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Neuanfang auf der Nordseeinsel Als die 45-jährige Beeke erfährt, dass ihr Ehemann schwul ist, fällt sie aus allen Wolken und muss ihr Leben neu ordnen. Wo ginge das besser als auf der Nordseeinsel Amrum, auf der sie vor Jahren einen wunderbaren Urlaub verbracht hat? Kurzerhand packt Beeke ihre Sachen und bucht ein Ferienhäuschen. Bei einem Spaziergang am Strand entdeckt sie ein Café mit angeschlossenem Blumenladen und freundet sich mit der Besitzerin Vera an. Schnell merkt Beeke, dass die ältere Dame mehr schlecht als recht über die Runden kommt. Sie beschließt, ihrer Freundin unter die Arme zu greifen. Bei der Arbeit im Café lernt sie die Inselbewohner näher kennen, unter anderem auch Sander, der sehr von ihr angetan scheint. Doch Beeke muss erst die Vergangenheit überwinden, bevor sie an eine neue Liebe denken kann. Jasper hat die Geheimnistuerei satt. Deshalb ist es für ihn eine Erleichterung, als seine Frau Beeke herausfindet, dass er schwul ist. Doch der Neuanfang mit seinem Partner Oke fällt ihm alles andere als leicht. Und da sind auch noch seine Kinder, die ihren Vater neu kennenlernen müssen … Von Anni Deckner sind bei Forever by Ullstein erschienen: Barfuß am Strand Leuchtturmtage Die Sehnsucht der Inselärztin Friesenglück Sylter Meeresrauschen Die Krabbenfischerin Das kleine Blumencafé am Strand Die kleine Apotheke in St. Peter-Ording Inselglück im Schneegestöber
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Seitenzahl: 394
Das kleine Blumencafé am Strand
Anni Deckner, geboren 1961 in Winnert bei Husum, lebt mit ihrer Familie in Hanerau-Hademarschen. Ihre Liebe zur »Grauen Stadt am Meer« kann man in ihren Werken spüren. Die kreative Luft des Nord-Ostsee-Kanals inspiriert die Autorin genau wie damals den berühmten Dichter Theodor Storm, der an diesem Ort seinen Schimmelreiter zu Papier brachte. Ihre Leidenschaft zum Schreiben entwickelte sich schon in früher Jugend, ihr erstes Buch »Heimathafen Husum« erschien jedoch erst im März 2014, gefolgt von »Knocking Out« 2015. In ihrer Freizeit geht die Autorin gern mit ihrem Mann auf Reisen. Ihr Beruf und gleichzeitig Berufung ist ihre Arbeit bei der Kirchengemeinde Hanerau-Hademarschen.
Neuanfang auf der Nordseeinsel
Als die 45-jährige Beeke erfährt, dass ihr Ehemann schwul ist, fällt sie aus allen Wolken und muss ihr Leben neu ordnen. Wo ginge das besser als auf der Nordseeinsel Amrun, auf der sie vor Jahren einen wunderbaren Urlaub verbracht hat? Kurzerhand packt Beeke ihre Sachen und bucht ein Ferienhäuschen. Bei einem Spaziergang am Strand entdeckt sie ein Café mit angeschlossenem Blumenladen und freundet sich mit der Besitzerin Vera an. Schnell merkt Beeke, dass die ältere Dame mehr schlecht als recht über die Runden kommt. Sie beschließt, ihrer Freundin unter die Arme zu greifen. Bei der Arbeit im Café lernt sie die Inselbewohner näher kennen, unter anderem auch Sander, der sehr von ihr angetan scheint. Doch Beeke muss erst die Vergangenheit überwinden, bevor sie an eine neue Liebe denken kann.
Von Anni Deckner sind bei Forever by Ullstein erschienen:Barfuß am StrandLeuchtturmtageDie Sehnsucht der InselärztinFriesenglückSylter MeeresrauschenDie KrabbenfischerinDas kleine Blumencafé am Strand
Anni Deckner
Ein Nordsee-Roman
Forever by Ullsteinforever.ullstein.de
Originalausgabe bei ForeverForever ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinApril 2019 (1)
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019Umschlaggestaltung:zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®Autorenfoto: © privatE-Book powered by pepyrus.com
ISBN 978-3-95818-385-8
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Die Autorin / Das Buch
Titelseite
Impressum
Die neue Freiheit
Mit Blick nach vorn
Freundinnen
Neue Wege
Chaos am Stadtrand
Amrum
Neu-Husumer?
Unverhofft
Steen und Lasse
Inseltour
Der Anfang vom Ende
Überraschungsbesuch, die Zweite
Husum
Seelenwärmer
Jasper und Gerrit
Flower-Power
Wenn Eltern erwachsen werden
Hindernisse
So was wie Glück
Glücksmomente
Mutterglück
Herzflimmern
Heimatmelodie
Großer Tag, große Sorgen
Der Geburtstag
Friesenmelodie
Leseprobe: Sylter Meeresrauschen
Empfehlungen
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Die neue Freiheit
Erbarmungslos klingelte der Wecker. Halb fünf! Jasper musste den Flieger nach Frankfurt erreichen.
Ich kroch aus den Federn, um den Kaffeeautomat in Gang zu setzen. Dies war keine allzu große Herausforderung, es funktionierte normalerweise ohne Schwierigkeiten im Halbschlaf. Wenn nicht gerade Jaspers Schuhe achtlos vor dem Küchenschrank abgestellt worden waren. Ich stieß mit nackten Füßen dagegen und jaulte schmerzvoll auf. Verdammt, der kleine Zeh! Ich fluchte leise vor mich hin.
Jasper jetzt zusammenzustauchen, hätte wenig Sinn. Er würde mich liebevoll küssen und bei seiner Rückkehr die Schuhe an genau der gleichen Stelle parken. Ich nahm mir vor, eine Lösung zu finden, die von Dauer war. Aber jetzt blieb mir nichts anderes übrig als die Lederschuhe in den Abstellraum zu verfrachten. Im Prinzip hatte ich wenig andere Aufgaben, seit unsere Söhne aus dem Haus waren, trotzdem brachten mich die Hinterherräumaktionen auf die Palme.
Isabell, unsere Jüngste, lebte ihre Pubertät nach allen Regeln der Kunst aus. Auch hier hatte ich resigniert. Ich kam an sie nicht heran. Deshalb ließ ich ihr die Freiheiten, in der Hoffnung, dass sie irgendwann von selbst auf die Idee kam, erwachsen zu werden.
Meine Freundin Sally hatte kein Verständnis für meine lockeren Erziehungsmethoden. Vielleicht hatte sie recht, doch ich hatte noch keine andere Lösung gefunden. Wenn Isi die Schule schwänzen wollte, waren meine Chancen, ihr das auszureden, gleich null.
Jasper hatte da bei Weitem mehr Glück, nur zu wenig Zeit. Die beiden waren schon seit eh und je ein unantastbares Team. Jasper trug seine Tochter im Babyalter stundenlang durch die Wohnung. Er sang sogar dabei. Zum Leidwesen aller. Jasper hatte noch nie einen Ton richtig halten können. Isabell hatte dies nicht gestört. Im Gegenteil. Sie schlummerte in Jaspers Armen, als ob Engel ihre Wiege schaukelten. Am liebsten hätte Jasper Isi auf alle Baustellen des Landes mitgenommen, auf denen er arbeitete, nachdem er die ersten drei Wochen nach ihrer Geburt zu Hause geblieben war, um mich mit unserer Kinderschar zu unterstützen.
Bei unseren Söhnen war das anders gewesen, die Jungs und ich waren das Dream-Team schlechthin. Wenn es darum ging, ihnen während eines Fußballspiels zuzurufen, stand ich an der Bande und schrie: »Ran da!« Das hatte ich mir bei stolzen Vätern abgeschaut. Offenbar waren diese Rufe wichtig. Für die Väter. Später war ich dazu übergegangen, mir eine laute Tröte zu kaufen, mit der ich alle umstehenden Fans, also die Väter, nervte. Steen und Lasse waren stolz auf ihre kreative Mutter gewesen. Ich durfte sie sogar bis über die Pubertät hinaus begleiten.
Als sie aus dem Elternhaus ausgezogen waren, um das Studium zum Lehramt in Heidelberg anzutreten, war ich sehr traurig gewesen. In der Studentenstadt hatten sie eine WG gegründet, um die Mietkosten gering zu halten. Ich war mir jedoch nicht sicher, ob sie wirklich tagelang lernten, wie sie es behaupteten.
Ich lächelte vor mich hin, dabei dachte ich an meine Jugend. Damals lief auch nicht alles so, wie meine Eltern es sich gewünscht hätten. Trotz ihrer zwanzig und einundzwanzig Jahre waren sie sich ihrer Pflichen um ihre Zukunft durchaus bewusst. Ich musste mir keine Sorgen machen.
Versonnen lauschte ich dem Blubbern der Kaffeemaschine. Mir blieb nichts anderes übrig als darauf zu warten, dass Jasper mit gepackten Koffern vor mir erschien, um mich noch einmal liebevoll in die Arme zu nehmen. Er war leitender Architekt für ein Bauvorhaben im Husumer Industriegebiet. Dort sollte ein Seniorenwohnheim entstehen, mit Anbindung zu den Ärztehäusern. Jasper war von diesem Projekt so angetan, dass er sogar vorgeschlagen hatte, uns dort schon mal vorzumerken. Er meinte, wenn die Kinder erst aus dem Haus wären, bräuchte ich bestimmt nicht mehr den Platz, den unser Haus bot.
Ich hatte nur geschnaubt. Hallo? So alt war ich noch gar nicht. Wenn ich eines Tages in eine Seniorenwohnung einzog, war der Kasten im Industriegebiet sicher bereits baufällig.
Als ich diesen Einwand vorbrachte, stupste er mir leicht gegen die Nase und versicherte mir:
»Das geht schneller, als du denkst.«
»Als ich denke? Willst du nicht mit einziehen?«, fragte ich belustigt.
»Doch, natürlich, Schnecke, aber ich werde nicht so bald in den Ruhestand gehen. Dazu arbeite ich viel zu gern.« Um mich zum Schweigen zu bringen, hatte er mir einen langen Kuss gegeben.
An den Türrahmen des Schlafzimmers gelehnt, sah ich ihm zu, wie er sorgfältig seine Hemden in den Koffer legte. Ich seufzte hörbar.
»Wie lange bleibst du dieses Mal weg?«
Jasper gab vor zu überlegen. Er wusste es genau, aber er schien es zu genießen, mich zappeln zu lassen. Ich kannte ihn seit fünfundzwanzig Jahren. Mit zarten siebzehn war ich ihm verfallen, und unsere Liebe hielt bis heute an. Wir lernten uns im Kino kennen. Meine Freundin Sally hatte sich über beide Ohren verliebt und mich trotz unserer Verabredung vor dem Lichtspielhaus versetzt. Wir verfügten damals nicht über Handys, um ein Date kurzfristig zu verschieben. Ich hatte auf den Stufen des Husumer Kinos gehockt und mit steigender Enttäuschung gewartet. Jasper ging es ähnlich, seine Freunde hatten sich beim Fußballspiel verzettelt. Ich kannte Jasper vom Schulhof, wir gingen nicht in dieselbe Klasse. Er lungerte meist schüchtern beim Spielplatz herum, während seine Klassenkameraden auf dem Schulgelände bolzten. Für Jasper war dieser Sport zu rau. Er zog es vor, Tischtennis zu spielen, fand jedoch unter den anderen Jungs keine Gegner. Ich war selbst die Schüchternheit in Person und hatte wenig Interesse, mich an einen langweiligen Jungen zu hängen. Sally und ich hatten uns oft lustig über ihn gemacht.
An diesem Tag jedoch überwand Jasper seine Zurückhaltung. Er nahm kurz entschlossen meine Hand. »Komm, wir schauen den Film zusammen«, hatte er gesagt. Seitdem hatten wir uns gegenseitig ermutigt, es mit der Welt aufzunehmen, und krochen Stück für Stück aus unseren Schneckenhäusern. Wir ergänzten uns in jeglicher Art. Nach und nach wurden wir ein Liebespaar. Mit wachsendem Selbstvertrauen entdeckten wir die Liebe.
»Ich fürchte, da gehen mindesten zehn Tage drauf, aber danach machen wir was Schönes, versprochen.« Er zwinkerte mir aufmunternd zu. Die kleinen Falten um die Augenwinkel taten seinem Charme keinen Abbruch, im Gegenteil. Ich wurde immer noch schwach in seinen Armen. »Denk dir schon mal was aus.« Meinte er gönnerhaft.
Ich fuhr ihm durch die blonden kurzen Haare. Ich konnte es einfach nicht lassen, ihn zu ärgern, indem ich die gegelte Pracht, die mit den Jahren deutlich lichter geworden war, verwuschelte.
»Mach ich, mein Bärchen.« Ich erhielt einen mahnenden Blick meines Gatten. »Die Frisur sitzt noch, guck nicht so grimmig.« Ich lachte. Er schloss die Koffer.
Ich amüsierte mich über die Menge der Oberhemden, die Jasper auf jeder Reise benötigte. Er war in Bezug auf Äußerlichkeiten sehr eitel, daher benötigte er eine gut sortierte Auswahl an Kleidung. Ich dagegen mochte es lieber bequem. Darum stand ich vor ihm in meinen kuscheligen Morgenmantel, den ich nicht vor zehn Uhr ausziehen würde, um in lässige Jeans zu steigen.
Zum Abschied küsste Jasper mich lange und liebevoll, dabei strich er über meine Taille und zog mich näher heran.
»Du kannst jetzt nicht gehen, ich schmelze dahin«, sagte ich kichernd, dabei entwich mir ein leidenschaftliches Stöhnen. Schnell ließ er von mir ab.
»Das führen wir nächste Woche fort.« Mit seinen Koffern bewaffnet, eilte er aus dem Haus.
»Alter Schwerenöter«, rief ich ihm hinterher. Meine Nachbarin, die im Begriff war, ebenfalls das Auto aus der Garage zu holen, sah missbilligend zu mir herüber.
»Guten Morgen, Sandra«, rief ich ihr fröhlich zu.
Unentschlossen und allein gelassen verharrte ich an der geschlossenen Haustür. Was fange ich mit diesem Tag an? Was fange ich mit all den kommenden freien Tagen an? So sehr ich mich auf die neue Freiheit gefreut hatte, so unschlüssig stand ich nun in der Stille des Hauses. Nichts als Stille. Isabell schien bei einer Freundin übernachtet zu haben. Ihr Bett war unberührt. Wenn Jasper wieder da war, musste er wohl doch mal ein Wörtchen mit unserer Tochter reden. So konnte es nicht weitergehen. Mit siebzehn war sie schließlich noch nicht volljährig.
Auf der Feier unserer Silberhochzeit vor zwei Monaten hatte alles angefangen. In einem Minirock, der allenfalls als breiter Gürtel durchgegangen wäre, flirtete sie heftig und ungeniert mit allen männlichen Gästen. Nicht nur die unverheirateten Kollegen meines Mannes waren Feuer und Flamme. Ihr gutes Aussehen gönnte ich ihr von Herzen, aber die Freizügigkeit hatte an meinen Nerven gezerrt wie ein Löwe an einem Fleischknochen. Wann hatte diese Veränderung begonnen? Was hatte ich falsch gemacht? Ich seufzte, verwarf dann die düsteren Gedanken und ging duschen.
Mein Spiegelbild begrüßte mich von den vom Duschen beschlagenen Spiegeln. Zugegeben, meine langen braunen Locken täuschten von hinten eine viel jüngere Frau vor, aber ich konnte mich mit meinen fünfundvierzig Jahren immer noch sehen lassen, die kleinen Pölsterchen an den Hüften fielen nicht so sehr ins Gewicht. Jasper hatte sich damals in meine braunen Augen verliebt, die ich stets dezent geschminkt hatte. Isabell hatte meine Augen geerbt. Meine Söhne Steen und Lasse dagegen die blauen Augen ihres Vaters. Überhaupt glichen sie beide ihrem Vater in vielem. Vor allem die Eitelkeit konnte niemand übersehen.
Zum Hochzeitstag hatte Jasper mir einen roten Flitzer geschenkt.
»Damit du frei über deine Zeit verfügen kannst. Ich möchte nicht, dass du hier am Rande der Stadt eingeengt bist.«
Glänzend stand er nun in der Garage und wurde kaum bewegt. Die kurzen Wege bestritt ich lieber mit dem Fahrrad.
Aber heute wollte ich ihn benutzen, den roten Mini mit weißem Dach. Ich trat in die Garage und ließ mich hinter das Steuer sinken. Als ich den Schlüssel ins Zündschloss steckte, summte der Wagen wie eine Biene. Stolz rollte ich auf die Straße und fuhr in die Innenstadt.
Warum sollte ich zu Hause die Wände anstarren? Zweimal die Woche kam eine Putzfrau ins Haus. Sie wäre sicher nicht erfreut, wenn ich die Arbeit vorher erledigte.
Rausgeputzt wie eine feine Lady wollte ich die Geschäfte in Husum unsicher machen. Anfangen sollte der Freizeitspaß mit einem Cappuccino in der beliebtesten Eisdiele der Stadt. Hier konnte ich unauffällig Fußgänger beobachten.
Geschützt vor Wind und Autoverkehr genoss ich, zu sehen und gesehen zu werden. Mit etwas Glück kam jemand Bekanntes vorbei, der für eine Unterhaltung offen war.
An diesem Vormittag war allerdings nicht viel los. Bis auf die wenigen Eiligen, von denen ich ohnehin niemanden kannte, war es vergleichsweise ruhig.
Ich schaute gedankenverloren auf den Hafen, das Herzstück der Kreisstadt Husum. Touristen liebten die Giebelhäuser, die in unterschiedlichen Farben gestrichen waren. Sie wurden leidenschaftlich gern fotografiert, um den Daheimgebliebenen einen Eindruck der Innenstadt zu verschaffen.
Inzwischen war mein Cappuccino ausgetrunken, und ich überlegte, welchem der zahlreichen Geschäfte ich meine Aufmerksamkeit schenken sollte. Ich könnte mich auch in einem der Fitnessstudios anmelden, wie ich es schon lange tun wollte. Aber irgendwie fehlte mir die Motivation, schweißgebadet an diesen Foltergeräten auf Erlösung des Trainers zu warten. Oder, wie ich es oft gesehen hatte, mich mit Milchshakes verwöhnen zu lassen, die angeblich für den Muskelaufbau unerlässlich waren. Allen Empfehlungen zum Trotz fehlte mir dazu das nötige Verständnis. Mein Körper machte sowieso, was er wollte. Die sich trotz strenger Diäten ansammelnden Speckrollen waren Beweis genug.
Ich verspürte Lust auf etwas Außergewöhnliches. Wozu sollte meine neue Freiheit gut sein, wenn nicht, um etwas Verrücktes anzustellen. Ich bestellte mir einen weiteren Cappuccino und konzentrierte mich auf mein Bauchgefühl. Ich horchte in mich hinein. Dabei beobachtete ich ein älteres Ehepaar, das offensichtlich die Zweisamkeit genoss und Händchen haltend am Hafenbecken spazierte. Ich seufzte. Bis Jasper und ich Zeit haben würden, nur noch das zu tun, was uns gefiel, würde es noch Lichtjahre dauern. Zumal Jasper seinen Beruf liebte.
Plötzlich hatte ich eine Idee, und ein Lächeln stahl sich auf mein Gesicht. Jasper! Wieso sollte ich meine Zeit ohne ihn verbringen, wenn ich doch hier keine Verpflichtungen hatte. Ich lachte bei der Vorstellung, wie er sich freuen würde, mich in Frankfurt anzutreffen.
Genau, ich überrasche ihn.
Es gab doch nichts Naheliegenderes für eine gelangweilte Hausfrau, als ihren geliebten Mann auf Geschäftsreise zu besuchen. Ich wusste zwar, dass nicht jeder reisende Ehemann erfreut darüber wäre, aber bei Jasper war das anders. Wie oft hatte er gejammert, dass er mich so sehr vermisste, wenn er nicht bei mir sein konnte. Das würde sich nun ändern.
Ich rief die Kellnerin herbei, um zu zahlen. Den zweiten Cappuccino ließ ich unberührt stehen.
Voller Vorfreude fuhr ich nach Hause, um einige Sachen zu packen. Ich beschloss, das Auto zu benutzen, um meine Überraschung perfekt zu machen. So konnte ich auch mehr Gepäck mitnehmen, ohne zu sehr auf das Gewicht achten zu müssen. Jedenfalls das der Koffer. Meines würde vielleicht ein wenig ins Schwanken geraten, denn ich hatte vor, mich so richtig zu verwöhnen. Ein paar Flaschen Sekt würde ich auch mitnehmen. Hach, wie ich mich freute.
Ich rief Isabell an und teilte ihr mit, dass ich bis auf Weiteres ihre Wege nicht kreuzen würde.
»Isabell, Schatz …«
»Nenn mich nicht so, das ist uncool, Beeke«, sagte sie genervt. Sie nannte mich beim Vornamen, alles andere wäre nicht cool gewesen.
»Klar doch, Schatz, ich bin für ein paar Tage weg, bleib bitte sauber, und pass gut auf dich auf.«
»Ich bin kein Baby mehr«, brummte sie. Leider nein, bestätigte ich im Stillen ihren Protest. »Wo willst du hin?«
»Papa überraschen«, lautete meine knappe Antwort.
»Oh, oh, wenn das mal gut geht!«
»Eine so schlechte Autofahrerin bin ich nun auch wieder nicht. Freches Ding.« Ich hauchte einen Kuss durch die Leitung und legte auf. Einige Sekunden später erhielt ich eine SMS.
Hab dich lieb, Mami!
Ich hatte zwar keine Ahnung, womit ich die Schmeicheleien verdiente, aber ich war gerührt. Sie war eben doch meine Tochter. Auch wenn ich zeitweise daran zweifelte.
Meine Vorfreude erlitt einen Dämpfer, als ich an die lange Autobahnfahrt dachte. Ich hatte nur wenig Erfahrung mit Autobahnen. Meistens übernahm Jasper den Part des fürsorglichen Chauffeurs. Sally, meine Freundin, lästerte gerne darüber.
»Ihr lasst auch kein Klischee aus. Auto gleich Papasache, Wäsche gleich Muttisache.«
Ich musste ihr zustimmen, aber es war mir nicht unangenehm. Im Gegenteil, es war praktisch. Im Haushalt kannte ich mich aus, auf der Straße war Jasper der König. Mein Tiger. Aber davon hatte ich Sally lieber nichts gesagt. Sie mochte Jasper nicht sonderlich und machte keinen Hehl daraus.
Zum Glück dauerte es nicht lange, und die Autobahn wurde mein Element. So leicht hatte ich es mir nicht vorgestellt. Jasper meinte immer, dass die A7 es in sich hätte. Für mich sicher eine Herausforderung. Ich vermutete, dass er mir seinen BMW ungern anvertrauen wollte. Dieses Schlitzohr, dem würde ich es beweisen.
Die erste Rast hinter Hannover bescherte mir einen Riesen-Kaffeefleck auf meiner Jeans. Aber dann lief alles wie am Schnürchen. Ich genoss es, auf dem Rastplatz die vielen unterschiedlichen Kennzeichen zu entschlüsseln und die Reisenden zu beobachten. Hunde wurden Gassi geführt, und Kinder drückten laut schreiend ihren Protest aus, wenn es um die Weiterfahrt ging. Sie ließen nur widerwillig den Spielplatz zurück, um angeschnallt für eine lange langweilige Fahrt auf dem Rücksitz zu landen. Ich fand es herrlich, als unbeteiligte Zuschauerin meinen Erfahrungsschatz in Sachen Kindererziehung nicht auspacken zu müssen. Es wirkte wie Balsam auf meine Mutterseele. Diese Art Probleme lag weit hinter mir. Isi war da keine Ausnahme, auch ihr Zickenkram würde sicher bald der Vergangenheit angehören. Ich musste mich nur in Geduld üben. Anderen Eltern erging es nicht anders.
Galluswarte ist ein Stadtteil Frankfurts, der gut von der Autobahn erreichbar war. Erleichtert stellte ich mein Auto auf den hauseigenen Parkplatz und ging, etwas steif von der langen Fahrt, zum Empfang des Luxushotels. Mein Kaffeefleck ließ mich nicht unbedingt vornehm auf das Personal wirken. Trotzdem wurde ich freundlich begrüßt. Meinen Koffer im Schlepptau, stolperte ich auf die Rezeption zu.
»Die Zimmernummer meines Mannes, Jasper Fröhlich, bitte.« Stolz, die lange Fahrt gemeistert zu haben, wartete ich geduldig auf die Auskunft. Die füllige Dame hinter dem Empfang nestelte an ihrem Schal, der offensichtlich ihren zu kurzen Hals kaschieren sollte.
»Tut mir leid, aber …«
»Die dürfen Sie mir nicht geben.« Ich kannte die Sprüche aus dem Fernsehen. Die kitschigen Romanverfilmungen über die betrogene Ehefrau.
»Mein Mann erwartet mich«, log ich frech.
Die Empfangsdame schielte laufend zur Treppe, die schwungvoll in die Lobby führte. Hallo, ich war an der Reihe. Ich erwartete ihre ungeteilte Aufmerksamkeit für mein Anliegen.
»Ich wünsche sofort Auskunft über den Aufenthalt meines Mannes. Ich habe meine Zeit nicht gestohlen, und ich bin erschöpft von der Fahrt.«
Ein Funkeln huschte über das runde Gesicht der Dame. Sie fand mich offensichtlich unfreundlich, aber ich war wirklich erschöpft und mit meiner Geduld am Ende.
»Wenn das so ist«, sie zeigte mit der geöffneten Handfläche zur Treppe. »Da kommt er gerade, sieht irgendwie nicht aus, als ob er Sie erwartet hätte«!
Mein Blick folgte ihrer Hand. So fühlte es sich also an, wenn man kurz vor einem Infarkt stand. Ich traute meinen Augen kaum.
Jasper kam eng umschlungen mit einem Fremden die Treppe herunter. Deutlich war zu erkennen, wie ihre Zungen auf Erkundungstour gingen.
In Sekundenschnelle lief mein bisheriges Leben vor meinem inneren Auge ab. Unser Kennenlernen, der erste Sex, die Hochzeit, die Geburten unserer Kinder. Der letzte Sex … vor nur wenigen Stunden.
Ich öffnete meinen Mund, aus dem kein Ton herauskam. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Mein Atem ging besorgniserregend schnell. Angst vor der Luftnot, Wut über das, was mir geboten wurde. Mein Hirn schien unter akutem Sauerstoffmangel zu leiden.
Fassungslos sah ich die Dame an der Rezeption an. Die schenkte mir ein mitfühlendes Lächeln. Blöde Kuh. Ich verstand zwar nicht, was sich mir da gerade bot, aber es erschien mir wie in einem schlechten Film. Ich würde nur noch den Knopf des Fernsehers finden müssen, dann hätte dieser Spuk ein Ende.
Doch ich fand keinen Ausschaltknopf. Der Film lief weiter und weiter. Jasper hatte meine Gegenwart offensichtlich nicht wahrgenommen, denn er unterbrach dieses schauderhafte Schauspiel nicht. Im Gegenteil, geil bis zum … ich würde sagen Erbrechen, versank er regelrecht in dieser peinlichen Szene.
Ich versuchte meine Atmung in den Griff zu bekommen. Jedoch erwies es sich als schwierig. Wie ein Fisch auf dem Trockenen rang ich vergeblich nach Sauerstoff. Ich hatte nicht mitbekommen, wie die Hotelangestellte um den Tresen herumgelaufen war. Sie verstellte mir mit ihrem übergroßen Körper die Sicht. Eindringlich sah sie mir in die Augen, erreichte mein Hirn jedoch nicht. Verzweifelt rang ich weiterhin nach Luft.
Sie versetzte mir einen Schlag ins Gesicht. »Entschuldigung, aber es ging nicht anders, Sie wären mir sonst umgefallen.« Mütterlich strich sie mir eine Haarsträhne von der Wange. Jetzt erst bemerkte ich mein tränennasses Gesicht. Als sähe ich die Frau zum ersten Mal, starrte ich sie verständnislos an. Meine Hand tastete die Stelle ab, wo ihre Hand mich in die Realität zurückgeholt hatte.
Realität? War es das wirklich? Der Fernseher war aus. Ich befand mich in der Lobby des Hotels und sah Jasper auf mich zukommen.
»Schnecke, wo kommst du denn her?« Er stand lächelnd vor mir. Mit geröteten Wangen, wann hatte ich die zuletzt bei ihm gesehen? Das Objekt seiner Begierde kam neugierig auf uns zu. Ein junger Mann, mindestens zehn Jahre jünger als Jasper. Ein Mann! Wie konnte das denn nur geschehen?
»Schnecke, darf ich dir meinen Kollegen Oke vorstellen, er …«
Wieder stellte sich die Hotelangestellte zwischen uns.
»Herr Fröhlich, sie hat alles gesehen, sparen Sie sich die Show.«
Ich dämliche Kuh war immer noch nicht in der Lage, mich zu bewegen. Zum Glück klappte es mit der Atmung. Sonst wäre ich wie ein Baum bei Sturm entwurzelt worden. Obwohl ich meine Wurzel nicht spürte, fiel ich nicht um. Entwurzelt, schoss es mir gnadenlos durch den Kopf. Ich hatte vor wenigen Augenblicken meine Heimat verloren. Jasper.
Ich betrachtete seinen Mund. Er war von den Bartstoppeln des schwulen Kollegen gerötet. Mein totes Inneres erwachte zum Leben und drängte nach oben.
Der Hotelangestellten war nicht entgangen, dass ich mich übergeben musste, und sie hielt einen sauberen Eimer unter mein Kinn, den sie in Sekunden hervorgezaubert hatte. Mein Würgen hallte von den Wänden der Lobby zu mir zurück. Mir war das so peinlich, dabei hatte ich keine Schuld an dieser Misere. Das würde ich Jasper nie verzeihen.
»Wir haben noch ein Einzelzimmer frei, möchten Sie es?« Die Stimme der Hoteldame klang sanft in meinen Ohren. Verstört sah ich sie an. »Sie sollten heute nicht mehr Auto fahren, bleiben Sie zumindest bis morgen.« Sie berührte meinen Arm, doch ich schüttelte sie ab. Nähe konnte ich beim besten Willen nicht ertragen. Wahrscheinlich meinte sie es nur gut. Allerdings hätte das bedeutet, dass ich mit Jasper und seinem Lover unter einem Dach hausen musste. Die Übelkeit suchte erneut bei mir einzuziehen. Tapfer schluckte ich den Druck in meinem Magen herunter.
»Ich glaube, Sie hatten schon bessere Ideen. Ich fahre heute noch nach Hause.«
»Beeke, Schnecke, du bist keine geübte Autofahrerin, überleg es dir bitte. Ich möchte dir das erklären.«
Zornig fuhr ich zu ihm herum.
»Ich bin auch keine geübte betrogene Ehefrau, doch darauf hast du keine Rücksicht genommen. Ich komme schon klar. Kümmere du dich lieber um deinen … Mann.«
Oke sah mich zerknirscht an. Beeke war, so schnell es in ihrem verwirrten Zustand möglich gewesen war, aus dem Hotel gestürmt. Meine Rufe hallten durch die Lobby, aber es war zwecklos. Was hatte ich auch erwartet? Nie zuvor hatte ich meine Frau so aufgelöst erlebt. Warum hatte ich auch die Finger nicht von Oke lassen können, als wir aus dem Zimmer gekommen waren.
Ich kannte Beeke beinahe mein ganzes Leben, ich hätte es einkalkulieren müssen, dass sie mir eines Tages folgte. Schon als wir blutjung gewesen waren, wussten wir, was im anderen vorging. Beeke war schon immer besonders empathisch gewesen. Wenn ich einen Schnupfen bekam, wusste sie es meistens Tage vorher. Wenn Beeke auf ihre Monatsblutungen gewartet hatte, hatte ich gewusst, dass sie schwanger war. Einer hatte stets gespürt, wie es in dem anderen aussah.
Verdammt, warum hatte ich nicht besser aufgepasst? Warum hatte ich nicht vorher mit ihr gesprochen. Oke drängte mich seit Monaten, endlich reinen Tisch zu machen. Wenn er ahnen würde, wie sehr Beeke mich nach all den Jahren immer noch begehrte, wäre er zutiefst enttäuscht gewesen. Ich hatte ihm versichert, dass bei uns in der Kiste nichts mehr lief. Aber das hatte ich Beeke nicht antun können, ich hatte sie nicht abweisen können. Ich war ein verdammter Feigling. Wenn es nicht so wäre, hätte ich vor dreißig Jahren bereits eine Beziehung mit einem Mann angefangen. Meine Bedürfnisse hatte ich hintenangestellt. Aus Angst, meine Eltern würden mich aus dem Haus jagen. Verdammter Feigling.
In meinem Job war ich ein knallharter Verhandlungspartner. Privat war ich die Geisel meiner eigenen Lügen.
Oke trat so unverhofft in mein Leben, dass ich keine Zeit hatte, darüber nachzudenken, was für Folgen das haben würde. Wir sind einander verfallen, ohne einen Gedanken an die Konsequenzen zu verschwenden.
Er war ein fantasievoller Liebhaber, der mir alles zeigte, was in der Liebe schön und richtig war. Ich erlebte die Sexualität, wie ich es mir im Traum nie ausgemalt hätte. Hier in Frankfurt konnten wir uns frei bewegen, niemand nahm Anstoß an unserer Liebe. Bis heute.
Oke war froh, dass unsere Liebe entdeckt worden war. Er hatte große Zukunftspläne, denen nun nichts mehr im Wege stand. Ich konnte seine Wünsche gut verstehen, jedoch trug ich Verantwortung für meine Familie, die es nicht verdient hatte, enttäuscht zu werden. Mehrfach hatte ich Oke meine Beweggründe erklärt, die er nicht nachvollziehen konnte oder wollte.
Immer wieder erschien Beekes Gesicht vor meinen Augen. Sie hatte so verletzt ausgesehen, wie hatte ich ihr das nur antun können? Mein größter Wunsch war es, Beeke als Freundin zu behalten. Sie war die Mutter meiner Kinder, die ich, wenn ich meinen Weg gleich in die richtige Richtung gelenkt hätte, nie bekommen hätte. Das schlechte Gewissen hatte mich voll in der Hand. Wann durfte ich endlich aufhören, mich zu schämen?
Oke griff über den Tisch hinweg, um meine Hand zu halten.
»Lieber, du wirst sehen, Beeke beruhigt sich, und wir können endlich heiraten.« Er strahlte mich an. Er sah so glücklich aus. Er hatte ja auch keine Familie verloren, er war eindeutig der Gewinner dieses Spiels.
Meine Haut prickelte dort, wo Oke mich streichelte. Ich küsste seine Handinnenfläche und gab sie frei. »Vielleicht ist es tatsächlich für alle die richtige Lösung. Ich weiß nur nicht, wie ich ohne meine Kinder klarkommen soll.«
Oke grinste mich verwegen an.
»Da fällt mir bestimmt etwas ein.« Sein Blick blieb an mir hängen. Sofort regte sich etwas in meiner Hose. Ich schluckte trocken. Er schaffte es immer wieder, mich von wichtigen Themen abzulenken. Ich ließ es gerne zu. Im Augenblick konnte ich ohnehin nichts an der Situation ändern.
»Wollen wir gehen?« Oke grinste vielsagend und nahm meine Hand. Morgen war auch noch ein Tag. Aber eines stand fest. Eine Zukunft mit Oke wäre für mich der Himmel auf Erden. Wenn ich nur die verbrannte Erde, die ich in Husum bei meiner Familie zurückließ, abmildern könnte. Dass die Enttäuschung, die ich ihnen zugefügt hatte, irgendwann verziehen war. Mir war schon bewusst, dass ich viel verlangte, aber ich hatte nur dieses eine Leben, mit dem ich nun endlich anfangen wollte.
Von wegen keine geübte Autofahrerin! Um Mitternacht stellte ich mein Auto in der Garage ab. Noch auf der Fahrt hatte ich meine Freundin in Flensburg angerufen. Sie versprach nach Husum zu kommen, um mich zu trösten. Die Einzelheiten meiner Katastrophe hatte ich verschwiegen. Sally genügte es, zu wissen, dass ich sie brauchte, um die Fahrt von Flensburg nach Husum anzutreten. Alles andere würden wir später besprechen. Mir fehlte die Kraft, über die Freisprechanlage von meinem Besuch in Frankfurt zu berichten.
Sally besaß einen Schlüssel für unser Haus, sie würde hineinkommen, auch wenn ich nicht zeitgleich mit ihr in Husum ankam. Ich fragte mich, ob Isabell zu Hause war. Wie sollte ich meiner Tochter begegnen? Sollte ich sie einweihen? Um Steen und Lasse machte ich mir weniger Sorgen, sie waren schon immer mit allen Wassern gewaschen gewesen. Ich könnte mir vorstellen, dass sie einen schwulen Vater akzeptierten. Um Isi machte ich mir mehr Gedanken, da sie ohnehin auf Krawall gebürstet war.
Es galt, einen riesen Scherbenhaufen zusammenzufegen und irgendetwas daraus zu bauen. Keine leichte Aufgabe. Als ich zu Hause eintraf, sah ich Sallys Auto vor der Einfahrt. Erleichtert stieg ich aus. Meine Beine zitterten erbarmungslos. Meine Kraft reichte kaum, um den Schlüssel in die Haustür zu stecken.
Sally riss jedoch die Tür auf, bevor ich sie aufschließen konnte. Prüfend sah sie mich an.
»Na, Frau Fröhlich, bisschen steif von der Fahrt?« Sie war trotz meines Namens die Fröhlichere von uns beiden.
Steif? Ich dachte verbittert an die Wölbung in Jaspers Hose, als er knutschend die Treppe des Hotels heruntergeschwebt war.
»Lass es, sonst muss ich mich übergeben.« Sie gab den Weg frei, damit ich ins Haus gelangte.
Hier wirkte alles wie gewohnt. Doch schmerzlich wurde mir bewusst, dass nichts mehr wie früher war und es nie mehr so werden würde. Jasper war nicht mehr da. Nicht mehr in meinem Herzen und ich offenbar nicht in seinem.
Sally sah mich besorgt an. Meine beste Freundin hatte die Flowerpower-Phase nie hinter sich gelassen. Sie trug farbenfrohe Blusen, verrückte Hüte und auffällige Turnschuhe. Die orange-gelbe Bluse mit Carmen- Ausschnitt stand ihr immer noch so gut wie früher. Es fehlte nur der Blumenkranz auf ihren blonden langen Haaren. Ihre blauen Augen und die lustigen Sommersprossen ließen sie beinahe kindlich wirken. Aber der Schein trog, wer sich mit Sally anlegte, musste auf einiges gefasst sein. Ihrem losen Mundwerk war kaum jemand gewachsen. Sally trug das Herz auf der Zunge und die Sonne im Herzen. Um ihre mädchenhafte Figur hatte ich sie schon früher beneidet. Dagegen wirkte ich wie eine Elefantenkuh.
Als Erstes sah ich in Isis Zimmer nach, ob sie zu Hause war. Mich wunderte es nicht, dass dies nicht der Fall war.
»Wir sollten schlafen gehen, Sally, du bist sicher müde.«
»Du spinnst wohl, ich warte hier seit Stunden auf dich, um dich aufzumuntern, und du willst schlafen? Dann hätte ich auch morgen herkommen können.«
»Also gut, wenn du meinst.« Ich holte eine Flasche Rotwein aus dem Keller, danach setzten wir uns in den Wintergarten.
»Schieß los«, forderte Sally mich auf.
Ich war fertig, fix und fertig, die nicht enden wollende Autofahrt hatte mich erschöpft. Dennoch begann ich, ihr die ganze Geschichte zu erzählen.
Hinterher sah Sally mich lange schweigend an. Ich las Mitleid in ihren Augen, aber auch Entschlossenheit.
»Ich kenne Jasper mindestens genauso lang wie du«, begann sie zaghaft. »Ich habe immer gespürt, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Ich muss zugeben, ich mochte ihn nie besonders.«
»Das weiß ich«, warf ich ein.
»Vielleicht hat es daran gelegen. Wer weiß das schon. Dennoch muss ich Jasper in Schutz nehmen. Die vielen Jahre, die er darauf verzichtete, sein, und nur sein Leben zu leben, müssen ihn übermenschliche Kraft gekostet haben. Er hat dich nicht mit einer Frau betrogen, er hat nach einem Weg in seine eigentliche Sexualität gesucht und ihn letztendlich gefunden. Nimm es hin, aber bitte versprich mir, nicht daran zu zerbrechen. Das Leben ist bunt. Bunter, als du glaubst. Ich wünsche dir, dass du deinen Weg gehst, ohne deinen Mann. Suche dir einen Job, einen, der dir gefällt.«
Sally überraschte mich. Ich hatte damit gerechnet, dass sie mich ins Auto verfrachtete, damit wir Jasper zusammen die Augen auskratzen konnten. Aber sie sprach beinahe liebevoll über Jasper. Natürlich hatte sie recht mit dem, was sie sagte. Aber ich hatte eine Ehe geführt, von der ich glaubte, sie wäre perfekt gewesen. Von der nun nur noch Staub zurückblieb.
»Du nimmst Jasper in Schutz?«, fragte ich ungläubig.
»Nein, ich versuche dir nur einen Weg aufzuzeigen, den du noch nicht kennst. Das Haus kann er sich natürlich abschminken, so viel ist klar.« Dabei machte sie eine ausholende Geste um uns herum.
»Ich in diesem Haus? Nie mehr! Jasper kann gerne hier mit seinem Lover einziehen. Ich räume freiwillig das Feld«, murmelte ich.
Jetzt rückte Sally näher an mich heran.
»Dann komm nach Flensburg, wir haben früher auch in einer WG gewohnt. Warum sollte es heute nicht wieder funktionieren?«
Ich zögerte, Sallys Euphorie kam bei mir nicht auf. Dann musste ich an Isi denken. Ich konnte sie nicht ihrem Schicksal überlassen. Auch wenn wir unsern Zickenkrieg weiterführen würden. Immerhin war ich ihre Mutter. Ich liebte mein Kind, obwohl meine Liebe an Isi abprallte.
Ich liebe dich, Mami.
Tränen schossen mir in die Augen. Sie würde auf die Barrikaden gehen, wenn ich ihr offenbarte, dass wir das Haus verlassen müssten.
Immer der Reihe nach, ermahnte ich mich. Leider war ich nicht imstande, auch nur annähernd eine Reihenfolge festzulegen.
»Das möchte ich nicht, Sally. Bitte nicht böse sein, aber ich bin längst aus den Schuhen von damals herausgewachsen. Ich fühle mich wie eine Versagerin, wenn ich daran denke, mit dir in eine WG zu ziehen. Was ist, wenn du dich neu verliebst? Wo soll ich dann hin? Wieder ausziehen? Kommt nicht infrage.« Sally wirkte enttäuscht, musste meine Einwände jedoch verstehen.
Ich hatte reichlich Rotwein intus, sodass ich die Bettschwere in meinen Gliedern spürte. Auch Sallys Augen klappten träge immer wieder zu, mühsam versuchte sie nicht einzuschlafen.
Ich kicherte.
»Süße, wir gehen besser schlafen, morgen ist ein neuer Tag.«
Ich stellte ihr Isabells und Jaspers Bett zur Wahl. Sie entschied sich für Jaspers Bett. Ich seufzte, mir wäre es lieber gewesen, wenn sie Isis Zimmer vorgezogen hätte, denn Sally war eine begnadete Schnarcherin. Ich überlegte, ob ich irgendwo Ohropax gelagert hatte, fand aber keine.
Wir bezogen das Bett neu und fielen in die Kissen. Es dauerte nur wenige Augenblicke, und Sallys Schnarchkonzert unterhielt das gesamte obere Stockwerk. Mich eingeschlossen. Sonst war niemand da.
Am nächsten Morgen sah ich meine Pläne deutlicher vor mir. Dank der nächtlichen Unterhaltung und meiner Freundin hatte ich für den Rest der Nacht wach gelegen. Dabei flossen einige Tränen, die aber langsam versiegten. Mein aufgewühltes Inneres fühlte sich leer und verlassen an. Die Demütigungen, die ich jahrelang erlitten hatte, ohne es zu wissen, zerrten mein Selbstbewusstsein in die Tiefen eines unbekannten Grundes. Ich war zum Kämpfen bereit, um wie ein Phönix aus der Asche aufzusteigen. Ich wollte einen Neuanfang. Harte Arbeit lag vor mir. Ich trauerte um mein bisheriges Leben, welches eigentlich ein Theater, eine Scheinwelt gewesen war.
Sally beendete das Konzert, ein sicheres Zeichen dafür, dass sie in wenigen Minuten erwachen würde. Ich stellte mich schlafend, vielleicht konnte ich so ein paar Minuten Schlaf nachholen. Sally brauchte nach dem Aufwachen zuerst einen starken Kaffee. Ich baute auf ihr Talent, ihn eigenhändig zuzubereiten.
Doch weit gefehlt. Sie schüttelte mich und rief: »Beeke, da kommt jemand die Treppe rauf, ob das Einbrecher sind?«
Ich stöhnte. »Das wird Isi sein, in Husum gibt es nur gute Menschen.«
»Du hast Nerven, Einbrecher gibt es überall. Schau doch bitte nach!«
Warum ich?
»Ich habe keine Angst vor Halunken, schau doch selbst«, murmelte ich unter meiner Decke hervor.
»Bitte, die Schritte kommen näher«, drängte Sally.
Na gut, die Nacht war vorbei, da konnte ich meine Tochter auch gleich begrüßen. Mich traf fast der Schlag, als ich auf den langen Flur trat. Eine schwarz gekleidete Person, mit dunkel geschminkten Augen, violettem Lippenstift und rot unterlaufenen Lidern kam mir entgegen. Ein süßsaurer Geruch schwängerte den Flur. Unter dieser abschreckenden Fassade entdeckte ich … Isabell.
»Isi? Bist du das?« Ich schluckte meinen Ärger tapfer herunter. Mit Zurechtweisungen wäre ich sicherlich auf Granit gestoßen.
»Wer denn sonst, hattest du Hoffnungen, ein Einbrecher raubt dir deine Unschuld?«
»Sei doch nicht so unverschämt«, hörte ich Sally hinter mir rufen.
»Sally, bitte, ich regle das allein.«
»Na, dann regle man«, spottete meine Tochter, dann rauschte sie an mir vorbei, um in ihr Zimmer zu verschwinden.
»Die hast du eindeutig im Griff, Beeke. Das muss man dir lassen«, raunte Sally unnötigerweise an mein Ohr. »Wie wäre es mit einem Kaffee?«
Ich nickte stumm, während ich zur Treppe schlich.
»Wie soll ich Isi nur beibringen, dass ihr Vater schwul ist?«
Sally schlürfte an ihrem Becher und sah mich über den Rand an.
»Gar nicht. Sie wird es irgendwann von selbst merken.«
»Was soll ich merken?« Isabell trat in die Küche und holte eine Wasserflasche aus dem Kühlschrank. Ihr Gesicht hatte sich durch die verlaufene Schminke bis zur Unkenntlichkeit verändert. Obwohl ich sie ohnehin längst nicht mehr erkannte.
Sally blinzelte mir aufmunternd zu.
»Los, eine bessere Gelegenheit wird es nicht geben«, sagte sie.
Isabell ließ die Wasserflasche sinken.
»Du willst mich in ein Heim schicken, stimmt‘s?« Sie verzog das Gesicht, als ob sie verhindern wollte loszuheulen. Diese jungen Leute schlugen mit der Faust auf den Tisch, trampelten auf anderer Menschen Gefühle, aber wenn es ihnen an den Kragen ging, heulten sie wie die Säuglinge. Isabell war da keine Ausnahme.
»Unsinn«, sagte ich schnell, denn trotz allem konnte ich meine Kleine nicht weinen sehen. Sally gab mir unter dem Tisch einen Stoß. Ich rieb mein Schienbein, denn sie war nicht zimperlich, wenn es darum ging, Hiebe zu verteilen. Es schmerzte höllisch. Ein blauer Fleck war mir sicher. Isi sah von mir zu Sally.
»Warum tuschelt ihr? Sucht die Polizei nach mir?«
Ich riss die Augen auf. Erwartete mich noch eine Horrorbotschaft?
»Nimm dich mal nicht so wichtig, Nervensäge, es geht um etwas anderes«, platzte es aus Sally heraus.
»Ich bin gespannt.« Isi schnaubte und pflanzte sich auf die Küchenarbeitsplatte.
»Schatz, ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, begann ich vorsichtig.
»Ich schon, dein Vater ist schwul.« Sally knallte die ungeschminkte Wahrheit auf den Tisch. Ich sah sie wütend an. Mir wäre es lieber gewesen, wenn ich Isi alles vorsichtiger hätte erklären können.
Nachdenklich blickte meine Tochter abwechselnd zu mir, dann zu Sally. Sie hielt den Kopf schief, als könnte sie das eben Gehörte so herausfließen lassen. Dann hellte sich ihre Miene auf.
»Ich lach mich schief, und du hast ihn erwischt?« Isi kicherte. »Selbst schuld, von Überraschungsbesuchen während einer Geschäftsreise ist schon so manche Frau frustriert nach Hause gekommen.«
»Sei nicht so unverschämt, Klugscheißerin«, donnerte Sally.
Isi strafte Sally mit einem verächtlichen Blick, ignorierte sie aber sofort wieder.
»Ich finde das cool«, trällerte sie. »Wann willst du ausziehen? Ich kann mit Vätern besser.« Ein Schlag ins Gesicht hätte nicht schmerzhafter sein können. Mühevoll kämpfte ich mit den Tränen und meiner letzten Beherrschung.
»Ehrlich gesagt, ich weiß es noch nicht«, flüsterte ich niedergeschlagen.
»Die Zeitung ist schon im Briefkasten, soll ich sie holen? Heute ist ein großer Immobilienteil drin.«
Ich war sprachlos. Isabell konnte es nicht erwarten, mich aus dem Haus zu bekommen.
Selbst Sally hatte ihre Zurechtweisungen Isi gegenüber eingestellt. Sie erwiderte noch ein: »Geh mal ins Bett, wir kommen gut ohne dich klar.«
Diese Aufforderung kam Isi offenbar gerade recht. Sie schnappte sich die Wasserflasche und verschwand in ihr Zimmer.
»Was war das denn? Wann ist Isi so geworden?«, wollte Sally wissen.
Ich hob die Schultern, dabei schüttelte ich meinen verwirrten Kopf.
»Wann? Ich weiß es nicht, aber sie verhält sich schon eine ganze Weile so«, antwortete ich traurig.
Ich sah mich in der Küche um. Ich war in diesem Haus so glücklich gewesen. Die warmen Farbtöne hatten wir zusammen ausgesucht. Alles hatten wir zusammen eingerichtet. Wir. Eine glückliche Familie. Eine Vorzeigefamilie. Alle, einschließlich unserer Eltern, hatten uns bewundert, wie lösungsorientiert wir für unsere Kinder sorgten. Bis zu dem Zeitpunkt, als Isi uns unsere Grenzen aufzeigte. Ich war trotzdem überzeugt gewesen, Isi aus ihrer pubertären Phase herauszubekommen.
Ich sah Sally panisch an.
»Meinst du, es könnte Isi schaden, wenn sie mit zwei Männern in einem Haushalt lebt?«
Sally grinste.
»Noch mehr?«
Puh, Sally war immer so direkt. Ihre Worte klangen unverblümt. Aber sie hatte recht. Schlimmer konnte es wirklich nicht werden. Ich würde sie auch nicht allein lassen, sie würde mich besuchen können, wann immer sie mich brauchte. Ich nahm mir vor, ihr vor meinem Auszug diese Option aufzuzeigen. Mehr konnte ich nicht tun. Sie hatte ja bereits erklärt, dass sie bei Jasper bleiben wollte. Ich würde Jasper auf die Finger schauen, denn wenn Isi so weitermachte, musste ich handeln, auch wenn sie mich danach noch mehr hassen sollte.
Sally sah mich zufrieden an.
»So ist es richtig, mach deine Pläne.« Sie hatte schon in der Schule meine Gedanken erraten. Da waren Jasper und sie ähnlich gestrickt.
»Es ist so schwer«, hauchte ich.
»Ich weiß.« Sally schloss mich in ihre Arme. Es tat gut, jemanden zu haben, der mir Trost gab, wenn alles aus der Bahn lief. Bisher war das selten nötig gewesen, aber nun gab es für mich nur diesen Halt. Ich erlaubte meinen Tränen, sich Bahn zu brechen. Es fühlte sich sogar gut an. Sally schwieg, nur hin und wieder streichelte sie meinen zuckenden Rücken.
Verzweifelt suchte ich Auswege aus meiner Lage. Es stand ein Umzug bevor, der mich sicher viel Kraft kosten würde.
»Wann möchtest du ausziehen? Du darfst auch gerne vorübergehend zu mir kommen.«
Plötzlich hatte ich die Lösung.
»Danke«, schniefte ich, »aber ich werde erst mal in den Urlaub fahren.« Es würde wie ein Umzug auf Zeit sein, nichts Endgültiges, das gab mir Mut.
»Gute Idee«, lobte Sally, »Teneriffa, Griechenland oder Türkei?«
Ich musste lachen. Das waren alles Ziele, die ich mit Jasper regelmäßig bereist hatte.
»Nein, Amrum. Das ist der beste Ort für einen Neuanfang.«
»Warum nicht in den Süden, da weißt du wenigstens, wie das Wetter wird.«
»Ich brauche kein Wetter, ich muss abschalten. Das gelingt mir auf der Insel besser als im Süden, wo ich vor lauter Hitze nicht weiß, wo mir der Kopf steht.«
Sally blieb einige Tage in Husum. Sie hatte es geschafft, mich aus dem größten Schlamm zu ziehen, mir den Kopf zu waschen und mich aufzurichten. Dabei war sie nicht zimperlich mit mir umgegangen. Trotzdem war ich dankbar, einigermaßen in meine Spur zurückgefunden zu haben.
Isi telefonierte jeden Tag überlaut mit Jasper. Ich vermutete, sie wollte, dass ich es mitbekam. Bald wurde es für mich Zeit, das Feld zu räumen. Jasper würde in wenigen Tagen nach Hause kommen. Ich wollte ihm nicht begegnen, dazu reichte meine Energie nicht aus.
Ich schlenderte einigermaßen entspannt durch die Geschäfte Husums, um mich neu einzukleiden. Ich würde dicke Pullis und Hosen für die Insel benötigen. Die Nordseeluft konnte rau sein. Kurze Klamotten hatte ich ausreichend.
Ich fand einige schöne Stücke, die ich in meinem Flitzer zu meiner ehemaligen Bleibe transportierte. Ein Zuhause hatte ich ja nicht mehr. Die Koffer waren gepackt, ich musste nur noch die neuen Sachen hineinbekommen, dann war ich startklar. Am Nachmittag, um 15 Uhr, würde ich die Fähre in Dagebüll besteigen, denn ich wollte mein Auto mit auf die Insel nehmen. Zu gern hätte ich auch mein Fahrrad mitgenommen, aber eine Zuladung in diesem Umfang erlaubte mein Auto nicht. Mit etwas Glück konnte ich auf der Insel eins mieten. Ich hatte für vier Wochen ein gemütliches Ferienhaus in Norddorf gemietet, bezahlt mit der Kreditkarte meines Noch-Ehemannes. Es hatte mir eine gewisse Genugtuung gegeben. Nicht, dass ich nicht über eigenes Geld verfügte, aber ich wusste schließlich nicht, was noch auf mich zukam.
Es war eben halb zehn, also erlaubte mir die Zeit ein kurzes Telefonat mit Sally. Sie wünschte mir eine gute Reise und machte mir Mut für die ungewisse Zukunft.
Isabell hatte vorgegeben, zur Schule zu müssen. Sie verabschiedete sich mit einem gönnerhaften Winken und verschwand.
Ich liebe dich auch, Schatz.
Die Tränen schluckte ich tapfer runter. Ich konnte momentan nichts an unserem Verhältnis ändern. Isi dachte nicht daran, mich an sie herankommen zu lassen. Sie hatte eine dicke Mauer um sich herum gebaut. Sie würde mir nie erlauben, ihren Schutzwall zum Einstürzen zu bringen. Wie hieß es doch so schön? Die Zeit heilt alle Wunden? Wir werden sehen. Besorgt hatte ich ihr aus dem Küchenfenster nachgesehen. Dieses kleine, kleine Geschöpf. Wann wird sie aufwachen. Ich freute mich auf diesen Tag in, vermutlich, weiter Zukunft.
Ich steckte den Nachsendeantrag, den ich zur Post bringen wollte, in die Handtasche. Dann war ich fertig. Draußen in der Einfahrt hörte ich Türenknallen. Mir wurde schlagartig übel. Jasper? Er würde doch nicht jetzt schon kommen? Eilig sah ich zum Fenster auf den Hof. Verflixt, er hatte diesen Oke mitgebracht. Was fiel ihm ein?
Ich geriet in Panik, wie sollte ich ihm ausweichen? Ich musste vorne rausgehen. Der hintere Eingang war versperrt durch die Waschmaschine. Wir hatten uns aus Platzgründen dazu entschieden, auf diese Tür zu verzichten. Heilige Scheiße. Egal! Ich zog mutig meine Koffer in den Flur und nahm die Schlüssel zur Hand. Einen Schuh hatte ich bereits angezogen, als Jasper bleich und besorgt vor mir stand.
»Schnecke … Beeke, bitte, versteh mich.«
So abgedroschene Phrasen kannte ich bislang nur aus Funk und Fernsehen.
»Nenn mich nicht so«, schrie ich ihn an.
Schnecke, das konnte ich nun wirklich nicht mehr hören, Jahrzehnte war ich eine Schnecke gewesen.
Überhaupt, was hieß denn hier verstehen! Davon hatte ich genug. Ich sah Jasper an. Er stand vor mir, wie er immer vor, hinter und neben mir gestanden hatte. Bei dem Gedanken sank ich erneut in den Schlamm. Dreckiger, zäher Schlamm. Ich versuchte, mich herauszuwinden, indem ich mit Fäusten auf Jasper losging. Ich schlug so heftig zu, dass Jasper Mühe hatte, einen festen Stand zu bewahren. Doch es gelang ihm. Er wartete ab. Zum Schluss knallte ich ihm meine flache Hand ins Gesicht, wo sie deutliche Spuren hinterließ.
Außer Atem sank ich kraftlos zusammen. Jasper fing mich im letzten Moment auf und griff mir unter die Arme. Er sah mich ruhig an.
»Besser?«, fragte er sanft. »Ich habe es sicher verdient.«
Mein Fels, mein Zuhause, mein Leben. Alles war erneut über mir zusammengebrochen, aber es ging mir tatsächlich besser. Der Schlamm klebte nur noch an einigen Stellen, zwar hartnäckig, weil ich Oke draußen auf und ab gehen sah, aber ich war zuversichtlicher.
»Können wir trotzdem Freunde bleiben?«, fragte Jasper treuherzig.
Ich schluckte einen Kloß runter.
»Das wäre wohl etwas zu viel verlangt, nach den Lügen, die du mich hast leben lassen. Ich muss erst zu mir finden, bevor ich dich noch mal in mein Leben lasse.«