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Winterzauber an der Nordseeküste Seit fünfzehn Jahren ist Stella glücklich mit Holger verheiratet. Aus der einstigen Schönheitskönigin ist eine zufriedene, rundliche Hausfrau geworden. Als Holger Stella kurz vor Weihnachten von einem Tag auf den anderen verlässt, fällt sie aus allen Wolken. Offenbar legt er doch mehr Wert auf Äußerlichkeiten, als sie wahrhaben wollte. Um wieder einen klaren Kopf zu bekommen, macht sich Stella kurzentschlossen auf den Weg zu ihrem Bruder, der in Westerhever den alten Bauernhof der Familie betreibt. Auf der abenteuerlichen Fahrt über verschneite Straßen nimmt sie den Anhalter Hauke mit, und die beiden kommen sich näher. Im Norden angekommen packt Stella bei der Stallarbeit mit an und trifft so den charmanten Tierarzt Michael wieder, mit dem sie sich schon zur Schulzeit gut verstanden hatte. Doch dann taucht plötzlich Hauke wieder auf. Stellas Gefühlschaos ist perfekt und sie muss sich entscheiden – wen will sie bei ihrem Neuanfang an der Nordseeküste an ihrer Seite haben? Von Anni Deckner sind bei Forever by Ullstein erschienen: Barfuß am Strand Leuchtturmtage Die Sehnsucht der Inselärztin Friesenglück Sylter Meeresrauschen Die Krabbenfischerin Das kleine Blumencafé am Strand Die kleine Apotheke in St. Peter-Ording Inselglück im Schneegestöber
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Die AutorinAnni Deckner, geboren 1961 in Winnert bei Husum, lebt mit ihrer Familie in Hanerau-Hademarschen. Ihre Liebe zur Grauen Stadt am Meer kann man in ihren Werken spüren. Die kreative Luft des Nord-Ostsee-Kanals inspiriert die Autorin genau wie damals den berühmten Dichter Theodor Storm, der an diesem Ort seinen Schimmelreiter zu Papier brachte. Ihre Leidenschaft zum Schreiben entwickelte sich schon in früher Jugend, ihr erstes Buch Heimathafen Husum erschien jedoch erst im März 2014, gefolgt von Knocking Out 2015. In ihrer Freizeit geht die Autorin gern mit ihrem Mann auf Reisen. Ihr Beruf und gleichzeitig Berufung ist ihre Arbeit bei der Kirchengemeinde Hanerau-Hademarschen.
Das Buch
Weihnachtszauber an der NordseeküsteSeit fünfzehn Jahren ist Stella glücklich mit Holger verheiratet. Aus der einstigen Schönheitskönigin ist eine zufriedene, rundliche Hausfrau geworden. Als Holger Stella kurz vor Weihnachten von einem Tag auf den anderen verlässt, fällt sie aus allen Wolken. Offenbar legt er doch mehr Wert auf Äußerlichkeiten, als sie wahrhaben wollte. Um wieder einen klaren Kopf zu bekommen, macht sich Stella kurzentschlossen auf den Weg zu ihrem Bruder, der in Westerhever den alten Bauernhof der Familie betreibt. Auf der abenteuerlichen Fahrt über verschneite Straßen nimmt sie den Anhalter Hauke mit, und die beiden kommen sich näher. Im Norden angekommen packt Stella bei der Stallarbeit mit an und trifft so den charmanten Tierarzt Michael wieder, mit dem sie sich schon zur Schulzeit gut verstanden hatte. Doch dann taucht plötzlich Hauke wieder auf. Stellas Gefühlschaos ist perfekt und sie muss sich entscheiden – wen will sie bei ihrem Neuanfang an der Nordseeküste an ihrer Seite haben?Von Anni Deckner sind bisher bei Forever by Ullstein erschienen:Barfuß am StrandLeuchtturmtage
Anni Deckner
Leuchtturmtage
Ein Nordseeroman
Forever by Ullsteinforever.ullstein.de
Originalausgabe bei Forever Forever ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin November 2016 (1) © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016 Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © privat ISBN 978-3-95818-122-9 Hinweis zu Urheberrechten Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben. In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
Stella sah auf die Straße hinaus, überall erstrahlte der vorweihnachtliche Lichterglanz. Ihre Nachbarn Silke und Tom hatten sich besonders viel Mühe gegeben. Ihre Deko stand außer Konkurrenz zu den anderen. Der Wetterdienst hatte für die Feiertage Schnee versprochen und er sollte recht behalten. Leichte Schneeflocken verwandelten ihren Garten in eine Puderzuckerlandschaft.
Stella kämpfte mit den Tränen. »Scheiß Weihnachten«, flüsterte sie frustriert. Ihre dicken Finger suchten nach einem Taschentuch in der Tasche ihres Morgenmantels. Beherzt wischte sie ihre Augen trocken und drehte sich schwerfällig von ihrem Fensterplatz weg. Ihr Blick blieb an dem goldenen Stern über dem Kamin hängen.
Für Stella, meinen Stern, stand in großflächiger Schrift unter dem Himmelsplaneten. Ihr Mann, Holger, hatte ihr diesen Stern als Geburtstagsüberraschung fertigen lassen. Fünfzehn Jahre waren seither vergangen. Was war nur mit ihrer Liebe geschehen?
Das Telefonklingeln ließ ihre Gedanken in den Hintergrund rücken. »Engel«, meldete sie sich. Sie empfand nicht die Spur Lust zum Telefonieren. Sie wartete geduldig, wer am Morgen ihre Ruhe störte.
»Stella, genial, du bist bereits aufgestanden. Ich hatte Sorge, dich nicht zu erreichen.« Unverkennbar hatte Stella die Stimme ihrer Nachbarin im Ohr.
»Doro, was verschafft mir die Ehre, dass du anrufst?« Stella gab sich Mühe, unbeschwert zu klingen. »Hast du keinen Kaffee mehr im Haus?«
Dorothea kicherte verlegen. »Ich wollte fragen, ob du rüberkommst und mit mir frühstückst. Ich habe Eier vom Bauernhof zu bieten, die Brötchen backen im Backofen.« Doro klang wie ein frischer Morgenwind – ziemlich ungewöhnlich für eine Langschläferin.
»Sie weiß es also schon«, dachte Stella. Sie schluckte die erneut aufkommenden Tränen herunter.
»Danke, Doro, sehr lieb von dir, aber ich bin noch nicht angezogen. So werde ich nicht über die Straße gehen können«, versuchte sie, die Einladung abzulehnen.
»Ach, Quatsch, spring unter die Dusche und komm rüber, ich warte auf dich. Bis gleich, Stella!« Doro hatte schnell aufgelegt und gab Stella keine Gelegenheit, eine neue Ausrede zu finden. Stella ließ den Hörer sinken und legte ihn neben die Telefonstation auf das kleine Schränkchen.
»Okay, dann gehe ich mal duschen«, murmelte sie resigniert. Sie bewegte sich langsam ins Bad. Ihre rosa Plüschpantoffeln hatten auch schon bessere Tage gesehen. Ihre Fersen standen ein Stück über den Rand und gaben ihre Knusperhacken frei. Im Bad betrachtete sie zerknirscht ihr Gesicht.
»Sieh dich doch mal an, Stella, dann weißt du auch, was schiefgelaufen ist.«
Die letzten Jahre waren vom Essen bestimmt worden und das konnte jeder deutlich sehen.
Holger hatte es geliebt, von ihren Kochkünsten verwöhnt zu werden. Wenn er aus der Kanzlei nach Hause kam, duftete es herrlich nach allerlei Köstlichkeiten. Mit Hingabe hatte sie täglich für das leibliche Wohl gesorgt. Stella hatte nicht bemerkt, dass ihr Mann viele Jahre lang gar nicht mehr so große Portionen vertilgt hatte. Sie aß die Reste, um nichts wegwerfen zu müssen. Liebevoll hatte sie ihm danach ein Dessert gereicht, meistens vor dem Fernseher. Verzweifelt starrte sie weiterhin ihr Spiegelbild an. Früher hatten die Leute gesagt, sie sei eine Schönheit. Tribute aus längst vergangener Zeit. Stella konnte kaum Erinnerungen an ihr damals so gelobtes Aussehen hervorrufen. Sie war erst sechsunddreißig Jahre alt, wirkte aber viel älter. Mangelnde Bewegung an der frischen Luft ließ ihre Haut ungepflegt wirken.
Statt unter die Dusche zu gehen, kämmte sie ihr dichtes braunes Haar, putzte die Zähne und schlüpfte in die Hose vom Vortag. Eine Bluse in 4XL bedeckte den Rest der Hausfrau aus Leidenschaft. Schließlich wollte sie das Frühstück genießen und nicht währenddessen mit zwickender Hose nach Luft schnappen müssen.
Plötzlich wurde Stella zuversichtlich, dass Holger sie nicht für lange verlassen hatte. Fünfzehn Jahre Ehe konnte er unmöglich einfach so wegwerfen. Mit dem Vorsatz, ihre Wohngemeinschaft zu retten, ging sie, versöhnt mit sich und der Welt, zu Doro. Am Nachmittag wollte sie die Weihnachtsdeko aus dem Keller holen. Damit Holger es schön vorfinden würde, wenn er reumütig zu ihr zurückkehren würde.
»Da bist du ja schon, das ging aber schnell.« Doro begrüßte sie freudig. Stella wusste, Dorothea Schröder hatte sie aus purer Neugier eingeladen. Irgendwie musste die Neuigkeit bei ihr angekommen sein. Doro war nie eine gute Freundin gewesen. Nachbarschaft, nicht mehr und nicht weniger, verband Stella mit Familie Schröder.
»Ich lasse mir doch kein Frühstück entgehen, da kommt Bewegung in die Morgenstunde.« Stella schob sich zur Küche durch. »Das sieht sehr gut aus, Doro, danke für die Einladung. Bei mir hätte es nur einen Toast mit Käse gegeben.«
Doro lächelte Stella unterdessen schief an. »Ach, das war keine große Mühe. Wo einer satt wird, werden auch drei satt. Ist dein Mann schon zurück von der Bohrinsel?«
Überrascht sah Stella sie an.
Fahrig holte Doro die Eier aus dem Kochwasser. »Das sagt man doch so?«
Stella sah sie aus ihren blauen Augen misstrauisch an. »Du spielst nicht zufällig auf meine Figur an, oder?«
»Stella, du siehst fantastisch aus, wie immer. Ich könnte mir eine andere Stella gar nicht vorstellen.« Doro drehte ihr den Rücken zu, um die Brötchen in einen Korb zu legen. Lächelnd ging sie auf den Küchentisch zu. »Bitte, bediene dich. Ich sterbe schon vor Hunger.« Doro nahm auf dem gegenüberliegen Stuhl Platz und nickte Stella aufmunternd zu. Stella nahm ein duftendes Brötchen und teilte es gekonnt in zwei Hälften. Forschend beobachtete Doro sie dabei. »Was machst du heute noch Schönes?«
»Ich hole die Weihnachtsdeko aus dem Keller. Es wird langsam Zeit, in ein paar Tagen ist schon der zweite Advent. So spät war ich noch nie dran.«
Doro öffnete den Mund, erwiderte jedoch nichts. Stella fühlte sich in Doros Gesellschaft unwohl. Sie konnte sich nicht erklären, warum. Selbst das herrliche Frühstück machte es nicht besser.
Dorothea durchbohrte Stella mit ihren Blicken. »Stella, was ist bei euch los?«
»Holger will die Scheidung«, murmelte Stella kauend. »Er wird es sicher bald bereuen und zu mir zurückkommen. Er braucht nur eine Auszeit.«
Doro wurde aschfahl. Sie ließ ihr Frühstücksei sinken und sah an Stella vorbei ins Leere. »Stella, das tut mir leid«, stammelte sie. »Was willst du nun tun?«
Mit vollem Mund winkte Stella ab. »Ich sag doch, er kommt noch vor Weihnachten wieder. Mach dir keine Sorgen.«
»Na, du hast Nerven. Wie kannst du nur so ruhig bleiben? Musst du dir eine neue Wohnung suchen? Oder bleiben wir Nachbarinnen?« Doro wirkte betroffen.
»Du hast mich nicht richtig verstanden, Doro. Er kommt wieder, was sollte er sonst machen?« Stella wurde die Unterhaltung zu anstrengend, sie stopfte ihr letztes Stück Brötchen in den Mund und erhob sich schwerfällig. »Doro, vielen Dank für das wundervolle Frühstück, aber ich muss nun wirklich los. Der Tag ist kurz. Ich habe noch einiges zu erledigen.«
Doro sah sie mitfühlend an. »Ich kann das gut verstehen, du hast sicher noch Einiges zu planen. Eine neue Zukunft ist nicht leicht zu organisieren. Weiß du schon, wo du hinwillst? Ich könnte dir beim Packen helfen, wenn du möchtest.«
Stella zog verwirrt die Stirn in Falten. »Doro, ich plane keinen Umzug. Warum auch? Holger liebt mich, seit wir Kinder waren und daran wird sich auch nichts ändern. Wer aufgibt, hat schon verloren. Wir beteiligen uns nicht an der Wegwerfgesellschaft. Bei uns wird noch repariert.« Optimistisch bewegte sie ihren Körper zum Ausgang. Im Flur stutzte sie kurz. Es lag ein Geruch in der Luft, der ihr seltsam vertraut vorkam.
Sie zog ihre Jacke an und verließ das Haus ihrer Nachbarin in die morgendliche Winterlandschaft. So schnell es ihr massiger Körper zuließ, wechselte sie auf die andere Straßenseite, um ihr Haus aufzuschließen.
Im Inneren des Hauses schlug ihr wohlige Wärme entgegen. Ihre aufgeflammte Selbstsicherheit löste sich in nichts auf. Die Traurigkeit nahm erneut von ihr Besitz. Hätten sie das Glück, Kinder zu haben, wäre sicher alles anders gekommen. Leider war ihnen dieses Wunder verwehrt geblieben. Stella stand am Abgrund. Doch sie würde nicht aufgeben. Sie war überzeugt, den Kampf um ihre Ehe gewinnen zu können.
Stella hörte, wie die Tür aufgeschlossen wurde. »Holger«, flüsterte sie freudig. Eilig ging sie ihm entgegen. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Na endlich.
»Stella, gut dich anzutreffen, ich habe mit dir zu reden.« Gut gekleidet und rasiert trat er ihr entgegen. Den Mantel behielt er an.
»Gerne, mein Hase, aber willst du deinen Mantel nicht ablegen? Ich koche uns einen Kaffee.« Sie wollte in die Küche gehen, als Holger sie stoppte.
»Nicht nötig, danke. Ich muss gleich wieder los. Ein Klient wartet auf mich.«
Unsicher hielt Stella inne. Sie sah ihren Mann liebevoll an, sie wollte ihn berühren, zog ihre Hand jedoch gleich wieder zurück, als sie bemerkte, dass Holger sich versteifte. Zu gerne hätte sie ihn in den Arm genommen, seine Wärme gespürt, diese jahrelange Vertrautheit in sich aufgesaugt. Sie verspürte jedoch nur eisige Kälte. Er ließ keine Nähe zu. Stattdessen kam er sofort zur Sache.
»Stella, ich will unser Haus selbst bewohnen. Du erhältst eine Abfindung und zusätzlich Unterhalt. Zuzüglich deiner Ersparnisse, von meinem Geld erwirtschaftet, wirst du in der Lage sein, zurechtzukommen. Bedingung ist, du ziehst in den kommenden zwei Wochen aus.« Holger beendete die Forderungen mit einem milden Lächeln. Er hatte sich immer schon zielsicher und mitleidlos ausgedrückt. Die zusätzliche Härte in seinem Tonfall kränkte Stella zutiefst.
»Aber Holger, wo soll ich nur so spontan hin? Warum tust du mir das an? Nach all den Jahren? Ich verstehe es nicht. Bitte sag doch etwas.«
Holger wirkte weder niedergeschlagen noch schuldbewusst. Er verzog den Mund zu einem hässlichen Grinsen. »Sieh dich nur einmal an«, sagte er und ging zur Tür, ohne abzuwarten, ob Stella sich mit dem Vorschlag einverstanden erklärte. Für ihn war alles gesagt. »Denk dran, Stella, in zwei Wochen bist du hier weg. Ich verspüre keine Lust, dauerhaft in der Kanzlei zu schlafen. Deine Kontonummer kenne ich. Lebwohl.« Schwungvoll verließ er das gemeinsame Haus. Die Tür knallte ins Schloss. Stella blieb verlassen zurück.
Sie war zu erledigt, um in Tränen auszubrechen, also ging sie in die Küche und öffnete kraftlos die Kühlschranktür. Sie fand dort einige Leckereien, aber sie schloss die Tür wieder, ohne etwas herauszunehmen. Ihr war durchaus bewusst, dass das Essen ihre Ehe zerstört hatte.
Beherzt fasste sie einen Entschluss und griff zum Telefon. Die warme Stimme ihres Bruders schmeichelte ihrer Seele. Für einen Moment schloss sie die Augen.
»Stella, du rufst mich an? Womit habe ich das verdient, Schwesterherz?«
Stella gab sich einen Ruck und bemühte sich, in gleichbleibender Tonlage zu sprechen. »Sam, ich brauche deine Hilfe. Darf ich für eine Weile zu dir auf den Hof kommen? Ist mein ehemaliges Zimmer derzeit frei?«
»Jederzeit, Stella. Dennoch, ich verstehe nicht ganz. Hat Holger dich vor die Tür gesetzt?« Sam gab sich keine Mühe, den spöttischen Tonfall zu kaschieren. Er hatte noch nie viel für Holger Engel übriggehabt. Die jahrelange Ehe mit Stella hatte daran nicht das Mindeste geändert.
»Ja«, erwiderte Stella knapp und wahrheitsgemäß. Sie ahnte, ihr Bruder würde ihr ohnehin nicht glauben, darum blieb sie getrost bei der Wahrheit.
»Ach, Stella, das wäre zu schön, um wahr zu sein.« Sam nahm selten ein Blatt vor den Mund. »Du darfst dir gerne eine Auszeit auf meinem Hof gönnen. Mit Wellness kann ich allerdings nicht dienen. Gegebenenfalls eine Güllepackung, oder ein Bad im Heu?«
Lachend ging Stella auf Sams Späße ein. »Ich besitze nicht viel Geld, ist das bezahlbar für mich?«
»Klar, Kleines, du wirst die Gülle eigenhändig in die Badewanne schaffen. Das ermäßigt den Preis erheblich. Wann kommst du? Dein Zimmer dient zurzeit als Rumpelkammer, ich müsste erst die Bewohnbarkeit herstellen.« Sam lachte verlegen.
»In ein paar Tagen, sobald ich hier mit den Vorbereitungen fertig bin. Bitte keine Umstände, ich werde meine Freude daran haben, die Bude gemütlich herauszuputzen. Es wird auf alle Fälle für keinen von uns in Schwerstarbeit ausarten.«
»Fantastisch, Stella, ich stecke ohnehin bis zum Hals in Arbeit.«
»Ach, Sam das tut mir leid. Ich helfe dir auf dem Hof, wenn ich es hinbekomme.«
Sam schwieg am anderen Ende der Leitung. Stella hatte sich in der Vergangenheit nicht für den Hof interessiert. Als jugendliches Mädchen war sie jeder Modelveranstaltung hinterhergejagt. Freudestrahlend zeigte sie zu Hause ihre Preise. Lifestyle und mit schönen Dingen umgeben zu sein, brauchte sie wie die Luft zum Atmen. Rinder und Schweinezucht gehörten nicht zu ihren Vorlieben.
»Stella? Was ist los mit dir? Hast du Sorgen?«
»Solange ich dich in meiner Familie weiß, bin ich wunschlos glücklich.« Kichernd beendete sie das Gespräch.
Schweißgebadet legte Stella den Hörer weg. Sam hatte irgendetwas gemerkt. Sie mochte jedoch nicht am Telefon darüber sprechen, dass sie vorhatte, vielleicht für immer auf den elterlichen Hof zurückzukehren. Sie wollte es selbst nicht wahrhaben.
Lethargisch ging sie durchs Haus. Hier hatte sie mit Holger jahrelang im siebten Himmel gelebt. Verdammt, sie liebte ihn. Sie schlich ins Büro, wo ihre persönlichen Dinge eine Bleibe gefunden hatten. Die Fotoalben mit den Erinnerungen an ihre Hochzeit. Urlaubsfotos aus exotischen Ländern. Ihr fiel ein Album aus der Zeit ihrer Modelaktivitäten in die Hände. Strahlend sah sie auf allen Fotos in die Kamera. Wie hatte dieses lebhafte, erfüllte Lachen verlorengehen können? Eine andere Stella ermahnte sie auf den Fotos mit spöttischem Grinsen.
Regelmäßig stieg sie am Morgen auf die Waage und nahm sich vor, endlich ihr Gewicht zu reduzieren. Vorsätze, die auf dem Weg vom Bad zum Kühlschrank in Vergessenheit gerieten.
Stella legte die Alben sorgfältig in einen Wäschekorb. Ein Leben in Bildern aus längst vergangener Zeit. Verspielt und verschenkt. An wen? An einen Mann, der sie nur zum Vorzeigen wollte? Hatte sie aus diesem Grund ihre Figur vernachlässigt, weil sie sich nicht geschätzt gefühlt hatte?
Sie hievte den Korb mit den Erinnerungen hoch und platzierte ihn für den Abtransport im Flur. Stella wunderte sich, dass es ihr nicht schwerfiel. In derselben Weise fuhr sie mit dem Rest ihrer persönlichen Dinge fort. Sie schwitzte, als ob sie dabei wäre, einen Boxkampf zu gewinnen. Anstrengungen lagen ihr nicht mehr, seitdem ihr Körper beschlossen hatte, ihr zu entgleiten. Zuletzt verstaute Stella ihren Computer vorsichtig in einem Karton. Der Eingangsbereich lag überfüllt mit Kisten und Körben vor ihr. Stella hatte Mühe, darüber hinwegzusteigen. Sie suchte fieberhaft nach einer Lösung, mit der sie die gesammelten Werke nach Westerhever schaffen konnte. Mit ihrem Auto würde es wahrlich nicht klappen.
Kurz entschlossen und mit schlechtem Gewissen ergriff sie den Zündschlüssel des Wohnmobils. Sie ging zum Carport, das ausschließlich für das Wohnmobil errichtet worden war. Stella öffnete die Fahrertür und wuchtete sich hinein. Mit zittrigen Fingern steckte sie den Schlüssel ins Schloss. Ihr ehemaliges Urlaubsdomizil sprang sofort an. Stella hatte das Riesenmobil noch nie zuvor gefahren. Holger hatte es ihr nicht erlaubt. Unschlüssig starrte sie durch die Windschutzscheibe. Ihr Wohnmobil brummte geduldig vor sich hin und wartete, dass Stella in die Auffahrt rollte. Beherzt legte sie den Rückwärtsgang ein. Die Außenspiegel verhießen ihr freie Fahrt. Mit klopfendem Herzen lenkte sie das Mobil aus der Auffahrt hinaus. Bald würde sie in ein unbekanntes Leben fahren. Stolz, aufgrund ihres Erfolgs, stieg sie aus. Den Motor ließ sie laufen. Stella öffnete die Klappe zum Stauraum, in den ohne Mühe ein Kleinwagen hineinpassen würde. Entschlossen verfrachtete sie ihr Hab und Gut. Als alle Kisten verstaut und für den Abtransport gesichert waren, stellte sie fest, dass sie noch Platz hatte. Sie holte ihr Fahrrad aus der Garage. In Westerhever würde es sehr nützlich sein und sie würde das Wohnmobil getrost stehenlassen können, um kurze Wege per Drahtesel zu erledigen. Der Ort ihrer Kindheit verfügte nur über enge Straßen und für ein Wohnmobil wenig geeignete Parkplätze.
»Hallo, Stella, geht’s wieder los? Wollt ihr Urlaub machen?« Ihr ohnehin strapaziertes Gewissen ließ sie vor Schreck zusammenfahren.
»Lukas, hast du mich erschreckt. Nein, wir bekommen neue Möbel. Ich entsorge einige Sachen, die wir nicht mehr brauchen. Inzwischen bin ich aber an die Grenzen meiner Kräfte gestoßen. Der Ledersessel soll auch mit. Ich fürchte, ich muss abwarten, bis Holger zurück ist.«
»Och, Stella, wozu ist denn Nachbarschaft da? Ich komme geradewegs vom Training, da schaffe ich deinen Ohrensessel mit links.« Lukas war in der Tat ein Muskelpaket, das es in sich hatte. Stella bezweifelte nichtsdestotrotz, dass er das Ungetüm bewältigen konnte.
»Unter Umständen schaffen wir es gemeinsam?«, bot Stella ihre Hilfe an. Lachend ging Lukas ins Haus, um den Ledersessel zu sichten.
»Diesen stattlichen Sessel wollt ihr entsorgen? Wenn du nichts einzuwenden hast, ich könnte ihn gebrauchen?«
»Nein, ich meine, ja …« Stella stand vor ihm und sah ihn ratlos an. Lukas hatte stets ein gutes Verhältnis zu Holger gehabt. Sie spielten gemeinsam Tennis und beide sahen mit Leidenschaft zusammen Fußball. Unmöglich konnte sie ihm anvertrauen, dass sie gerade im Begriff war, ihrem Mann die Möbel zu entführen. Lukas schaute sie erstaunt an.
»Stella, was ist nur los mit dir, befindest du dich auf der Flucht?«
»Ja, es ist besser, wenn du jetzt gehst. Danke für dein Angebot, mir zu helfen.« Lukas ließ sich nicht vertreiben. Es schien Stella, dass er schon längst geahnt hatte, dass Stella und Holger Probleme miteinander hatten. Er hatte schließlich gelegentlich miterlebt, dass Stella den Kürzeren zog. Er schob die füllige Nachbarin beiseite und hob das Möbelstück an. Vorsichtig trug er den Sessel durch die Türen, um ihn anschließend schnaufend im Wohnmobil zu verstauen.
»So, Prinzessin, nu ist er drin.« Sanftmütig blinzelte er Stella zu. »Ich wünsche dir alles Gute, pass auf dich auf. Ich freue mich darauf, bei Gelegenheit von dir zu hören. Ich werde dich vermissen.« Lukas gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange, bevor er nach Hause lief. Stella verharrte mit offenem Mund.
»Danke«, flüsterte sie ergriffen. Mit Unterstützung von Lukas hatte sie nicht gerechnet.
Es wurde Zeit, Abschied von ihrem Zuhause zu nehmen. Stella ging durch sämtliche Räume und verabschiedete sich schmerzhaft. Ihr Herz wurde schwer. Sam würde überrascht sein, dass sie noch am gleichen Tag ihres Telefonats auf dem Hof erschien. Stella hatte so eilig ihre Habseligkeiten gepackt, dass sie sich später wunderte, wie zügig und spielend es gelungen war, ihr Leben in Kisten zu packen. Sie verspürte Erleichterung und blieb vor dem großflächigen Spiegel im Schlafzimmer stehen. Unglückliche Augen sahen sie an. Sie nahm sich vor, die Stella von damals wiederzufinden. Ob die Suche gelingen würde?
Sie schnappte sich ihre Handtasche, eine Flasche Wasser und den Obstkorb aus der Küche. Das hessische Calden würde bald in der Vergangenheit liegen. Sie würde darauf warten, dass Holger sie zurückholte, doch seine Haltung verhieß geringe Hoffnung auf eine weitere, gemeinsame Zukunft.
Stella visierte die Auffahrt und die enge Sackgasse an, aus der sie ihr riesen Mobil bringen musste. »Wird schon klappen«, brummte sie und wuchtete ihren vernachlässigten Körper auf die Fahrerseite. Sie beruhigte sich, indem sie ein Lied summte.
»Hey, das ging problemloser, als ich dachte.« Glücklich über ihren ersten Erfolg auf dem Weg, ein neues Leben zu beginnen, legte Stella den ersten Gang ein und rollte die Straße herunter. Im letzten Moment erkannte sie Doro hinter der Gardine. Fröhlich winkend verabschiedete sie ihre Nachbarin. »Falsche Schlange. Dir gönne ich den Triumph nicht. Ich weine nicht.« Sie hatte ohnehin keine Zeit für Gefühlsausbrüche. Konzentriert folgte sie der Siedlerstraße. Die Kinder ihrer Nachbarn kamen von der Nachmittagsschule nach Hause. Wehmütig dachte Stella an die Tage, an denen manche von ihnen bei ihr vorbeischauten, um mit ihr ein Glas Mich zu trinken oder Kuchen zu essen. Hin und wieder hatte Stella ihre Hausaufgaben überwacht und Tipps zur Verbesserung gegeben. Es waren stets wunderschöne Stunden gewesen.
Auf der A7 stockte der Berufsverkehr. Stella würde Westerhever erst nach Mitternacht erreichen. Sollte Sam schon schlafen, könnte sie im Wohnmobil übernachten.
Stella steuerte die nächste Tankstelle an. Die Autobahnraststätten boten genügend Platz, so dass sie beim Rangieren problemlos zurechtkam. Es könnte eine schwierige Herausforderung auf sie zukommen, wenn sie in der Stadt Calden ihren Riesen mit Zündstoff versorgen musste.
»Fahren Sie Richtung Norden?« Stella zuckte zusammen, als unverhofft ein gut gebauter Mann an ihrer Seite auftauchte und um eine Mitfahrgelegenheit bat. Sie schätzte ihn auf maximal vierundzwanzig.
»Ich nehme keine Anhalter mit, tut mir leid.« Sie stopfte den Zapfhahn in die Vorrichtung und begab sich zur Kasse. Als sie zurückkam, stand er immer noch da. Mit einem Dackelblick sah er ihr entgegen.
»Ich mache mich klitzeklein, bitte, überlegen Sie noch einmal, ob ich nicht einen reizenden Begleiter darstellen würde«.
»Reizend im wahrsten Sinne des Wortes. Wo wollen Sie denn hin?«
»Nach St. Peter-Ording. Meine Großmutter liegt im Krankenhaus, und ich muss ihr Café beaufsichtigen.«
»Und das bekommen Sie hin?«
»Na klar, ich habe die Semesterferien immer dafür verwendet, bei Omi auszuhelfen.« Siegessicher grinste er sie an.
»Ich meinte, das mit dem Kleinmachen. Können Sie auch die Klappe halten?«
»Wenn Sie es wünschen, kriege ich das hin.« Unverhohlen betrachtete er Stella. Ein gutaussehender Junge. Wasserblaue Augen strahlten ihr entgegen. Am Hals baumelte ein Holzkreuz. »Ich heiße übrigens Hauke Bergmann. Mein Auto ist liegengeblieben, dummerweise direkt vor der Haustür. Zu meinem Unglück besteht dadurch keine Chance auf einen kostenlosen Mietwagen. Also mache ich mich auf den Weg und versuche mein Glück, auf diese Weise nach Nordfriesland zu gelangen.«
»Freut mich, ich bin Stella Engel.« Sie reichte ihm versöhnlich die Hand. »Was sollten Sie mir schon antun, na los, steigen Sie ein.« Freudestrahlend ergriff er ihre Hand. »Danke, Stella, Sie sind ein wahrer Engel. In diesem Moment vom Himmel gefallen. Oder?«
»Na ja, eher aus dem Nest. Für ein Küken mit Gewissheit zu pfundig.« Seufzend ließ Stella sich auf den Sitz fallen.
»Sie sind ohne Begleitung unterwegs?« Suchend sah Hauke im Wohnmobil umher.
»Nein, den Bodyguard habe ich hinten im Gepäckraum verstaut. Er stellte zu viele Fragen.« Sie startete den Motor und verließ die Raststätte. Hauke beobachtete sie verstohlen von der Seite. Stella war es unangenehm, da sie sich durchaus bewusst war, wie ungepflegt sie auf ihn wirken musste. Ihre Gesichtszüge verhärteten sich. Er konnte nicht wissen, wie schlecht es ihr im Grunde ging. Vielleicht sollte sie ihn aufklären? Stella schluckte. Sie fand, dass es ihn nichts anging.
»Weshalb bist du so zickig?«
»Bin ich nicht. Das ist mein Humor.«, lautete die knappe Antwort. Sofort erinnerte Hauke sich an ihre Worte. »Klappe halten.« Da er ohnehin müde wurde, schloss er die Augen.
Stella freute sich, dass sie den anstrengenden Weg Richtung Norden nicht ohne Begleitung fuhr. In Hauke schien ein netter Bursche zu stecken. Warum hätte sie ihn zurücklassen sollen? Sie hatte zugegebenermaßen genug Platz in ihrem Domizil. Haukes Hände ruhten auf seinen Beinen. Die verschlossenen Augenlider wurden von dichten Wimpern umrandet. Winzige Sommersprossen eroberten ein kantiges Gesicht und ließen ihn lausbubenhaft aussehen. Die frechen Tupfer täuschten über die freundliche Art hinweg. Ein stiller Kontrast, den die Natur erschaffen hatte. Die rotblonden Haare, wild und ungezähmt, erinnerten an jemanden aus der Regenbogenpresse.
Stellas stumm gestelltes Handy vibrierte zum vierten Mal in der Hosentasche. Sie ahnte, wer verzweifelt versuchte, sie zu erreichen. Holger beweinte mit Sicherheit das Wohnmobil. Um endlich Ruhe zu haben, nahm sie das Gespräch über die Freisprechanlage an.
»Stella Engel.« Sie behielt recht.
»Mensch, Stella, wo steckst du? Ist dir aufgefallen, dass unser Wohnmobil gestohlen wurde?«
»Nein, ist es nicht«, gab sie frostig zur Antwort.
»Wo vergräbst du dich überhaupt?«
»Schon vergessen? Du hast mich vor die Tür gesetzt. Warum bist du zu Hause? Ich bin erst in zwei Wochen raus. Noch ist es meine Bleibe.« Stella begann die Diskussion zu genießen.
»Ich brauche Unterlagen aus dem Büro. Sag mal, steckt der Schlüssel von der anderen Seite? Ich bekomme die Tür nicht auf.«
»Möglicherweise, ich benötige ihn nicht mehr.« Stella grinste. »Ich borge mir im Übrigen das Wohnmobil, ich sah keine andere Möglichkeit, alles zu transportieren. Ich tausche ihn bei Gelegenheit gegen den VW aus.«
»Du borgst was!? Bist du von Sinnen? Wenn etwas beschädigt wird, mach mir da keine Schramme rein …«
»Was dann? Gibt es Prügel? Oder kürzt du die Abfindung? Holger, glaub mir, auch ich habe gute Anwälte.« Stella gelang es erstaunlich gut, den Wortwechsel zu kontrollieren. Ständig war sie im Streit mit ihrem Mann unterlegen gewesen, aber nun ging sie unbesiegt aus dem Wortgefecht mit dem Juristen. Er durfte sie nicht mehr zum Idioten machen. Mit beiden Händen umklammerte Stella das Lenkrad und sprach ungerührt durch die Freisprecheinrichtung weiter. »Ich prüfe dein Angebot und lasse dich wissen, wie ich mich entscheide. Bis bald.« Stella reckte das Kinn. Sie konnte zufrieden mit ihrem Geschick sein, das sie im Gespräch mit dem wortgewandten Ehemann bewiesen hatte. Hauke räusperte sich. »Mit dir ist nicht gut Kirschen essen, oder?«
Lachend warf Stella den Kopf in den Nacken. »Das scheint mir genauso. Das bereitet mir extrem viel Spaß.«
»Mutmaße ich richtig, dass du dich im Moment zum Schmetterling entpuppst?«
»Genau, Hauke, leicht und schwerelos, wie ich eben bin.« Stella fand den Vergleich nicht hundertprozentig passend. Aber zumindest in gewisser Weise hatte er recht. Sie würde wieder beginnen, zu leben. Mit jeder Faser spürte sie, wie erneute Kraft aufkam. Und mit ihr war sie gewillt, alles zu schaffen und alles zu beseitigen, was ihr in den Weg gestellt wurde. Noch hatte die Traurigkeit in ihr Oberhand, doch im Geheimen ahnte Stella, wie dankbar sie sein konnte, dass Holger sie aus ihrer Blase hinauskatapultiert hatte.
»Wer oder was erwartet dich in Nordfriesland? Wohnen Verwandte von dir im Norden?« Hauke betrachtete Stella interessiert von der Seite.
»Mein Bruder lebt in Westerhever, ich wohne eine Zeit lang bei ihm. Unter Umständen für immer.« Stella zuckte mit den Schultern und sah kurz zu Hauke hinüber.
»Wie kommt man dazu, in diesem Kaff zu leben? Da ist der Hund begraben.« Hauke lachte skeptisch.
»Da ist unser Hof, der von Sam bewirtschaftet wird. Ich bin dort geboren.« Stella straffte ihren Rücken. Es wurde ihr in diesem Moment bewusst, dass es sich großartig anfühlte, von ihrem Zuhause zu sprechen.
»Ach so …« Hauke schwieg nachdenklich.
»Pass auf, Stella, da vorn scheint es gekracht zu haben. Sieht nicht günstig aus.« Stella riss die Augen auf. Vor ihnen lag ein PKW auf dem Dach. Der Unfall musste erst vor Minuten vorgefallen sein. Die Reifen des Havaristen drehten sich und warfen Dreck durch die Luft.
»Verdammter Mist, hoffentlich ist nix Schlimmes passiert.« Sie bremste scharf und kam mit einem Ruck rechtzeitig zum Halten. Mit flinken Fingern löste Stella den Gurt und sprang auf die Fahrbahn. Hauke betätigte den Schalter für die Warnblinkanlage und sicherte die Unfallstelle ab. Stella vergewisserte sich, dass der nachfolgende Verkehr stehen blieb, und eilte zum Unfallwagen. Sämtliche Scheiben des Autos waren zerbrochen. Schnaufend rief sie in das Wageninnere.
»Hallo, ich bin Stella, geht es euch einigermaßen gut? Wir haben Hilfe gerufen. Bleibt ruhig.« Sie hockte vor dem Fahrzeug und versuchte, einen Blick hineinzuwerfen. Ein heilloses Durcheinander beherrschte die Situation. Ein Kind schrie markerschütternd. Stella stockte der Atem.
»Alles wird gut, Kleines, du kommst da gleich raus. Verrätst du mir deinen Namen?« Stella bemühte sich, die verletzten Insassen abzulenken, damit diese nicht das Gefühl beschlich, hilflos ausgeliefert zu sein.
»Danny!«, lautete die schluchzende Antwort.
»Gut, Danny, du bist ein tapferer Junge. Freut mich, dich kennenzulernen.«
»Bin kein Junge, ich heiße Daniela …«
»Oh, wie grandios, ich wollte auch immer einen Namen, den man so herrlich abkürzen kann.« Nebenbei streckte Stella die Hand zum Mann, der bewusstlos auf der Fahrerseite lag, um mit Bedacht den Puls zu fühlen. Sie hatte nicht viel Ahnung davon, doch der Pulsschlag erschien ihr sehr niedrig. Ein Rinnsal Blut floss ungehindert über ihre Handfläche. Sanft streichelte sie den Kopf des Unfallopfers, seelenruhig sprach sie tröstende Worte.
»Ist mein Papi tot?«, piepste Danny aus ihrer unbequemen Lage.
»Nein, natürlich nicht, es kommt gleich ein Rettungswagen, der bringt euch ins Krankenhaus.«
Stella ereilte ein ungutes Gefühl. Was, wenn sie nicht recht hatte? Wie erklärte sie der Kleinen das? Rasch lief sie zur anderen Seite. Die Tür gab nach und ließ sich öffnen. Vorsichtig zog sie die leise weinende Mutter im Rettungsgriff auf den Grünsteifen. Die Frau hatte schwere Wunden davongetragen. Ihr Fuß schien gebrochen zu sein und sie blutete heftig am Oberschenkel.
»Verdammt, wo bleibt die Hilfe? Ist ein Arzt in der Nähe?« Verzweifelt sah sie zu den stehenden Fahrzeugen. Niemand wollte aussteigen. »Wie heißt du? Sind die Schmerzen heftig?«
»Wo ist mein Mann? Ist er am Leben?«
»Ja, ist er. Ich hole Danny erst einmal aus dem Auto.«
Das Mädchen hing kopfüber im Sicherheitsgurt. Stella stützte ihren zarten Körper und löste den Gurt. Mit einem Ruck fiel Danny in Stellas Arme. Sofort klammerten sich die dünnen Ärmchen um ihren Hals. Stella erkannt keine Blessuren. Erleichtert brachte sie das Kind zu ihrer Mutter. Aus der Ferne hörte sie die Sirenen der Rettung. Stella schloss für einen Moment die Augen.
»Gott sei Dank«, wisperte sie.
Hauke rannte mit einer Flasche Wasser zur Unfallstelle. Er hockte sich neben Mutter und Tochter und begann, die Verletzungen der Frau zu versorgen. Stella kümmerte sich wieder um den Familienvater. Sie war in Sorge, er hatte viel Blut verloren. Den harten Asphalt ignorierend kniete sie an der Seite des Mannes und rutschte, durch die zerbrochene Scheibe hindurchgreifend, heran. Sie wollte ihn nicht mehr aus den Augen lassen. Sie fühlte, wie die Kräfte aus dem Körper des Verunfallten schwanden. Sanft liebkoste Stella das verzerrte Gesicht.
»Es kommt gleich Hilfe, sei unbesorgt.«
Er deutete ihr an, dichter heranzukommen. Sie beugte ihren Oberkörper so weit wie möglich durch die Fensterscheibe.
»Sag meiner Frau, dass ich sie liebe.«
»Du sagst es ihr später selbst.« Sie lächelte ihn aufmunternd an. Er sah sie mit dunklen, ausdruckslosen Augen an.
»Bitte …« Mit den letzten Reserven streichelte er Stella. »Bist du vom Himmel gefallen? Ein Engel der Zuversicht? Kommst, um mich zu holen?«
»Unsinn, ich will dich gar nicht haben, deine Familie braucht dich dringender.« Tränen rollten ungehindert über ihre Wangen. Er durfte nicht sterben. Es gelang ihr nicht, auf die Straße zu sehen, da sie mit dem Oberkörper im Inneren des Wagens hockte. Sie wollte den Mann nicht loslassen, bis Hilfe kam. Das Martinshorn kam zum Glück näher.
»Danke, schöne Frau, und vergiss nicht, was du mir versprochen hast.« Der Familienvater lag bewusstlos in ihren Armen. Zitternd schob Stella ihren Körper aus dem Wrack und ließ den regungslosen Mann zurück. Ein Rettungsmann half ihr beim Aufstehen. Zornig blitzte sie ihn an.
»Verfluchter Mist, wieso sind Sie nicht rechtzeitig gekommen?« Tränenerstickt trommelte sie auf den Lebensretter ein.