Barfuß um die Welt - Judith Etz - E-Book
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Barfuß um die Welt E-Book

Judith Etz

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Beschreibung

Trendthema Barfußlaufen – wer barfuß geht, ist gesünder und erlebt die Natur intensiver

Überall drückt der Schuh: Die Autoimmunerkrankung, unter der Judith Etz seit Kindheitstagen leidet, wird immer schlimmer, sie steckt in einer unglücklichen Ehe und fühlt sich fremd in ihrem Beruf. Eines Tages trifft sie einen radikalen Entschluss: Sie lässt alles hinter sich, und vor allem zieht sie die Schuhe aus. Barfuß reist sie um die Welt, um wortwörtlich vor ihren Problemen wegzulaufen und die Energie der Erde zu spüren. Judith Etz wird zur Attraktion in fremden Großstädten, diniert barfuß in Fünfsternehotels, bezwingt Berge und durchstreift Regenwälder. Bei der Reise um die Welt tragen sie ihre Füße aber vor allem einem Ziel näher: sich selbst. Denn ihre Krankheit ist seitdem nicht mehr nachweisbar. Ohne OP und Medikamente – ein kleines medizinisches Wunder. In diesem so faszinierenden wie berührenden Buch lädt Judith Etz uns ein, ihr in ihren Barfußstapfen um die Welt zu folgen.

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Überall drückt der Schuh: Die Autoimmunerkrankung, unter der Judith Etz seit Kindheitstagen leidet, wird immer schlimmer, sie steckt in einer unglücklichen Ehe und fühlt sich fremd in ihrem Beruf. Eines Tages trifft sie einen radikalen Entschluss: Sie lässt alles hinter sich, und vor allem zieht sie die Schuhe aus. Barfuß reist sie um die Welt, um wortwörtlich vor ihren Problemen wegzulaufen und die Energie der Erde zu spüren. Judith Etz wird zur Attraktion in fremden Großstädten, diniert barfuß in Fünfsternehotels, bezwingt Berge und durchstreift Regenwälder. Bei der Reise um die Welt tragen sie ihre Füße aber vor allem einem Ziel näher: sich selbst. Denn ihre Krankheit ist seitdem nicht mehr nachweisbar. Ohne OP und Medikamente – ein kleines medizinisches Wunder. In diesem so faszinierenden wie berührenden Buch lädt Judith Etz uns ein, ihr in ihren Barfußstapfen um die Welt zu folgen.

Judith Etz, geboren 1996, ist gelernte Bankkauffrau und Model. Sie arbeitete als Massagetherapeutin, Kundenbetreuerin, im Marketing und als Ernährungsberaterin. Seit sie barfuß losgereist ist, bekommt sie Zuschriften aus aller Welt und wurde zur »Miss German Sport 4 Jahreszeiten« gewählt. Wenn sie nicht gerade auf Weltreise ist, lebt sie auf Hawaii. Ihr Leben passt in einen Rucksack.

Judith Etz

BARFUSS UM DIE WELT

Wie ich durchs Barfußlaufen geheilt wurde und zu mir selbst fand

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Originalausgabe 06/2021

Copyright © 2021 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Ulrike Strerath-Bolz

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design unter Verwendung der Motive von © Veselin Kolev und © Bigstock / NotionPic

Fotos im Innenteil: © Nada Brahma Healing Center, alle anderen: © privat

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-26465-9V001

www.heyne.de

Inhalt

Einleitung

1 Die Vorgeschichte: Wo der Schuh drückt

2 Der Entschluss: Zeig her deine Füße

3 In der Großstadt: Auf bloßem Fuß leben

4 England: Getting my feet wet

5 Hongkong: Im Barfüßerorden

6 Neuseeland: Hobbitfüße

7 Rarotonga: Geh eine Meile in meinen Schuhen

8 Hawaii: Mir brennt der Boden unter den Füßen

9 Kalifornien: Auf weisen Sohlen

10 Costa Rica: Auf Umwegen angekommen

11 Nevada: Ein anderes Paar Schuhe

12 Heimreise: Auf gutem Fuß mit mir selbst

Dank

Bildteil

Einleitung

Von Schuhen habe ich noch nie viel gehalten. Mal waren sie zu eng oder zu klein, mal zu groß, drückten oder sahen einfach nur hässlich aus. Daher spazierte ich am liebsten barfuß herum. Schon als Kind liebte ich das Gefühl von bloßen Füßen. Kühles Gras im Morgentau oder von der Sonne erwärmter Asphalt waren ohne Schuhe ein völlig anderes Erlebnis. Meine Lehrer sahen mich im Sommer oft barfuß in der Schule, und genauso marschierte ich auch durch die Stadt. Einmal fragten meine Freundinnen, ob das denn nicht eklig wäre mit den ganzen Kaugummis auf dem Boden. Darauf entgegnete ich nur: »Ich muss ja nicht mit meinen Füßen essen!«, und wir liefen lachend weiter.

Nachdem bei mir eine Autoimmunerkrankung festgestellt wurde und die Medikamente nicht recht anzuschlagen schienen, entdeckte ich als Heranwachsende das Barfußlaufen für mich als Therapie. Irgendwann reichten mir die Sommer nicht mehr, ich lief auch im Herbst barfuß und dann sogar zeitweise im Winter. »Pass auf, du erkältest dich noch«, hörte ich häufig. Aber ich erkältete mich nicht, im Gegenteil, mir ging es besser als je zuvor.

Als ich erwachsen wurde, schlichen sich dann doch wieder die Schuhe in mein Leben. In der Bank, wo ich meine Ausbildung zur Privatkundenberaterin startete, trugen alle Kolleginnen Schuhe mit hohen Absätzen. Sie gehörten eben zum Dresscode, und so passte ich mich an. Auch mein Partner fand High Heels attraktiver als schwarze Fußsohlen oder breite Barfußschuhe aus Gummi mit Zehen dran. Nur ich fühlte mich immer beengter, und mit meiner Gesundheit ging es bergab.

Nach einer Lebenskrise fasste ich endlich den Entschluss auszubrechen: aus meinen Schuhen und dem damit verbundenen Leben. Ich löste mich aus der Beziehung, wechselte den Beruf und beschloss, mit meinem angesparten Geld barfuß um die Welt zu reisen.

Meine Füße haben mich seither über heißen Sand und scharfkantige Felsen getragen, durch Dschungel mit giftigen Schlangen, Fröschen und Spinnen, sie haben sich Dornen eingefangen und wurden von Krebsen gekitzelt. Vor allem aber haben sie mich eine Kraft in der Natur erspüren lassen, von der ich zuvor keine Ahnung hatte. Sie haben meinen Körper und meine Seele aufgerichtet und mir neue Energie geschenkt. Meine Füße brauchen die Erde und das Gefühl der Verbundenheit. Seitdem »Earthing« und Barfußlaufen ein weltweiter Trend geworden sind, werde ich auch immer seltener komisch angeschaut. Oft lächeln mich die Menschen aufmunternd an. Wildfremde Passanten in der Stadt verwickeln mich in ein angeregtes Gespräch über meine bloßen Füße. Auf Instagram und Facebook schreiben mir andere Barfußläufer, und wir tauschen uns über unsere Erfahrungen aus.

Uns alle eint die Erkenntnis: Beim Barfußlaufen kommen wir Schritt für Schritt den Wurzeln unseres Körpers näher. Als die Tarahumara, ein indigenes Volk von barfüßigen Ultralangstreckenläufern im Norden Mexikos, durch den Bestseller Born to Run von Christopher McDougall ins Blickfeld der Wissenschaft gerückt sind, ist das Thema Barfußlaufen auch in der breiten Öffentlichkeit angekommen.

Ich war barfuß in Fünf-Sterne-Hotels beim Dinner und habe mit dem Personal über Champagner gefachsimpelt. Ich habe heilige Orte betreten und war die Attraktion in fernen Großstädten. Die Neuseeländer haben mich nach einem Blick auf meine Füße lächelnd als Hobbit willkommen geheißen. Vor allem aber haben mich meine Füße auf meiner Reise um die Welt Schritt für Schritt einem Ziel näher gebracht: mir selbst. Erst kürzlich habe ich eine Blutuntersuchung machen lassen; meine Autoimmunkrankheit ist nicht mehr nachweisbar. Ohne OP und ohne Medikamente, ein kleines medizinisches Wunder.

In diesem Buch erzähle ich, wie ich die Schuhe ausgezogen habe und losgelaufen bin, um die Welt zu erspüren. Ich berichte von überraschenden Begegnungen und kulturell geprägten Reaktionen auf mein Barfußlaufen. Dabei stelle ich fest: Wer barfuß läuft, bleibt nicht lange allein. Außerdem beschreibe ich die magische Verbindung zwischen Mensch und Natur, die ich erst spüre, seit ich auf die isolierende Schuhsohle verzichte. Ich lade Dich ein, mir in meinen Fußstapfen rund um die Welt zu folgen. Dazu brauchst du beim Lesen die Schuhe nicht einmal auszuziehen. Aber ich gebe Dir keine Garantie, dass du im Laufe des Buchs nicht doch Lust bekommst, die Schuhe abzulegen und auch einmal auf bloßem Fuß loszumarschieren.

Kapitel 1

Die Vorgeschichte:Wo der Schuh drückt

Als ich sieben Jahre alt bin, wird bei mir Morbus Basedow festgestellt, eine Autoimmunerkrankung der Schilddrüse. Der Arzt erklärt es mir so: »Dein Körper greift deine Schilddrüse an, die darauf mit einer übermäßigen Produktion von Hormonen reagiert. Weil wir derzeit nur die Symptome behandeln können, nimmst du zuerst Medikamente, um die Schilddrüse in ihrer Aktivität zu hemmen. Wenn deine Schilddrüse sich in den nächsten ein bis zwei Jahren nicht selbst reguliert, was nur äußerst selten passiert, nehmen wir sie heraus oder bestrahlen sie radioaktiv. Danach wirst du dein Leben lang Schilddrüsenhormone nehmen müssen, aber dafür bleiben dann auch die Symptome aus.«

Symptome – zunächst spüre ich nichts davon, aber dann geht es allmählich los: Schlaflosigkeit, Nervosität, Zittern, unregelmäßiger und beschleunigter Herzschlag, Heißhunger, Gewichtsverlust, Schweißausbrüche, Wärmeintoleranz, Muskelschwäche und mit dem Heranwachsen auch Zyklusstörungen. Außerdem entsteht häufig ein Druck- und Engegefühl im Hals, das zu Schluckbeschwerden und Luftnot führt. Durch den erhöhten Druck treten die Augen deutlicher hervor. Und ich weiß, unbehandelt kann die Krankheit zum Tod führen.

Also nehme ich brav meine Medikamente, und meine Eltern fahren mich jede Woche zur Blutabnahme und anderen Kontrollen. Auf eine Weise finde ich das ganz faszinierend und stelle auch viele Fragen. Aber am liebsten halte ich mich im Wartezimmer auf. Es gibt dort nämlich so viele Bücher, die ich bald alle durchgelesen habe.

Irgendwann sagen die Ärzte, ich solle mich beim Sport schonen und vorsichtig mit schnellen Bewegungen sein. Mich zurückzunehmen finde ich seltsam, denn ich bin gerne aktiv und habe es in der Grundschule zum altersbesten Mädchen im Weitsprung geschafft. Als ich die weiterführende Schule besuche, lassen meine sportlichen Leistungen aber schnell nach. Auch meine Psyche leidet: Das dauernde Hin und Her mit den Medikamenten verunsichert mich. Immer mehr Ärzte raten dazu, die Schilddrüse herauszuoperieren oder zu bestrahlen. Aber allein der Gedanke an eine Bestrahlung macht mir Angst, weil ich Radioaktivität nach der Katastrophe von Tschernobyl nur in einem negativen Zusammenhang sehen kann. Eine Operation fürchte ich nicht weniger, vor allem, seit ich den Zettel mit all den möglichen Risiken in der Hand gehalten habe. Außerdem will man einen Teil von mir wegnehmen, und ich werde für immer auf Medikamente angewiesen sein. Meine Schilddrüse gehört zu mir, auch wenn sie gerade nicht richtig mitmacht.

Ich denke, dass es andere Lösungen geben muss. Und wenn die Schulmedizin mir diese nicht geben kann, werde ich eben selbst danach suchen. Meine Mutter unterstützt mich und teilt den Ärzten als Erziehungsberechtigte ihre Entscheidung mit: Wir möchten mit einer OP bis zu meinem achtzehnten Geburtstag warten. Die Ärzte versuchen zwar immer wieder, ihr diese Entscheidung auszureden, und betonen, dass die Medikamente auf die Dauer Leber- und Knochenmarkschäden oder einen Rückgang der weißen Blutkörperchen bewirken können. Aber meine Mutter bleibt unbeirrt. Sie hat einen unerschütterlichen Glauben daran, dass ich völlig gesund werden kann.

Ich bin gerade in die sechste Klasse gekommen, als meine Augen immer schlechter werden und mein vorher so dickes Haar dünner wird. Manchmal rast mein Herz scheinbar grundlos wie wild, und ich kann abends nicht einschlafen. In den langen Nächten habe ich viel Zeit und suche selbst nach alternativen Informationen und Lösungsansätzen. Wochen, Monate und Jahre des Ausprobierens und Umsetzens folgen.

Eines Tages lese ich, dass Barfußlaufen für verschiedene Erkrankungen gut sein soll, und beschließe, es damit zu versuchen. Die Studien und Ausführungen von Dr. Daniel Lieberman, Clint Ober, Stephen T. Sinatra, Pawel Sokal und anderen klingen vielversprechend. Nicht nur mein Immunsystem soll gestärkt und die Entzündung reduziert werden, sogar mein Schlaf verspricht besser zu werden. Die wissenschaftliche Erklärung dazu lautet, dass die Erde negativ geladene Elektronen abgibt, die im Körper wie Antioxidantien wirken und daher positiv geladene freie Radikale neutralisieren. Bei chronischen Entzündungen und Erkrankungen fallen diese freien Radikale über Zellen her und entziehen ihnen die Elektronen, sodass sie oxidieren und schneller altern. Studien lassen außerdem darauf schließen, dass das negative Potenzial der Erde eine stabile bioelektrische Umgebung für das Funktionieren aller Systeme des Körpers schafft. Schwankungen in der Intensität der Ladung sind wichtig, um die biologische Uhr zu kalibrieren, die den täglichen Rhythmus bestimmt, wie zum Beispiel die Kortisol Ausschüttung.

Voller Begeisterung stürze ich mich darauf. Ich genieße die warmen Spätsommertage, an denen ich die verhassten Schuhe ausziehen kann, um das warme Gras zu spüren. Als der erste Schnee fällt, gehe ich jeden Morgen eine Runde barfuß durch den Garten. Danach fühle ich mich wach und klar. Mit dem Frühling lege ich die Schuhe noch weiter ab und erscheine sogar barfuß im Gottesdienst. Aber die Reaktionen meines Umfelds auf meine nackten Füße verunsichern mich. Meinen Eltern bin ich peinlich, von meinem Ansatz sind sie weniger überzeugt. Und langsam kommen auch mir einige Zweifel. Was haben die Füße denn mit meiner Schilddrüse zu tun? Außerdem sind meine Fußsohlen noch sehr empfindlich. Sobald ich das weiche Gras verlasse, bereitet jeder Stein mir Schmerzen. Zumindest versuche ich es danach mit knallroten Barfußschuhen, die ich bei einer Youtuberin gesehen habe. Sie haben eine dünne Gummisohle, die vor spitzen Steinen, Dornen und Glasscherben schützt, und fünf einzelne Zehen.

Der Laufstil ändert sich beim Barfußlaufen häufig automatisch, und in mehreren Videos habe ich gesehen, dass der Vorderfuß- oder Ballenlauf bei ungepolsterten Schuhen sinnvoller ist. Hierbei kommen entweder nur der Vorderfuß oder Vorder- und Mittelfuß zuerst auf dem Boden auf und rollen dann weich zur Ferse hin ab. Landet der Fuß hingegen ungedämpft auf der Ferse, verschleißen die Gelenke mit der Zeit. Nach diesen für mich völlig neuen Informationen beginne ich den Ballengang zu üben. Allerdings hat mir niemand gesagt, dass ich das Ganze äußerst vorsichtig angehen muss. Meine Muskeln sind für den Ballengang noch untrainiert, und bald melden sie Überlastung. Ich muss einige Wochen pausieren, und das nimmt mir bereits viel von der anfänglichen Begeisterung. Außerdem sind meine Minimalschuhe nicht so bequem, wie ich erwartet habe. So kommt es, dass sie irgendwann vergessen im Schrank landen.

Mit ihnen geht meine Jugend, und ich heirate früh. In der Kirchengemeinde, in die ich hineingewachsen und seit einiger Zeit Vollmitglied bin, ist es undenkbar, eine ernsthafte Beziehung vor der Heirat zu führen. »Wer weiß, was da passieren könnte«, wird mit einem verlegenen Räuspern geflüstert. Ebenso schändlich ist es, eine einmal begonnene Beziehung zu beenden. Eigentlich wäre es am besten, gleich nach dem ersten Kennenlernen zu heiraten, so die gängige Meinung in diesem Umfeld. Obwohl meine Zweifel deutlich spürbar sind, beuge ich mich diesem Druck. Wenn die Leute über mich reden, weil ich einen Rückzieher gemacht habe, werden meine Eltern darunter leiden, und das will ich ihnen nicht antun.

Nur, was ist das für eine Gemeinde, in der ich mir solche Gedanken machen muss? Diese Frage stelle ich mir immer wieder, und fühle mich mit jedem verstreichenden Tag unwohler – nicht nur in dieser Gemeinschaft, sondern auch in der Ehe und in meiner Ausbildung zur Bankkauffrau. Ich kann nur schwer benennen, was ich fühle, denn meine Gefühle zu reflektieren oder gar über sie zu sprechen, ist mir noch nie leichtgefallen. Dafür schreit mein Körper alles, was ich nicht aussprechen kann, in umso größerer Lautstärke in die Welt heraus. Er versucht mir zu zeigen, was ich noch nicht so recht wahrhaben will. Doch meine Angst vor dem Unbekannten ist stärker, und so ignoriere ich, was er mir sagt und bleibe lieber bei dem vertrauten Übel.

In dieser Zeit verschlimmert sich meine Krankheit wieder. Es kommt zu unüblichen Nebenwirkungen, ich nehme rapide zu. Überhaupt bin ich so häufig krank, verletze mich oder mir passiert sonst etwas, dass es auffällig ist. So geht es viele Monate, und es wird immer schlimmer. Eine ganze Weile quält mich, neben einigen anderen Dingen, ein Tinnitus, der mir den Schlaf raubt. Ich höre mein Herz in den Ohren, sobald der Lautstärkepegel unter normale Gesprächslautstärke fällt. Das ist schon im Alltag störend, aber nachts, wenn alles still ist, wird das Klopfen zu einem dröhnenden Hämmern. Dazu kommt ein tiefer Brummton, der mich ständig begleitet. Es hört sich an wie ein warnendes Dauerknurren. Morgens bin ich nach den schlaflosen Nächten vollkommen erschöpft und komme immer öfter zu spät zur Arbeit. Als ich versuche, im Wohnzimmer bei dröhnender Bassmusik einzuschlafen – welche die quälenden inneren Geräusche zumindest übertönt –, beschweren sich Nachbarn aus der Kirchengemeinde über die unchristliche Musik.

Dafür habe ich in den langen schlaflosen Nächten mehr Zeit zum Reflektieren, als mir lieb ist. Vielleicht will mein Inneres genau das erreichen und mir Zeit geben, mich sogar dazu drängen, mir mein Leben genauer anzusehen? Ich greife zu Stift und Papier und beginne zu schreiben. Lähmende Gefühle plagen mich. Ständig fühle ich mich kontrolliert und fast schon eingesperrt von meinem eigenen Ehemann. Der Kontakt zu meinen Eltern wird weniger, weil er meint, ich hänge zu sehr an ihnen. Er schreibt mir vor, welche Freunde meinem Seelenzustand guttun und welche nicht. Wie ich mich anzuziehen habe. Wie ich auszusehen habe. Ich werde begleitet von destruktiver Kritik: »Nicht gut genug, nicht schön genug, nicht fleißig genug, nicht genug.« Oft fühle ich mich abgewertet und niedergemacht. Wenn ich ihm etwas präsentiere, erhalte ich Antworten, wie: »Das hättest du besser machen sollen.« Oder: »Das ist nicht Besonderes. Lieber hättest du dich um etwas anderes kümmern sollen.« Egal, wie viel Mühe ich mir gebe, ich höre statt Anerkennung erneut Kritik. Warum soll ich mich überhaupt noch bemühen, wenn es nie gut genug ist?

Die Dinge und Eigenschaften, die er am Anfang unserer Beziehung sagte, dass er sie an mir schätzte, lehnt er jetzt ab und verlangt von mir, sie auszumerzen. Ich habe das Gefühl, nichts mehr richtig machen zu können, und fühle mich für alles verantwortlich. Auch dafür, ihn glücklich zu machen. Wenn er wütend wird, suche ich die Schuld bei mir. Ich gebe klein bei, weil ich in der Kirchengemeinde gelernt habe, mich meinem Mann unterzuordnen. Mir fällt auf, dass er mit mir alleine ein anderer Mensch ist, als wenn andere dabei sind. Häufig macht er kränkende Witze auf meine Kosten. Ich fühle mich unfähig, seine Erwartungen zu erfüllen. All das macht mich traurig, lässt mich an mir selbst zweifeln und verzweifeln. Er ignoriert mich, droht mir, und lässt herabwürdigende Bemerkungen fallen. Wenn ich versuche, über meine Gefühle, Empfindungen und Gedanken zu reden, blockiert er oder lenkt vom Thema ab, sodass ich mich am Ende ganz wertlos fühle.

Irgendwann stelle ich fest, dass ich manchmal Angst vor ihm habe. Er scheint so unberechenbar, so kalt! Ich muss perfekt sein, jemand anders sein, damit ich akzeptiert werde. Dabei war ich davon überzeugt, dass er meine große Liebe ist und ich seine bin. Aber ich scheine nicht mehr gut genug zu sein. Vielleicht war ich es nie? Er behandelt mich manchmal wie eine Puppe, einen Gegenstand, den man benutzen und wieder beiseitelegen kann. Den man so behandeln kann, als hätte er keine Gefühle. Die Ehe scheint ihm seiner Meinung nach Besitzrecht zu verleihen. Wenn ich versuche, ihn darauf hinzuweisen, streitet er alles ab. Er leugnet meine komplette Realität.

Und ich zweifle allmählich selbst an dieser Realität. Vielleicht bilde ich mir das alles wirklich nur ein? Vielleicht werde ich verrückt? Wem kann ich mich mitteilen? Seinen Eltern? Die lieben ihn und würden nur ihn verteidigen. Wer würde mir glauben? Meine Freunde? Sie kennen ihn nur so, wie er sich ihnen zeigt. Sie würden mich sicher nicht ernst nehmen. Meine Eltern? Würden sie mir glauben? Auch sie kennen ihn nur so, wie er sich ihnen präsentiert. Allen präsentiert er sich als Gentleman. Für die Menschen in unserer Kirchengemeinde wäre eine Trennung oder Scheidung eine Sünde, und ich habe nicht mal einen triftigen Grund, oder? Ich meine, er hat mich nie wirklich ernsthaft und sichtbar verletzt. Das heißt, ich kann nichts vorweisen. Alles spielt sich im Großen und Ganzen nur auf der verbalen Ebene ab, und das ist doch kein Grund! Außerdem kann ich meine Erfahrungen ohnehin schwer in Worte fassen, wie soll ich es da anderen erzählen?

Woher kommen meine Empfindungen von Demütigung, Hilflosigkeit, Schwäche, Terror, Angst, Verzweiflung, Ekel, aber auch Mitleid überhaupt? Ich bin viel zu verwirrt und traue mir selbst nicht mehr. Wenn ich mir selbst nicht mehr glaube, wer soll mir dann glauben? Die niederschmetternde Antwort, von der ich überzeugt bin, lautet schlicht und einfach: Keiner.

Ich habe das Gefühl, mich verloren zu haben. Ich werde depressiv, schaffe es aber, nach außen hin immer ein fröhliches, heiles Bild von mir zu zeigen.

Auch auf der Arbeitsstelle in der Bank nimmt der Druck zu, und ich fühle mich nicht nur innerlich wie in viel zu engen Schuhen eingesperrt, in denen die Füße immer mehr anschwellen und versuchen, aus ihrem Käfig auszubrechen – meine Füße schwellen tatsächlich an. Aber ich schiebe es ohne großes Nachdenken auf das lange Stehen und meine sich immer mehr verschlimmernde Autoimmunerkrankung. Meinen Vorgesetzten kann ich nichts recht machen, und ich bemerke, dass ich, wie in meiner Ehe, ständig kritisiert werde. An viel zu vielen Tagen scheint alles, was schiefgehen kann, auch tatsächlich schiefzugehen. Ich verzähle mich, vergesse Dinge beim Gespräch mit Kunden und stehe ständig neben mir. Mein Gehirn fühlt sich an wie ein nasser grauer Wischmopp, ich kann nichts mehr behalten und funktioniere überhaupt nicht mehr richtig. Aber der Gedanke, das auf meine Erkrankung zurückzuführen, kommt mir ausgerechnet hier nicht. Stattdessen zweifle ich meine Kompetenz an und bin von Tag zu Tag mehr von meinem absoluten Unvermögen in jeder Hinsicht überzeugt.

Trotzdem versuche ich durchzuhalten, weil sonst die ganze Ausbildungszeit umsonst wäre. Auf die Abschlussprüfung kann ich mich kaum vorbereiten, weil es ständig etwas in der Kirchengemeinde zu tun gibt, weil ich eine gute Hausfrau zu sein versuche und mich nebenbei bemühe, Zeit mit der Familie meines Mannes zu verbringen, die viel Wert darauf legt, sich häufig zu treffen. Mit dem Druck und den Erwartungen von allen Seiten, überall dabei zu sein und alles zu schaffen, fühle ich mich wie kurz vor einer Implosion. Bin ich im falschen Leben gelandet?

Wo drückt der Schuh? Überall.

Mir bleibt nur ein Weg: Zuerst muss mir bewusst werden, wie stark die falschen Schuhe schmerzen. Erst dann kann ich sie ausziehen und ein für alle Mal loswerden. Vielleicht werde ich eines Tages auch neue Schuhe finden – Schuhe die mir passen und die zu mir passen.

Kapitel 2

Der Entschluss: Zeig her deine Füße

Mit einem glücklichen Seufzer kritzele ich meine Unterschrift unter den Text, falte den Brief und stecke ihn, ohne auch nur einen Moment zu zögern, in den Umschlag. Diesen lege ich auf den Ausgangsstapel im Postfach der Bank und überprüfe noch einmal, ob Adresse und Direktion stimmen. Gleich wird der Postbote kommen und sie abholen. Dann wird meine Kündigung endgültig. Ich lasse mich auf den Stuhl neben der Kasse fallen und kümmere mich um paar kleinere Angelegenheiten, solange gerade keine Kunden hereinschauen. Meine Füße fühlen sich an, als wollten sie schon wieder anschwellen. Ich ziehe meine Schuhe aus. Von der anderen Seite der Bank ruft jemand: »Judith, ich brauche deine Hilfe!«, und ich eile ohne einen Gedanken an meine Schuhe hinüber zum Büro der Kollegin. Sie wirft einen missbilligenden Blick auf meine nackten Füße. Erst will ich mich entschuldigen und sagen, dass ich meine Schuhe gleich wieder anziehe – aber warum eigentlich? Stattdessen lächle ich und erkläre, dass ich barfuß bin, damit meine Füße nicht zu Elefantenpfoten werden. Das scheint sie vorerst ruhigzustellen.

Das Ende meiner Probleme in der Bank ist abzusehen. Dafür scheinen sich die Schwierigkeiten in meiner Ehe zuzuspitzen. Als der Kontrollwahn meines Mannes immer stärker wird, sehe ich einen Ausweg. Weder elegant noch klug ist dieser Weg, aber ich weiß mir anders nicht mehr zu helfen. Also folge ich zum ersten Mal seit Langem wieder einem inneren Gefühl. Ich habe einige Wochen zuvor einen Mann kennengelernt, mit dem ich viel Zeit verbringe. Mit ihm kann ich über alles reden, er hört mir zu, hat keine Vorurteile und kennt meinen Partner und dessen Selbstdarstellung nach außen nicht. Stattdessen sieht er ihn so, wie ich ihn wahrnehme, und kennt ihn nur aus meinen Erzählungen.

Und er sagt ganz klar: »Du musst so schnell wie möglich von deinem Ehemann weg.« Und das tue ich dann auch, mit seiner Hilfe: Ich gehe fremd. Es passiert einfach, und ich lasse es zu. Als ich den richtigen Zeitpunkt sehe, lasse ich mein Handy mit verschiedenen verräterischen Nachrichten in der Wohnung liegen. Ein Geheimnis wie dieses lange zu bewahren, ist ohnehin nichts für mich. Mein Mann geht an diesem Tag später als ich zur Arbeit. Ich vermute, dass er mein Handy nehmen und durchscannen wird. Also nehme ich auch das Passwort heraus, damit er einen leichteren Zugang hat. Dann fahre ich ganz normal zur Arbeit.

Nach Feierabend mache ich mich sicherheitshalber erst auf den Weg, nachdem ich mir sicher sein kann, dass er bereits aus dem Haus ist. Es tut mir weh, ihn so zu verletzen, denn egal, was er mir angetan hat – ich finde, er hat es nicht verdient. Aber in meiner Verzweiflung habe ich nach einem vorbeischwimmenden Strohhalm gegriffen. Wahrscheinlich wird jetzt niemand mehr Kontakt mit mir haben wollen, nicht einmal meine Familie. Bei dem Gedanken treten mir Tränen in die Augen, und schnell wische ich sie weg. Es ist ein hoher Preis, aber ich bin es mir wert. Trotzdem bin ich deprimiert und mache mir große Vorwürfe.

Was wird Gott von mir denken, wenn ich meinen Mann verlasse? Ich lache bitter auf. So ein Gott kann mir gestohlen bleiben! Wo war er denn die ganze Zeit, als ich in diesem Schlamassel steckte? Da hat er sich nicht um mich gekümmert. Also brauche ich ihn jetzt auch nicht. Ich parke und gehe in die Wohnung, die zum Glück leer ist. Dort packe ich einige Sachen ein, die mir wichtig sind und die ich brauchen werde. Als ich fertig bin, räume ich alles auf, um die Wohnung so sauber wie möglich zu hinterlassen.

Das Telefon klingelt. Mir ist vollkommen klar, was jetzt kommt. Ich atme tief durch und hebe ab. Mein aufgebrachter Ehemann ist am anderen Ende der Leitung. Er kann einen anbrüllen, ohne die Stimme zu erheben, und das erlebe ich jetzt wieder. Er beschimpft mich nicht, droht nicht und demütigt mich auch nicht. Das überrascht mich. Sicher ist er noch zu überrumpelt. Die einzige Frage, die ich immer wieder höre, ist: »Wie konntest du mir das antun? Wie konntest du MIR das antun?« Ich will es ihm erklären, aber er hört mir nicht zu. Ich will ihm alles sagen, aber bringt das etwas? Trotzdem versuche ich es, aber ich weiß nicht, wie viel bei ihm ankommt. Dann sage ich ihm, dass ich weggehen werde. Endlich habe ich einen Grund, und außerdem ist es ja ohnehin wie immer: Ich bin schuld. Damit sind wir auf vertrautem Terrain. Dazu erlöse ich ihn von seiner hinterhältigen und gemeinen Ehefrau. Den letzten Satz sage ich mit einem leisen Sarkasmus, den er sicher überhört. Nach einer langen Pause murmele ich: »Es tut mir wirklich leid« und lege auf. Es tut mir tatsächlich leid, dass ich keinen anderen, direkteren Weg genommen habe. Trotzdem empfinde ich keine Reue. Nur wieder Mitleid mit jemanden, der mein Leben zerstört hat. Ich hätte etwas dagegen tun können. Aber was? Die Erziehung und Programmierung sind mächtige Werkzeuge, und sie lassen sich nicht einfach so abschütteln.

Als ich mich umdrehe, klingelt das Telefon erneut. Noch bevor ich die Nummer auf dem Display sehe, ahne ich, dass es meine Mutter ist. Zögernd nehme ich das Gespräch an. Wie ich befürchtet hatte, ist sie bereits informiert und ganz aufgebracht. Sie redet auf mich ein, will wissen, warum ich das getan habe. Fremdgehen. Ich sei doch kein Flittchen! Und ich wäre doch so loyal! Sie würde mich immerhin kennen, oder? Aber sie wartet keine Antwort ab, redet weiter, ein Schwall aus Worten ergießt sich über mich. Auch meiner Mutter kann ich nichts erklären. Selbst wenn, sie würde mich doch nicht verstehen. Ich verabschiede mich, sage ihr ebenfalls, dass es mir leidtut und dass es der einzige Ausweg war, den ich gesehen habe. »Ich liebe dich«, bringe ich hervor. »Und ich werde fortgehen.« Dann beende ich das Gespräch. Fest beiße ich die Zähne zusammen, nehme meine wenigen wichtigen Habseligkeiten und verschwinde. Erst im Auto fällt mir auf, dass ich den Schlüssel der Wohnung mitgenommen habe. Egal. Es gibt kein Zurück.

Drei Tage vergehen, die ich in Hotels, bei einer Freundin und mit meinem Lover verbringe. Dann rufe ich meine Eltern an. Ich weiß, dass sie vor Sorge außer sich sind, und fühle, dass ich ihnen zumindest ein Lebenszeichen schulde. Sie sind total aufgelöst, wollen, dass ich zu ihnen komme, wenigstens kurz. Sie versprechen, mich nicht zu verurteilen und mich jederzeit wieder gehen zu lassen. Sie wollen lediglich, dass ich ihnen meine Perspektive erzähle. Egal, was passiert ist, sie lieben mich. Das berührt mich, und nach einigem Zögern mache ich mich auf den Weg. In meinem Elternhaus angekommen, bricht alles aus mir heraus. Beide hören mir geduldig zu und stellen zwischendurch Fragen. Ich sehe, wie die Augen meines Vaters sich zu schmalen Schlitzen verengen und seine Hände sich zu Fäusten ballen, sich dann aber wieder entspannen, als er einen tiefen Atemzug nimmt.

Meine Eltern umarmen mich und sagen mir, dass sie mich verstehen. Das kommt völlig unerwartet für mich; ich schaue sie verblüfft an. Meine Mutter hat Tränen in den Augen. »Wir wussten doch nicht, wie es bei euch lief, Kind«, schnieft sie. »Du hättest schon viel früher zu uns kommen sollen.«

Ich schüttele den Kopf. »Hättet ihr mir geglaubt?«

Die beiden zögern einen Moment und sehen sich an. Dann sagt mein Vater vorsichtig: »Nun wir hätten dir zugehört und uns eine Meinung gebildet. Und danach hätten wir deinen Mann gefragt, was er dazu sagt.«

Ich gebe einen Laut von mir, der irgendwo zwischen einem Schnauben und einem Lachen liegt. »Genau das ist es. Ihr kennt ihn eben auch nur so, wie er sich allen gegenüber verhalten hat!«, rufe ich. Ärger und Verzweiflung steigen in mir hoch.

Meine Mutter seufzt. »Nein, Schatz. Schau, dein Vater und ich haben uns schon seit einer ganzen Weile Sorgen gemacht. Ich habe euch beide beobachtet, und jetzt, wo du uns das alles erzählt hast, fallen auch mir einige Dinge wieder ein. Dinge, denen ich vorher weniger Beachtung geschenkt habe. Äh … er …« Sie stockt, und ich stelle mit einiger Verwunderung fest, dass sie den Namen nicht mehr aussprechen mag. Genau wie ich. »Mir fallen jetzt einige Begebenheiten ein, in denen er Freude daran zu haben schien, dir nicht nur mit Worten, sondern auch körperlich Schmerzen zuzufügen«, fährt sie langsam fort, als würde sie die Ereignisse noch einmal erleben. Dann schüttelt sie den Kopf und schluckt schwer.

Ich sehe meinen Vater an. Er nickt. »Das stimmt«, bestätigt er. Seine Augen trüben sich. »Wir beide haben uns Sorgen gemacht. Aber wir wussten nicht, unter wie vielen Dingen du zu leiden hattest. Es tut mir körperlich weh, wenn du davon erzählst, mein Mädchen.« Auch er schluckt jetzt schwer. »Es tut uns leid, dass wir nicht wachsamer waren«, bringt er hervor. Meine Mutter nickt, Tränen rollen über ihre Wangen. Beide umarmen mich fest.

Einige Wochen vergehen, in denen ich zwar aus der Kirchengemeinde ausgeschlossen werde – was mir nur recht ist –, trotzdem aber noch einige Gespräche mit den Ältesten und dem Leitenden führe. Nicht aus eigenem Antrieb, möchte ich ergänzen. Sie wollen mich dazu überreden, zu meinem Mann zurückzukehren, aber ich bin fest entschlossen, das zu vermeiden. Auch meine Eltern stehen geschlossen hinter mir und verteidigen mich, wo sie nur können. Von der Reaktion meiner Eltern ermutigt, erzähle ich auch meinen engsten Freunden von der ganzen Sache. Sie reagieren mit Entsetzen und Empörung. Meine Freundin Brigitte begleitet mich zu einem Gespräch mit dem Gemeindeältesten. Dort muss ich erneut über die ganze Sache sprechen, und zwar allein vor Männern, denn Frauen sind in solchen Positionen nicht zugelassen. Brigitte wird rausgeschickt, weil sie noch nicht verheiratet ist. Also rede ich über intime Erfahrungen und alles, was passiert ist. Einige der Männer räuspern sich nervös. Die Sache ist ihnen offenbar sehr peinlich.

Als ich nach draußen komme, umarmen mich meine Eltern. Ihnen ist es wichtig, dass die ganze Wahrheit ans Licht kommt, und allein um ihretwillen habe ich mich zu diesem Gespräch überreden lassen. Denn bisher sehen mich die Menschen in meinem näheren Umfeld als die Hure, die ihrem Mann weggelaufen ist. Als wir uns wieder voneinander lösen, teile ich ihnen meine Entscheidung mit. »Ich werde mich scheiden lassen«, sage ich fest. Die beiden nicken.

Eine große Idee: Auf freiem Fuß

Einige Monate sind vergangen. Auf der einen Seite fühle ich mich deutlich besser, aber ich verharre mit einem Fuß immer noch auf altem Grund. Das zerreißt mich innerlich, ich kann nicht mehr klar denken. Was ich jetzt brauche, ist ein wenig frische Luft. Ich ziehe meine Jacke und meine Sportschuhe an und laufe über die Wiese hinunter zum Wald.

Plötzlich steigt Ärger in mir hoch. Warum habe ich bloß Geld für Dinge verschwendet, die letztlich doch nicht zu meiner Heilung beigetragen haben? Ich fühle mich wie eine Versagerin. Waren meine Entscheidungen doch alle falsch? Meine Blutwerte sind so schlecht wie nie zuvor. Hätte ich die Schilddrüse besser herausoperieren lassen sollen? Nimmt diese endlose Krankheitsgeschichte denn nie ein Ende?

Ein paar trockene Äste knacken unter meinen Sohlen. Ich mag das Geräusch. Ein bisschen erinnert es mich an das leise Knistern von Flammen. Feuer ist etwas Schönes, es wärmt, es frisst alles, was man ihm hinwirft, und löst es in Rauch auf. Ich müsste nur noch herausfinden, wie ich meinen Ärger verbrennen könnte. Als ich aus dem Wald auf die Lichtung trete, wirft die untergehende Sonne ihre ganze Farbpalette auf den Himmel. Langsam ziehe ich meine Schuhe aus. Ich weiß selbst nicht, weshalb ich das tue. Ich möchte einfach da sein, alles bis ins kleinste Detail fühlen. Das orangefarbene Schimmern im grünen Gras ertasten und zusehen, wie es unter meiner nackten Fußsohle verschwindet. Das Gras kitzelt an meinen Fußsohlen, als ich die ersten barfüßigen Schritte mache. Zwar ist es ein wenig kühl, aber die Kälte wirkt belebend. Eine Ameise krabbelt mein Bein hinauf. Zuerst will ich sie wegschnippen, halte dann aber inne. Sie dreht um und eilt wieder hinunter, über meinen linken Zeh zurück ins Gras. Es kribbelt. Ich fühle mich wie ein Kind, das die ersten Schritte macht. Und plötzlich ist die Idee da.

Ich stelle mir vor, wie ich barfuß durch heißen Wüstensand laufe, über steinige Felsen klettere und dann am Strand entlangrenne. Vielleicht versuche ich mich sogar mal im Surfen. Das sieht so elegant aus, leicht und unbeschwert! Ich möchte weg von allem, was mich einengt und mir die Luft zum Atmen nimmt. Ich möchte raus in die Welt. Das Leben geht mir gerade gehörig auf den Senkel. Was, wenn ich also die Schuhe mitsamt den Senkeln ausziehe? Was, wenn ich alle Probleme einmal hinter mir lasse und im wahrsten Sinne des Wortes meinen Problemen davonlaufe? Werde ich auf meinem Weg finden, was ich suche? Einen Sinn, eine Berufung, die mich wirklich erfüllt?

Ich werde das Gefühl nicht los, dass etwas Abstand mir guttun wird. Und wer weiß, vielleicht lösen sich meine Probleme dann einfach in Luft auf? Mit einem Lächeln atme ich die frische Abendluft tief ein und spüre, wie mich eine lange nicht mehr empfundene Leichtigkeit überfällt. Meine Füße tanzen einen neuen Rhythmus, schreiben ihn in das Gras.

Der Plan klingt gut, hat aber einen Haken. Bisher weiß ich nicht, wie viel Geld ich für eine Weltreise brauchen würde. Sicher deutlich mehr, als ich gerade besitze. Seit Monaten drehe ich mich im Kreis. Bisher habe ich meine Entscheidungen immer auf Bodenständigkeit und Sicherheit gegründet und habe mich dabei viel von außen beeinflussen lassen. Nach dem Abitur wollte ich eigentlich Ernährungswissenschaften studieren, habe mich aber stattdessen davon überzeugen lassen, dass ein fundierter Beruf besser für mich geeignet sei. Deshalb wählte ich die Bankausbildung und habe diese Entscheidung bereits kurze Zeit später bereut. Auch als mein Herz, mein Bauch und mein Kopf mir immer wieder signalisiert haben, dass mein Mann nicht der Richtige für mich ist, habe ich alle diese Warnungen ignoriert und stattdessen auf die Meinung anderer, auf die Maßstäbe der Kirchengemeinde und auf Werte wie Sicherheit und Bodenständigkeit geachtet. Doch wohin hat mich diese Scheinsicherheit gebracht? Sie hat mich und mein Leben ins Chaos gestürzt. Vielleicht gibt es gar keine Sicherheit, vielleicht ist sie nur ein Trugbild, eine Fata Morgana.

Ich habe nicht auf meine innere Stimme gehört, sondern mir von anderen eine scheinbare Sicherheit einreden lassen. Doch woher wollen andere wissen, was mir guttut, wonach ich mich sehne und worauf ich mein Leben gründen möchte? Sie stecken nicht in meiner Haut, kennen meine Erfahrungen und meine Perspektive nicht und sind noch keine einzige Meile in meinen Schuhen gelaufen! Was wissen sie von meinen Wunden, meinen Blasen und meinen Schmerzen? Wie soll jemand wissen, was am besten für mich ist, wenn er nicht aus meinen Augen in die Welt sieht, nicht mit meinen Ohren hört und nicht mit meiner Seele begreift? Wie konnte ich nur so dumm sein zu glauben, dass jemand meinen Weg besser für mich bestimmen kann, als ich es selbst tun kann? Wer schaut am Ende meines Lebens auf verpasste Gelegenheiten, wundervolle, aber übersehene Umwege und versäumte Begegnungen zurück, wenn nicht ich?

Nach meiner Trennung und Kündigung hat mein Arzt mich eine ganze Weile krank geschrieben und mir geraten, mich zuerst einmal arbeitslos zu melden, um Atem holen zu können. In dieser Zeit wusste ich nicht, wohin mit mir, und ich habe mich unendlich nutzlos gefühlt. Also bin ich ins Arbeitsamt marschiert, weil ich diesen Zustand nicht aushalten konnte und habe nach einem Job gefragt, für den ich meinen Kopf nicht brauche. Wenig später saß ich als Leiharbeiterin am Fließband und steckte Elektronik zusammen. Das Gefühl der Nutzlosigkeit verstärkte sich dadurch aber nur, und ich fühlte mich dumm. Außerdem wusste ich nicht, was ich mit den Gedanken machen sollte, die mich Tag für Tag überfluteten. Der zweite Job im Front Office Management gefiel mir bereits deutlich besser, nicht zuletzt, weil der ständige Kontakt mit Menschen mich beschäftigt hielt und mir kaum Zeit zum Nachdenken ließ. Trotzdem war ich nicht an dem Ort, an dem ich sein wollte. Wieder einmal zog ich weiter und versuchte es mit dem Studium der Ernährungswissenschaften, das ich eigentlich nach dem Abitur hatte machen wollen. Ohne groß darüber nachzudenken, ob der Wunsch noch aktuell war, bewarb ich mich, bekam eine Zusage an der Universität in Lübeck und freute mich darauf, an der Ostsee zu wohnen und lange Spaziergänge barfuß am Meer zu machen.

So packte ich meine Siebensachen in mein kleines rotes Auto und fuhr voller Vorfreude in den Norden. Allerdings stellte ich schon bald fest, dass das Studium ganz anders war, als ich es mir vorgestellt hatte. Zum einen langweilten mich die Vorlesungen in Mathematik und den naturwissenschaftlichen Fächern, weil sie nur wiederholten, was ich schon in der Schule gelernt hatte. Zum anderen schienen die Themen, die mich wirklich interessierten, in viel zu weiter Ferne. Statt in den Vorlesungen zu sitzen, unternahm ich lange Streifzüge barfuß am Meer entlang und sprang zwischendurch ins Wasser. Die Kälte härtete mich ab, und ich forderte mich, indem ich jeden Tag mehr Zeit im Wasser verbrachte. Dafür fühlte ich mich auf intellektueller Ebene stark unterfordert. Mit jeder verstreichenden Woche wurde mir mehr bewusst, dass ich Zeit verschwendete, ohne voranzukommen. Daher brach ich das Studium nach kurzem Überlegen und Beratschlagen mit den wichtigsten Menschen in meinem Leben ab.

Mit dem linken Fuß streiche ich das Gras vor mir zur Seite und fahre nachdenklich mit den Zehen hindurch. Klar ist, dass meine bisherigen Entscheidungen mir viel Schmerz und Probleme eingebracht haben. Klar ist auch, dass ich auf mein Umfeld statt auf mein Bauchgefühl gehört habe und dass meine Werte namens Sicherheit und Bodenständigkeit mich nicht dorthin befördert haben, wo ich sein möchte. In Bezug auf das Studium habe ich dagegen nicht hingehört, was ich zu diesem Zeitpunkt wollte, sondern bin einfach auf ein vertrautes Ziel zumarschiert.

Die entscheidende Frage ist: Wie und auf welcher Basis möchte ich meine Entscheidungen ab jetzt treffen? Welche Werte sollen mich dabei leiten? Bodenständigkeit und Sicherheit jedenfalls nicht mehr, denn ich muss zuerst herausfinden, was sie für mich bedeuten. Mir scheint es wichtiger, im Fluss zu sein, auch mal den Boden unter den Füßen zu verlieren und im Strudel der Begeisterung zu schwimmen. Nicht auf der Stelle zu verharren, sondern in Bewegung zu sein und wie das Wasser um Hindernisse herumzufließen, statt zu versuchen, sie aus dem Weg zu kämpfen. Dinge und Sachverhalte können sich jederzeit ändern, und dann ist nicht nur Flexibilität hilfreich, sondern auch Achtsamkeit. Wenn ich achtsam bin, fühle ich gleich, was mein Bauchgefühl mir sagt, und erspare mir dadurch eine Menge Probleme und Ärger. Dazu halte ich Offenheit für essenziell, denn Neues kommt sowieso auf mich zu, und durch Offenheit freunde ich mich leichter damit an. Wesentlich für mich ist jedoch, dass ich nicht mehr auf die Meinung meines Umfelds hören möchte, wenn mein Herz mir etwas anderes sagt. Kein fremdes Urteil soll mehr der Maßstab meiner Entscheidungen sein, sondern ich werde Schritt für Schritt meinen eigenen Maßstab entwickeln, mit dessen Hilfe ich Entscheidungen treffen kann. Das ist eine gute Liste, anhand derer ich ab jetzt entscheiden kann.

Der Gedanke an eine Weltreise lässt meine Augen leuchten. Jetzt weiß ich, was ich wirklich will, und muss »nur noch« das Wie lösen. Die Aufregung füllt mich ganz aus, und ich spüre endlich wieder das Feuer der Begeisterung, nach dem ich so lange gesucht habe.

Mittlerweile frieren meine Füße, ich ziehe ihnen die Schuhe über. Zu Hause angekommen, nehme ich mir voller Elan ein Blatt Papier und einen Stift und beginne darauf herumzukritzeln. Bald habe ich meine Gedanken aufgeschrieben. Fein säuberlich steht dort, worauf meine Entscheidungen bisher gefußt haben und worauf ich sie von jetzt an gründen möchte. Dann blicke ich auf und drehe den Stift zwischen Daumen und Zeigefinger. Ich fühle mich erfrischt und viel klarer im Kopf. Kann das von der kurzen Barfußexpedition kommen? Auf jeden Fall nehme ich mir fest vor, von jetzt an so oft wie möglich barfuß durch die Natur zu streifen – schaden kann es sicher nicht.

Aber was für ein Job bringt mich nicht nur der Weltreise näher, sondern auch meiner Heilung? Die Ernährungswissenschaft war in Bezug auf meine Gesundheit eine gute Entscheidung, nur, wie kann ich mehr über gesunde Ernährung lernen, ohne mich durch ein Präsenzstudium zu quälen, das meine Abiturthemen wiederkäut? Während ich an die Wand starre, beginne ich mit beiden Füßen einen langsamen Rhythmus zu klopfen und stelle mit einem Lächeln fest, dass Laminat eine recht gute Akustik hat. Wie weit der Schall meine kleine musikalische Darbietung wohl trägt? Peng! Ein Neuron des Ideengenerators feuert, und damit wird eine Idee durch das Netzwerk meines Gehirns bis zum Zentrum des logischen Denkens im Frontallappen getragen. Weit. Entfernung. Eine Alternative zum Präsenzstudium ist ein Fernstudium. Diesen Gedanken setze ich gleich auf das Papier als ersten Lösungsansatz. Ich greife bereits nach dem Laptop neben mir und klappe ihn auf, um zur Recherche überzugehen, als ich innehalte. »Was sagen Herz und Bauchgefühl dazu?«, steht in Großbuchstaben und mehrmals unterstrichen rechts unten. Ups, das hätte ich beinahe schon wieder vergessen. Nach einer tiefen Innenschau kehre ich mit einem eindeutigen Ja von beiden zurück und widme mich erst einmal der anderen Hälfte der Frage. Wie komme ich der Weltreise näher? Wie viel Erspartes brauche ich dafür? Und wie komme ich am schnellsten dahin, in einem Beruf, der mir Freude macht? Wie kann ich ausreichend Geld beiseitelegen und trotzdem meine monatlichen Kosten und die Rechnungen meiner Vergangenheit bezahlen?

Ich stütze den Kopf auf beide Hände. Das Leben kann eine böse Spaßbremse sein, wenn man aus den Träumen zur Realität zurückwankt und plötzlich so viele Faktoren beachten und einkalkulieren muss. Und so viele Fragen! Ich werde sie alle beantworten, wann und wie es mir möglich ist. Einen Schritt nach dem anderen, und bevor ich mich versehe, werde ich meinen Ziel bereits näher gekommen sein.

Einige Minuten und Internetseiten später weiß ich mit Sicherheit, dass meine derzeitigen Ersparnisse nicht ausreichen. Kein geeigneter Job scheint in Aussicht zu stehen, aber einen weiteren Schritt kann ich bereits machen. Klack, klack, klack singen die Tasten, als ich mit fliegenden Fingern einen Begriff in die Suchmaschine hämmere: Fernstudium Ernährungswissenschaften. Auf einer Seite finde ich einen Lehrgang zur Ernährungsberaterin. Warum nicht? Herz und Bauch nicken, und ich melde mich an. Alleine lerne ich ohnehin am besten, und obwohl erneut viele Wiederholungen auftauchen, kann ich, anders als im Präsenzstudium, gleich zum Test übergehen und bei erfolgreichem Bestehen mit der nächsten Lektion starten. So verschwende ich keine Zeit und kann den Lehrgang im besten Fall schneller abschließen. Zufrieden klappe ich den Laptop zu und lehne mich zurück. Ein Job. Ich brauche einen Job, der mir zudem auch den Fernlehrgang finanziert. Ein Gedanke hebt zaghaft den Finger. »Wie wäre es mit Network Marketing? Ich wollte nur einbringen, dass du schon seit Monaten zu einer dieser Veranstaltungen eingeladen wurdest und die Produkte gerne benutzt«, sagt er leise. Ich weiß nicht so recht, aber was habe ich schon zu verlieren? Nur den Boden unter meinen Füßen. Und Schwimmen kann ich.

Tatsächlich starte ich nach der Veranstaltung damit, andere Menschen von den Produkten zu begeistern und mir ein wachsendes monatliches Einkommen zu generieren. Mir geht das alles aber viel zu langsam, und deshalb mache ich neben dem Network Marketing ab und zu einige Gelegenheitsjobs, zum Beispiel als Aushilfe auf Messen. Auf einer Veranstaltung komme ich mit einem Model in Kontakt, und sie schlägt mir vor, es ebenfalls damit zu probieren. Vor allem Fotografen würden immer neue Modelle zum Üben suchen. Sie nennt mir eine Website, auf der ich mich anmelden kann. In den darauffolgenden Tagen erhalte ich mehr Anfragen als erwartet und stürze mich begeistert in ein neues Abenteuer.

Dabei komme ich nicht nur meinem finanziellen Ziel näher, indem ich alles beiseitelege, was ich in diesem Monat nicht brauche, sondern ich stelle auch fest, wie unsicher ich in Bezug auf meinen Körper bin. Nagende Selbstzweifel haben mich einen Großteil meines Lebens begleitet und sich während der Ehe potenziert. Diesen Berg von Zweifeln trage ich immer noch auf meinen Schultern; ich kann mich nicht schön finden. Stattdessen fühle ich mich beschmutzt und dreckig, innen wie außen. Es ist, als klebten die Spuren meiner schlechten Erfahrungen noch an mir wie Teer. Und es braucht etwas anderes als Wasser, um diesen Teer aufweichen zu lassen. Das Modeln hilft mir dabei, mich selbst anzunehmen. Ich sehe mich in verschiedenen Posen, aus verschiedenen Blickwinkeln, in verschiedenen Momenten. Ich sehe mit meinen eigenen Augen und nicht mit den Augen anderer, nicht mit den Augen der Medien, meines Exmannes oder anderer Kritiker. Ich höre auf, mich mit anderen zu vergleichen. Mit jedem Foto beginne ich, mich anders wahrzunehmen, mich etwas mehr anzunehmen und mich einen Hauch schöner zu finden. Aus Angst, selbstverliebt zu erscheinen, habe ich mich bisher immer weit heruntergestuft und niemals das Wort »schön« im Zusammenhang mit mir in den Mund genommen. Dadurch bin ich ins andere Extrem geschlittert, habe mich hässlich, unscheinbar und sogar wertlos gefühlt, weil bei Frauen am Ende doch ohnehin nur alles auf Schönheit hinausläuft. Und wenn sie nicht schön sind, müssen sie wenigstens perfekt sein. Das war ich aber auch nicht, denn ich machte ja alles falsch. Aber damit habe ich äußere Maßstäbe angewendet, habe meinen Wert und meine Schönheit über das Außen definiert. Was macht Schönheit aus? Diese Frage würde sicher jeder anders beantworten. Wonach soll ich mich richten? Warum nicht nach mir selbst? Der Weg ist mühsam und langwierig, aber dadurch, dass mir diese Arbeit Freude macht, setze ich weiter einen Fuß vor den anderen.

Zusätzlich habe ein großes Visionboard gestaltet und Bilder von Orten, an die ich gerne reisen möchte, und Dingen, die ich gerne erleben möchte, darauf geklebt. Das Board hänge ich an die Wand. Manchmal ruht mein Blick darauf, wenn ich vorbeigehe. Dann halte ich einen Moment inne, schließe meine Augen und stelle mir die Orte vor, an denen ich gerne sein möchte. Ganz klar sehe ich die Landschaften vor mir, fühle ich den weichen Sand der polynesischen Inseln, stehe auf der erstarrten Lava Hawaiis, spaziere barfuß über die Golden Gate Bridge in San Francisco und fühle das Salz des Death Valley unter meinen Füßen. Wenn ich die Augen wieder öffne, lasse ich die Bilder los und gehe motiviert durch den Tag.

Auf einer der Network-Marketing-Veranstaltungen sitze ich in der ersten Reihe, während der Mann auf der Bühne in seiner ruhigen, aber bestimmten Art über seine Erfahrungen, Misserfolge und Erfolge spricht. Gleich nach dem Hinsetzen bin ich aus meinen Pumps geschlüpft und spüre, wie meine Füße die Freiheit genießen. Langsam dehne ich meine Zehen zuerst in die eine und dann in die andere Richtung, während ich aufmerksam zuhöre. Meine Augen habe ich fest auf den Redner gerichtet. Gegen Ende seines Vortrags fragt er, wer Lust auf eine Weltreise hat. Meine Hand schießt nach oben, bevor ich nachdenken kann. Als ich mich umschaue, sind ausnahmslos alle Hände oben. Der Sprecher blickt zu mir herüber, geht aber durch den Mittelgang zum hinteren Teil des Raumes. Mit einem inneren Seufzen lasse ich meine Hand zur Hälfte sinken. Nach der auflodernden Begeisterung machen sich Zweifel breit. Wann habe ich denn je etwas gewonnen, geschweige denn geschenkt bekommen? Wahrscheinlich ist das ohnehin nur ein Scherz oder ein Test. Mein Blick klebt nach wie vor an dem Redner, und ich beobachte, wie die Hände der Menschen in den Reihen, die er passiert, ebenfalls sinken. Aber mit einem verschmitzten Lächeln und funkelnden Augen kommt er gemessenen Schrittes wieder nach vorne. Blitzschnell saust meine Hand wieder nach oben. Er schaut durch die Reihen und beobachtet die Menschen. Bald erreicht er die erste Reihe und dreht sich zur linken Seite. Genau dahin, wo ich sitze. Dann schaut er mich an und kommt immer weiter auf mich zu, bis er direkt vor mir stehen bleibt. Etwas unsicher lächele ich ihn an. »Sind sechs Stopps in Ordnung?«, fragt er. Ich nicke und kriege meinen Mund nicht auf. Aufgeregt wippe ich mit meinen nackten Zehen. »Ich schenke dir einen Flug um die Welt. Die Zwischenstopps darfst du dir aussuchen. Komm nach der Veranstaltung auf mich zu, und wir besprechen alles Weitere«, erklärt er mir. Wieder nicke ich und kriege gerade ein »Danke« heraus. Nur das Leuchten in meinen Augen sagt das Ungesagte. Ich kann noch nicht fassen, was gerade passiert ist. Meine Sitznachbarn klopfen mir auf die Schultern, und nach der Veranstaltung kommen einige auf mich zu, um mich zu beglückwünschen, während ich auf den hinteren Teil des Raumes zusteuere, wo der Redner sich mit einem Paar unterhält.

Einige Stunden später befinde ich mich auf dem Weg zu meinem Auto. Wenn ich so weit bin, soll ich auf ihn zukommen, hat er gesagt. Mein breites Lächeln macht mit Sicherheit der Grinsekatze aus Alice im Wunderland Konkurrenz. Ich strahle von Kopf bis Fuß. »Danke!«, rufe ich meinen guten Geistern zu und tanze zur Musik in meinem Kopf. Vorbeigehende Passanten schauen mich herablassend an, aber was wissen die schon von meinem Glück. Gerade kann nichts meine Freude trüben. Ich werde weiterhin alles von meinen Einnahmen beiseitelegen, was ich nicht brauche, damit ich genug Geld für die Reise sparen kann, denn über die Flüge hinaus, die mir geschenkt wurden, gibt es natürlich weitere Kosten. Vielleicht entscheide ich auch, dass ich die Route ändern möchte, und brauche dafür zusätzliche finanzielle Mittel. Die Zeit kann ich gleichzeitig zum Planen nutzen, um zu sehen, wo ich meine Stopps am liebsten setzen möchte. Und natürlich, um meine Füße auf die Herausforderungen vorzubereiten.

Einige Monate später sehe ich auf einer Networking-Veranstaltung einen jungen Mann, der schick gekleidet im Anzug, aber barfüßig einige Reihen vor mir sitzt. In der Pause steuere ich auf ihn zu und spreche ihn auf seine bloßen Füße an. Er erklärt mir, dass er fast immer und überall barfuß unterwegs ist. Das finde ich großartig, und ich bewundere seinen Mut, hier in diesem seriösen Rahmen ohne Schuhe aufzutauchen. »Frieren deine Füße zu dieser kühlen Jahreszeit nicht?«, frage ich.

»Nein«, lächelt er. »Die sind das gewöhnt.«

»Das möchte ich auch versuchen«, erwidere ich und schlüpfe gleich aus meinen Schuhen. »Tada«, grinse ich. »Jetzt sind wir schon zu zweit. Meine Füße haben ohnehin bereits wehgetan in diesen unbequemen Schuhen. Daher habe ich schon vorher mit dem Gedanken gespielt, sie auszuziehen. Du hast mich inspiriert.« Er muss lachen. Als ich hinunter zu meinen nackten Füßen schaue, frage ich mich, ob Barfußlaufen eines Tages zu einem Trend werden kann. Bei den vielen Vorteilen sollte doch keiner lange überlegen und gleich seine Schuhe ausziehen. In meinem Kopf liste ich die Vorteile auf, an die ich mich erinnere: Stärkung von Muskeln, Bändern und Sehnen, aber vor allem Stärkung der vielen kleinen Muskeln, die für die Balance zuständig sind. Entzündungen und damit Schmerzen werden verringert. Das Immunsystem im Allgemeinen wird gestärkt, und man hat mehr Energie. Besserer Schlaf, weniger Stress, weil Barfußlaufen das Nervensystem reguliert. Schützt den Körper von schädlichen elektromagnetischen Strahlungsfeldern. Das ist doch bereits eine ganze Menge. Ach, und das Risiko für Herzerkrankungen sinkt, weil Blutzellen nicht mehr zusammenkleben und das Blut auf natürliche Weise verdünnt wird. Wie viele Herzkranke gibt es, denen das Barfußlaufen vielleicht Besserung und Linderung schenken könnte?

Wenigstens für einen Teil des Tages sollten die Füße Freiheit haben und vor allem in der Natur die Gelegenheit bekommen, sich »umzufühlen«, ihre Welt zu erkunden und sich mit der Erde zu verbinden. Wenn mehr Menschen dazu übergehen würden, dann würde es irgendwann das neue »Normal« werden, sodass irritierte Blicke und erschrockene Gesichter der Vergangenheit angehören. Werde ich mich je an die negativen Reaktionen der anderen gewöhnen? Schon als Teenager haben mich Menschen vor allem in der Stadt oft merkwürdig angeschaut, wenn ich schuhlos daherkam. Aber auch in der Natur, auf Wanderwegen oder Wiesen ernte ich entsetzte Blicke. Der Grund für die Blicke in der Stadt erschließt sich mir noch, aber in der Natur? Menschen sind seit jeher barfuß gelaufen. Wann wurden Schuhe eigentlich normal und Barfüße komisch?

Die Pause endet, ich gehe barfuß, meine Schuhe in der Hand wieder zu meinem Sitzplatz. Einige Teilnehmer lächeln, andere schauen erschrocken drein. Ich stelle die Schuhe ab und setze mich. Der kühle Boden ist angenehm. Mir ist sowieso meistens warm. Diese Hitzewallungen haben mit meiner Schilddrüse zu tun. Es geht ihr bereits deutlich besser, aber ich scheine auf einem Plateau hängen geblieben zu sein. Die Medikamente nehme ich nur noch in einer geringen Dosis, aber ich möchte gerne ganz ohne sie auskommen. Nicht zuletzt, weil ich ohne sie besser spüre, wie es mir geht. Ich fühle ganz deutlich, wie meine Hitze durch die Füße in den Boden abfließt und meine Körpertemperatur sich ausgleicht. Dann stockt mein Atem, als ein Gedanke in meinen Kopf steigt: Könnte konsequentes Barfußlaufen der Schlüssel zur Heilung sein?

Nach der Veranstaltung laufe ich durch die Stadt über den eiskalten Boden zu meinem Auto. Meine Füße frieren, aber ich halte durch. Wie ist es möglich, bei diesen Temperaturen dauerhaft barfuß zu laufen? Bevor ich losfahre, bewege ich die Zehen und drehe die Heizung auf. Als Teenager bin ich zwar im Winter barfuß durch den Schnee gelaufen, aber da habe ich auch jeden Morgen eiskalt geduscht. Ein Lächeln huscht über mein Gesicht, als ich daran denke. Danach habe ich mich immer unbesiegbar gefühlt. Ich beschließe, wieder mit dem kalten Duschen anzufangen und ab jetzt so gut ich kann überall barfuß zu gehen.

Das klappt ganz gut, bis einige Tage später Schnee fällt. Einige Sekunden halte ich es im watteweichen Pulverschnee aus, aber dann hüpfe ich schnell zurück ins Warme. Den ganzen Winter habe ich Schuhe getragen, meine Haut an den Füßen ist dünn und sensibel. Als der Schnee kurz darauf taut, spaziere ich barfuß durch die Natur. Asphaltierte Wege und Straßen lassen sich dabei jedoch kaum vermeiden. Ein brennender Schmerz lenkt meine Aufmerksamkeit auf die kleinen Zehen; zwei Blutflecken zieren den staubig grauen Asphalt neben ihnen. Sie sind zu stark gekrümmt, wahrscheinlich vom ständigen Tragen enger oder hoher Schuhe, und dadurch laufe ich auf den Zehennägeln. Dies hat sie an der Außenseite bis auf die Haut abgeschliffen, die heftig blutet. Was mache ich jetzt? Zwei Pflaster und ein wenig Desinfektionsmittel wären hilfreich, aber der Weg zurück wird eine ganze Weile in Anspruch nehmen.

Einige Schritte weiter biegt eine Schotterstraße links ab und führt an eingezäunten Wiesen entlang bis zum Wald. Am Rand sehe ich Breitwegerich und humpele über die boshaft spitzen Schottersteine darauf zu. Dieses Kraut stoppt die Blutung, wirkt antibakteriell und unterstützt sogar die Wundheilung. Ich zerreibe ein wenig von der Pflanze zwischen meinen Händen und tupfe das Blut damit ab. Aus Breitwegerich Blättern bastele ich einen provisorischen Verband, den ich mit einigen Grashalmen zusammenbinde. Für die restliche Strecke wähle ich den schmalen Wiesenstreifen in der Mitte des Weges, da die Steine meinen zarten Füßen zu viele Schmerzen bereiten. Erst jetzt fällt mir auf, wie viel Schotter wir in Deutschland auf die Erde tapeziert haben.

Bald kann ich jedoch länger als nur die anfänglichen 20 Sekunden darauf laufen. Einige Tage später hat sich nicht nur eine dickere Haut auf meinen misshandelten kleinen Zehen gebildet, ich bringe es sogar auf den scharfkantigen Schottersteinen schon auf fünf Minuten.

Dann merke ich allerdings, dass sich allerhand zu meinem Schmerz dazugesellt. Verschiedene Emotionen kommen hoch: Ich fühle mich wütend, ärgerlich, traurig, schwermütig, bedrückt, verkrampft, beklommen, zerrissen und das alles gleichzeitig. Sobald ich von den Steinen auf die Wiese hüpfe, verschwinden die negativen Emotionen so plötzlich, wie sie gekommen sind. Mache ich wieder einige Schritte auf den Schottersteinen, kommen sie mit einem Schlag zurück. Manchmal wechseln sie, sind nicht alle gleichzeitig da, oder andere Emotionen kommen hoch. »Warum ist das so? Woher kommen die Emotionen?«, frage ich mich erstaunt. Dann fällt mir ein Artikel über die Fußreflexzonen ein. Die Steine könnten auf bestimmte Punkte drücken und durch die Nervenenden das jeweilige Organ an diesem Punkt aktivieren. Die traditionelle chinesische Medizin ordnet Organen ganz bestimmte Gefühle zu. Kann es wirklich sein, dass durch den Druck auf die Reflexpunkte in den Organen gespeicherte Emotionen an die Oberfläche kommen? Emotionen, die ich verdrängt habe? Das Barfußlaufen hat bereits meine volle Faszination, und ich beschließe, achtsam auf jedes Signal meines Körpers zu hören und meine Füße zur Kommunikation mit meinem Inneren zu nutzen.

Als ich einige Wochen fast ausschließlich barfuß gegangen bin, bemerke ich, das mein Schmerzempfinden sich verringert. Ich freue mich über jeden noch so kleinen Barfuß-Fortschritt. Nicht jeder versteht meine Begeisterung für nackte Füße, vor allem nicht in jedem Ambiente. Aber ich bleibe dabei und ziehe nur ab und zu Schuhe an, wenn ich mit Menschen unterwegs bin, denen ich barfuß eine peinliche Begleitung wäre. Zu Anfang enttäuscht mich das. Bin ich etwa ein anderer Mensch ohne Schuhe? Macht mich das minderwertig? Wenig später erkenne ich, woran mich diese Situation erinnern möchte. Ich verstehe diese Menschen, weil ich das Gefühl des Fremdschämens nur zu gut kenne. Mir selbst ist es noch viel zu wichtig, was andere von mir denken. Für jeden versuche ich, in ihren oder seinen Rahmen zu passen. Dafür habe ich manchmal sogar andere weggeschoben, habe so getan, als würde ich sie nicht kennen, weil sie nicht in den Rahmen desjenigen Menschen gepasst haben, in dessen Rahmen ich passen wollte. Mir wird bewusst, dass ich andere damit verletzt habe. Jetzt kann ich ihren Schmerz fühlen, ihre Enttäuschung. Das macht mich traurig, aber es hilft keinem weiter, wenn ich traurig bin. Der Kreislauf des Lebens ist faszinierend. Hätte ich diese Erfahrung nicht an meinem eigenen Leib gemacht, dann wäre mein Verständnis nicht vorhanden.

Aber wer bin ich ohne die Menschen und Dinge, über die ich mich definiere? Wird meine Reise mich näher zu mir selbst bringen? Werde ich mehr darüber erfahren, wer ich wirklich bin und was mich ausmacht?