Die Sehnsucht der Inselärztin - Anni Deckner - E-Book
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Die Sehnsucht der Inselärztin E-Book

Anni Deckner

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Beschreibung

Sonne, Sand und Inseltage Eigentlich hat Thordis ihrer Heimatinsel Norderney vor vielen Jahren den Rücken gekehrt. Zu viel erinnert sie dort an ihre erste große Liebe Boie. Doch als der alteingesessene Inselarzt in den Ruhestand geht, lässt sie sich überreden, seine Praxis zu übernehmen. Und plötzlich steht auch Boie wieder vor ihr. Obwohl Thordis ihn noch immer liebt, weiß sie nicht, ob sie ihm verzeihen kann, was in ihrer Jugend auf Norderney geschah. Und eigentlich gehört ihr Herz auch noch einem anderen: ihrem seit einigen Jahren verschollenen Sohn Leo. Wird Thordis Leo aufspüren und zurückholen können? Und wie geht es mit ihr und Boie weiter? Von Anni Deckner sind bei Forever by Ullstein erschienen: Barfuß am Strand Leuchtturmtage Die Sehnsucht der Inselärztin Friesenglück Sylter Meeresrauschen Die Krabbenfischerin Das kleine Blumencafé am Strand Die kleine Apotheke in St. Peter-Ording Inselglück im Schneegestöber

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Die AutorinAnni Deckner, geboren 1961 in Winnert bei Husum, lebt mit ihrer Familie in Hanerau-Hademarschen. Ihre Liebe zur Grauen Stadt am Meer kann man in ihren Werken spüren. Die kreative Luft des Nord-Ostsee-Kanals inspiriert die Autorin genau wie damals den berühmten Dichter Theodor Storm, der an diesem Ort seinen Schimmelreiter zu Papier brachte. Ihre Leidenschaft zum Schreiben entwickelte sich schon in früher Jugend, ihr erstes Buch Heimathafen Husum erschien jedoch erst im März 2014, gefolgt von Knocking Out 2015. In ihrer Freizeit geht die Autorin gern mit ihrem Mann auf Reisen. Ihr Beruf und gleichzeitig Berufung ist ihre Arbeit bei der Kirchengemeinde Hanerau-Hademarschen.

Das Buch

Eigentlich hat Thordis ihrer Heimatinsel Norderney vor vielen Jahren den Rücken gekehrt. Zu viel erinnert sie dort an ihre erste große Liebe Boie. Doch als der alteingesessene Inselarzt in den Ruhestand geht, lässt sie sich überreden, seine Praxis zu übernehmen. Und plötzlich steht auch Boie wieder vor ihr. Obwohl Thordis ihn noch immer liebt, weiß sie nicht, ob sie ihm verzeihen kann, was in ihrer Jugend auf Norderney geschah. Und eigentlich gehört ihr Herz auch noch einem anderen: ihrem seit einigen Jahren verschollenen Sohn Leo. Wird Thordis Leo aufspüren und zurückholen können? Und wie geht es mit ihr und Boie weiter?Von Anni Deckner sind bei Forever by Ullstein erschienen:Barfuß am StrandLeuchtturmtageDie Sehnsucht der Inselärztin

Anni Deckner

Die Sehnsucht der Inselärztin

Ein Nordseeroman

Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever Forever ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin April 2017 (1)  © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017 Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © privat  ISBN 978-3-95818-169-4  Hinweis zu Urheberrechten Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben. In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Notfall

Die junge Ärztin Thordis Südermann eilte durch die regennassen Straßen Hamburgs. Sie war wie immer spät dran. Ihr Dienstbeginn in der Notfallstation Eppendorf rückte in großen Schritten näher. Sie hörte bereits die mahnenden Worte ihres Chefarztes: »Doktor Südermann, wenn Sie so weitermachen, sterben uns die Notfälle weg. Vielleicht sollten Sie auf ein Bestattungsunternehmen umsatteln.« Doktor Lehmanns Äußerungen waren ziemlich sarkastisch. Thordis’ Wunsch, Ärztin zu werden, war schließlich ihrem Bedürfnis entsprungen, Menschen zu helfen.

Es ärgerte sie maßlos, dass ihre Schicht in den frühen Morgenstunden begann. Sie hatte dem Frühaufstehen noch nie etwas abgewinnen können. Mehrfach hatte sie bereits versucht, ihren Dienstplan ihren Bedürfnissen anzupassen.

»Wir sind hier nicht bei Wünsch–dir-was«, hatte der ernüchternde Kommentar ihres Chefs gelautet.

Ausgerechnet heute regnete es in Strömen. Trotzdem entschied Thordis sich, ihr Auto stehen zu lassen. Die Parkplatzsuche um das Klinikgelände herum gestaltete sich meist schwierig. Zu Fuß war sie schneller.

Thordis setzte zum Dauerlauf an. Die Haare klebten nass und schwer an ihrem Kopf. Die verlaufende Wimperntusche zierte ihr schmales Gesicht nicht unbedingt vorteilhaft. Kurz bevor sie den Personaleingang erreichte, erwischte sie eine Pfütze. Mit durchgeweichten Turnschuhen betrat sie schließlich den Flur der Klinik. In der Ferne hörte sie den Rettungswagen näherkommen.

»Auch das noch«, stöhnte sie verzweifelt. Die Nachtschicht würde wegen ihrer Verspätung nicht rechtzeitig in den verdienten Feierabend gehen können. Thordis hetzte in den Umkleideraum und riss ihren Spind auf. Gleichzeitig zerrte sie sich die Schuhe von ihren Füßen und zog ihr Shirt aus. Auf einem Bein hüpfend stieg sie in die blaue OP- Hose. Hastig rubbelte sie die Haare trocken. Dabei verhedderte sie sich in dem Hemd. Die blaue Farbe harmonierte leider in keiner Weise mit ihrem Äußeren. In der Freizeit bevorzugte sie grüne und weiße Töne. Sie unterstrichen ihre Hautfarbe und ihre neugierigen braunen Augen. Die Haare schob sie in die OP-Kappe.

Die Sirenen verstummten. Ein Zeichen, dass die Rettung angekommen war. Mit feuchten Füßen stieg sie in die Gummischuhe und rannte augenblicklich los.

Sie schaffte es zum Glück rechtzeitig, um den Kollegen der Rettung sowie die verletzte Person in Empfang zu nehmen. Die Trage rollte durch den Gang. Ein Blickkontakt mit dem Notarzt Paul Gründer genügte, um den Ernst der Lage zu verstehen. Die Verletzungen des Mannes auf der Trage, verhießen nichts Gutes.

»Hallo, Paulchen«, hauchte sie.

»Moin! Schwerer Unfall auf der A7. Patient ist ansprechbar. Vermutlich innere Verletzungen, nicht intubiert.«

»In den Schockraum«, ordnete Thordis an.

Der Tag begann, wie er nach der Schicht aufhören würde. Hektisch. Thordis mochte die Schnelligkeit in der Notaufnahme. Hier schaffte sie es, ihren eigenen Kummer in die Schranken zu weisen. Die Großstadt Hamburg half ihr zusätzlich. Doch manchmal sehnte sie sich nach der Ruhe ihrer Nordseeküste. Heute war so ein Tag.

Besorgt betrachtete sie den Verletzten. Hatte er eine Chance? Thordis gab zumindest ihr Bestes. Arbeitete bis ans Limit. Helfende Hände packten mit an. Der Mann, er schien türkischer Abstammung zu sein, lag mit geschlossen Augen auf dem Behandlungstisch.

»Guten Tag, mein Name ist Dr. Südermann. Wie ist Ihr Name?« Thordis berührte ihn leicht, um ihm zu zeigen, dass er nicht allein war. Mühsam öffnete er die Augen. Sein durchdringender Blick schien direkt in ihre Seele zu schauen. Eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken.

»Ayaz …« Gleich danach verließen ihn seine Kräfte wieder. Die Augen erneut geschlossen, atmete er schwer.

»Gut, Ayaz, ich gebe Ihnen etwas gegen die Schmerzen, es wird Ihnen gleich bessergehen, versprochen.« Krankenpfleger Markus reichte ihr bereits eine Spritze mit dem erforderlichen Medikament.

»Wir haben die Papiere des Patienten gesichtet. Er heißt Ayaz Tüllü«, raunte Markus ihr zu. Thordis schloss für eine Sekunde die Augen, ein Zeichen, dass sie verstanden hatte.

»Herr Tüllü, können Sie sich an den Unfall erinnern?«

»Er wird dir nicht antworten, er ist ohnmächtig.« Die Stimme der Krankenschwester drang zu ihr durch. Entsetzt sah sie auf den Monitor, der Herzschlag wurde schwächer. Jetzt hieß es Beeilung. Jeder im Raum kannte seine Aufgaben. Es musste schnell gehen. Nicht kopflos, aber mit größter Konzentration.

»Na also, wir haben ihn wieder!« Aufatmend blickte Doktor Südermann in die Runde. Sie untersuchte Ayaz auf Knochenbrüche. Die Kleidung musste sie zerschneiden, ein unschöner Bruch am Unterschenkel wurde freigelegt.

»Ich brauche ein MRT, rasch. Ist danach ein OP frei? Da ist freie Flüssigkeit im Bauchraum. Das muss jetzt verdammt schnell gehen.« Thordis’ Bedenken, sie könnte Stress mit ihrem Vorgesetzten bekommen, weil sie wieder einmal spät dran gewesen war, rückten in den Hintergrund. Sie wollte diesen verletzten Mann retten. Alles andere war unwichtig geworden.

Stunden später besuchte Thordis Ayaz Tüllü auf der Intensivstation. Er hatte die Operationen gut überstanden. Ein Milzriss und mehrere Knochenbrüche, von denen zwei operativ versorgt werden mussten. Still trat Thordis an das Krankenbett. Sie ergriff die Hand, an der keine Kanüle steckte.

»Herr Tüllü? Können Sie mich hören?« Er regte sich, mühsam öffnete er die Augen.

»War verdammt knapp, was?«, röchelte er angestrengt.

Thordis lächelte ihn aufmunternd an.

»Sie werden wieder gesund. Aber ja, Sie haben großes Glück gehabt. Erholen Sie sich erst einmal. Ich schaue später noch einmal bei Ihnen vorbei.« Ayaz schlief augenblicklich wieder ein.

Thordis schlich aus dem überwachten Zimmer. Bevor sie die Tür schloss, sah sie noch einmal zu dem Mann. Sie hatte es geschafft. Eine komplizierte Operation. Zeitweise hatte sie befürchtet, den Kampf um sein Leben zu verlieren. Thordis und ihr Team hatten viele Stunden im Operationssaal verbracht. Sie lächelte. Zufrieden zog sie die Tür hinter sich zu.

Nachdenklich ging Thordis den langen Flur zur Notaufnahme zurück. Diese Augen. Sie würden eine bleibende Erinnerung hinterlassen. Er hatte ihr buchstäblich in die Seele geblickt.

Thordis beschleunigte ihre Schritte. Der Alarmfunk forderte sie an. Etwas verwundert überlegte sie, ob ein Rettungswagen angekommen war. Gehört hatte sie nichts. Thordis ignorierte ihren knurrenden Magen. Eine Pause war ihr bisher nicht vergönnt gewesen. Ihr karges Frühstück am Morgen lag viele Stunden zurück.

»Der Chef will dich sprechen«, verkündete Markus amüsiert, als sie die Station erreichte.

»Oje, er hat mitbekommen, dass ich heute Morgen spät dran war.« Ein Donnerwetter fehlte ihr jetzt gerade noch. Sie benötigte dringend eine Pause. Es tröstete sie, dass der Feierabend in großen Schritten näher rückte. Erschöpft machte sie kehrt und steuerte auf das Büro ihres Vorgesetzten zu. Sie wartete nach dem Klopfen auf ein Herein. Doch da wurde die Tür schon aufgerissen.

»Doktor Südermann, na endlich! Kommen Sie, und nehmen Sie Platz!« Thordis suchte nach Zeichen in seinem Gesicht. Sah er ärgerlich aus? Dr. Lehmann blieb mit gekreuzten Armen hinter seinem pompösen Schreibtisch stehen. Er blickte auf Thordis herab. Sie mochte sein Aftershave nicht sonderlich. Der ganze Raum war mit dem schweren Duft geschwängert. Thordis bekam Kopfschmerzen. Vielleicht lag es auch daran, dass ihr Chef sie abschätzend ansah. Sie spürte, wie ihr Nacken steif wurde.

»Sie sind blass, Dr. Südermann. Geht es Ihnen nicht gut?«

Erstaunt sah Thordis zu ihm auf. Seit wann interessierte ihn, wie es ihr ging? Doktor Lehmann machte meist oberflächliche Bemerkungen und zeigte sich wenig interessiert an seinen Mitarbeitern. Die wirtschaftliche Situation der Klinik lag ihm am Herzen. In diesem Punkt ließ er keine Kompromisse zu. Die Belange der Belegschaft schienen für ihn dabei keine Rolle zu spielen.

Doch in diesem Moment stand er vor ihr und erkundigte sich nach ihrem Befinden? Thordis nahm die gesamte Sitzfläche ihres Stuhls ein. Sie wollte Selbstbewusstsein demonstrieren. Dies gelang ihr nicht, wenn sie wie ein Häufchen Elend auf ihrem Platz hockte. Sie streckte trotzig das Kinn vor.

»Danke der Nachfrage«, sagte sie fest. »Mir geht es gut. Leider bekommt meine Haut durch die OP-Beleuchtung keine gesunde Gesichtsfarbe. Vielleicht sollten wir Lampen mit UV-Licht installieren. Dann müssten wir keine Vitamin-D-Pillen schlucken und die Überstunden wären ein Klacks.« Natürlich war sie über das Ziel hinausgeschossen, aber der Tag hatte auch bei ihr Spuren hinterlassen. Sie arbeitete hart, und Vorwürfe konnte und wollte sie nicht akzeptieren. Doktor Lehmann lachte herzlich. Er lachte? Das war neu. Thordis schluckte.

»Sie haben vollkommen recht, Südermann. Ich werde versuchen, Ihrem Wunsch zu entsprechen.«

Nun war Thordis völlig sprachlos.

»Ich gratuliere Ihnen. Der Fall Tüllü trägt ganz und gar Ihre Handschrift, gut gemacht.« Thordis hatte mit einem Donnerwetter gerechnet. Die Entwicklung des Gesprächs mit ihrem Chef musste sie erst einmal verarbeiten. Das Lob traf sie völlig unvorbereitet.

»Wir geben alle unser Bestes. Das ist nicht der Rede wert«, antwortete sie leise und senkte den Blick.

»Nun stellen Sie Ihr Licht mal nicht unter den Scheffel. Ich beobachte Ihre Arbeit schon lange, intensiv. Ich weiß auch, dass Sie die Pünktlichkeit nicht unbedingt gepachtet haben. Das muss sich ändern …«

Also doch, dachte Thordis verzweifelt.

»… wenn Sie mein Angebot annehmen, die Stationsleitung der Abteilung Fünf zu übernehmen.«

Thordis zuckte zusammen. Machte er Scherze?

»Ich habe nicht getrunken und stehe nicht unter Drogen.« Er lachte. »Haben Sie Interesse?«

Thordis Herz raste in ihrer Brust. Die Unfallstation lag ihr sehr am Herzen. Der Stress und die Schnelligkeit, die dort herrschten, entsprachen genau ihrem Gemüt. Sie gaben ihr Sicherheit. Es blieb kaum Zeit, über ihr Leben nachzudenken. Eine gute Mischung, um ein gebrochenes Herz zu ignorieren.

»Darf ich eine Nacht darüber schlafen, Herr Doktor?«

»Selbstverständlich. Ich erwarte Ihre Zusage morgen Mittag.« Er gab ihr zum Abschied die Hand und entließ sie aus der Höhle des Löwen. Thordis hatte die Türklinke bereits in der Hand. Ihr schwirrte der Kopf. Abrupt drehte sie sich um. Sie ging auf Dr. Lehmann zu und reichte ihm erneut die Hand.

»Ja …«, raunte sie ergriffen. »Ich danke Ihnen für das Vertrauen.« Ein Leuchten huschte über ihr Gesicht. Doktor Thordis Südermann war nun Leiterin der Station Fünf. Voller Stolz verließ sie das Büro ihres Chefs. Sie musste unbedingt nach Dienstschluss mit ihren Eltern telefonieren. Diese Neuigkeit konnte sie nicht lange für sich behalten. Sie rannte übermütig den Flur entlang. Dabei wäre sie um Haaresbreite mit Markus zusammengestoßen.

»Du freust dich auf deinen Feierabend? Den hast du dir auch verdient.«

Thordis gab dem verlegenen Kollegen einen Kuss auf die Wange.

»Ja, und über ein ganz besonderes Ereignis.« Sie rannte in Richtung der Notaufnahme davon. Markus sah ihr verdutzt nach.

Als Thordis ihre Station erreichte, war ihre Ablösung bereits da. Sie freute sich, dass der Feierabend nicht mehr auf sich warten ließ. Glücklich schwebte sie in den Umkleideraum. Grinsend stellte sie fest, dass ihre nassen Turnschuhe ein Rinnsal hinterlassen hatten, welches durch die Spindtür geflossen war. Der typische Hamburger Regen hatte ihr an diesem Tag Glück gebracht. Ihre Oma sagte immer:

Auch der graue Himmel verbirgt die Sonne. Du siehst sie nicht, aber sie ist für dich da.

Den Heimweg legte sie gemächlich zurück. Sie fing mit Vergnügen jeden einzelnen Regentropfen auf. Die Turnschuhe quietschten bei jedem Schritt. Die Hektik des Tages ließ Thordis hinter sich zurück. Morgen war ihr freier Tag.

Hamburg, ihre Wahlheimat, bot alle Facetten einer Großstadt. Hier konnte die Anonymität ihren schützenden Mantel um sie legen. Die wenigen Freunde, die sie hatte, waren wirkliche Freunde. Thordis war mit ihrem Leben zufrieden. Nur manchmal sehnte sie ihre Nordseeinsel Norderney herbei. Dort waren Stürme und Regen rauer, aber es war auch freier und sinnlicher. Sie spürte den Sand unter ihren nackten Füßen. Den Atem der See, der ihr ins Ohr flüsterte. Das Rauschen der Wellen, wenn diese das Land einnahmen.

Thordis seufzte. Nur nicht daran denken. Die Unbeschwertheit und die Freude über den Abschluss des Dienstes wurden durch ihre plötzliche Sehnsucht nach ihrer Heimat überschattet. Warum schwankten ihre Gefühle nur stets auf und ab?

Boie. Er schlich in ihre Gedanken hinein, wie es ihm gerade passte. Sie musste diese Trauer in den Griff bekommen. Ihre Liebe gab es nicht mehr. Norderney gab es nicht mehr. Wenn ihre Eltern, die seit Generationen auf der Insel lebten, sie sehen wollten, musste ihr Weg nach Hamburg führen. Thordis schwärmte ihnen dann von den Vorzügen der Großstadt vor. Die skeptischen Blicke ihrer Mutter Tomke entgingen ihr dabei nicht. Hamburg war eine wunderschöne Stadt. Nur leider nicht ihre Heimat.

Ihre Schritte wurden schneller. Inzwischen bekam sie kalte Füße. Thordis hatte es plötzlich eilig, ins Trockene zu gelangen. Gekonnt wischte sie die trüben Gedanken fort. Morgen war ihr freier Tag, den würde sie mit schönen Dingen ausfüllen. An Ideen mangelte es ihr dabei nie. Nur an der Umsetzung haperte es.

Thordis schlief lange an ihrem arbeitsfreien Tag. Sie gönnte sich ein ausgiebiges Frühstück in ihrem Lieblingscafé. Danach schlenderte sie durch die Einkaufsstraße. Ohne es zu bemerken, fand sie sich auf dem Klinikgelände wieder. Wie war sie hierhergekommen? Ayaz. Sie wollte nach ihm sehen. Ob es ihm gut ging. Ob er die Nacht gut überstanden hatte. Auf unerklärliche Weise hatte er einen bleibenden Eindruck bei ihr hinterlassen. Diese Augen. Sie gingen Thordis nicht aus dem Sinn. Bildete sie sich das nur ein? Hatte er tatsächlich in ihre Seele geblickt? Dieser Mann besaß etwas magisch Anziehendes. Sie hatte keine Erklärung dafür. Sie musste der Sache auf den Grund gehen. Musste wissen, warum er sie in seinem Bann hielt.

Leise schlich Thordis in das Zimmer der Intensivstation. Ihr Patient schlief. Der Monitor überwachte jeden Herzschlag. Vorsichtig setzte sie sich auf den Stuhl, der neben dem Bett bereitstand. Ob die Familie Tüllü ihn besucht hatte? Normalerweise blieben türkische Familien Tag und Nacht bei ihren kranken Angehörigen.

Thordis überprüfte die Zugänge sowie die Herztätigkeiten. Es schien alles in bester Ordnung zu sein. An den Stuhl gelehnt, wachte sie nachdenklich über seinen Schlaf.

Sie zuckte zusammen, als er die Augen öffnete und ihr direkt ins Gesicht sah. Er hielt ihren Blick gefangen, und es war wieder so, als würde er ihr direkt in die Seele schauen. Eine wohlige Wärme umgab Thordis. Ayaz lächelte ihr schwach zu.

»Hallo, kleine Doktorin! Da bist du ja wieder. Ich habe dich vermisst. Obwohl ich überall deine Hände spüre. Du hast mich zusammengeflickt, nicht wahr?« Er flüsterte die Worte nur mühsam. Aber Thordis sog jede Silbe ihres Patienten ein. Seine Stimme wirkte auf sie wie Balsam, obgleich sie einem Reibeisen glich. Sie schmunzelte.

»Ja, und es ist sogar gelungen, wie man sieht und hört.«

»Wann kann ich hier raus?« Geradezu flehend sah er Thordis an.

»Sie müssen Geduld haben. So ohne Weiteres lasse ich Sie nicht wieder gehen.« Ihr lächeln erstarb. Was hatte sie eben gesagt? »Erst müssen Sie gesundwerden«, fügte sie schnell hinzu.

»Aber dann lade ich dich zum Essen ein. Bitte versprich mir, dass du die Einladung annimmst!«

Thordis nickte. Wie betäubt erhob sie sich, um zu gehen.

»Bitte bleib noch! Du gibst mir so viel Kraft«, bettelte er sanft. Wie elektrisiert setzte sie sich zurück auf ihren Platz. Warum hatte dieser fremde Mann so viel Macht über sie?

Fassungslos saß sie als die Ärztin, die sein Leben gerettet hatte, an seinem Bett und wachte über seinen Schlaf. War das unprofessionell? Sie brachte Gefühle in die Behandlung. Gefühle, von denen sie geglaubt hatte, dass sie sie nie wieder empfinden würde. Erst als er fest schlief, stahl sie sich verwirrt aus dem Zimmer.

Thordis nutzte die Gelegenheit, um ihre neue Station aufzusuchen. Sie stellte sich bei den Schwestern vor und hielt mit ihnen einen kleinen Plausch. Leise Musik ertönte aus einem Lautsprecher. Das Schwesternzimmer war gemütlich hergerichtet. Bilder schmückten die Wände. Über einem Stuhl lag eine kuschelige Wolljacke, die scheinbar der Nachtwache gehörte.

»Suchen Sie jemanden?«

Thordis sah auf das Namensschild. Oberschwester Tina. »Entschuldigen Sie, ich wollte nicht stören. Ich bin Doktor Thordis Südermann. Demnächst Ihre Stationsärztin.« Thordis reichte ihr freundlich lächelnd die Hand.

»Oh, ich habe schon davon gehört, dass jemand gefunden wurde. Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Gerne führe ich Sie einmal herum.« Tina strahlte Thordis an. »Ich bin Schwester Tina.«

Thordis grinste und wies auf das Schild an ihrer Schulter. »Hab ich mir schon gedacht.« Tina wirkte fröhlich und hilfsbereit. Ihr rundes Gesicht mit den roten Wangen, leuchtete warmherzig. Thordis fand sie auf Anhieb sympathisch.

»Möchten Sie einen Kaffee? Er ist frisch zubereitet.«

»Danke, nein. Ich hatte schon genug davon.«

»Na, dann zeige ich Ihnen die Station. Herzlich willkommen, Dr. Südermann!« Tina blinzelte ihr zu.

»Thordis«, bot sie Tina gleich das Du an. Tina lachte herzlich.

»Danke für dein Vertrauen! Tina.« Sie reichte Thordis eine warme Hand. Munter plaudernd gingen die Frauen durch alle Zimmer.

»Das hier ist eines der Privatzimmer. Wir erwarten einen Neuzugang. Zurzeit liegt er auf der Intensiv. Muss ein schrecklicher Unfall gewesen sein.« Tina stockte und sah Thordis nachdenklich an. »Wenn ich richtig informiert bin, arbeitest du auf der Unfall, stimmt’s? Vielleicht kennst du ihn?«

»Gut möglich, wir hatten gestern einen Neuzugang, dem wir wieder Leben einhauchen mussten.«

»Na, der wird sich freuen, dass seine Lebensretterin ihn nun weiter betreut. Wann beginnt dein Dienst bei uns?«

»Nächste Woche geht’s los. Ich freue mich auf die Aufgabe.« Gedankenverloren blickte Thordis in der Station umher. Das hier würde ihr neuer Wirkungskreis werden. Alles, was sie sah, gefiel ihr gut.

Thordis fand den ersten Kontakt mit ihrer neuen Kollegin überaus positiv. Bauchschmerzen bereitete ihr die Tatsache, dass Ayaz Tüllü weiter durch ihr Arbeitsleben geistern würde. Er besaß eine Anziehungskraft, die ihr unheimlich vorkam. Er schien sie nur durch die Kraft seiner Blicke ins Schwerelose zu katapultieren.

Unsinn, sie bildete sich das sicher nur ein. Sie gab dem Schlafmangel die Schuld daran, dass sie ihre Gefühle nicht sortiert bekam. Auf dem Heimweg nahm sie sich vor, Sonja anzurufen. Ihr würde bestimmt das Richtige einfallen, um der Freundin diesen Unfug auszureden. Sicher war sie sich da allerdings nicht.

Die Landärztin

Jahre später

»Hast du schon gehört?« Sonja beobachtete ihre Chefin genau, während sie nebenbei die Karteikarten einsortierte.

»Was meinst du?« Thordis sah ihre langjährige Freundin verständnislos an.

»Er ist wieder da.«

Thordis wusste, worauf Sonja hinauswollte. Um Zeit zu gewinnen, stellte sie sich ahnungslos. Vor zwei Tagen wäre sie um Haaresbreite mit ihm zusammengestoßen. Er hatte sie zu ihrer Erleichterung nicht erkannt. Thordis hatte sich schnell hinter einem Kühlregal im Supermarkt verborgen, bis er zur Kasse ging und aus ihrem Sichtfeld verschwand.

Doch sie wäre nicht Thordis Südermann, wenn nicht just in diesem Moment einer ihrer Patienten nahezu über ihren zierlichen Körper gestolpert wäre. Sie hatte eilig den Zeigefinger auf die Lippen gelegt. Er hatte sie sofort verstanden und sich in die Gemüseabteilung verzogen.

»Wer oder was ist wieder da? Der Sommer? Ich weiß, zu merken ist nur nix davon.« Thordis hielt den Atem an. Sie versuchte, sich auf die letzten notwendigen Eingaben auf ihrem PC zu konzentrieren. Sie vermied den Blickkontakt mit Sonja.

»Quatsch! Dein Gesicht verrät dich, du weißt, wen ich meine«, tadelte sie diese.

Thordis setzte eine Unschuldsmiene auf. Sie riskierte einen Blick in die Richtung ihrer Sprechstundenhilfe. »Du sprichst in Rätseln.« Thordis zog die Schultern zu ihren Ohren, sie wollte die Diskussion vermeiden.

»Boie«, erwiderte Sonja. Dann schwieg sie. Ließ ihre Freundin aber derweil nicht aus den Augen.

Fahrig drehte Dr. Thordis Südermann an ihrem Zopf. »Ach so, bleibt er dauerhaft auf der Insel?«

»Woher soll ich das wissen? Bei mir hat er sich nicht angemeldet. Norderney ist ein Dorf, da bleibt niemand unentdeckt.«

»Du hast ihn getroffen?« Thordis’ Nervosität stieg.

»Meine Schwester hat ihn gesehen, als er zur Weißen Düne radelte.

»Ich muss mich für die Hausbesuche fertigmachen.« Thordis schnappte ihren Arztkoffer und kontrollierte den Inhalt.

Sonja schüttelte ihre lockige Mähne. Sie bemerkte, dass ihre Freundin dem Gespräch auswich. Eine Angewohnheit, die sie seit ihrer Jugendzeit nicht abgelegt hatte. Sie hatten zusammen die Schulbank gedrückt. Damals war für Thordis nur ein Medizinstudium infrage gekommen. Sie büffelte nächtelang, um den notwendigen Notendurchschnitt zu erlangen. Sonjas Ehrgeiz hielt sich eher in Grenzen. Sie liebte die lauen Sommernächte auf Norderney. Flirtete mit Urlaubern ihres Alters und träumte von der weiten Welt. Die Medizin hatte es ihr aber genauso angetan wie Thordis. Deshalb absolvierte sie die Ausbildung zur Arzthelferin. Beide ahnten damals nicht, dass sie später einmal gemeinsam auf ihrer Heimatinsel eine Praxis führen würden. Thordis hatte nie geplant, zu dem Eiland zurückzukehren. Sie war zufrieden mit ihrer Arbeit im Hamburger Krankenhaus gewesen und hatte sich eingeredet, das Stadtleben in vollen Zügen zu genießen. Norderney gehörte damals für sie der Vergangenheit an. Und Boie hatte einen enormen Anteil an Thordis’ Entscheidung gehabt, der Insel den Rücken zuzukehren.

Ayaz, ihren Exmann, hatte sie im Krankenhaus kennen- und irgendwann, so glaubte sie zumindest, auch lieben gelernt. Die Hoffnung, Boie zu vergessen, ging jedoch nicht auf. Letztendlich scheiterte ihre Ehe daran. Gegen einen Unsichtbaren konnte Ayaz nicht kämpfen. Resigniert hatte er die Scheidung eingereicht.

»Ist unser Opi Bernhard heute ebenfalls dran?«

Thordis fiel ein Stein vom Herzen, als Sonja darauf verzichtete, näher auf das Thema Boie einzugehen. Sie lächelte ihre Freundin an.

»Freitags ist Opi-Tag.« Mit dem Opi war Bernhard Hansen gemeint, einer ihrer treuesten Patienten. Trotz seiner achtzig Jahre galt er eigentlich als kerngesund. Thordis’ regelmäßige Visiten bei ihm gestalteten sich deshalb mit Kuchen, Kaffee und einem Likörchen, um das Wochenende einzuläuten. Bernhard stand kontinuierlich am Ende der Besucherliste. Thordis verhinderte damit, dass sie mit einer Fahne auf Hausbesuche ging.

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie du die Besuche bei Bernhard bei der Krankenkasse abrechnen willst.« Sonja sah sie besorgt an.

»Überhaupt nicht, ich knöpfe ihm nichts ab. Er ist ein einsamer alter Seebär. Und er strahlt übers ganze Gesicht, wenn ich auf einen Plausch reinschaue. Das ist die beste Medizin.« Sonja lachte herzlich.

»Der Schwerenöter flirtet auf Teufel komm raus mit unserer Landärztin«, kicherte Sonja. Lachend verließ Thordis die Praxis.

Im Garten holte sie tief Luft. Boie. Warum war er hier? Schmerzliche Erinnerungen wurden wach. Das unfreiwillige Treffen im Supermarkt hatte in ihrem Innersten eine unerträgliche Unruhe hinterlassen. Gefühlsduseleien gehörten eigentlich nicht zu ihren Vorlieben. Doch Boie rief unentwegt welche in ihr hervor.

Thordis spannte einen Regenschirm auf und lief eilig zu ihrem Auto. Sie benötigte für die Patientenbesuche uneingeschränkte Konzentration. Ihre eigenen Belange musste sie vorerst zurückstellen, doch das gelang ihr diesmal nur mäßig.

»Na, mien Deern, ist deine Rundreise über die Insel beendet?«, begrüßte Opi Bernhard sie warmherzig. Er saß in dem Ohrensessel am Fenster. Er erwartete sie meistens auf diesem Platz mit Ausblick auf die Wiesen. In der Küche blubberte die Kaffeemaschine. Rustikales Kaffeegeschirr am Wohnzimmertisch kündigte eine Kuchenschlacht an. Zwei Eierbecher, zweckentfremdet zu Likörgläsern, warteten auf ihren Einsatz.

»Jo, Endspurt ins Wochenende.« Thordis schenkte ihm ein gütiges Lächeln.

»Hoffen wir, dass es die Patienten gleichermaßen respektieren. Wer ist dran mit Notdienst? Dieser Quacksalber Peters?«

»Herr Hansen!« Sie sah ihn ermahnend an.

»Ich darf so was sagen, außerdem ist das die Wahrheit.«

»Wie geht’s Ihnen?« Geschickt wechselte sie das Thema.

»Schlecht.«

Überrascht sah Thordis den greisen Mann an. Mit flinken Fingern öffnete sie ihre Tasche. »Haben Sie Schmerzen?«, erkundigte sie sich besorgt.

»Nö, Hunger.« Verschmitzt grinste er sie an.

»Also wirklich, Herr Hansen. Müssen Sie mich so erschrecken?« Sie schloss ihre Tasche. Mahnend hob sie ihren Zeigefinger. Opi Bernhard lachte vergnügt.

»Der Kaffee ist fertig«, verkündete er, um Thordis von seinen Scherzen abzulenken. Er schlurfte in die Kombüse.

Thordis sah sich in der ihr vertrauten Wohnung um. Alles erinnerte an Opis Seefahrerzeit. Maritime Originale schmückten Kommoden und Wände. Ein kostbarer Schrank, einer Brücke nachempfunden, bildete das Herzstück der Einrichtung. Doch der Geruch von Mottenkugeln schwängerte jeden Raum. Bernhard roch ebenfalls entsprechend.

Thordis’ Blick blieb an der Fotogalerie auf dem Schränkchen hängen. Viele Fotos aus vergangenen Zeiten hatten hier ihren Platz gefunden. Ein Schiff, beladen mit Containern aus fernen Ländern. Seine verstorbene Frau, mit einem Hund auf dem Arm, lächelte glücklich in die Kamera. Kinder waren dem Paar nicht vergönnt gewesen. Darum hatte Frau Hansen ihren Mann zu jeder Zeit auf See begleiten können, so oft sie es wünschte. Oder die Wetterlage es zuließ.

»Schlechtwetter is’ nix für Mädels«, pflegte der Haudegen zu sagen. Womit er recht hatte. Thordis wollte sich eine Fahrt bei Sturm auf See nicht mal ausmalen. Obwohl sie ein Küstenkind war.

Sie sprang auf, um Opi Hansen die Kanne abzunehmen. Doch er zog sie zurück.

»Nix da, ich kann das bis jetzt noch mühelos ohne Hilfe. Setz dich hin und leg die Füße hoch!«

»Ich fürchte, mir fallen die Augen zu, wenn ich es mir zu gemütlich mache.« Sie lachte verhalten.

»Mich stört das nicht, ich wecke dich«, scherzte Bernhard mit seiner wohltuenden Bassstimme. Konzentriert gab er den schwarzen Wachhalter in die Tassen. »Heb die Muck einmal hoch, Deern!«

Thordis hielt ihm den Becher hin. Dampfender Kaffee verströmte einen herrlichen Duft.

Bernhard saß ihr nun gegenüber. Mit gekräuselter Stirn betrachtete er sie skeptisch.

»Was ’n los mit dir heute? Ist irgendetwas passiert? Du siehst blass aus um die Nase.«

»Sie verwechseln da ein bisschen was, Opi …, ähm, Herr Hansen, ich bin hier die Ärztin«, belehrte sie ihren Patienten.

Bernhard wischte mit der Hand großflächig durch die Luft. »Ach watt, es wird Zeit, dass du mich Bernhard nennst.«

Das war ein willkommener Grund zum Feiern. Opi ließ den Likör in die Eierbecher laufen. »Prost, Fru Doktor! Auf die Gesundheit, und dass du trotzdem nicht arbeitslos wirst.« Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu.

Thordis kippte den Likör hinunter. Heute konnte sie ihn brauchen. Schweigend vertilgten die beiden danach gemeinsam den Kuchen. Und unter dem eindringlichen Blick Bernhards tranken sie ausnahmsweise einen zweiten Likör.

»Wenn du jemanden brauchst, ich höre dir zu.«

»Danke, bei Gelegenheit komme ich gerne darauf zurück.« Sie sah zu Boden, um Opis forschenden Augen auszuweichen.

»Gut, gut, ich erinnere dich beizeiten daran.« Milde lächelnd verteilte er einen dritten Tröster.

Vertrug ein Achtzigjähriger so viel Alkohol? Ihr Pflichtbewusstsein zwang sie, dem Treiben Einhalt zu gebieten.

»Einen letzten für heute, hinterher ist Schluss«, entschied sie konsequent.

Bernhard grinste sie verschlagen an. Die grauen Augen verengte er zu schmalen Schlitzen. »Frau Doktor, ich verordne mir meine Medizin eigenverantwortlich. Trotzdem, ich gebe dir recht. Wir haben genug von dem edlen Zeug geschluckt. Nächsten Freitag gibt es die Wiederholung.« Bernhard lehnte sich zufrieden in dem Ohrensessel zurück. Er trug Thordis zu Ehren eine Krawatte. Während sie aßen, versäumte er nicht, sich mit Schlagsahne zu bekleckern. Ein gewohntes Bild an ihren Schlemmertagen. Aus Bernhards guter Stube war für Thordis ein Stück Heimat entstanden.

»Ich muss los, Bernhard. Ich wünsche dir ein traumhaftes

Wochenende.« Sie erhob sich und trug das benutzte Geschirr in die Küche.

Opi lachte mit tiefer Stimme.

»Wenn du Opi sagen möchtest, ich habe nichts dagegen einzuwenden.«

Thordis kicherte. »Na dann, tschüss, Opi!«

Beschwingt trat sie auf die Straße hinaus, um in das verdiente Wochenende zu starten. Hoffentlich hielten die Notfälle sich in Grenzen. Ihre Patienten riefen bevorzugt bei ihr an. Den ärztlichen Notruf mieden sie. In der dörflichen Gemeinschaft Norderneys kannte man sich. Vor allen Dingen kannten die Einwohner ihre Frau Doktor, die von der Insel stammte.

Boie schlich sich wieder in ihre Gedanken. Seine blauen Augen, der sinnliche Mund. Unsinn, es waren zwanzig Kalenderjahre vergangen seit ihrer Liebe. Unmöglich, dass sie ihm für alle Zeit verfallen war. Sie stieg in ihr Auto und versuchte, an irgendetwas anderes zu denken. Mit finsterer Miene starrte sie durch die Windschutzscheibe. Vor fünf Jahren war sie zurück nach Norderney gezogen, um die Praxis Busch zu übernehmen. Sie hatte geglaubt, die Geister der Vergangenheit in den Griff bekommen zu haben. Doch durch Boies plötzliches Auftauchen holten sie Thordis mit Wucht wieder ein.

»Südermann, reiß dich zusammen! Du wirst nicht gleich umfallen, nur weil dein verflossener Held dir wieder gegenüberstehen könnte.« Energisch drehte sie den Zündschlüssel um. Sie überlegte kurz, ob sie noch schnell einkaufen sollte, verwarf den Gedanken jedoch sofort wieder und fuhr direkt nach Hause.

Ihre Wohnung über der Praxis empfing sie mit erholsamer Ruhe. Sie ließ den hektischen Arbeitstag hinter sich. Kater Oskar begrüßte sie mit vorwurfsvollem Maunzen.

»Hallo, mein Dicker, dein Magen knurrt sicher, nicht?« Sie besorgte eine Dose Futter für ihren Stubentiger. Während sie den Napf füllte, schlich er versöhnt um ihre Beine herum. Liebevoll stellte sie die Mahlzeit auf den Boden. Versonnen sah sie ihm beim Fressen zu. Boies Gesicht tauchte erneut vor ihrem inneren Auge auf. Er lächelte sie an. Erschrocken wischte sie sich über die Augen, um das Bild zu verscheuchen.

»Schluss jetzt«, schimpfte sie. Sie hatte wirklich andere Probleme, als einer alten Liebe nachzuhängen. Schleunigst begann sie, aus den Resten im Kühlschrank ein Abendbrot zu kreieren. Viel hatte sie nicht darin, aber sie verspürte ohnehin keinen Hunger. Die Kuchenschlacht mit Opi lag ihr immer noch schwer im Magen. Mit einem Glas Rotwein und einer Scheibe Käse verzog sie sich auf ihr Sofa. Gefolgt von Oskar. Ihren zierlichen Körper bedeckte sie mit ihrer Kuscheldecke.

Schmerzerfüllt dachte sie an ihren Sohn. Zuverlässig am Abend, wenn Ruhe einkehrte, plagte sie die Sehnsucht nach ihm. Nur wenige Eingeweihte kannten die Geschichte. Ein Schicksalsschlag, der ihr den Boden der Unbeschwertheit unter den Füßen weggerissen hatte. Sein Vater hatte ihren Sohn vor fünf Jahren in die Türkei entführt. Die Deutsche Botschaft hatte ihr versprochen, Leo zu finden und zu ihr zurückzubringen. Bisher ohne Erfolg.

Thordis hatte es nach diesen schlimmen Ereignissen an ihren Geburtsort zurückgezogen, und dort hatte sie die unbesetzte Praxis übernommen. Zärtlich strich sie mit dem Finger über den Bilderrahmen, aus dem ihr Sohn ihr lebensfroh entgegenlachte. Eine Aufnahme aus glücklichen Zeiten.

Eben noch hatte sie sich tatsächlich mit Boie beschäftigt. Welch ein Verrat an ihrem Jungen! Niemand vermochte ihr Leben besser zu bereichern als Leo. Gedankenverloren starrte Thordis die Zimmerdecke an. Sie hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, ihm gedanklich einen Engel zu schicken. Sie schloss ihre Augen, um ihm nahe zu sein.

»Schau, mein Liebling, ich schicke dir einen Engel. Er breitet seine Flügel über dich, um dich zu beschützen, dort, wo du bist.«

Diese Momente, die einer Meditation gleichkamen, gaben ihr Kraft, um ihren Alltag zu bewältigen.

Bedächtig wischte sie eine Träne aus dem Augenwinkel. Sie verbot sich, weiter an Leo zu denken. Trotzdem, in ihrem Herzen war nur Platz für ihren kleinen Schatz. Sie hoffte, irgendwann den Kampf um Leo zu gewinnen. Sicher würde er eines Tages wissen wollen, wer seine Mutter war.

Ihr blieb nur der kleine Trost, dass Leo gesund war. Seit geraumer Zeit erlaubte ihr Exmann telefonischen Kontakt. Er verweigerte ihr jedoch nach wie vor die Information, wo Leo sich aufhielt. Die Gespräche am Telefon, leider stets mit unterdrückter Nummer, verliefen sehr einsilbig. Ihr Sohn lauschte ihren Worten, und manchmal antwortete er auf Türkisch. Sie war für ihn nur eine Person aus dem fernen Deutschland. Fern und unendlich fremd.

Die Telefonate mit ihrem Liebling schmerzten sehr, aber sie würde nie darauf verzichten wollen. Seine Stimme an ihrem Ohr war für Thordis die lieblichste Melodie, die sie sich vorstellen konnte. Leo war erst zwei Jahre alt gewesen, als sein Vater mit ihm verschwand. Traurig dachte sie daran, dass ihr Sohn vor Kurzem eingeschult worden war. Wie gern wäre sie an seinem großen Tag in seiner Nähe gewesen. Gegenwärtig konnte sie nur erahnen, wie er mit sieben Jahren wohl aussah. Unerträglich für ein Mutterherz.

Nachdenklich sah sie sich in ihrer Wohnung um. Als sie damals, mit Unterstützung ihrer Eltern und Sonja, renoviert hatte, hatte sie auch das Kinderzimmer mit einbezogen. Sie hatte auf freundlichen Farben bestanden. Leos Zimmer richtete sie mit besonderer Sorgfalt ein. Am Anfang stand ein Kinderbettchen darin. In den folgenden Jahren hatte sie es zum Jugendzimmer umgestaltet. Ein Hochbett dominierte das große Zimmer. Die Bettwäsche wechselte sie wöchentlich. Mit Motiven, mit denen sie Leos Geschmack zu treffen glaubte. Die Tapeten hatte sie neutral gewählt, sodass sie nicht geändert werden mussten. Ihre Küche bestand aus hochwertigen Kiefernmöbeln. In einem Eckschrank verwahrte sie Leos Hahn und Henne-Kindergeschirr. Das Wohnzimmer, ausgelegt mit quadratischen Terrakottafliesen, beherbergte Leos Schaukelpferd. Liebevoll hatte Thordis es vor dem Fenster platziert, direkt neben ihrem Schreibtisch. Bei gutem Wetter schien die Sonne darauf.

Ihre Eltern Tomke und Klaus mischten sich nie ein. Aber Thordis bemerkte ihre besorgten Blicke, wenn sie beim Öffnen des Wohnzimmerschrankes zuerst die Kindersicherung löste. Thordis gaben diese Dinge Sicherheit. Eine Sicherheit, die sie benötigte, um ihren Alltag bewältigen zu können. Ohne ihren Sohn.

Auf einen Zug leerte sie ihr Weinglas und verzog sich seufzend mit Oskar im Arm in ihr Schlafzimmer.

Morgen wird ein besserer Tag, versuchte sie, ihre Laune zu heben. Sie musste sich laufend ermahnen, ihren Alltag zu meistern und ein wenig Freude hineinzubringen. Über die Jahre war das ein ziemlich anstrengendes Unterfangen. Wie hieß es doch so schön? Die Party muss weitergehen. Es gab Tage, besonders am Wochenende, an denen sie nur im Bett lag und an Leo dachte. Ihre Freundin Sonja versuchte das zu verhindern, indem sie Thordis ermunterte, mit ihr um die Häuser zu ziehen.

Oskar lag dicht an sie gekuschelt. Er schnurrte ihr beruhigend zu. Sie lächelte ihn an. Seit er sich während eines bösen Traums einmal auf ihren Bauch gelegt hatte, durfte er mit ihr das Bett teilen. Ihre Mutter Tomke fand das unhygienisch. Thordis war es gleichgültig. Er gab ihr ein bisschen Seelenfrieden.

Wochenende

Am Samstagmorgen schwang Thordis die Beine aus dem Bett. Die bösen Gedanken des Vorabends waren erfolgreich verdrängt. Schließlich hatte sie jahrelange Übung darin, ihre Gefühle im Keim zu ersticken.

Ein spärliches Frühstück musste vorerst genügen. Thordis packte ihre Strandtasche und holte ihr Fahrrad aus dem Keller. Versöhnt mit der Welt radelte sie zur Weißen Düne, um einen Strandkorb zu ergattern. Sie hatte kurz überlegt, ob sie ihr Handy mitnehmen sollte. Ihre Patienten würden sie sonst nicht erreichen. Ein verlockender Gedanke. Das freie Wochenende sollte ihr allein gehören.

Sie trat kräftig in die Pedale, nicht ohne einen prüfenden Griff an ihre Gesäßtasche, ob ihre Notrufsäule auch nicht herausrutschen konnte. Thordis hatte es nicht übers Herz gebracht, das Handy auf dem Küchentisch liegen zu lassen.

Die Sonne meinte es gut mit ihr und begleitete sie wärmend zum begehrten Strandabschnitt. An der Kasse löste sie ein Ticket für ihre Oase und stapfte durch den Sand zur Nummer zweihundertacht. Mit Mühe gelang es ihr, den Strandkorb in die Sonne zu drehen. Sie ließ sich hineinsinken. Versonnen betrachtete sie die Nordsee. Leichte Wellen eroberten den Strand. Möwen kreischten ihren Protest. Urlaubsfeeling und Zuhause. Thordis legte die Füße hoch und nahm ihr Buch zur Hand. Es ärgerte sie, dass ihre Gedanken immer wieder zu Boie abwanderten. Es fiel ihr schwer, sich auf die Zeilen im Buch zu konzentrieren. Bis es ihr schließlich doch gelang.

»Hach, da! Ein unverschlossener Strandkorb.«

Thordis vernahm ein Schnaufen. Im gleichen Moment baute sich ein riesiger Körper vor ihrem Strandkorb auf. Verwirrt streckte sie ihre Beine in den Sand und fing erstaunt einen enttäuschten Blick auf. Sie lächelte der Person entgegen. »Guten Tag, kann ich Ihnen helfen?«

Die füllige Dame verzog ihre Lippen zum Schmollmund.

»Ich dachte, der Strandkorb ist leer. Mir geht die Puste aus, und ich habe mich auf einen Rastplatz gefreut. Wie es aussieht, vergeblich. Ich muss mich ausruhen.« Es gelang ihr nicht, den vorwurfsvollen Ton zu unterdrücken.

Thordis nickte verständnisvoll. Mit der linken Hand klopfte sie auf den freien Platz neben sich.

»Kommen Sie, setzen Sie sich doch zu mir!«

»Das ist aber nett von Ihnen, vielen Dank!« Mit einem Plumpsen landete sie neben Thordis. »Mein Name ist Simone von Stein.« Sie reichte Thordis ihre fleischige Hand. Grüne Augen taxierten sie prüfend.

»Freut mich, Frau von Stein, ich bin Thordis Südermann.« Thordis wurde erbarmungslos in die Ecke gedrückt. Frau von Stein benötigte mehr Platz als gedacht. Besorgt beobachtete Thordis ihre neue Nachbarin. Sie schnaufte immer noch bedenklich. Instinktiv ergriff sie die Hand der erschöpften Frau und fühlte den Puls.

Vorwurfsvoll sah Frau von Stein auf Thordis herunter. »Was machen Sie da? Ich dachte, ich wäre meinen Ärzten entflohen. Sind Sie etwa Ärztin?«

Thordis grinste.

»So kann es kommen. Ich bin die Halbgöttin in Weiß von Norderney. Wo sind Sie in Behandlung mit Ihrer Herzschwäche?«

Frau von Stein entzog ihr mit einem Ruck die Hand.

»Ich brauche keinen Arzt. Nur eine Verschnaufpause.«

»Verstehe. Dann verschnaufen Sie mal.« Thordis blieb ruhig, behielt jedoch ein wachsames Auge auf die erschöpfte Dame. Frau von Stein drückte ihre übergroße Handtasche an die noch mächtigere Brust. Als fürchtete sie, ihre Tasche könnte verloren gehen.

»Wissen Sie«, keuchte Frau von Stein, »ich bin der Insel Sylt verfallen. Und ich hörte laufend davon, dass Norderney noch schöner sein soll. Aber dieser Marsch zur Weißen Düne, ist ja unmenschlich. Wie soll ich mich dabei erholen?«

»Sie hätten mit der Bimmelbahn fahren können. Die fährt Sie direkt zum Restaurant. Die Aussicht dort ist überwältigend«, erklärte Thordis seelenruhig.

»Ich weiß nicht, hört sich umständlich an. Menschen, die mir den Puls fühlen wollen, hab ich auf Sylt genug. Ich bin kein Pflegefall und werde es auch nicht. Basta!«

»Entschuldigen Sie, ich habe es nur gut gemeint. Bestimmt wollte ich nicht aufdringlich sein.« Thordis verkniff sich ein Grinsen. Sie nahm ihr Buch zur Hand und begann zu lesen.

»Ist es noch weit zum Restaurant? Ich könnte einen Kaffee vertragen«, säuselte Frau von Stein versöhnlich. Thordis ließ ihr Buch sinken. Sie sah Frau von Stein nachdenklich an. Sie machte einen sehr erschöpften Eindruck, der Thordis in Sorge versetzte.

»Ungefähr fünfzehn Minuten Fußmarsch. Wenn Sie wollen, begleite ich Sie dorthin. Zu einem Kaffee sage ich nicht Nein.« Sie zwinkerte Simone von Stein zu.

»So weit noch? Ach du lieber Himmel!«

»Von dort können Sie mit der Inselbahn zurückfahren«, beruhigte sie Thordis.

»Sie wollen wirklich dorthin?« Frau von Stein beäugte sie misstrauisch.

»Ja, was dachten Sie denn?«, log Thordis. Sie wollte sichergehen, dass Frau von Stein nicht irgendwo in den Dünen liegen blieb.

»Großartig, ich heiße Simone.« Sie gab Thordis die Hand, um die Duzbrüderschaft zu besiegeln.

Lächelnd nahm Thordis das Angebot an.

»Thordis.«

»Weiß ich doch«, grinste Simone. Wehmütig verließ Thordis ihre Oase. Wieder einmal hatte ihr Pflichtgefühl dafür gesorgt, dass sie nicht tat, wozu sie an den Strand gegangen war. Nichts. Sie verstaute ihre Sachen im Strandkorb und verriegelte das Schloss. Sie wollte unbedingt später zurückkommen. Simone war schon zum Aufbruch bereit. Ihre rot lackierten Fußnägel versanken im Sand.

»Kann es losgehen?«, fragte Thordis fröhlich.

»Klar, fragt sich nur, wie lange ich das durchhalte. Müssen wir durch den Sand, oder gibt es noch einen anderen Weg?«

Thordis sah sie mitfühlend an.

»Wir können den Radweg nehmen, aber der ist viel länger. Ich schlage vor, wir gehen zur Wasserlinie. Dort ist der Sand fest, und eine Abkühlung gibt es gratis dazu. Was meinst du?«

Simone nickte zaghaft. Sie schien sich nicht sicher zu sein. Offensichtlich hatte sie für diesen Tag genug Anstrengungen hinter sich.

»Na, dann mal los«, flüsterte sie.