Sie versuchte, sich aus Jeremys Armen zu befreien, aber er seufzte und zog sie wieder an sich, schloss sie in eine klaustrophobische Umarmung. Sie hätte schreien mögen. »Es tut mir so leid, Darling.«

Alecs Blick ging von Jeremys Hinterkopf zu Raegan, und sobald sie sich anschauten und sie die Enttäuschung in seinen Augen sah, stürmten Schuldgefühle auf sie ein, und ihr Magen krampfte sich zusammen.

Sie löste sich aus Jeremys Armen und wischte sich den Schweiß ab, der sich auf ihrer Stirn gebildet hatte. »Ähm, Jeremy, das ist Alec.«

Jeremy schaltete seinen Fernsehcharme ein, als sei Alec irgendein stumpfsinniger Zuschauer, und griff nach Alecs Hand. »McClane, richtig? Ich habe Ihre Fotoreportage über die Flüchtlingssituation in Kenia in der Newsweek gesehen. Interessante Wahl, denn im Moment spielt sich die eigentliche Flüchtlingsstory doch in Europa ab, meinen Sie nicht?«

Alecs Augen wurden schmal, und Raegan verspannte sich von Neuem, weil sie diesen geringschätzigen Blick kannte. »Ich habe kein Interesse daran, über das zu berichten, was gerade populär ist.« Er ließ Jeremys Hand fallen. »Wer sind Sie noch mal?«

»Oh, Verzeihung.« Jeremy lächelte und legte Raegan besitzergreifend den Arm um die Schultern. »Jeremy Norris. Sendeleiter bei KTVP.«

Alec warf Raegan einen Blick zu, und sie zuckte zusammen, als sie darin die ungläubige Frage las: Du gehst mit deinem Chef aus?

Um aus dieser unbehaglichen Situation zu kommen, sah Raegan Jeremy an und meinte: »Ich bin hier fast fertig. Würdest du mir einen Gefallen tun und mir ein Wasser aus dem Laden um die Ecke holen?«

»Klar.« Jeremy beugte sich vor und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Für mein Mädchen tu ich doch alles.« Er sah Alec an. »McClane.«

Alec runzelte die Stirn, nickte jedoch. »Norris.«

Jeremy ließ sie endlich los und ging durch den Flur zurück. Beschämt wischte Raegan sich wieder über die Stirn und sagte: »Tut mir leid. Ich habe ihn nicht angerufen. Jemand vom Sender muss ihm gesagt haben, warum ich von der Arbeit weggegangen bin.«

»Ja.«

Alecs Gesichtsausdruck wurde nicht weicher, und seine Schultern schienen noch angespannter als zuvor. In Raegan machten sich Schuldgefühle breit, für die sie keinen Grund hatte.

Sie schaute auf ihre Pumps hinab, unfähig, seinem Blick noch länger standzuhalten. »Ich, ähm, war überrascht, als ich dich hier gesehen habe. Ich dachte, du wärst schon weg.«

Er sah den Flur hinab, wo Jeremy gewesen war. »Ich wünschte, das wäre ich.« Als er den Blick wieder auf sie richtete, zuckte sie erneut zusammen. »Ich wollte nur schauen, ob du okay bist.«

Sie hätte beinahe gelacht. Sie war seit dreieinhalb Jahren nicht mehr okay und war sich nicht sicher, ob sie es jemals wieder sein würde. Das musste er doch wissen. »Ich bin schon groß, Alec. Du brauchst dir wegen mir keine Sorgen zu machen.«

»Oh doch. Vor allem jetzt.«

Sie schaute auf, und als ihre Blicke sich begegneten und sie das Bedauern in seinen Augen sah, traf sie jedes einzelne Gefühl, das sie in den letzten drei Jahren durchlitten hatte, mitten in die Brust, bis sie nur noch Verlust empfand.

Sie blinzelte gegen die brennenden Tränen an und wandte den Blick ab. Sie wusste, dass es mit Alec nur die Erinnerung an diesen Verlust geben würde, ganz gleich, wie sehr sie sich nach mehr sehnte.

»Dann gehe ich besser mal«, sagte sie schwach.

»Ja, ich auch.« Er trat zurück. »Pass auf dich auf, Raegan.«

Kalte Luft strich über sie hinweg und ersetzte die schwüle Hitze, die sie in seiner Nähe verspürt hatte. Ein kaltes Gefühl der Zurückweisung – eine vertraute, bittere Zurückweisung – stieg in ihr auf. Sie hatte gedacht, sie sei darüber hinweg, doch sie ließ sie selbst jetzt noch bis auf die Knochen frieren.

Sie überwand das Gefühl und wiederholte im Kopf das Mantra, mit dem sie die schlimmsten Zeiten überstanden hatte: Reiß dich zusammen. Du schaffst das. Es gelang ihr sogar, zu sagen: »Du auch.«

Aber als sie sich umdrehte und ging, wusste sie, dass der Verlust sie wieder einholen würde. Sie hoffte nur, dass es heute Abend geschah, wenn sie allein war und niemand sie sehen konnte.

2

Alec war flau im Magen, während er im Besucherraum des Bundesgefängnisses von Santiam wartete. In dem großen Raum waren überall Tische und Stühle verteilt. Da Samstag war, dreißig Minuten vor Ende der nachmittäglichen Besuchszeit, waren mehrere Tische von Insassen, deren Partnerinnen und Kindern besetzt.

Alec wandte den Blick von einer Frau ab, die mit einem kleinen Mädchen auf dem Knie hoppe, hoppe, Reiter spielte, während sie mit einem Mann in einem orangefarbenen Overall sprach, der ihr gegenübersaß. Von hinten hätte sie Raegan sein können. Vielleicht halluzinierte Alec auch nur, nachdem er sie im Krankenhaus gesehen hatte.

Verdammt, das hatte er heute wirklich nicht gebraucht. Er hatte keine schonungslose Erinnerung daran gebraucht, dass sie einen Neuen hatte und er niemandem dafür die Schuld geben konnte außer sich selbst. Sie verdiente es, ein bisschen Glück in dieser Welt zu finden, und bei den vielen Frauen, mit denen er ausgegangen war, durfte er sich nicht beschweren. Aber keins dieser sogenannten Dates war auch nur ansatzweise etwas Ernstes gewesen. Raegans Beziehung mit diesem Blödmann Norris hatte ernst gewirkt. Verdammt ernst.

Die schwere Tür auf der anderen Seite des Raumes wurde geöffnet, und ein Vollzugsbeamter kam mit John Gilbert herein.

Alec verkrampfte sich, und alle Gedanken an Raegan traten in den Hintergrund.

John Gilbert sah sich mit trüben blauen Augen im Raum um, entdeckte Alec und verzog den Mund zu einem boshaften Grinsen. Er hatte ungefähr Alecs Größe, fast eins neunzig, und wie Alec hatte er blaue Augen, wenn auch von einer anderen Schattierung. Aber dort endeten die Ähnlichkeiten. Gilberts Hautton war etwas dunkler als Alecs, sein Haar schmuddelig braun statt blond, und er war dünn und knochig, während Alec stark und muskulös war. Aber selbst ohne die offensichtlichen Folgen jahrelangen Drogenmissbrauchs wusste Alec, dass er sein Aussehen seiner leiblichen Mutter verdankte. Einer Mutter, die ihn so sehr geliebt hatte, dass sie ihn zu diesem Mistkerl verfrachtet hatte und Gott weiß wohin verschwunden war.

Einmal, als er als Jugendlicher dank des Mannes, der jetzt auf ihn zukam, wegen eines Drogendelikts in der Jugendstrafanstalt von Bennett eingesessen hatte, hatte er daran gedacht, nach ihr zu suchen und sie anzuflehen, ihn zurückzunehmen. Aber dann war er Michael McClane begegnet, einem Mann, der ihm in kurzer Zeit mehr Vater geworden war, als Gilbert es je gewesen war. Nachdem Alec gesehen hatte, wie es in einer richtigen Familie zuging, hatte er nie wieder an die Frau gedacht, die ihm das Leben geschenkt hatte.

»Ich habe mich schon gefragt, wann ich dich sehen würde«, sagte Gilbert und blieb mit einem finsteren Glanz in den Augen vor Alec am Tisch stehen. »Wurde auch verdammt Zeit, dass du deinen alten Herrn besuchst.«

Alec verkniff es sich, dem Stück Scheiße zu antworten, dass er niemals sein alter Herr sein würde, und biss die Zähne zusammen. Er war nicht hergekommen, um ein Geständnis aus Gilbert herauszuprügeln, auch wenn er das liebend gern tun würde. Er wusste, dass Gilbert viel zu gerissen war, um irgendetwas zuzugeben. Nein, er war nur gekommen, um die Augen des Arschlochs zu sehen, wenn er das Mädchen aus dem Krankenhaus erwähnte. Ein Blick würde Alec genügen, um festzustellen, ob Gilbert etwas mit ihrer Entführung zu tun hatte.

Alec musterte den leuchtend orangefarbenen Overall, der Gilbert um den mageren Körper schlotterte. »Sieht so aus, als würde das Essen hier nicht viel taugen. Ein starker Windstoß könnte dich umwerfen, alter Herr. Pech für dich.«

Gilberts Augen verhärteten sich. »Scheiße, was willst du?«

Keiner von ihnen setzte sich. Das hier war kein freundschaftliches Gespräch. Alec blickte an Gilbert vorbei zu dem Wachmann, der sie genau beobachtete, als erwarte er, dass gleich ein Feuerwerk losgehen würde. »Ich habe gehört, dass du gern das Telefon nutzt.«

Ein selbstgefälliges Lächeln breitete sich auf Gilberts gezeichnetem Gesicht aus. Tiefe Falten verunstalteten seine Wangen und seinen Mund und ließen ihn viel älter als seine vierundfünfzig Jahre erscheinen. »Oh, du kommst aus dem gleichen Grund wie diese Kerle vom FBI. Du denkst, ich hätte etwas mit dem verschwundenen Mädchen zu tun. Ich werde dir dasselbe sagen, was ich ihnen gesagt habe. Ich weiß gar nichts.«

Das Funkeln in Gilberts Augen widersprach seinen Worten. Genau wie Alec vermutet hatte, wusste der Mistkerl verdammt viel darüber. »Wenn ich herausfinde, dass du etwas mit dem Mädchen zu tun hast …«

»Was dann? Wirst du mich fertigmachen, wie du es mir vor drei Jahren angedroht hast? Wir wissen beide, dass du nicht das Zeug dazu hast, Sohn.«

Alec ballte die herabhängende Hand zur Faust. Er sah bereits vor sich, wie er sie zurücknahm und Gilbert durchs Gesicht pflügte, sah das Blut über den Tisch und auf den Boden spritzen. Aber er hielt sich zurück, anstatt den Zorn in seinem Inneren zu entfesseln. Er wusste, dass das Arschloch genau das von ihm wollte und dass es nichts an der Situation ändern oder Gilbert dazu bewegen würde, irgendetwas zuzugeben.

»Außerdem«, fuhr Gilbert fort, »habe ich den FBI-Leuten gesagt, dass ich es nicht war. Es ist nicht meine Schuld, wenn sie ihre verdammte Arbeit nicht richtig machen.«

Das war Schwachsinn, und sie wussten es beide. Alec kniff die Augen zu Schlitzen zusammen.

»Halt dich von mir fern. Halt dich von allem fern, was mit mir zu tun hat. Ist das klar?«

»Ja, ja, ist klar«, murrte Gilbert.

Alec drehte sich um und ging zur Tür.

»He, Junge«, rief Gilbert ihm nach. »Was macht deine hübsche Frau? Oder sollte ich sagen, Ex-Frau. Vielleicht statte ich ihr einen Besuch ab, wenn ich nächste Woche hier rauskomme. Wo du doch keine Verwendung mehr für sie hast, meine ich. Ich wette, sie könnte mit ihrem Mund alle möglichen schmutzigen Dinge tun, statt immer nur die Nachrichten zu sprechen. Sie wartet nur auf den richtigen Mann, der es ihr zeigt.«

Das Ventil von Alecs Temperament flog heraus, und der ganze Ärger und Zorn, den er zurückgehalten hatte, kam hoch und kochte über. Er fuhr herum, packte Gilbert vorne am Overall und riss ihn halb über den Metalltisch. »Wenn du sie anrührst, wenn du sie auch nur ansiehst, dann bringe ich dich um, du Arschloch.«

Zwei Wachen kamen brüllend angelaufen. Einer stieß Alec mit einem Gummiknüppel weg, während der andere Gilbert am Arm packte und zurückzerrte.

Gilbert kicherte mit einem bösartigen Glanz in den Augen, während der Wachmann sie auseinanderschob. »Diese Nachrichtenhure erregt dich immer noch, was? Oh ja, sie hat einen geilen Arsch. Ich denke, ich werde sie besuchen.«

Alec knurrte und wehrte sich gegen den Wachposten, der ihn zurückhielt.

»Gilbert«, brüllte der andere Wachmann. »Das reicht. Ihre Besuchszeit ist um.«

Der Aufsichtsbeamte, der Alec festhielt, war über eins neunzig groß, eine pralle Wand aus Muskeln, die die Vernichtung verhinderte, die Alec ausüben wollte. »Sie müssen sich beruhigen«, schrie der Aufseher, während Alec gegen ihn ankämpfte. »Rogers«, brüllte er seinem Kollegen zu und deutete mit dem Kopf auf Gilbert. »Schaff ihn endlich hier raus.«

Rogers zerrte den lachenden Gilbert quer durch den Raum und durch die Tür, und erst als Alec den Mistkerl nicht mehr sehen konnte, verrauchte allmählich seine Wut.

Alec hörte auf, sich zur Wehr zu setzen, als ihm klar wurde, dass der Aufseher mit ihm sprach. Er richtete seine Konzentration auf das, was er sagte. Der Mann drohte damit, die Cops zu verständigen, wenn er sich nicht beruhigte.

»Schon gut«, stieß Alec schwer atmend hervor, versuchte aber nicht mehr, sich loszureißen. »Geht klar«, sagte er zu dem Mann in der Hoffnung, dass er ihn loslassen würde.

Der Wachposten runzelte die Stirn, als glaubte er ihm nicht, gab ihn aber schließlich frei. »Gehen Sie. Und kommen Sie nicht zurück, verstanden?«

Alec verließ das Gefängnis, doch selbst als er draußen in der kalten Winterluft vor den Autos auf dem Parkplatz stand, raste sein Puls noch. Denn er wusste jetzt, dass sein Vater selbst aus dem Gefängnis ganz sicher etwas mit dem zu tun hatte, was dem Mädchen im Krankenhaus zugestoßen war, so, wie er etwas mit Emmas Verschwinden vor drei Jahren zu tun gehabt hatte.

Sosehr Alec diese Tatsache ignorieren wollte, er konnte es nicht. Denn er wusste, dass John Gilbert, sobald er nächste Woche freikam, über kurz oder lang in die Entführung eines anderen Kindes verwickelt sein würde.

Raegan saß am Schreibtisch in ihrer Kabine im KTVP-Studio und überflog Berichte von vermissten Kindern im Großraum Portland.

Sie hatte die ersten beiden Jahre nach Emmas Verschwinden damit verbracht, das Internet nach ähnlichen Fällen zu durchsuchen. Einige hatten vielversprechend gewirkt, aber bei keinem hatte sich etwas ergeben, da sie in einigen Punkten zu stark voneinander abwichen … die Umstände der Entführung, die Familienverhältnisse, sogar das Alter der Kinder. Sie hatte sämtliche Informationen an Jack Bickam vom FBI weitergegeben, und er war jeder einzelnen nachgegangen, aber keine hatte mit Emmas Fall zu tun gehabt, und nach einer Weile, als Raegan begriffen hatte, dass ihre Suche nichts brachte, hatte sie immer weniger Zeit damit verbracht, Nachforschungen anzustellen, und immer mehr Zeit damit, sich an ihr neues Leben allein zu gewöhnen.

Aber das Mädchen, das sie heute im Krankenhaus gesehen hatte, hatte eine unheimliche Ähnlichkeit mit Emma. Nicht nur wegen ihrer Haarfarbe oder weil sie so aussah wie sie, sondern weil sie in einem Park in der Nähe der Stelle aufgetaucht war, an der Emma verschwunden war.

Als Raegan auf einen Fall stieß, der zwei Jahre zurücklag, erstarrten ihre Finger auf dem Touchpad ihres Laptops. Der Junge war damals zwei Jahre alt gewesen, ein Afroamerikaner, der mit seinen Eltern im Nordosten von Portland gelebt hat. Er war während eines Ausflugs seiner Kita verschwunden. Der Fall hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem von Emma – bis auf ein kleines Detail, das Raegan vielleicht übersehen hätte, wenn sie nicht den ganzen Bericht gelesen hätte: die Tatsache, dass der Junge im selben Gebiet verschwunden war wie Emma, in demselben Park, in dem heute das Mädchen aus dem Krankenhaus aufgetaucht war.

Mit klopfendem Herzen scrollte Raegan durch den Artikel und suchte nach einem Foto des Jungen. Es gab keins. Sie hatte gewusst, dass es keins geben würde. Aber sie scrollte wieder nach oben und las trotzdem den Namen der Kita.

Kindertagesstätte der Freigebige Baum.

Emma war nie in der Kita gewesen. Raegan und Alec hatten eine private Nanny eingestellt, die sich bei ihnen zu Hause im Pearl District um Emma gekümmert hatte, wenn sie arbeiten waren. Aber dieser Park … sie konnte die Verbindung zu Emmas Verschwinden und dem Mädchen heute nicht ignorieren.

Raegan klickte auf »Ausdrucken« und nahm den Artikel aus dem Drucker auf ihrem Schreibtisch. Sie war aufgeregt, aber als sie auf die Blätter in ihren Händen hinabschaute, überkam sie Unsicherheit. Sie wollte Alec den Artikel unbedingt zeigen und ihn fragen, was er davon hielt, aber sie wusste, was er sagen würde. Er würde ihr erklären, dass der Bezug an den Haaren herbeigezogen sei, dass sie Verbindungen sah, die nicht da waren, und dass sie sich umsonst Hoffnungen machte. Er glaubte, Emma sei tot. Er würde es nicht hören wollen.

Aber trotzdem … wenn er den Artikel sah, würde er vielleicht …

»Da ist ja mein Mädchen.« Jeremys Stimme ließ Raegan zusammenfahren. Schnell legte sie den Ausdruck mit der Schrift nach unten auf den Schreibtisch, als er um die Ecke ihrer Kabine bog. »Bist du startklar?«

Raegan blinzelte mehrmals, weil sie sich nicht sicher war, was er meinte. Dann fiel der Groschen. Ihre Pläne fürs Abendessen mit Greg Jamison, dem Sprecher der Fünfuhrnachrichten, und Chloe Hampton, dessen gegenwärtiger Flamme. »Oh. Äh, ich habe völlig das Zeitgefühl verloren.«

Jeremy trat in ihre Zelle und strich ihr mit der Hand übers Haar. »Ist alles in Ordnung mit dir, Darling? Du wirkst durcheinander.«

Natürlich war sie durcheinander. Ihre Gefühle waren heute Achterbahn gefahren, und jetzt war sie auf eine mögliche Spur gestoßen. Sie wollte Jeremy gerade davon erzählen, als sie sich an seinen Gesichtsausdruck erinnerte, als sie vorhin gemeinsam das Krankenhaus verlassen hatten. Einen Ausdruck, den sie nur als erleichtert deuten konnte.

Jeremy Norris hatte für Kinder nichts übrig. Er hatte klargestellt, dass Kinder während der Arbeitsstunden im Gebäude nicht willkommen waren. Oh, er liebte es, ab und zu einen Tränendrüsendrücker zu bringen, weil ein guter Beitrag über Kinder die Quoten in die Höhe schnellen ließ, aber seine Karriere stand im Mittelpunkt seines Lebens, und ihm zufolge sollte sie auch im Mittelpunkt des Lebens jedes einzelnen Menschen stehen, der für ihn arbeitete.

Langsam klappte Raegan ihren Laptop zu. Nein, sie konnte Jeremy nicht sagen, was sie herausgefunden hatte, weil er es auch an den Haaren herbeigezogen finden würde, aber aus ganz anderen Gründen als Alec. Und so gerne sie einfach nur nach Hause fahren und weiter nachforschen wollte, wusste sie, dass Jeremy Verdacht schöpfen würde, wenn sie das Dinner mit seinen Freunden absagte. Das Letzte, was sie brauchte, war ein Vortrag darüber, dass sie während der normalen Arbeitsstunden nicht ihren Job machte.

Tolle Idee, eine Beziehung mit deinem Boss.

»Es geht mir gut«, antwortete sie und schüttelte den Gedanken ab. Sie stand auf und schob den Ausdruck zusammen mit dem Laptop in ihre Tasche. »War nur ein langer Tag.«

Jeremy lächelte und drückte ihr die Schulter, als sie sich umdrehte. »Dann kommt das Essen genau zur richtigen Zeit, denn es wird dich auf andere Gedanken bringen.«

Raegan bezweifelte das. Als sie in Jeremys dunkle Augen sah, wusste sie, dass sie nicht in der Lage sein würde, heute oder morgen oder selbst nächste Woche aufzuhören, an Alec zu denken.

Oder daran, wie sehr ihn die Ereignisse heute getroffen haben mussten.

Eine große Familienfeier war der letzte Ort, an dem Alec heute Abend sein wollte.

Mit bittersüßer Sehnsucht beobachtete er seine Eltern, Michael und Hannah McClane, am anderen Ende des privaten Speiseraums im ersten Stock eines trendigen Restaurants in Portland, wie sie Hände schüttelten und enge Freunde umarmten, die gekommen waren, um ihren fünfundzwanzigsten Hochzeitstag mit ihnen zu feiern. Seine eigene Ehe war ihm schon nach knapp drei Jahren um die Ohren geflogen, und daran war niemand anders schuld als er selbst. Offensichtlich hatte er dem leuchtenden Vorbild seines Vaters als gutem Ehemann zu wenig Beachtung geschenkt.

»Weißt du«, sagte seine Schwester Kelsey, die ebenfalls ihre Eltern beobachtete, »wenn die Leute hören, dass die beiden fünfundzwanzig Jahre verheiratet sind, gucken sie mich immer noch ungläubig an.«

Alec schnaubte, während er zusah, wie sein Vater Thomas, das neueste Mitglied der Familie McClane, neben sich zog und den schlaksigen Jugendlichen der Gruppe von Erwachsenen vorstellte, die um ihn herumstand. »Nur die Deppen, die nicht wissen, dass wir alle adoptiert sind.«

Gekleidet in ein enges schwarzes Cocktailkleid, das sie selbst entworfen hatte, lächelte Kelsey Alec mit warmen braunen Augen an, während blonde Löckchen aus ihrer schicken Frisur ihr Gesicht umschmeichelten. »Und die, die nicht wissen, wie alt wir bei der Adoption waren.«

Das stimmte. Alec nippte an seinem Mineralwasser und wünschte sich mit jeder verstreichenden Sekunde mehr, dass es Jim Beam wäre. Er war nicht viel jünger gewesen als Thomas, als die McClanes ihn adoptiert hatten, etwa sechs Monate, nachdem sie Ethan adoptiert hatten. Alec und Ethan hatten sich bereits in Bennett flüchtig gekannt, der Jugendstrafanstalt, in der Michael McClane zeitweise schwererziehbare Jugendliche therapiert hatte. Ethan war wegen einer Mordanklage in Bennett gewesen, die zu Körperverletzung geändert worden war. Alec hatte wegen wiederholten Drogenhandels eingesessen.

Sein Blick wanderte zu Michaels grau meliertem Haar, seinem starken Kinn und dem warmen Lächeln, während er mit seinen Gästen plauderte. Es bedurfte eines Heiligen, zwei Kinder mit einer derart beschissenen Vergangenheit zu adoptieren, aber Michael und Hannah hatten es getan, weil sie glaubten, dass jeder eine zweite Chance verdiente. Alec hatte diese zweite Chance bei ihnen gefunden. Eine Chance, von John Gilbert wegzukommen und neu anzufangen. Wie sehr er auch weiterhin sein Leben vermasselte, in diesem Punkt stand er in Hannahs und Michaels Schuld. Er schuldete ihnen mehr, als er jemals zurückzahlen konnte.

Kelsey beugte sich dicht zu ihm vor. »Sieh mal, Rusty da drüben. Wer ist das Mädchen, mit dem er sich unterhält?«

Alecs Blick ging in die dunkle Ecke des Speisesaals, wo Rusty, ihr anderer Bruder, stand. Passend zur schwarzen Hose und seinem Haar trug er einen langärmeligen schwarzen Pullover, der seine Narben verdeckte. Er unterhielt sich mit einer Brünetten, der Alec schon ein oder zwei Mal begegnet war. »Ich glaube, das ist die Tochter der Kleins.«

»Die Tochter des Senators?« Kelsey stieß ein leises Brummen aus. »Zehn Mäuse, dass ihre Eltern nicht wissen, dass sie mit der dunklen Seite flirtet.«

Alecs Augen wurden schmal, während er die beiden beobachtete. Das Mädchen lächelte breit, sprach lebhaft und gestikulierte mit den Händen. Rusty hingegen zeigte den gleichen abwesenden Gesichtsausdruck, den er immer trug, wenn er darauf brannte, aus einer unbehaglichen Situation herauszukommen.

Da sind wir schon zu zweit, Kumpel.

Alec fing Rustys düsteren Blick auf, als er sein Glas hob und den Kopf schüttelte. Rusty biss die Zähne zusammen und warf einen flehentlichen Blick zur Decke, der unmissverständlich forderte, hol mich verdammt noch mal hier raus! Alecs Mundwinkel zuckte.

Es war gut für Rusty, mal rauszukommen, selbst wenn ihn ein Mädchen vollquatschte, dem er normalerweise keinen zweiten Blick gönnen würde. Der Jüngste der Brüder McClane verbrachte die meisten Tage allein in seinem neuen Weinberg in den Hügeln draußen vor der Stadt, und Alec fragte sich oft, warum er nicht vor lauter Einsamkeit verrückt wurde. Aber Rusty war schon immer lieber allein statt unter Menschen gewesen. Selbst nachdem er in die Familie McClane gekommen war, etwa ein Jahr nach Alec, hatte er den größten Teil seiner Zeit allein verbracht, und Alec wusste, dass es viel mit seiner schwierigen Herkunft zu tun hatte. Anders als Ethan und Alec war Rusty kein Insasse von Bennett gewesen. Hannah McClane hatte ihn in ihrer Notaufnahme gefunden, einen Blick auf seinen zerschundenen Körper geworfen und beschlossen, dass auch er ein Zuhause brauchte.

Rusty hatte seine zweite Chance bekommen. Genau wie Kelsey sie bekommen hatte, als die McClanes sie einige Jahre später mit zehn adoptiert hatten. Ihre Familie war der sprichwörtliche Schmelztiegel, aber Alec würde es gar nicht anders wollen. Und nur sie war der Grund, warum er in diesem Moment nicht an der Theke stand und Schnäpse kippte. Er wollte seine Eltern nicht noch einmal enttäuschen, nicht, nachdem sie sich so viel Mühe mit seiner Erziehung gegeben hatten.

Alecs Blick wanderte zu Ethan, der einen Anzug trug und einen Arm um Samantha gelegt hatte, seine Verlobte. Samantha trug ein grünes Kleid, und die beiden lächelten und plauderten mit Freunden ihrer Eltern. Obwohl Alec es nicht wollte, durchzuckte ihn ein weiterer Stich bittersüßer Sehnsucht. Er freute sich für seinen Bruder, freute sich, dass Ethan jemanden gefunden hatte und dass dieser Jemand Sam war, aber er konnte den Ausbruch von Eifersucht nicht unterdrücken, der ihn beim Anblick des glücklichen Paars ergriff. Vor allem heute nicht, da ihm seine Begegnung mit Raegan immer noch durch den Kopf ging.

Er nahm noch einen Schluck Wasser und verfluchte die Tatsache, dass es kein Alkohol war und dass er heute Abend kein Date mitgebracht hatte. Er brachte immer ein Date zu Familienfeiern mit, weil die Frauen ihn davon abhielten, sich umzuschauen und das zu sehen, was er jetzt sah. Heute Abend hätte er diese Ablenkung gut gebrauchen können, denn er sah das, was er nicht hatte und nie wieder haben würde.

Kelsey versteifte sich neben Alec. »Julian ist hier.«

Alec riss den Blick von Ethan und Sam los und schaute zur Treppe, wo Kelseys Scheißkerl von Ehemann sich das dunkle Haar aus den Augen schüttelte, winkte und in ihre Richtung kam.

Alle Muskeln in Alecs Körper spannten sich an, bereit für einen Kampf. Er und seine Brüder hatten den Verdacht, dass Julian Benedict Kelsey hinter verschlossenen Türen schlug, aber sie bestritt es jedes Mal, wenn sie mit ihr reden wollten, und wenn sie wieder eine neue Prellung hatte, dann deshalb, weil sie eben ein Tollpatsch war. »Hast du nicht gesagt, er sei geschäftlich in Seattle?«

»Ja, das dachte ich auch.«

Kelsey setzte das falsche Lächeln auf, das sie für ihre Modekundinnen benutzte, und trat verlegen neben Julian. »Ich dachte, du würdest es nicht schaffen.«

Julian legte besitzergreifend den Arm um sie und zog sie für Alecs Geschmack etwas zu eng an sich. »Du hast gesagt, diese Feier sei wichtig, daher bin ich früher zurückgekommen.« Er stellte keinen Blickkontakt zu Kelsey her, sondern sah nur Alec mit seinen seelenlosen schwarzen Augen an. »Du siehst beschissen aus, Alec. Harten Tag gehabt?«

Alec wünschte sich nichts mehr, als auszuholen und Julian Benedict eins auf die Nase zu verpassen. Besonders heute hätte es ihm gutgetan, sich auf den Mistkerl zu stürzen. Doch Alec hielt sich wegen Kelsey zurück, und weil er wusste, dass er der Letzte war, der Beziehungsratschläge erteilen sollte, auch wenn ihr Ehemann noch so ein Arsch war.

»Ja, das kann man wohl sagen.« Alec richtete den Blick auf seine Schwester. »Ich muss an die frische Luft. Ich komme wieder.«

Er stellte sein Glas ab und ging zur Tür. Hinter sich hörte er Julian murmeln: »Was hat der denn für ein Problem?« Und Kelsey flüsterte zur Antwort: »Es hat nichts mit dir zu tun.«

Alec hätte beinahe geschnaubt und gesagt: »Doch, Kumpel, das hat es«, nur um den Kerl zu ärgern, aber er verkniff es sich, denn es war nicht die Wahrheit. Die Wahrheit war, dass er sich nach einem Drink sehnte. Und mit jeder Sekunde, die er in Gesellschaft von Menschen verbrachte, die glücklich waren – oder so taten, als wären sie es, wie Kelsey –, wurde es schwerer, dieses Verlangen zu ignorieren.

Er drückte die schwere Tür auf, trat hinaus auf die Veranda des Restaurants und atmete tief die kalte Januarluft ein. Er ging ans Geländer zwischen zwei Topfbäume, die mit Lichterketten geschmückt waren, und schaute über den Pearl District.

Scheiße. Die Aussicht machte seine Stimmung auch nicht besser. Sie verstärkte nur den Druck in seiner Brust und seinen Wunsch nach Vergessen durch Alkohol. Es war typisch für seine Eltern, für die Feier ihrer Silberhochzeit ein Restaurant in dem Viertel zu wählen, in dem er früher mit Raegan gewohnt hatte. Das Universum sagte ihm, dass es ihm heute Abend schwerfallen würde, sich zusammenzureißen.

»Hey. Alles klar?«

Alec warf einen Blick über die Schulter zu Ethan, der mit langen Schritten auf ihn zukam. Er hatte nicht gehört, dass sein Bruder ihm auf die Veranda gefolgt war, aber er hätte damit rechnen sollen. »Alles bestens.«

Ethan trat neben ihn und schob die Hände in die Hosentaschen. Er hatte die Brauen hochgezogen, als wolle er sagen, gib dir keine Mühe, mich anzulügen. Alec kannte diesen Ausdruck nur allzu gut. »Für jemanden, dem es bestens geht, hältst du das Geländer eine Spur zu fest.«

Alec senkte den Blick auf seine Hände, die das Metallgeländer so fest umklammerten, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Mist. Er hatte es nicht gemerkt.

Er ließ los und öffnete und schloss die Hände gegen die Krämpfe, die ihm in die Finger schossen. »Ich brauchte nur etwas frische Luft. Ist das ein Verbrechen?«

»Nein, überhaupt nicht. Ich sollte es wissen.« Ethan ließ ein Lächeln aufblitzen, und der Insiderwitz über ihre gemeinsame Zeit in Bennett blieb Alec nicht verborgen. Ethan nahm die Hände aus den Taschen und stützte sich mit den Unterarmen auf das Geländer. »Sorgen macht mir nur der Grund, warum du frische Luft brauchst.«

Manchmal war es ätzend, jemanden in der Familie zu haben, der die größte Schwäche von einem kannte, und Ethan war am schlimmsten, da Alec seine Trinkerei nicht vor ihm verbergen konnte. Als sie noch jung waren, hatte Ethan Alecs Schwäche für Alkohol in Krisenzeiten miterlebt. Er hatte ihn sogar ihren Eltern gegenüber gedeckt, wenn sie im Müll eine leere Flasche fanden oder als Alec nach einer wilden Partynacht zu verkatert war, um seine Pflichten im Haushalt zu erfüllen. Das war einer der Gründe, warum Ethan ihm jetzt so hart zusetzte. Er fühlte sich schuldig, dass er Alec damals nicht geholfen hatte, mit dem Trinken aufzuhören, bevor die Sucht sein Leben zerstörte. Aber es ärgerte Alec immer noch tierisch, vor allem, da er seit drei verdammten Jahren keinen Tropfen mehr angerührt hatte. »Ich trinke nicht, falls du das fragst.«

»Das frage ich nicht.«

Alec bis die Zähne zusammen. »Ich werde auch keinen Drink nehmen, obwohl ich nach dem Tag heute einen verdiene. Oder zehn.«

»Willst du darüber reden?«

Nein, Alec wollte nicht mit seinem Therapeutenbruder darüber reden. Ethan war genau wie ihr Vater. Er würde nachbohren, bis er hatte, was er wollte, und dann würde er ihn totquatschen, bis man ihm genau das sagte, was er hören wollte. Abgesehen von einem Sprung von dieser Veranda im ersten Stock, der ihn wahrscheinlich nur zum Krüppel machen würde, anstatt ihn von seinem Elend zu erlösen, saß Alec in der Falle.

Er stieß einen harten Atemzug aus. Warum musste er nur so eine Mimose sein? Konnte dieser endlose Scheißtag sich nicht einfach beeilen und vorbei sein? »Jack Bickam hat angerufen. Sie haben heute in einem Park eine Vierjährige ohne Begleitung aufgegriffen. Er hat mich gebeten, ins Krankenhaus zu kommen und sie zu identifizieren.«

Ethan stieß sich vom Geländer ab und sah Alec mit großen grünen Augen an. »Was?«

»Es war nicht Emma«, sagte Alec schnell, als er Ethans Aufregung spürte. »Ich wusste, dass es nicht Emma war, bevor ich sie auch nur gesehen hatte, und ich hatte recht. Bickam hat um eine DNA-Probe gebeten, aber ihre Eltern sind gekommen, als wir im Krankenhaus waren. Es war ganz sicher nicht … sie.«

Ethans Blick huschte über Alecs Züge. »Vielleicht irren sie sich. Wenn sie so lange verschwunden war wie Emma, sieht sie vielleicht ganz anders au…«

»Ethan, sie war es nicht. Sie hatte kein Muttermal am Auge. Und selbst wenn du es nicht zugeben willst, ich kann es. Meine Tochter ist tot, und wir wissen beide, wer sie umgebracht hat.«

Ethans Schultern sackten herab, und die Enttäuschung auf seinem Gesicht war unerträglich. Alec stützte die Arme ebenfalls aufs Geländer und betrachtete die Aussicht. Sehnte sich – wieder – nach … scheiße. Er wusste nicht mehr, was er wollte.

»Wer ist wir?«, fragte Ethan eine lange Minute später.

»Was?«

»Du hast gesagt, ›als wir im Krankenhaus waren‹. Wer ist wir?«

Alecs Brust schnürte sich noch enger zusammen. »Raegan.«

»Ah.«

Alec mochte den Klang dieses Wortes nicht. Es troff nur so vor Mitleid und Verständnis.

»Ich nehme an, dass es mit Raegan nicht so gut gelaufen ist«, fuhr Ethan leise fort.

Alecs Kiefermuskeln spannten sich an, als er daran dachte, wie Raegan in dem Flur gestanden hatte, wunderschön und gleichzeitig völlig fertig, und wie sehr er sich gewünscht hatte, sie in den Arm zu nehmen und zu trösten. »Es lief gut.«

»Gut«, wiederholte Ethan. »Das erklärt, warum du hier draußen in der Kälte stehst und aussiehst, als wolltest du einen Schnapsladen überfallen.«

Alec runzelte die Stirn. »Fick dich, Doc.«

Ethan grinste und schob die Hände wieder in die Hosentaschen. »Weißt du, vielleicht ist es gut, dass du sie gesehen hast. Die Scheidung ist fast drei Jahre her. Irgendwann musstest du ihr wieder über den Weg laufen. So groß ist Portland nicht.«

Drei Jahre kamen Alec vor wie ein Tag, aber das sagte er seinem Bruder nicht. Er betrachtete wieder die funkelnde Stadt. »Ja, wenn du meinst.«

»Alec.« Ethans Stimme wurde sanfter. »Du musst aufhören, dich deswegen fertigzumachen. Emmas Verschwinden war nicht deine Schuld. Sie hätte jedem von uns weglaufen können. Sie hätte Raegan weglaufen können, wenn sie an dem Tag mit ihr im Park gewesen wäre. Ich bin mir sicher, dass Raegan das in den drei Jahren eurer Trennung begriffen hat. Sie hat dir sicher verziehen.«

Alec konnte das klägliche Lachen, das sich seine Kehle hinaufdrängte, nicht aufhalten. Oder den scharfen Stich in der Brust, wo früher sein Herz gewesen war. »In dem Punkt irrst du dich, du Klugschwätzer. Sie hat mir nie die Schuld gegeben. Sie hat von Anfang an dasselbe gesagt wie du jetzt. Aber das ist das Problem.« Er sah seinen Bruder an. »Ich bin derjenige, der ihr das nicht verzeihen kann. Denn egal, was du oder sie oder sonst jemand sagt, es war meine Schuld. Und gerade sie sollte das wissen.«

Er konnte es nicht länger ertragen, konnte nicht hier stehen und die Vergangenheit verhackstücken, denn seine Brust stand in Flammen. Er stieß sich vom Geländer ab.

»Alec, warte.«

Er wartete nicht. Als er wieder hineinging zu der Feier, an der er nicht teilnehmen wollte, sagte er sich, dass er diesen Abend auf die gleiche Weise überstehen würde, wie er jeden Abend während der vergangenen drei Jahre überstanden hatte.

Durch schiere Willenskraft, obwohl ihn nicht mehr als ein ausgefranster Faden im Leben hielt.

3

Raegan ließ den Wein kreisen und beobachtete dann, wie die dunkelrote Flüssigkeit am Glas nach unten lief, sich sammelte und sich nicht mehr bewegte.

Genauso fühlte sie sich. Am Rande von etwas, kreisend, wartend.

»Raegan.«

Beim Klang von Jeremys Stimme sah sie auf und schaute ihn an. »Ja?«

Ein verwirrter Ausdruck lag auf seinem Gesicht. »Ich habe drei Mal deinen Namen gesagt. Was ist mir dir? Träumst du?«

»Nein.«

»Du hast kaum etwas gegessen.«

Sie warf einen Blick auf den Salat, den sie mit der Gabel hin- und hergeschoben hatte, und ließ das Weinglas los. »Oh. Ich war nur in Gedanken.«

Sie nahm einen Bissen, der wie Pappe schmeckte, und versuchte zu lächeln. Als Jeremy nur die Stirn runzelte, wusste sie, dass ihr Lächeln eine Grimasse geworden war.