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Liebe, Strand und Inselglück Eigentlich steht Barbara mit beiden Füßen fest im Leben. Doch nach der Trennung von ihrem Mann braucht sie dringend eine Auszeit. Kurzentschlossen reist die angesehene Richterin zur Verwandtschaft nach Sylt. Auf der Insel angekommen begegnet ihr der lebensfrohe Straßenmaler Peter, der sie mit seinem Charme sofort in seinen Bann zieht. Doch Peters unbekümmerte Art passt so gar nicht in Barbaras geordnetes Leben. Als wäre das nicht schon schwierig genug, trifft sie bei einem Strandspaziergang auch noch eine alte Freundin, die kurz davor steht, den größten Fehler ihres Lebens zu begehen. Vorbei ist es mit der Urlaubsidylle. Barbara lässt alles stehen und liegen und eilt der Freundin zur Hilfe. Ein Inselroman über Liebe, Freundschaft und den manchmal steinigen Weg zum Glück. Von Anni Deckner sind bei Forever by Ullstein erschienen: Barfuß am Strand Leuchtturmtage Die Sehnsucht der Inselärztin Friesenglück Sylter Meeresrauschen Die Krabbenfischerin Das kleine Blumencafé am Strand Die kleine Apotheke in St. Peter-Ording Inselglück im Schneegestöber
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Die AutorinAnni Deckner, geboren 1961 in Winnert bei Husum, lebt mit ihrer Familie in Hanerau-Hademarschen. Ihre Liebe zur Grauen Stadt am Meer kann man in ihren Werken spüren. Die kreative Luft des Nord-Ostsee-Kanals inspiriert die Autorin genau wie damals den berühmten Dichter Theodor Storm, der an diesem Ort seinen Schimmelreiter zu Papier brachte. Ihre Leidenschaft zum Schreiben entwickelte sich schon in früher Jugend, ihr erstes Buch Heimathafen Husum erschien jedoch erst im März 2014, gefolgt von Knocking Out 2015. In ihrer Freizeit geht die Autorin gern mit ihrem Mann auf Reisen. Ihr Beruf und gleichzeitig Berufung ist ihre Arbeit bei der Kirchengemeinde Hanerau-Hademarschen.
Das BuchLiebe, Strand und Inselglück Eigentlich steht Barbara mit beiden Füßen fest im Leben. Doch nach der Trennung von ihrem Mann braucht sie dringend eine Auszeit. Kurzentschlossen reist die angesehene Richterin zur Verwandtschaft nach Sylt. Auf der Insel angekommen begegnet ihr der lebensfrohe Straßenmaler Peter, der sie mit seinem Charme sofort in seinen Bann zieht. Doch Peters unbekümmerte Art passt so gar nicht in Barbaras geordnetes Leben. Als wäre das nicht schon schwierig genug, trifft sie bei einem Strandspaziergang auch noch eine alte Freundin, die kurz davor steht, den größten Fehler ihres Lebens zu begehen. Vorbei ist es mit der Urlaubsidylle. Barbara lässt alles stehen und liegen und eilt der Freundin zur Hilfe. Ein Inselroman über Liebe, Freundschaft und den manchmal steinigen Weg zum Glück.
Anni Deckner
Barfuß am Strand
Ein Sylt-Roman
Forever by Ullsteinforever.ullstein.de
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»Mensch, Babs, gib dir einen Ruck und besuch uns mal wieder auf der Insel. Du kannst nicht ewig um deinen Ex trauern. Der macht sich ein schönes Leben und du verkriechst dich. Ich finde das ungerecht. Zeig ihm, wie gut du ohne ihn klarkommst.« Saskia hatte wie immer Recht, schließlich war Sylt meine zweite Heimat.
»Ich überlege es mir noch mal. Was gibt es für Neuigkeiten auf der Insel?«, lenkte ich die Diskussionen in eine andere Richtung.
»Inselklatsch eben. Mach dir am besten selbst ein Bild davon«. Saskia war es gelungen, eine neue Fährte auszulegen. Ich hütete mich davor, darauf einzugehen.
»Saskia, ich muss Schluss machen. Ich will meinen Schreibtisch noch zum Feierabend aufräumen.«
»Du bist doch sonst nicht so ordentlich«, forschte Saskia nach. Ich schmunzelte. Wenn ich ihr erzählte, dass ich einige Tage Urlaub hatte, würde sie weiter auf mich einreden, und dazu hatte ich keine Lust.
»Stimmt, aber es wird mal wieder Zeit.« Lachend beendete ich unser Gespräch.
Mit schnellen Handgriffen ließ ich meine Akten in die Schubladen verschwinden und verließ das dunkle Amtsgericht. Die frische Luft und die Sonne taten mir gut. Kurzentschlossen ging ich zu Fuß in die Husumer Innenstadt, um mir einen Cappuccino zu gönnen. Die Auszeit am Hafen sollte den Beginn meiner Urlaubstage einläuten.
Als ich über den Markplatz ging, fiel mir ein Mann auf, der sich lässig unter den wachsamen Augen der Tine lümmelte. Husums Wahrzeichen war stets ein Anziehungspunkt, für Touristen und Einheimische gleichermaßen. Ich spürte, dass seine Blicke mir folgten. Da ich mich unwohl fühlte, ging ich schneller und verschwand in die Krämerstraße. Dort, am Schaufenster des Schuhgeschäftes, erblickte ich meine Freundin Rosa. Sie starrte die Auslagen an und wirkte verstört. Ich vermutete, dass mal wieder Liebeskummer dahintersteckte.
»Rosa? Alles in Ordnung?«
»Nee«, sagte sie, ohne mich anzusehen. Sanft drehte ich sie zu mir. Tränen hatten eine Spur über ihr schönes Gesicht gezeichnet, die verlaufene Wimperntusche ließ sie wie ein Koalabär aussehen. Besorgt nahm ich sie schnell in die Arme.
»Rosa, du weinst?« Mit meiner Vermutung, ihr Freund könnte etwas mit ihren Tränen zu tun haben, lag ich tatsächlich richtig.
»Er hat ’ne andere«, schniefte sie empört.
»Aber Rosa, wie kommst du darauf? Komm, begleite mich doch zum Hafen, zur Eisdiele …«
»Eis ist auch keine Lösung, das hat meine Mutter schon versucht.« Jetzt wurde sie auch noch trotzig.
»Du musst ja auch keins essen. Ich dachte eher an einen Cappuccino und ein Gespräch in Ruhe. Nun komm.«
Ich zog Rosa einfach mit. Wir ergatterten einen schönen Tisch in der Ecke der Terrasse. Rosa ließ sich auf einen Stuhl fallen und schmollte. Ich verdrehte die Augen. Rosas Probleme mit Leo wiederholten sich im zuverlässigen Rhythmus. Aus einer frustrierten Rosa wurde meistens, ohne erkennbaren Grund, eine neu verliebte. Daher fehlte mir der nötige Ernst bei der Sache. Ich grinste sie an.
»Doch ein Eis? Wenn ich mir die Karte anschaue, läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Ich nehme einen Erdbeerbecher.«
»Ich auch«, schniefte Rosa, ohne ihren gesenkten Kopf zu heben. Na also, der Anfang war gemacht. Ich lächelte vor mich hin. Etwas entspannter streckte ich mich auf meinem Stuhl aus und sah auf den Hafen. Im Sommer war die Straße ausschließlich Fußgängern überlassen. Die autofreie Zone war ein Juwel der Erholung.
Plötzlich stockte mir der Atem. Der Sonnenanbeter von der Tine. Er schlenderte an uns vorbei und lächelte mich an. Hatte er mich verfolgt? Verunsichert nahm ich mein Eis entgegen und ließ meinen Blick dabei auf der Straße, um den Mann genauer zu betrachten. Ging Gefahr von ihm aus? Ich lebte alleine in Schobüll. Würde er mich auch dorthin verfolgen?
»Barbara, wo bist du mit deinen Gedanken? Ich dachte, du wolltest mir zuhören.« Rosas Piepsstimme drang an meine Ohren. Ich konnte mir nicht erklären, warum ich den Blick nicht von diesem Mann lösen konnte. Verwirrt zwang ich mich, Rosa meine volle Aufmerksamkeit zu widmen. Mir fiel auf, dass er keine Schuhe trug.
Verflixt, er sah sich noch einmal zu mir um. Erneut lächelte er mir zu. Eine leichte Gänsehaut eroberte meinen Körper. So offensichtliche Flirtangriffe war ich nicht gewohnt. Vielleicht war das auch der Grund, dass dieses Misstrauen in mir aufstieg. Ich angelte mit den Fingern eine Erdbeere aus dem übergroßen Eisbecher. Sie gelangte allerdings nicht in meinen Mund, sondern kullerte erbarmungslos über meine weiße Bluse. Dies hatte zur Folge, dass Rosa mich angrinste. Wenn ein Fleck auf meiner Bluse zur Belustigung Rosas beitrug, wollte ich mein Missgeschick nicht so tragisch nehmen. Verstohlen versuchte ich, die roten Flecken zu verreiben, mit wenig Erfolg. Gut, dann musste ich wohl oder übel später bekleckert durch Husums Straßen zurück zum Auto gehen.
»Erzähl, Rosa, was ist überhaupt vorgefallen?«
Rosa wurde von einer SMS aus ihrer Lethargie gerissen. Mit einem freudigen Lächeln öffnete sie ihre Nachricht. Dabei rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her, zupfte an ihrer Frisur und sprang auf.
»Och, nix … Du, ich bin mit Leo verabredet. Können wir unser Treffen auf ein anderes Mal verschieben?« Eilig hauchte sie mir einen Kuss zu und zog mit erhobenem Kopf los.
»Ähm, Rosa, dein Eis …«
»Kannst du haben«, rief sie mir gönnerhaft zu und nahm die Beine in die Hand. Eigentlich kannte ich dieses Auf und Ab von Rosa zu Genüge. Aber dieses Mal ärgerte es mich, dass die Stimmungen meiner Freundin Bäumchen wechsle dich spielten.
Seufzend kümmerte ich mich um mein Eis. Rosa und Julia waren schon viele Jahre meine Freundinnen. Nach der Trennung von meinem Mann waren sie eine große Stütze gewesen. Mit organisierten Ablenkungstaktiken waren sie mit mir um die Häuser gezogen und hatten mir damit geholfen, langsam wieder in die Spur zu gelangen.
Oh mein Gott, der Mann kam zurück. Schnell hob ich die Eiskarte vor mein Gesicht. Ein Schatten, der mir die Sonne nahm. Zögerlich blickte ich an meinem Sichtschutz vorbei. Schnell musste ich mich wieder verbergen. Zu spät.
»Da hast du dir aber viel vorgenommen, so viel Eis! Darf ich beim Vernichten helfen?«
Mit großen Augen legte ich die Karte weg.
»Darf ich?«
Er zeigte auf den freien Stuhl. Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte er sich. Unverschämtheit. Nun begann er in aller Seelenruhe Rosas Eis zu verzehren. Dabei ließ er mich nicht aus den Augen.
»Paulo, die Rechnung bitte, ich möchte gehen«, versuchte ich, der Situation zu entkommen. Paulo, der uns von Weitem schon unter Beobachtung hatte, eilte sofort herbei.
»Geht aufs Haus, Señora, bis zum nächsten Mal.« Mit einer leichten Verbeugung zog er sich zurück.
»Vielen Dank, Paulo«, rief ich ihm nach und stand unvermittelt auf. »Bitte, verfolgen Sie mich nicht weiter. Ich steh da nicht drauf.« Ich warf dem unbekannten Reste-Esser einen warnenden Blick zu und verließ den Tisch. Zu meinem Pech kippte ich dabei auch noch die Blumenvase um. Das Blumenwasser ergoss sich über die Jeans meines Verfolgers. Er blieb unberührt sitzen und grinste mich an.
»Entschuldigung, ich bin sonst nicht so aufdringlich. Ich hoffe, dir nicht den Tag verdorben zu haben. Darf ich dich wiedersehen?«
»Ja, ja, guten Appetit weiterhin.« Mit zitternden Knien verließ ich die Terrasse des Cafés. Ich machte noch einen Abstecher zur Wohnung meiner Mutter, Käthe. Zielstrebig ging ich um den Hafen herum zum Zingel. Der Türsummer ertönte sofort nach meinem Klingeln. Ich nahm zwei Stufen auf einmal und kam außer Atem oben bei Muddi an. Erstaunt öffnete sie mir die Tür.
»Was hat dich denn so atemlos gemacht? Komm rein, ich habe aber nicht viel Zeit.« Sie begrüße mich trotzdem liebevoll.
»Ich wollte auch nur schauen, wie es dir so geht«, sagte ich gedehnt. Skeptisch warf sie mir Blicke zu.
»Mir geht es gut. Aber ist bei dir alles okay?«
»Klar, was soll denn sein? Ich habe Urlaub und werde es genießen«, antwortete ich betont locker.
»Hach, das ist prima. Ich will Elsa übermorgen auf Sylt besuchen. Nur einen Tag, ich fahre mit dem letzten Zug zurück. Willst du mich nicht begleiten?«
Schon wieder das Thema Sylt. Langsam hatte ich den Verdacht, dass alle ein Komplott geschmiedet hatten, um mich auf die Insel zu locken.
»Ich weiß nicht, Muddi.« Ratlos sah ich sie an.
»Ich würde mich so freuen, Kind. Du weißt doch, ich reise nicht gerne allein.«
»Mal schauen, eine Überlegung wäre es natürlich wert.«
»Siehst du.« Muddi strahlte mich erwartungsvoll an. »Ich muss los, Babs. Ruf mich doch an, wenn du es dir gut überlegt hast.« Das gut betone Käthe eindringlich. Als ob ich Schaden nehmen könnte, wenn ich nicht mitfuhr. Fast fühlte ich mich gezwungen, und das wollte ich mir nicht gefallen lassen. Der traditionelle Mutter-Tochter-Disput stand mal wieder zwischen uns, den ich jedoch, je älter ich wurde, mit Humor nahm.
Käthe setzte ihren Hut auf und griff zu ihren Haustürschlüsseln. Sie knuddelte mich überschwänglich, um dann zur Tür zu tippeln.
»Tut mir leid, Kind, aber ich bin in Eile. Zieh einfach die Tür ins Schloss, wenn du gehst.«
Ich öffnete den Mund, um noch etwas zu erwidern, da war sie auch schon verschwunden. Ich blieb allein zurück. Ich blickte mich in ihrer sauberen, aufgeräumten Wohnung um. Käthe liebte kleine Porzellanfiguren, die sie zielsicher verteilt hatte. Hier schaute mich ein Frosch an, dort eine filigrane Elfe. Das helle Sofa bildete den Mittelpunkt des Wohnzimmers, die Küche war mit einem großen Tresen vom Wohnraum getrennt. Hier saßen wir oft zusammen, um uns die Neuigkeiten der Woche zu berichten.
Obwohl ich alles kannte, schlich ich neugierig durch die Räume. Im Bad lag noch ihr Parfüm in der Luft. Sie musste es wirklich eilig gehabt haben, denn sie hatte ihre Bürste achtlos im Waschbecken liegen lassen. Für die Verhältnisse meiner Mutter war dies schon schlampig. Ich lächelte und strich mit den Fingern über den Waschtisch. Im Esszimmer standen stets frische Blumen. Liebevoll geordnet und meistens in leuchtend bunten Farben.
Ich ging zurück ins Wohnzimmer und nahm auf dem Sofa Platz. Planlos blätterte ich in einer Frauenzeitschrift. Beherzt legte ich sie wieder zurück auf den Tisch und beschloss aus einer Eingebung heraus, meine Mutter zur Insel zu begleiten. Ich freute mich sogar darauf.
»Beeil dich, wir kommen zu spät.« Ich musste meine Mutter antreiben, wenn wir nicht den Zug verpassen wollten. Nicht, weil sie uralt gewesen wäre, oder tüttelig, nein, sie hatte die Ruhe weg.
»Nu mal langsam, Kindchen, wir kommen bestimmt rechtzeitig zum Bahnhof. Du weißt, ich mag diese Hetze nicht. Das verdirbt einem den ganzen Tag.« Sorgfältig zog Muddi ihren Lippenstift nach. Sie neigte sich weit über den Waschtisch, um möglichst nah an den Spiegel zu gelangen. Meine Mutter hätte längst einen Vergrößerungsspiegel benötigt, aber sie duldete keinen in ihrem Bad. Dazu war sie viel zu eitel.
Meine Freundinnen, Julia und Rosa, hatten mir zu meinem fünfzigsten Geburtstag einen geschenkt. Ich musste ihn benutzen, ob ich wollte oder nicht. Die handwerklich begabten Mädels hatten ihn eigenhändig montiert. Selbstverständlich im Sichtfeld meiner Morgentoilette. Jeder Pickel, war er auch noch so klein, wurde unweigerlich von mir begrüßt. Ich konnte gut verstehen, dass Käthe so ein Ungetüm nicht in ihrem Badezimmer duldete.
Endlich war Muddi fertig. Sie nahm ihre beige Handtasche und stülpte sie über ihren dünnen Arm. Sie lächelte mich an und ließ ihre weißen Dritten glänzen. Muddis Augen leuchteten mit ihnen um die Wette.
»Babs, ich bin soweit. Unser Ausflug kann beginnen. Ach, warte, ich geh noch mal schnell zur Toilette. Man weiß ja nie …« Kichernd tippelte sie zurück ins Bad.
Meine Ungeduld wuchs. Der Husumer Bahnhof war zwar nicht weit vom Zingel entfernt – die kleine Wohnung meiner Mutter lag zentral in der Husumer Innenstadt –, aber fliegen konnten wir nicht. Immerhin war es meine Mutter gewesen, die den Wunsch hegte, mit mir nach Sylt zu fahren, um ihre Schwester zu besuchen. Somit lag es in ihrem Interesse, pünktlich anzukommen. Tante Elsa hatte einen Kuchen gebacken, den sich Käthe nicht entgehen lassen würde. Ich freute mich riesig, dass Muddi mich überredet hatte, sie zu begleiten. Lange hatte ich Sylt gemieden. Die Trennung von meinem Mann konnte ich nur schwer verarbeiten, und ich brauchte diesen Abstand, weil ich fürchtete, dass mich die Erinnerungen sonst überwältigen würden. Ich ahnte jedoch nicht, wie nachhaltig dieser Ausflug mein Leben verändern würde.
»Musst du auch noch mal?«, rief Muddi beim Händewaschen in den Flur. Ich verdrehte die Augen. Die Zeiten hatten wir zum Glück hinter uns.
»Mama, ich bin einundfünfzig Jahre alt, da weiß ich alleine, wann es soweit ist.« Ich war stolz, mich behauptet zu haben. Aber meine liebe Mutter wusste es besser.
»Eben! Da fing es bei mir auch an, in der Blase enger zu werden. Ich weiß, wovon ich spreche.«
Ich stöhnte auf. Am liebsten hätte ich sie allein in den Zug gesetzt. Mein Bedarf an trauter Familie war bereits am frühen Morgen gedeckt.
»Komm endlich, Käthe, ich habe keine Lust, nur noch die Schlusslichter des Zuges zu sehen.«
Käthe gluckste, verkniff sich jedoch einen weiteren Kommentar. Sie wusste meistens genau, wann das Maß voll war. An einem so schönen Tag wollte sie nicht mit mir streiten. Ungeschickt tätschelte sie mir die Schulter.
Ich ging vor, auf den Hausflur. Als ich mich umdrehte, schleppte Muddi einen großen Weidenkorb hinter sich her. Mir schwante nichts Gutes.
»Ich habe uns Schnitten gemacht und etwas zu trinken eingepackt.« Unschuldig sah sie mich an. Seufzend nahm ich den Korb entgegen. Er war so schwer, dass ich Backsteine darin vermutete.
»Will Tante Elsa ihren Wintergarten erweitern?«
»Woher soll ich das denn wissen«, flötete meine Muddi. »Wir haben nur das Nötigste am Telefon besprochen. Hat sie dir etwas gesagt?« Käthe blieb mit offenem Mund stehen. Ich musste lachen, klimpernd und scheppernd hob ich den Korb etwas höher, um ihn besser tragen zu können. Vergeblich. Meine Arme gaben unter dem Gewicht einfach nach. Auf der Straße fragte meine Mutter, wo ich mein Auto geparkt hätte.
»Zu Hause, ich bin mit dem Taxi gekommen. Ich möchte mein Auto nicht den ganzen Tag unbeaufsichtigt am Bahnhof stehen lassen. Hätte ich gewusst, dass du deinen ganzen Haushalt mitnimmst, hätten wir den Autozug genommen.«
Meine Mutter rollte mit den Augen.
»Ja, aber Kind, dann hätte ich doch nicht so viel eingepackt.« Plötzlich erhellte sich ihr Gesicht. »Autozug? Das wäre toll! Ich bin noch nie mit dem Sylt-Shuttle gefahren.« Voller Erwartung sah sie an mir hoch. Energisch schüttelte ich den Kopf.
»Nein, Mama, das machen wir heute nicht.«
Es gelang ihr nicht, ihre Enttäuschung vor mir zu verbergen. Sie schob trotzig die Unterlippe vor und zwinkerte mich an. Ein Versuch, mich umzustimmen. Ich musste lachen. Wer war hier eigentlich das Kind? Käthe war mit ihren fünfundsiebzig Jahren immer noch sehr flott unterwegs. Sie war modisch interessiert und achtete stets auf ihr Äußeres. Ihr Tuch musste immer zum Lippenstift passen, und überhaupt, ohne rote Lippen ging sie nie aus dem Haus.
»Also los, Muddi, wir fahren mit dem Zug, der hier in Husum hält. Basta!« Ich setzte mich mit meiner schweren Last in Bewegung und achtete nicht mehr darauf, ob Käthe mir folgte. Irgendwann hörte ich sie hinter mir schnauben, offensichtlich lief ich zu schnell. Ungerührt setzte ich meinen Weg fort. Schließlich wollte ich meine schwere Last so schnell wie möglich wieder loswerden.
Als wir den Bahnhof glücklich erreicht hatten, blieben uns noch fünf Minuten, um unser Abteil aufzusuchen. Eilig liefen wir durch die Bahnhofshalle, um am Gleis drei die Treppen zu erklimmen. Erstaunlicherweise ließ Käthe sich nicht mehr abhängen. So kurz vor dem Ziel wollte sie nicht riskieren, alleine zurückzubleiben. Ein Schaffner war so freundlich, mir den Korb abzunehmen. Er hatte dem Anschein nach Mitleid mit mir. Das brauchte ich auch, denn Käthe gab gleich wieder einen Spruch zum Besten.
»Sie ist übrigens Single.« Muddi zeigte mit dem Finger auf mich und nickte eifrig, damit der nette Schaffner sie auch verstand.
»Mama! Du kommst ins Heim, ich schwöre es.« Lauter, als ich es wollte, schallten meine Drohungen über den langen Bahnsteig. Einige Passagiere steckten die Köpfe aus ihren Abteilfenstern. Ein leichtes Unbehagen beschlich mich unter den fremden Blicken. Schnell stieg ich ein.
Käthe bekam gerade noch ihren Rock durch die Tür, bevor diese zuknallte. Der freundliche Schaffner hatte mir mit einem mitleidigen Blick den schweren Korb zurückgegeben. Nun hing die Last erneut an meinem Arm und drohte, mich gänzlich zu Boden zu ziehen. Mühevoll schob ich mich durch die Türen des Zuges, bis wir unser Abteil erreicht hatten.
Muddi hatte auf ein Erste-Klasse-Abteil bestanden, selbstverständlich mit Platzreservierung. Schwer atmend standen wir vor unserem gebuchten Abteil. Mit letzter Kraft zog ich die Tür auf und wuchtete den Korb auf einen Sitz. Käthe hatte sich schnell durch die Tür gezwängt, bevor sie mit einem lauten Knall wieder zuflog. Ihr Rock hatte nicht so viel Glück. Er blieb in der Tür hängen und gab ein klägliches Geräusch von sich, dicht gefolgt von Käthes markerschütterndem Aufschrei.
»Kindchen, pass doch auf, ich komme doch auch noch. Warum hältst du die Tür denn nicht fest?« Käthes makelloses Make-up drohte zu bröckeln, ihr böses Gesicht schob die Falten in alle Richtungen. Ihre Ruhe und Gelassenheit waren dahin. Mit geschlitzten Augen funkelte sie mich an. Ich fühlte mich unweigerlich in meine Kindheit versetzt, wobei Käthe immer nur böse wurde, wenn ich den letzten Kuchen verputzt hatte und sie sich auch auf ein Stück gefreut hätte. In Sachen Kuchen und Torten waren wir die größten Konkurrentinnen.
»Mutter, jetzt reicht es aber wirklich. Ich steige gleich wieder aus«, drohte ich ihr und meinte es auch so. Ihre Gesichtszüge entspannten sich schlagartig. Ihr war schon klar, dass sie wieder einmal weit übers Ziel hinausgeschossen war. Meine Geduld war endgültig zu Ende.
»Hach, der Zug rollt schon, da musst du bist zur nächsten Haltestelle warten.« Triumphierend hob sie ihr Kinn und wies damit zum Fenster. Käthe war sich ihres Sieges sicher.
»Du glaubst doch nicht, dass ich damit ein Problem habe«, stieß ich immer noch wütend hervor. Ich hätte meine freien Tage wirklich besser gestalten können. Mir reichte es endgültig. Selbst Käthe sollte das nun verstanden haben, denn ich nahm meine Handtasche, schob mich an einer verblüfft dreinschauenden Muddi vorbei und verließ das Abteil.
Draußen auf dem Gang zog ich hörbar die Luft ein. Mein Herz schlug bis zum Hals. Ich versuchte mich zu beruhigen, während ich mich nach einem anderen Abteil umsah. Ich würde in Hattstedt aussteigen und mir ein Taxi zurück nach Schobüll rufen. Meine guten Vorsätze ließen mich ruhiger werden. Abermals schob ich eine Abteiltür auf und schlüpfte hinein. Ein aufdringlicher Geruch schlug mir entgegen. Ein älterer Herr mit Nickelbrille saß am Fenster und vertilgte genüsslich ein Fischbrötchen, welches mit größter Wahrscheinlichkeit schon bessere Tage gesehen hatte. Das störte den Mann offensichtlich nicht die Bohne. Durch den Knall der Schiebetür aufmerksam geworden, blickte er mich über den Brillenrand erfreut an.
»Grüß Gott, junge Dame, setzen Sie sich doch!« Er wies mit dem Stinkebrötchen auf den anderen freien Platz am Fenster.
Verdammt, das hatte mir gerade noch gefehlt. Nun hatte ich die nächste Nervensäge an der Backe. Ich tröstete mich damit, dass ich an der Hattstedter Haltestelle dieses Reisechaos verlassen würde, und setzte mich. Freudig strahlte er mir entgegen. An seiner Unterlippe hing ein Stück vom Fisch, beim Sprechen wippte es auf und ab, ohne seinen Halt zu verlieren. Ich starrte aus dem Fenster, um mich abzulenken, und hoffte, der Herr würde mich in Ruhe lassen.
»Fahren Sie auch nach Sylt?«, fragte er ungeniert.
»Nein!«, gab ich knapp zu verstehen, ohne ihn dabei anzusehen.
»Das ist aber sehr schade, ich hätte Sie gerne ein Weilchen begleitet. Wer hat Sie so verärgert? Eine so schöne Frau, gibt doch nur Falten, wissen Sie das nicht?«
Mein Kopf schnellte in seine Richtung, meine Augen wurden groß. Was erlaubte dieser Mann sich? Seiner eigenen Aussage zufolge musste er sich sein Leben lang nur geärgert haben. Sein Gesicht war mit Falten durchzogen. Bei genauerer Betrachtung hatte er jedoch ein hübsches Gesicht. Männlich, markant, mit lustigen blauen Augen. Seine Nickelbrille unterstützte diesen Eindruck zusätzlich.
»Entschuldigen Sie, ich habe mich noch nicht einmal vorgestellt: Ich bin der Gunther Seidel aus Nürnberg. Ich freue mich so sehr, endlich einmal die Insel Sylt kennenzulernen. Ich musste meiner Frau am Sterbebett versprechen auf Reisen zu gehen, um die Welt zu erkunden, damit ich ihr, wenn wir uns irgendwann wiedertreffen, berichten kann, wie schön die Welt ist.« Er schmunzelte verlegen. »Sylt war immer unser gemeinsamer Traum, wir haben es nie geschafft, dort hinzufahren. Das ist der Grund, warum ich die ›Weltreise‹ dort beginne.«
Ich schluckte. Eine so süße Geschichte – da mein Nervenkostüm ohnehin schon reichlich überstrapaziert war, musste ich mit den Tränen kämpfen. Was für ein Tag. Ich wollte endlich nach Hause.
»Das hört sich spannend an, Herr Seidel, ich freue mich für Sie. Sylt ist wirklich eine Reise wert, und frische Fischbrötchen gibt es an jeder Ecke, da müssen Sie nicht dieses übelriechende Zeug vertilgen.« Ich deutete auf seine Mahlzeit. Unsicher blickte er auf sein Brötchen und sah mir wieder in die Augen. Er wirkte etwas unglücklich, sofort tat er mir leid. Sein Urlaub sollte sicher beschwerdefrei und nicht mit Aussicht auf eine Fischvergiftung belastet werden. Zögernd suchte er nach Worten.
»Ich habe es frisch in Hamburg am Bahnhof erstanden. Ich dachte, das muss so scheußlich schmecken. Es sollte ein Vorgeschmack auf Sylt sein. Ist der Fisch bei Gosch besser?« Um Zuspruch bittend musterte er mich. Ich konnte nicht anders, mir rutschte ein Kichern durch die trockene Kehle.
»Bei Gott, da hinkt der Vergleich aber sehr. Lassen Sie das nur nicht den Herrn Gosch hören.«
Neugierig betrachtete ich meine Reisebegleitung. Er trug ein rotweiß kariertes Hemd mit schwarzer Lederkrawatte. Ein etwas aus der Mode gekommenes Exemplar, aber durchaus passend zu seiner Erscheinung. Seine mit Bügelfalte versehene Jeans, gekürzt durch die angewinkelten Knie, ließ schwarze Socken zum Vorschein kommen, die auch noch am Bündchen umgeschlagen waren. Seine Füße steckten in soliden Herrensandalen im praktischen Beige. Diese bekamen durch die schwarzen Socken wiederum ein interessantes Muster. Herr Seidel richtete sich aufgeregt auf und beugte sich leicht zu mir herüber.
»Sie kennen den Besitzer der Nördlichsten Fischbude der Welt?« Seine Augen glänzen aufgeregt.
Ich schüttelte lachend den Kopf. »Nein, leider nicht. Dann würde ich bestimmt mit einem Hummer im Autozug auf die Insel fahren und nicht mit Ihnen. Obwohl ich dann nie so nette Reisebekanntschaften hätte wie heute«, beteuerte ich mit Nachdruck.
Unschlüssig lehnte er sich wieder zurück in den Sitz und blickte versonnen aus dem Fenster. »Wie zum Teufel kann man mit einem Hammer auf dem Autozug fahren? Das ist doch gar nicht für Fußgänger erlaubt?«, murmelte er.
Ich lächelte ihm milde zu. Herr Seidel hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon ich gesprochen hatte. Geduldig erklärte ich ihm den Unterschied zwischen einem Hammer und einem US-amerikanischen Geländewagen, der eher einem Militärfahrzeug glich. Der Hummer.
»Es hört sich an wie Hammer, aber durch eine andere Schreibweise wird etwas ganz anderes daraus«, beendete ich meine Erklärung.
»Mann, Sie wären die geborene Altenpflegerin und die perfekte Reisebegleitung für Senioren. Ich fühle mich gut aufgehoben in Ihrer Gegenwart.« Verlegen sah er mich an.
»Das fehlte mir noch, ich habe genug mit meiner Mutter am Hals. So geduldig bin ich nun auch wieder nicht.« Nachdenklich betrachtete ich meine Hände. An der rechten Hand war ein weißer Rand zu erkennen. Dort hatte noch vor wenigen Monaten ein Ehering gesessen. Allmählich verblichen die Spuren der zwanzigjährigen Beziehung mit meinem Mann. Meine aufkommende Beklemmung verschwand zum Glück so schnell, wie sie gekommen war. Entsetzt bemerkte ich, dass wir fast in Niebüll waren. Verflucht!
Dieses Mal hatte Herr Seidel mich amüsiert beobachtet. Sein Blick über den Brillenrand verstärkte seinen Spott dabei erheblich. Mit der linken Hand nahm er die Brille ab.
»Wo wollten Sie aussteigen? Wir sind bald auf dem Hindenburgdamm. Ich glaube, dort gibt es keine Möglichkeit mehr, den Zug zu verlassen.« Langsam beugte er sich wieder zu mir herüber. »Soll ich die Notbremse ziehen?« Herr Seidel sah mich besorgt an, seinen Schalk konnte er trotzdem nicht verbergen.
»Sehr witzig«, grummelte ich vor mich hin. »Nun ist es auch egal, dann lande ich eben doch auf Sylt.« Ich rieb nervös meine Handinnenseite – ich war hin- und hergerissen. Hatte ich mich doch nach dem Streit mit meiner Mutter auf mein gemütliches Zuhause in Schobüll gefreut. Meine Tante Elsa wäre allerdings enttäuscht gewesen, wenn sie mich nicht verwöhnen könnte. Ganz zu schweigen von Käthe. Sie war so glücklich, mich dabeizuhaben. Vielleicht reichte ja die Lektion, die ich ihr erteilt hatte, indem ich unser Abteil verließ. Sie würde außer sich vor Freude sein, wenn wir uns am Bahnhof auf Sylt wiedertrafen. Vor allem, wenn wir uns versöhnten. Noch war ich nicht sicher, ob ich dazu bereit sein würde.
»Das ist großartig.« Herr Seidel sprang auf, ergriff ohne Umschweife meine Hand und schüttelte sie überschwänglich, um mir seine Freude noch deutlicher zu machen. »Wollen Sie mir dann heute Nachmittag die Nördlichste Fischbude der Welt zeigen? Ich habe Sorge, wieder an so einen Fischseelenverkäufer zu geraten.« Abwartend sah er mich an, ohne meine Hand loszulassen.
»Das wird Ihnen schon nicht passieren, versprochen. Meinen Schutz werden Sie nicht benötigen.« Ich lachte herzlich über seinen Versuch, mich doch noch als Altenpflegerin zu gewinnen. Mein Bedarf an Schutzbefohlenen war fürs Erste ausreichend gedeckt. Das brachte schon mein Beruf mit sich. Als Richterin am Husumer Amtsgericht erlebte ich ausreichend Katastrophen und Schicksale, da musste ich in meiner Freizeit nicht auch noch die Sorgetante für alle spielen. Leider fehlte mir oftmals der nötige Abstand. Ich musste mir jedoch eingestehen, dass ich ein Wiedersehen mit diesem netten, arglosen Mann nicht ablehnen würde.
»Schade«, bedauerte Herr Seidel nur. Er gab seine Bemühungen auf und bedrängte mich nicht weiter. Das war klug von ihm, wie sich bald herausstellen sollte.
Ich überlegte mir schon, wie ich es vereinbaren könnte, meine Tante zu einem Gosch-Besuch zu überreden. Sie kochte leidenschaftlich gern und würde es sich nicht nehmen lassen, uns mit ihren Künsten am eigenen Herd zu überraschen. Vermutlich war sie schon in ihrem Element und machte ihre Küche unsicher.
Ich fuhr mit den Fingern durch meine ungewohnte Kurzhaarfrisur. Meine Friseurin hatte mir dazu geraten, den alten Zopf abzuschneiden, um jünger und flotter zu wirken. Natürlich nicht, ohne die Haarfarbe aufzufrischen, mit einem leichten Rotton. Meine braunen Augen würden so viel mehr strahlen, hatte sie ihre Idee begründet. Ich war sehr zufrieden mit dem Resultat gewesen, denn seitdem durfte ich regelmäßig bei meinen Freundinnen und Arbeitskollegen gleichermaßen Lob und Erstaunen ernten. Käthe hatte sich gar nicht mehr beruhigen wollen, vor lauter Überwältigung. Sie war um mich herumgetänzelt und hatte immer wieder gerufen: »Kind, nein, wie gut du aussiehst! Fantastisch! Wirklich! Ich kenn dich gar nicht wieder, so jung, so frisch. Mein schönes Baby!«
Bei mir war unweigerlich die Frage aufgekommen: Wie schrecklich muss ich vor meiner Verwandlung auf die Umwelt gewirkt haben? So hässlich war ich mir gar nicht vorgekommen. Wollte mir das nur nie jemand sagen? War ich zwanzig Jahre als hässliches Entlein durch die Welt gehüpft? Na danke.
Inzwischen hatte ich mich an meine positive Verwandlung gewöhnt und fühlte mich ausgesprochen wohl in meiner neuen Haut. Wer wollte schon aussehen wie einundfünfzig?
»Herr Seidel«, richtete ich nun wieder meine Aufmerksamkeit auf meine Zugbekanntschaft. »Wir werden uns bestimmt noch einmal begegnen, da bin ich mir sicher. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt, entschuldigen Sie. Mein Name ist Barbara Kleinschmidt aus Schobüll. Ihr Heldentum als Notbremser ist nicht erforderlich, meine Tante erwartet mich und meine Mutter am Westerländer Bahnhof.«
Er nickte mit seinem greisen Kopf.
»Ja, die liebe Familie, auf die ist immer Verlass. Ich wünsche Ihnen eine schöne Zeit auf Sylt. Aber nun wollen wir unsere Fahrt über den Damm genießen, solange wir hier noch beisammen sind. Ich bin schon sehr aufgeregt, wie es sein wird, dort hinüberzufahren. Ich will doch meiner Frau davon berichten.« Gedankenverloren sah er aus dem Abteilfenster, es schien, als versuche er, die kleinste Kleinigkeit, die er erblickte, zu speichern. Ich lächelte zu ihm herüber, aber er bemerkte es nicht. Zu groß waren die Eindrücke, die ihn zu überwältigen schienen.
Muddi würde sich freuen wie ein Kind, wenn wir uns am Bahnhof wiedertrafen, das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Heulend würde sie mir um den Hals fallen. Es gab mir Genugtuung, dass sie ihre Strafe allein im anderen Abteil abgesessen hatte, und ich nahm mir vor, ihr zu verzeihen. Ein Grinsen spielte um meine Lippen. Strafe musste nun mal sein. Dass ich meinen Beruf mit ins Spiel gebrachte hatte, bemerkte ich nicht.
Das Wattenmeer bot sich von seiner schönsten Seite. Die Sonne strahlte und warf ihre glitzernden Boten auf die Landgewinnung. Ein kleines Flugzeug kreiste in der Ferne über das Meer. Langsam hieß es Abschied nehmen von unserer gemeinsamen Fahrt zur Insel. Herr Seidel räusperte sich leise.
»Nun haben wir es gleich geschafft, die Insel nähert sich mit großen Schritten. Es war sehr schön, mit Ihnen zu plaudern, liebe Barbara. Ich wünsche Ihnen alles Gute.«
Ich entnahm seinen Worten einen Abschied für immer, es stimmte mich ein wenig traurig. Noch bevor ich etwas erwidern konnte, schlug die Abteiltür auf und Käthe huschte herein.
»Kindchen, hast du nun endlich genug geschmollt? Wir sind gleich da! Elsa hat mir eine Nachricht geschrieben, sie wartet auf uns am Bahnhof.« Käthe hielt abrupt inne. »Was um Himmels willen stinkt hier so erbärmlich?« Angeekelt sah sie von mir zu Herrn Seidel. Dieser blickte schuldbewusst auf seine Schuhe.
»Keine Ahnung, wir wundern uns auch schon, haben die Ursache jedoch nicht gefunden«, sprudelte ich schnell hervor. Herr Seidel sollte sich nicht schämen, er konnte schließlich nichts dafür, dass man ihm in Hamburg so einen Stinkefisch untergejubelt hatte. Unbemerkt hatte sich noch jemand in das Abteil geschlichen. Neugierig starrte ich die Person an. Könnte das eine Schlichtungs-Tante der Bahn sein? Die alleingelassene Muddis tröstete?
»Darf ich dir Sieglinde vorstellen, meine Zugbekanntschaft und neue Freundin? Wir haben uns die ganze Fahrt über unterhalten und festgestellt, wie viele Gemeinsamkeiten wir haben. Ist das nicht herrlich? Der Korb ist im Übrigen nicht mehr so schwer, die Prosecco-Flasche ist leer und der Käse ist auch vernichtet. Hubs, ich glaub, ich bin beschwipst.« Zum Beweis hickste sie, ohne die Hand vor den Mund zu halten. Dabei fiel eine blondgefärbte Haarsträhne über ihr linkes Auge. Meine Mutter sah überaus bescheuert aus. Na Mahlzeit.
Elsa
Herr Seidel hatte sich langsam von seinem Platz erhoben und zog umständlich seine Hose wieder in Form. Entschlossen nahm er einen großen Koffer aus dem Gepäcknetz und wuchtete ihn auf den Sitz. Schnaufend wischte er sich den Schweiß von der Stirn und reichte mir seine feuchte Hand zum Abschied.
»Machen Sie es gut, junge Frau, bis bald einmal.« Von übermäßigen Abschiedsworten machte Herr Seidel keinen Gebrauch mehr. Wir hatten alles gesagt. Mit einem freundlichen Nicken drängte er sich an Käthe und Sieglinde vorbei, um auf den Gang zu gelangen. Ich kam mir vor wie in dem Werbeslogan einer langen Praline: »Ob er jemals wiederkommt?« Ich hatte keine Zeit mehr, mir Gedanken über ein mögliches Wiedersehen zu machen. Käthe scheuchte mich weiter wie auf einem Viehtrieb.
»Beeile dich, Babs, ich muss an die frische Luft. Der Mief hier drin ist ja kaum auszuhalten.« Sie wedelte sich mit einer Hand Luft zu, um ihr Anliegen deutlicher zu machen. Ich hatte mich in der letzten Stunde an den Geruch gewöhnt, aber die Aussicht, die Nordseeluft durch meine Lungenflügel zu ziehen, war ganz in meinem Sinn. Erleichtert packte ich den Korb, den Käthe mir wieder hinhielt, und verließ einigermaßen versöhnt das Abteil. Sieglinde folgte mir sofort, während Käthe noch ein Weilchen im Abteil stehen blieb und sich umsah.
»Sieht irgendwie eleganter aus als unser Abteil. Aber was du mit diesem Herrn zu schaffen hast, ist mir ein Rätsel. Wir hätten es so schön haben können, Kind.« Da ich nicht daran dachte, auf sie zu warten, wurden ihre letzten Worte immer lauter, damit sie noch in meine Ohren dringen konnten. Ich ignorierte meine Mutter und hielt Ausschau nach Elsa. Es war nicht einfach, im Getümmel des Bahnhofes jemanden zu erkennen.
Als der Zug endlich stand, schwangen die Türen demonstrativ auf, Endstation! Ich kletterte umständlich die Stufen herunter und verfing mich am Türgriff. Mit einem knisternden Geräusch verabschiedete sich meine Lieblingsbluse ein für alle Mal. Ein langer Riss zeigte sich an der Außenseite mit langen Fäden, die lustig an mir herunterhingen. Shoppingmeile Westerland stand sofort auf dem Programm. Um den Fluss der Reisenden nicht zu behindern, stellte ich mich abwartend an die Seite, direkt bei den Schließfächern. Hier würde meine Familie mich schon finden. Eine Abmachung mit meiner Mutter, noch aus Kindertagen. Treffpunkt Schließfächer.
Der Nürnberger stand unschlüssig im Menschenstrom, er war deutlich überfordert und sichtlich erfreut, mich zu sehen. Wie selbstverständlich tauchte er plötzlich neben mir auf.
»Haben Sie Ihre Mutter schon wieder verloren?«, hauchte er mir zu.
»Sieht ganz danach aus«, hauchte ich ebenfalls und grinste ihn verschwörerisch an.
»Hach, wusste ich doch, dass ich dich hier finden würde. Hast du Elsa schon entdeckt?« Käthe kreischte aus der Ferne über die anderen Reisenden hinweg. Bei ihrer Größe ein kleines Wunder. Als sie näherkam, erntete Herr Seidel einen missbilligenden Blick. Jetzt stand sie aufgeregt vor mir, eine Prosecco-Fahne schlich sich an meiner Nase vorbei. Nüchtern war sie immer noch nicht. Ich verdrehte die Augen.
»Nee, keine Spur von Elsa. Herr Seidel, bei der Gelegenheit kann ich Ihnen meine Mutter noch mal richtig verstellen. Käthe Paulsen, meine Mutter, Muddi, das ist Herr Seidel aus Nürnberg.« Pikiert gab Käthe ihm die Hand.