9,99 €
Hier werden Albträume wahr
Abermals legt Stephen King, u. a. Träger des renommierten »O.-Henry-Preises«, eine umfassende und vielseitige Kurzgeschichtensammlung vor. Von den insgesamt 20 Storys wurden bislang erst drei auf Deutsch veröffentlicht. Die Originale erschienen teilweise in Zeitschriften; andere sind bislang gänzlich unveröffentlicht.
Nicht immer blanker Horror, aber immer psychologisch packend und manchmal schlicht schmerzhaft wie ein Schlag in die Magengrube – Geschichten, die uns einladen, Stephen Kings Meisterschaft im Erzählen aufs Neue beizuwohnen, oder, wie er selbst in seinem Basar der bösen Träume ausruft: »Hereinspaziert, ich habe die Geschichten eigens für Sie geschrieben. Aber seien Sie vorsichtig. Bestenfalls sind sie bissig und schnappen zu.«
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 1000
Das Buch
AbermalslegtStephenKing,u. a.TrägerdesrenommiertenO.-Henry-PreisesfürKurzgeschichten,eineumfassendeundvielseitigeSammlungvor.Vondeninsgesamt21Storieswurdenzuvorerstdreiaufdeutschveröffentlicht.DieOriginaleerschienenteilweiseinamerikanischenZeitschriften;anderewarenbislanggänzlichunveröffentlicht.
NichtimmerblankerHorror,aberimmerpsychologischpackendundmanchmalschlichtschmerzhaftwieeinSchlagindieMagengrube.EsgehtdabeiumThemenwieSündeundMoral,SchwächeundSchuld,dasJenseitsunddasEndeallenLebens,dasMenschlich-AllzumenschlicheandenAbgründenunseresDaseins –Geschichten,dieunseinladen,StephenKingsMeisterschaftimErzählenaufsNeuebeizuwohnen.
DieShortstory»DieKeksdose«erscheinterstmalsindervorliegendenTaschenbuchausgabevonBasar der bösen Träume.
Der Autor
StephenKing,1947inPortland,Maine,geboren,isteinerdererfolgreichstenamerikanischenSchriftsteller.BislanghabensichseineBücherweltweitüber400MillionenMalinmehrals50Sprachenverkauft.FürseinWerkerhielterzahlreichePreise,darunter2003denSonderpreisderNationalBookFoundationfürseinLebenswerkund2015mitdem»EdgarAllanPoeAward«denbedeutendstenkriminalliterarischenPreisfürMr. Mercedes.2015ehrtePräsidentBarackObamaihnzudemmitderNationalMedalofArts.SeineWerkeerscheinenimHeyne-Verlag.DieletzteVeröffentlichungwarderBestsellerromanMind Control,nachMr. MercedesundFinderlohnderdritteBandinderBill-Hodges-Trilogie.
STEPHEN KING
BASAR DERBÖSENTRÄUME
Aus dem Amerikanischen vonWulf Bergner, Ulrich Blumenbach, Jürgen Bürger,Jan Buss, Karl-Heinz Ebnet, Gisbert Haefs,Julian Haefs, Urban Hofstetter, Bernhard Kleinschmidt,Kristof Kurz, Gunnar Kwisinski, Jürgen Langowski,Johann Christoph Maass, Friedrich Mader,Jakob Schmidt und Friedrich Sommersberg
WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
The Bazaar of Bad Dreams
bei Scribner, New York
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Copyright © 2015 by Stephen King
Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe byWilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München
Covergestaltung: Hauptmann und Kompanie Werbeagentur, Zürich
Satz: Schaber Datentechnik, Austria
ISBN 978-3-641-16403-4V006
Vorbemerkung des Autors
Manche dieser Geschichten wurden bereits anderswo veröffentlicht, was jedoch nicht heißt, sie wären damals fertig gewesen oder wären es jetzt. Bevor ein Schriftsteller in den Ruhestand geht oder stirbt, ist sein Werk nicht vollendet; es kann immer noch ein wenig Schliff und ein paar weitere Überarbeitungen gebrauchen. Außerdem sind allerhand neue Texte dabei. Und noch etwas will ich euch mitteilen: wie froh ich darüber bin, lieber treuer Leser, dass wir beide immer noch da sind. Cool, oder?
SK
»I keep a stiff upper lip and I shoot from the hip.«
AC/DC
Inhalt
Vorwort
Raststätte Mile 81
Premium Harmony
Batman und Robin haben einen Disput
Die Düne
Böser kleiner Junge
Ein Tod
Die Knochenkirche
Moral
Leben nach dem Tod
Ur
Herman Wouk lebt noch
Ein bisschen angeschlagen
Blockade Billy
Mister Sahneschnitte
Tommy
Der kleine grüne Gott der Qual
Die Keksdose
Jener Bus ist eine andere Welt
Nachrufe
Feuerwerksrausch
Sommerdonner
Vorwort
Ich habe einiges für dich gebastelt, lieber treuer Leser; du siehst es vor dir im Mondlicht ausgebreitet. Doch bevor du einen Blick auf die kleinen, handgearbeiteten Schätze wirfst, die ich feilhalte, wollen wir ein wenig darüber sprechen, ja? Es dauert nicht lange. Komm, setz dich neben mich. Und rück doch ein wenig näher. Ich beiße nicht.
Allerdings … wir kennen uns nun schon seit sehr langer Zeit, und ich vermute, du weißt, dass das nicht so ganz stimmen kann.
Nicht wahr?
I
Ihr würdet euch wundern – zumindest nehme ich das an –, wie viele Leute mich fragen, weshalb ich immer noch Kurzgeschichten schreibe. Das hat einen ganz einfachen Grund: Sie zu schreiben macht mich glücklich, weil ich dazu geschaffen bin, andere Menschen zu unterhalten. Gitarre spiele ich nicht besonders gut, und Step tanzen kann ich gar nicht, aber das kann ich. Daher tue ich es.
Zugegeben, von Natur aus bin ich Romancier und habe eine besondere Vorliebe für lange Texte, in die Autor und Leser mit Haut und Haar eintauchen können, weil die Literatur dort die Chance erhält, zu einer nahezu realen Welt zu werden. Gelingt ein langes Buch, so haben Autor und Leser nicht nur eine Affäre; sie sind verheiratet. Wenn Leser mir schreiben, wie schade es sei, dass The Stand oder Der Anschlag ein Ende finden mussten, habe ich das Gefühl, dass das betreffende Buch ein Erfolg war.
Allerdings haben auch kürzere, intensivere Erfahrungen ihre Vorteile. Sie können erfrischend, ja schockierend sein, wie ein Walzer mit einem Fremden, den man nie wiedersehen wird, wie ein Kuss im Dunkeln oder wie ein wunderhübscher, kurioser Gegenstand, der bei einem Straßenflohmarkt auf einer billigen Decke ausliegt. Tja, und wenn meine kurzen Geschichten gesammelt erscheinen, komme ich mir wirklich immer vor wie ein Straßenhändler, wenn auch wie einer, der nur um Mitternacht verkauft. Ich breite mein Sortiment aus und lade die Leser – das seid ihr – dazu ein, herbeizukommen und etwas auszuwählen. Dabei füge ich immer die angemessene Warnung hinzu: Seid vorsichtig, meine Lieben, denn manche dieser Waren sind gefährlich. Das sind jene, in denen böse Träume verborgen sind, jene, die einem im Kopf herumgehen, wenn man nicht einschlafen kann und sich fragt, weshalb die Tür des Kleiderschranks offen steht, obwohl man doch bestens weiß, dass man sie geschlossen hat.
II
Würde ich sagen, ich hätte schon immer die strengere Disziplin geschätzt, die kürzere literarische Werke mir auferlegen, so würde ich lügen. Kurzgeschichten erfordern eine akrobatische Fertigkeit, die viel ermüdender Übung bedarf. Was leicht zu lesen ist, ist schwer geschrieben, sagen manche Lehrer, und es stimmt. Fehler, die in einem Roman oft übersehen werden, treten in einer Kurzgeschichte eklatant zum Vorschein. Daher ist strenge Disziplin unerlässlich. Der Autor muss seinen Impuls zügeln, gewissen faszinierenden Nebenwegen zu folgen, und sich an die Hauptroute halten.
Die Grenzen meines Talents empfinde ich nie so deutlich wie beim Schreiben kürzerer Texte. Ich habe mit einem Gefühl der Unzulänglichkeit gekämpft, mit einer tief reichenden Furcht, ich könnte unfähig sein, die Kluft zwischen einer tollen Idee und der Realisierung ihres Potenzials zu überbrücken. Kurz gesagt, läuft das darauf hinaus, dass das fertige Produkt nie ganz so gut zu sein scheint wie die großartige Idee, die eines Tages aus dem Unterbewussten aufgetaucht ist, begleitet von dem begeisterten Gedanken: Menschenskind! Das muss ich sofort aufs Papier bringen!
Manchmal ist das Ergebnis trotzdem ziemlich gut, und gelegentlich ist es sogar besser als das ursprüngliche Konzept. Wenn das geschieht, bin ich begeistert. Die eigentliche Herausforderung besteht darin, in das verdammte Ding hineinzukommen, und das ist meiner Meinung nach der Grund, weshalb so viele Möchtegernautoren nie tatsächlich zur Feder greifen oder sich an die Tastatur setzen. Allzu oft ist das so wie der Versuch, an einem kalten Tag den Wagen anzulassen. Zuerst macht der Motor nicht einmal eine Umdrehung, er ächzt lediglich. Wenn man jedoch dranbleibt (und wenn die Batterie nicht schlappmacht), springt der Motor an … holpert eine Weile … und läuft dann rund.
Dieses Buch enthält Geschichten, die als Inspirationsblitz aufgetaucht sind, zum Beispiel »Sommerdonner«, und sofort geschrieben werden mussten, auch wenn das bedeutete, die Arbeit an einem Roman zu unterbrechen. Andere wie »Raststätte Mile 81« haben jahrzehntelang geduldig auf ihre Chance gewartet. Der strenge Fokus, den es zum Entstehen einer guten Kurzgeschichte bedarf, ist jedoch immer derselbe. Romane zu verfassen ist ein wenig so wie beim Baseball, wo das Spiel so lange läuft wie notwendig, selbst wenn es zwanzig Innings dauern sollte. Kurzgeschichten zu schreiben ist mehr wie ein Basketball- oder Footballspiel – man kämpft nicht nur gegen das andere Team, sondern auch gegen die Uhr.
Geht es darum, erzählende Literatur zu schreiben, egal ob lang oder kurz, so findet der Lernprozess nie ein Ende. Für das Finanzamt bin ich aufgrund meiner Steuererklärung ein professioneller Schriftsteller, aber in kreativer Hinsicht bin ich immer noch ein Amateur, der sein Handwerk erlernt. Das gilt für uns alle. Jeder schreibend verbrachte Tag ist eine Lernerfahrung und ein Ringen darum, etwas Neues zu tun. Den Text herunterzuleiern ist unzulässig. Das eigene Talent kann man nicht vermehren, es ist angeboren, aber es ist möglich, dieses Talent vor dem Schrumpfen zu bewahren. Zumindest sehe ich das gern so.
Und he! Ich tue es immer noch wahnsinnig gern.
III
Da sind sie also, die Waren, meine lieben treuen Leser. Heute Nacht verkaufe ich ein bisschen von allem – ein Monster, das wie ein Auto aussieht (ein Anklang an Christine), einen Mann, der töten kann, indem er Nachrufe schreibt, einen E-Reader, der Zugang zu Parallelwelten bietet, und jenes immerwährende Lieblingsmotiv, das Ende der Menschheit. So etwas biete ich gern feil, wenn die anderen Verkäufer schon lange heimgegangen sind, wenn die Straßen verlassen sind und wenn eine kalte Mondrinde über den Schluchten der Großstadt schwebt. Dann breite ich meine Decke aus und lege meine Waren bereit.
Genug geredet. Vielleicht möchtet ihr jetzt etwas kaufen, ja? Alles, was ihr seht, ist von Hand gemacht, und obwohl ich jeden einzelnen Artikel liebe, verkaufe ich sie alle gern, weil ich sie speziell für euch gemacht habe. Nur zu, ihr könnt sie euch ruhig näher ansehen, aber seid bitte vorsichtig.
Bestenfalls sind sie bissig und schnappen zu.
6. August 2014
Als ich neunzehn war und an der University of Maine studierte, nahm ich ungefähr jedes dritte Wochenende die 150 Meilen lange Fahrt von Orono nach Durham auf mich, einer Kleinstadt, die in meinen Büchern für gewöhnlich Harlow heißt. Dort besuchte ich meine Freundin … und meine Mutter, wenn ich schon mal in der Gegend war. Ich fuhr damals einen 61er Ford Station Wagon mit Sechszylindermotor, drei Gängen und Lenkradschaltung (wenn euch das nichts sagt, fragt euren Vater), den ich von meinem Bruder David geerbt hatte.
Zu jener Zeit war die I-95 noch nicht so stark befahren. Nach dem Labor Day Anfang September, wenn die Urlauber in die Arbeitswelt zurückkehrten, lag sie streckenweise sogar völlig verlassen da. Weil es natürlich noch keine Handys gab, hatte man nur zwei Möglichkeiten, wenn das Auto liegen blieb: Entweder man reparierte es selbst, oder man wartete, bis ein barmherziger Samariter anhielt und einen bis zur nächsten Werkstatt mitnahm.
Auf diesen langen Fahrten entwickelte ich eine tief sitzende Abneigung gegen Mile 85, einen Streckenabschnitt, der zwischen Gardiner und Lewiston durch absolutes Niemandsland führte. Wenn meine alte Karre dort den Geist aufgäbe – so meine feste Überzeugung –, würde ich kurz darauf ihrem Beispiel folgen. Ich stellte mir mein Auto einsam und verlassen auf der Standspur vor. Ob jemand anhalten und nach dem Fahrer sehen würde? Nur für den Fall, dass er womöglich gerade in seinem Wagen einen Herzinfarkt erlitt? Selbstverständlich würde jemand anhalten. Barmherzige Samariter gibt es überall, ganz besonders mitten in der Pampa. Die Hinterwäldler halten eben zusammen.
Dann fiel mir ein, dass man meinen alten, so harmlos wirkenden Station Wagon durchaus für eine perfide Todesfalle halten konnte, die nur darauf wartete, dass ein unvorsichtiger Mensch hineintappte. Keine schlechte Geschichte, wie ich fand. Ich schrieb sie auf und nannte sie »Mile 85«. Allerdings wurde sie weder überarbeitet noch gar veröffentlicht, weil sie mir abhandenkam. Damals warf ich mir regelmäßig LSD ein, wodurch mir alles Mögliche abhandenkam. Unter anderem auch hin und wieder mein Verstand.
Vierzig Jahre später: Obwohl die I-95 durch Maine im 21. Jahrhundert deutlich stärker befahren ist, herrscht nach den Sommerferien immer noch wenig Verkehr. Durch Budgetkürzungen wurden viele Raststätten geschlossen, so auch die kleine Tankstelle mit dem Burger King in der Nähe der Ausfahrt Lewiston (wo ich mir so manchen Whopper genehmigt habe). Das Gebäude stand lange leer, wurde immer trostloser und schäbiger und rottete hinter den DURCHFAHRT VERBOTEN-Schildern an Ein- und Ausfahrt vor sich hin. Die harten Winter hatten Risse im Asphalt des Parkplatzes hinterlassen, aus denen Unkraut wucherte.
Als ich eines Tages wieder einmal daran vorbeikam, fiel mir meine alte, verschollene Geschichte ein, und ich beschloss, sie noch einmal zu schreiben. Die aufgegebene Raststätte befand sich ein paar Meilen südlich der von mir so gefürchteten Mile 85, deshalb musste ich den Titel geringfügig anpassen. Sonst hat sich, wenn ich mich recht erinnere, nichts geändert. Die Raststätte vor der Ausfahrt ist inzwischen Vergangenheit, genau wie der alte Ford, die Freundin in Durham und viele meiner früheren Laster – aber diese Story bleibt. Und sie ist eine meiner Lieblingsgeschichten.
Raststätte Mile 81
Für Nye Willden und Doug Allen,die meine ersten Kurzgeschichten annahmen
1. Pete Simmons (Huffy, Bj. 2007)
»Du kannst nicht mit«, sagte sein älterer Bruder.
George sprach mit gedämpfter Stimme, obwohl seine übrigen Freunde – eine Gruppe Zwölf- und Dreizehnjähriger aus der Nachbarschaft, die sich die Rip-Ass Raiders nannten – am anderen Ende der Straße waren. Wo sie ziemlich ungeduldig auf ihn warteten. »Ist viel zu gefährlich.«
»Ich hab keine Angst«, antwortete Pete. Er sagte das ganz tapfer, obwohl er eigentlich schon etwas Angst hatte. George und seine Freunde wollten zur Kiesgrube hinter der Bowlingbahn. Dort wollten sie was spielen, was Normie Therriault erfunden hatte. Normie war der Anführer der Rip-Ass Raiders, und das Spiel hieß Fallschirmspringer des Satans. Zum Rand der Kiesgrube führte ein Weg mit tiefen Fahrspuren, und das Spiel bestand daraus, ihn mit vollem Tempo auf dem Rad hinunterzurasen, dabei aus voller Lunge »Raiders sind die Größten« zu brüllen und erst direkt an der Kante abzuspringen. An der üblichen Stelle ging es höchstens drei Meter oder so runter, und die erprobte Landefläche war recht weich, aber früher oder später würde jemand anstatt auf dem Sand auf dem harten Kies landen und sich den Knöchel verstauchen oder den Arm brechen. Das wusste sogar Pete (obwohl das für ihn den Reiz an der Sache noch erhöhte). Dann würden die Eltern das rauskriegen, und das Ende der Fallschirmspringer des Satans wäre gekommen. Vorläufig ging das Spiel jedoch – natürlich ohne Helm – weiter.
George ließ seinen Bruder aus gutem Grund nicht mitspielen; er war nämlich für Pete verantwortlich, solange ihre Eltern in der Arbeit waren. Wenn Pete sein Huffy in der Kiesgrube zu Schrott fuhr, dann bekäme George höchstwahrscheinlich eine ganze Woche Hausarrest. Und wenn der Kleine sich was brach, gab’s bestimmt sogar einen Monat. Und wenn es – gottbewahre! – der Hals war, würde George sich vermutlich die gesamte Zeit, bis er aufs College ging und zu Hause auszog, in seinem Zimmer vertreiben müssen …
Außerdem liebte er den kleinen Scheißer.
»Häng einfach hier draußen ab«, sagte George. »In zwei Stunden sind wir wieder da.«
»Mit wem abhängen?«, fragte Pete. Es waren Osterferien, aber alle seine Freunde, die seine Mutter als altersgemäß bezeichnen würde, schienen irgendwohin verreist zu sein. Ein paar waren nach Disney World in Orlando gefahren, und wenn Pete daran dachte, stieg Neid und Eifersucht in ihm auf – ein übles Gebräu, aber eigenartig wohlschmeckend.
»Häng einfach ab«, sagte George. »Geh in den Supermarkt oder so was.« Er wühlte in der Hosentasche und brachte zwei verknitterte Dollarscheine zum Vorschein. »Hier hast du ein bisschen Knete.«
Pete sah auf das Geld. »Super, damit kann ich mir ja ’ne Corvette kaufen. Oder gleich zwei.«
»Beeil dich, Simmons, sonst fahren wir ohne dich!«, rief Normie.
»Komme!«, rief George zurück. Dann sagte er leise zu Pete: »Nimm das Geld, und sei kein Hosenscheißer.«
Pete nahm das Geld. »Ich hab sogar mein Vergrößerungsglas dabei«, sagte er. »Ich wollt denen zeigen, wie …«
»Den Babytrick haben die doch alle schon tausendmal gesehen«, sagte George. Als er sah, wie Petes Mundwinkel nach unten zuckten, bemühte er sich, den Schlag etwas abzumildern. »Guck dir außerdem den Himmel an, Blödmann. Bei so viel Wolken kannst du mit dem Vergrößerungsglas kein Feuer machen. Häng einfach ab, ja? Wenn ich zurückkomme, spielen wir Schiffe versenken oder so was am Computer.«
»Okay, Schisser, dann bis später!«, rief Normie herüber.
»Ich muss jetzt los«, sagte George. »Tu mir den Gefallen, und mach nichts Dummes. Bleib einfach in der Nähe.«
»Du brichst dir wahrscheinlich die Wirbelsäule und bist dann dein ganzes Leben gelähmt und im Arsch«, sagte Pete … und spuckte hastig zwischen gespreizten Fingern aus, um den Fluch ungeschehen zu machen. »Alles Gute!«, rief er seinem Bruder nach. »Spring am weitesten!«
George winkte mit einer Hand, um zu zeigen, dass er verstanden hatte, sah sich aber nicht noch einmal um. Er stand auf den Pedalen seines Fahrrads, eines großen, alten Schwinns, das Pete bewunderte, aber nicht fahren konnte (einmal hatte er es versucht und war mitten in der Einfahrt hingeknallt). Pete beobachtete, wie sein Bruder das Tempo steigerte, während er ihre Straße hier im Vorort Auburn entlangraste, um zu seinen Kumpels aufzuschließen.
Dann war Pete allein.
Er nahm das Vergrößerungsglas aus der Gepäcktasche und hielt es über den Unterarm, aber es gab weder einen Lichtfleck, noch spürte er, dass es warm wurde. Grimmig sah er zu den tief hängenden Wolken auf und steckte das Vergrößerungsglas zurück. Es war ein gutes, ein Richforth. Er hatte es letzte Weihnacht bekommen, als Hilfsmittel für seine Ameisenfarm im Naturkundeprojekt an der Schule.
»Es wird in der Garage enden und Staub ansetzen«, hatte sein Vater gesagt, aber obwohl das Ameisenfarmprojekt seit Februar beendet war (Pete und seine Partnerin Tammy Witham hatten eine Eins dafür bekommen), hatte Pete das Vergrößerungsglas immer noch nicht satt. Besonderen Spaß machte es ihm, im Garten hinter dem Haus Löcher in Papierfetzen zu brennen.
Aber nicht heute. Heute erstreckte sich der Nachmittag vor ihm so endlos wie eine Wüste. Er konnte nach Hause fahren und fernsehen, aber sein Vater hatte alle interessanten Programme blockiert, nachdem er entdeckt hatte, dass George Boardwalk Empire, das voller Gangster und nackter Busen war, aufgezeichnet hatte. Auf ähnliche Weise war Petes Computer blockiert, und er hatte noch nicht rausgekriegt, wie sich diese Kindersicherung umgehen ließ; obwohl das noch kommen würde – es war nur eine Frage der Zeit.
Also?
»Also nichts«, sagte er halblaut und strampelte auf seinem Rad langsam zum Ende der Murphy Street. »Also … beschissen … nichts.«
Zu klein, bei den Fallschirmspringern des Satans mitzumachen, weil es zu gefährlich wäre. Echt Scheiße. Wenn ihm doch nur etwas einfiele, was George und Normie und all den Raiders zeigen würde, dass auch kleine Jungen Gefahren bestehen konn…
Da fiel ihm etwas ein. Er konnte die aufgegebene Raststätte erforschen! Pete glaubte nicht, dass die Großen davon wussten, denn der Junge, Craig Gagnon, der ihm davon erzählt hatte, war in seinem Alter gewesen. Er hatte gesagt, er sei letzten Herbst mit ein paar anderen Kindern, Zehnjährigen, dort gewesen. Natürlich konnte das alles gelogen gewesen sein, aber das glaubte Pete nicht. Craig hatte zu viele Einzelheiten erzählt, obwohl er sonst nicht gerade besonders fantasievoll war. Eher sogar unterbelichtet.
Mit dem Ziel vor Augen trat Pete nun schneller in die Pedale. Am Ende der Murphy Street bog er links in die Hyacinth ein. Auf dem Bürgersteig war niemand unterwegs, am Randstein parkten keine Autos. Aus dem Haus der Rossignols war das Heulen eines Staubsaugers zu hören, aber sonst hätten alle schlafen oder tot sein können. Pete vermutete, dass sie in Wirklichkeit, wie seine Eltern auch, in der Arbeit waren.
Er fuhr nach rechts auf die Rosewood Terrace hinaus, vorbei an dem gelben Schild mit der Aufschrift SACKGASSE. Entlang der Rosewood standen nur ungefähr ein Dutzend Häuser. Am Ende der Straße verlief ein Maschendrahtzaun quer über die Fahrbahn. Dahinter lag ein Dickicht aus Büschen und kümmerlichem aufgeforstetem Wald. Als Pete sich dem Maschendrahtzaun (und dem daran völlig überflüssigerweise angebrachten Schild KEINE DURCHFAHRT) näherte, hörte er zu treten auf und rollte im Freilauf weiter.
Eines war ihm – vage – bewusst: Auch wenn er George und seine Raider-Kumpels als Große ansah (wofür die Raiders sich natürlich selbst hielten), waren sie nicht wirklich die Großen. Die wirklich Großen waren ultracoole Teenager, die einen Führerschein und eine Freundin hatten. Echte Große gingen auf die Highschool. Sie tranken gern, rauchten Gras, hörten Heavy Metal oder Hip-Hop und fummelten mit den Mädchen rum.
Also auf zur aufgegebenen Raststätte!
Pete stieg von seinem Huffy ab und sah sich um, ob er beobachtet wurde. Hinter ihm war niemand. Sogar die lästigen Crosskill-Zwillinge, die jede Ferien im ganzen Viertel Seilspringen übten (im Tandem), waren nirgends zu sehen. Ein glattes Wunder, fand Pete.
Nicht allzu weit entfernt konnte Pete das gleichmäßige Wusch-wusch-wusch von Autos auf der I-95 hören, die in südlicher Richtung nach Portland oder in nördlicher nach Augusta unterwegs waren.
Sogar wenn Craig die Wahrheit gesagt hatte, war der Zaun wahrscheinlich repariert worden, dachte Pete. Bei seiner Pechsträhne heute würde ihn das nicht wundern.
Als er näher hinsah, war jedoch zu erkennen, dass der Zaun, obwohl er so aussah, in Wirklichkeit nicht ganz war. Irgendjemand (vermutlich ein Teenager, der schon längst in die Reihen der Jungen Erwachsenen übergewechselt war) hatte die Felder in gerader Linie von oben bis unten durchgeknipst. Pete sah sich nochmals um, dann griff er mit beiden Händen in die Metallrauten und drückte dagegen. Er erwartete Widerstand, aber es gab keinen. Das durchtrennte Stück Maschendrahtzaun schwang nach innen auf wie das Hoftor einer Farm. Die Wirklich Großen hatten es tatsächlich benutzt. Volltreffer.
Das war nur logisch, wenn man darüber nachdachte. Sie mochten einen Führerschein haben, aber sowohl Einfahrt als auch Ausfahrt der Raststätte Mile 81 waren jetzt mit großen orangeroten Fässern des Straßendienstes verbarrikadiert. Aus dem rissigen Beton des verlassenen Parkplatzes wucherte bereits das Unkraut. Das hatte Pete selbst schon tausendmal gesehen, weil der Schulbus die I-95 benutzte, um von Laurelwood aus, wo er zustieg, drei Ausfahrten weit zur Auburn Elementary School Nr. 3 in der Sabattus Street zu fahren.
Er konnte sich noch an die Zeit erinnern, wo die Raststätte geöffnet gewesen war. Es hatte eine Tankstelle, einen Burger King, einen Frozen-Yogurt-Laden und einen Sbarro mit lecker italienischer Pizza und Pasta gegeben. Dann war die Mile 81 geschlossen worden. Petes Dad hatte mal gesagt, am Turnpike gebe es einfach zu viele Raststätten und der Staat könne es sich nicht leisten, alle zu betreiben.
Pete schob sein Rad durch die Lücke im Maschendrahtzaun, dann drückte er das improvisierte Tor wieder zu, bis die Rauten zusammenpassten und der Zaun wieder wie unberührt aussah. Er ging auf die Wand aus Büschen zu und achtete darauf, mit den Reifen vom Huffy nicht über Glasscherben zu fahren (von denen es auf dieser Seite vom Zaun nicht wenige gab). Außerdem hielt er Ausschau nach dem Besonderen, das es hier geben musste; der zerschnittene Zaun sprach Bände davon.
Und da war es auch, von ausgetretenen Zigarettenkippen und ein paar weggeworfenen Bier- und Limonadenflaschen markiert: ein Trampelpfad, der tiefer ins Gebüsch führte. Pete schob sein Rad weiter und folgte dem Pfad. Das hohe Gebüsch verschluckte ihn. Und hinter ihm verträumte die Rosewood Terrace einen weiteren trüben Frühlingstag.
Es war, als wäre Pete Simmons niemals da gewesen.
Der Trampelpfad zwischen dem Maschendrahtzaun und der Raststätte Mile 81 war nach Petes Schätzung ungefähr eine halbe Meile lang, und unterwegs gab es überall Hinweise auf die Jugendlichen: ein halbes Dutzend winzige braune Fläschchen (zwei noch mit Kokslöffeln, an denen Rotz klebte), leere Snackpackungen, ein Slip mit Spitzenbesatz, der an einem Dornbusch hing (Pete hatte den Eindruck, dass er schon länger dort hing, vielleicht schon an die fünfzig Jahre), und – Jackpot! – eine halb volle Flasche Wodka Popov, noch mit Schraubverschluss. Nach kurzer innerer Diskussion steckte Pete sie in die Gepäcktasche zu seinem Vergrößerungsglas, dem neuesten Heft von Locke & Keyund einigen in einem Plastikbeutel verstauten doppelt gefüllten Oreos.
Er schob sein Rad über einen träge fließenden kleinen Bach, und bingo-boingo: Da war die Rückseite der Raststätte. Hier gab es einen weiteren Maschendrahtzaun, aber auch dieser war aufgeschnitten, und Pete konnte glatt hindurchschlüpfen. Der Trampelpfad führte nun durch hohes Gras zum rückwärtigen Parkplatz. Wo früher die Lastwagen mit ihren Lieferungen vorgefahren waren, vermutete er. In der Nähe des Gebäudes konnte er auf dem Asphalt dunklere Rechtecke sehen, wo einmal die Müllcontainer gestanden hatten. Pete klappte den Fahrradständer herunter und stellte sein Huffy auf einem der Rechtecke ab.
Als er daran dachte, was als Nächstes bevorstand, fing sein Herz an zu pochen. Das ist Einbruch, mein Lieber. Dafür kannst du ins Gefängnis kommen. Aber war es Einbruch, wenn man eine offene Tür vorfand oder das Brett bei einem vernagelten Fenster lose war? Natürlich würde er dort unbefugt eindringen, aber war bloßes Eindringen schon eine Straftat?
Im Innersten wusste er, dass es eine war, obwohl es vermutlich ohne Gefängnis abgehen würde, solange keine Gewalt im Spiel war. Und war er nicht hergekommen, um etwas zu riskieren? Etwas, womit er später Normie und George und den übrigen Rip-Ass Raiders gegenüber angeben konnte?
Okay, er hatte Angst, aber wenigstens langweilte er sich nicht mehr.
Beim Versuch, die Tür mit dem verblassenden Schild NUR FÜR PERSONAL zu öffnen, stellte er fest, dass sie nicht nur abgeschlossen, sondern ernsthaft abgesperrt war – sie gab keinen Millimeter nach. Flankiert wurde sie von zwei Fenstern, aber ein einziger Blick genügte, ihm zu zeigen, dass sie fest vernagelt waren. Dann erinnerte er sich an den Maschendrahtzaun, der unversehrt ausgesehen hatte, es aber nicht gewesen war, und rüttelte deshalb an den Brettern. Aussichtslos. Irgendwie war das eine Erleichterung. Jetzt konnte er einfach unverrichteter Dinge umdrehen, wenn er wollte.
Nur … die Wirklich Großen kamen dort rein. Das stand für ihn fest. Wie also schafften sie das? Von der Vorderseite aus? In Sichtweite vom Verkehr auf dem Turnpike? Vielleicht wenn sie nachts kamen? Pete hatte jedenfalls nicht vor, das am helllichten Tag auszuprobieren. Wenn jeder vorbeikommende Autofahrer sich mit einem Handy beim Notruf melden konnte: »Vielleicht interessiert es Sie, dass sich an der Raststätte Mile 81 ein kleiner Rotzlöffel rumtreibt. Sie wissen schon, da, wo früher der Burger King war.«
Ich würd mir lieber bei Fallschirmspringer des Satans den Arm brechen, als meine Eltern von der State-Police-Station in Gray aus anrufen zu müssen. Sogar lieber beide Arme und mir gleichzeitig den Schniedel im Reißverschluss vom Hosenstall einklemmen.
Na ja, das vielleicht gerade nicht.
Er schlenderte zur Laderampe hinüber, und dort wieder: Jackpot! Vor der Betoninsel lagen Dutzende von Zigarettenkippen sowie ein paar dieser winzigen braunen Fläschchen, die ihre Königin umgaben: eine dunkelgrüne Hustensirupflasche. Die betonierte Fläche der Laderampe, an die die großen Sattelschlepper zurückstoßen konnten, befand sich in Petes Augenhöhe, aber der Beton bröckelte, und für einen gelenkigen Jungen in High-Chucks gab es hier reichlich Trittmöglichkeiten. Pete hob die Arme über den Kopf, fand mit den Fingerspitzen in der zerklüfteten Betonplatte der Laderampe Halt – und damit nahmen die Dinge ihren Lauf, wie es so schön hieß.
Auf die Betonfläche hatte jemand – die rote Farbe war schon verblasst – EDWARD LITTLE ROCKS, RED EDDIES SIND DIE GRÖSSTEN gesprüht. Von wegen, dachte Pete. Weder die Highschool noch ihre Sportmannschaften rockten oder waren die Größten. Raiders sind die Größten! Dann sah er sich von seinem jetzigen hohen Standort aus um, grinste und sagte laut: »Eigentlich sogar: Pete ist der Größte.« Und wie er dort oben über dem rückwärtigen Parkplatz der Raststätte stand, kam er sich auch so vor. Zumindest für den Augenblick.
Er kletterte wieder hinunter – nur um sich zu vergewissern, dass das kein Problem war –, dann erinnerte er sich an das Zeug in seiner Gepäcktasche. Vorräte für den Fall, dass er den ganzen Nachmittag hier verbringen wollte, mit Erkundungen und so ’n Scheiß. Er überlegte, was er mitnehmen sollte, und beschloss dann, die Tasche abzuschnallen und alles mitzunehmen. Sogar das Vergrößerungsglas konnte sich als nützlich erweisen. In seinem Gehirn nahm eine verschwommene Vorstellung Gestalt an: Zehnjähriger Detektiv entdeckte in verlassener Raststätte ein Mordopfer und klärte das Verbrechen auf, bevor die Polizei auch nur wusste, dass es verübt worden war. Pete konnte sich schon sehen, wie er den mit offenem Mund zuhörenden Raiders erklärte, dass das Ganze wirklich kinderleicht gewesen sei. Elementar, meine lieben Wichser.
War natürlich Bockmist, aber schon so zu tun, als ob, wäre ein Heidenspaß.
Er hob die Tasche auf die Laderampe (wegen der halb vollen Wodkaflasche besonders vorsichtig) und kletterte wieder hinauf. Das in das Gebäude führende Rolltor aus Wellblech war gut dreieinhalb Meter hoch und unten nicht etwa mit einem, sondern sogar zwei riesigen Vorhängeschlössern gesichert. In das hohe Tor war jedoch eine Fußgängertür eingelassen. Pete probierte den Türknopf. Vergebens. Die schmale Tür ließ sich auch nicht durch Ziehen oder Drücken öffnen. Immerhin gab sie etwas nach. Sogar ein gutes Stück. Er sah nach unten und stellte fest, dass jemand einen Holzkeil unter die Tür geklemmt hatte: wohl die simpelste Vorsichtsmaßnahme, die man sich vorstellen konnte. Aber was konnte man andererseits von Teenagern, die von Koks und Hustensirup high waren, viel mehr erwarten?
Pete zog den Keil heraus, und diesmal ging die Tür quietschend auf.
Die großen Schaufenster des ehemaligen Burger Kings waren nicht mit Brettern, sondern mit Drahtgittern gesichert, sodass Pete keine Mühe hatte, alles zu sehen, was es hier zu sehen gab. Im Restaurantbereich standen keine Esstische und gab es keine Sitznischen mehr, der Küchenbereich war nur ein düsteres Loch, in dem einige Drähte aus den Wänden ragten, und überall hingen Platten der Deckenverkleidung herab, dennoch war der Raum nicht ganz unmöbliert.
In der Mitte waren, von Klappstühlen umgeben, zwei Spieltische zusammengeschoben worden. Auf der so entstandenen breiten Fläche standen ein Dutzend überquellender Blechaschenbecher, dazu gab es mehrere Kartenspiele mit schmuddeligen Bicycle-Pokerkarten und eine Schatulle mit Pokerchips. Die Wände waren mit zwanzig oder dreißig Zeitschriftenpostern geschmückt. Pete begutachtete sie mit großem Interesse. Er kannte Muschis, hatte auf HBO und CinemaSpank mehr als nur ein paar gesehen (bevor seine Eltern das mitbekommen und alle Premium-Kabelkanäle gesperrt hatten), aber die hier waren rasierte Muschis. Pete wusste nicht recht, was das Besondere daran sein sollte – ihm kamen sie ein bisschen eklig vor –, aber er würde vermutlich noch draufkommen, wenn er älter war. Außerdem machten die nackten Möpse das wieder wett. Nackte Möpse waren echt geil.
In einer Ecke waren drei schmutzige Matratzen wie die Spieltische zusammengeschoben worden, aber Pete war alt genug zu wissen, dass hier nicht gepokert wurde.
»Zeig mir deine Muschi!«, befahl er einem der Hustler-Girls an den Wänden und kicherte. Dann sagte er: »Zeig mir deine rasierte Muschi!«, und kicherte noch lauter. Irgendwie wünschte er sich, Craig Gagnon wäre hier, obwohl Craig ein Schwachkopf war. Sie hätten miteinander über die rasierten Muschis lachen können.
Er machte sich auf einen Rundgang durch den Raum und schnaubte dabei weiter kleine, zerplatzende Lachblasen. Die Luft in der Raststätte war feucht, aber gar nicht so kühl. Schlimm war nur der Geruch: eine Kombination aus kaltem Zigarettenrauch, Haschischduft, altem Fusel und Kriechfäule in den Wänden. Pete glaubte, auch verwesendes Fleisch zu riechen. Vermutlich von bei Rosselli’s oder Subway gekauften Sandwichs.
An der Wand neben der Theke, wo die Leute früher Whopper und Whaler bestellt hatten, entdeckte Pete ein weiteres Poster. Es zeigte Justin Bieber, als der Beeb vielleicht sechzehn war. Zwei Zähne waren schwarz übermalt worden, und jemand hatte ihm ein Hakenkreuztattoo auf die Backe geklebt. Aus seiner Moppfrisur sprossen rote Teufelshörner. In seinem Gesicht steckten Dartpfeile. An die Wand über dem Poster hatte jemand mit breitem Filzschreiber MUND 15 PKT, NASE 25 PKT, AUGEN 30 PKT JE geschrieben.
Pete zog die Pfeile heraus und ging in dem großen, leeren Raum rückwärts, bis er einen schwarzen Strich auf dem Fußboden erreichte. Daneben stand in Druckschrift BEEBER-LINIE. Pete stellte sich dahinter und warf die sechs Pfeile. Er wiederholte das mindestens zehnmal. Beim letzten Versuch erzielte er hundertfünfundzwanzig Punkte. Was er ziemlich gut fand. Er stellte sich vor, wie sein Bruder George und Normie Therriault ihm Beifall klatschten. Er ging zu einem der Fenster mit dem Drahtgitter hinüber und starrte auf die leeren Betoninseln, auf denen die Zapfsäulen gestanden hatten, und auf den Verkehr dahinter hinaus. Den wenigen Verkehr. Sobald der Sommer da war, würden die Touristen und Sommerhausbesitzer dort draußen vermutlich wieder Stoßstange an Stoßstange dahinschleichen – außer sein Vater behielt recht, und der Benzinpreis stieg auf sieben Dollar pro Gallone. Dann würden alle zu Hause bleiben.
Und jetzt? Pete hatte Darts gespielt, er hatte so viele rasierte Muschis gesehen, dass er, na ja, vielleicht nicht gerade fürs ganze Leben genug hatte, aber wenigstens für ein paar Monate, und es gab keine Morde aufzuklären. Was jetzt also?
Wodka, beschloss er. Der kam als Nächstes. Er würde ein paar Schlucke probieren, nur um zu beweisen, dass er es konnte, und damit zukünftige Prahlereien den entscheidend wichtigen wahrhaften Klang hatten. Danach würde er vermutlich seinen Scheiß zusammenpacken und in die Murphy Street zurückradeln. Er würde sein Bestes tun, sein Abenteuer als interessant – sogar als hoch spannend – zu schildern, obwohl mit diesem Raum in Wirklichkeit nicht viel los war. Nur ein Ort, an dem die Wirklich Großen zusammenkommen, Karten spielen und mit den Mädchen rumfummeln konnten, ohne bei Regen nass zu werden.
Aber Schnaps … das war schon etwas.
Pete nahm die Gepäcktasche mit zu den Matratzen hinüber und setzte sich (wobei er sorgfältig die Flecken mied, von denen es nicht wenige gab). Er nahm die Wodkaflasche heraus und betrachtete sie mit leicht verbissener Faszination. Mit zehn, fast schon elf Jahren hatte er keine besondere Lust, die Vergnügungen Erwachsener auszuprobieren. Vor einem Jahr hatte er seinem Großvater eine Zigarette stibitzt und sie hinter dem 7-Eleven geraucht. Oder wenigstens zur Hälfte geraucht. Dann hatte er sich vornübergebeugt und sein Mittagessen zwischen seine Chucks gespuckt. Jener Tag hatte ihm eine interessante, wenn auch nicht sonderlich wertvolle Information eingebracht: Bohnen und Wiener Würstchen sahen zwar nicht besonders großartig aus, wenn man sie in den Mund schob – aber sie schmeckten wenigstens gut. Wenn sie oben wieder herauskamen, sahen sie grausig aus und schmeckten noch grausiger.
Die augenblickliche und nachdrückliche Ablehnung jener American Spirit durch seinen Körper ließ ihn vermuten, dass Alkohol nicht besser, sondern eher schlimmer sein würde. Aber wenn er den Wodka nicht wenigstens kostete, wäre jede Angeberei gelogen. Und sein Bruder George besaß ein Lügenradar – zumindest was Pete anging.
Wahrscheinlich muss ich wieder kotzen, dachte er, dann sagte er laut: »Die gute Nachricht ist, dass ich in diesem Loch nicht der Erste sein werde.«
Darüber musste er wieder lachen. Er lächelte noch, als er die Flasche aufschraubte und sich die Öffnung unter die Nase hielt. Es roch komisch, aber nur leicht. Vielleicht war es gar kein Wodka, sondern Wasser, und der Geruch nur ein Überbleibsel von jenem. Als er die Flasche an die Lippen setzte, hoffte er halb, dass das zutraf, und halb, dass es nicht stimmte. Er erwartete nicht viel und wollte sich ganz sicher nicht betrinken und sich womöglich den Hals brechen, wenn er wieder von der Laderampe kletterte, aber Pete war neugierig. Seine Eltern liebten dieses Zeug.
»Wer sich traut, zuerst«, sagte er völlig grundlos und nahm einen kleinen Schluck.
Es war kein Wasser, das stand fest. Es schmeckte wie heißes, dünnflüssiges Öl. Er schluckte es vor allem aus Überraschung hinunter. Der Wodka floss heiß durch seine Kehle, dann explodierte er im Magen.
»Heiliger Bimbam!«, rief Pete aus.
Tränen schossen ihm in die Augen. Er hielt die Flasche auf Armeslänge von sich, als hätte sie ihn gebissen. Aber die Hitze im Magen klang bereits ab, und er fühlte sich so weit okay. Nicht betrunken, aber auch nicht so, als müsste er wieder kotzen. Nachdem er nun wusste, was ihn erwartete, nahm er einen weiteren kleinen Schluck. Hitze im Mund … Hitze in der Kehle … und dann, rums, im Magen. Gar nicht so schlecht.
Er spürte jetzt ein Kribbeln in den Armen und Händen. Vielleicht auch im Nacken. Nicht das Gefühl Tausender Nadelstiche, wenn einem ein Arm oder ein Bein einschlief, mehr das Kribbeln, mit dem etwas aufwachte.
Pete setzte die Flasche abermals an die Lippen, dann ließ er sie sinken. Es gab mehr zu bedenken, als dass er von der Laderampe fallen oder sein Rad auf dem Heimweg zu Schrott fahren könnte (er fragte sich kurz, ob man wegen Trunkenheit am Lenker verhaftet werden konnte, und hielt es für durchaus möglich). Ein paar Schlucke Wodka zu nehmen, um damit angeben zu können, war in Ordnung, aber wenn er so viel trank, das er beschwipst wurde, würden seine Eltern es merken, wenn sie nach Hause kamen. Ein Blick würde genügen. Sich nüchtern zu stellen würde nichts nutzen. Sie tranken, ihre Freunde tranken, und manchmal tranken sie auch einen über den Durst. Sie würden die Anzeichen erkennen.
Außerdem galt es, den gefürchteten KATER zu bedenken. Pete und George hatten ihre Eltern an nicht wenigen Samstag- und Sonntagmorgen mit geröteten Augen und blassem Gesicht durchs Haus schleichen sehen. Sie nahmen dann Vitaminpillen, sie verlangten, dass man den Fernseher leise drehte, und Musik war strikt verboten. Ein KATER schien das absolute Gegenteil von Spaß zu sein.
Trotzdem, ein weiteres Schlückchen konnte wohl nicht schaden.
Pete nahm einen etwas kräftigeren Zug und rief: »Zisch, wir haben abgehoben!« Darüber musste er lachen. Er fühlte sich leicht benommen, aber das war ein total angenehmes Gefühl. Rauchen war nichts für ihn. Trinken anscheinend schon eher.
Er stand auf, schwankte leicht, fand sein Gleichgewicht wieder und lachte noch mehr. »Springt ruhig in die blöde Kiesgrube, so viel ihr wollt, ihr Waschlappen«, sagte er in das leere Restaurant. »Ich bin hackedicht, und hackedicht sein ist besser.« Das war irrsinnig witzig, und er lachte schallend laut.
Bin ich wirklich dicht? Von drei kleinen Schlucken?
Das war schwer zu glauben, aber er war eindeutig berauscht. Also Schluss damit. Genug war genug. »Trink mit Verstand«, forderte er das leere Restaurant auf und prustete los.
Er würde noch eine Zeit lang hier herumhängen und warten, bis die Wirkung abgeklungen war. Das würde wohl eine Stunde dauern, höchstens zwei. Sagen wir bis drei Uhr. Er trug keine Armbanduhr, aber der Glockenschlag von der St. Joseph’s würde ihm sagen, wann es drei war. Dann würde er gehen, nachdem er den Wodka (für mögliche spätere Experimente) versteckt und den Holzkeil wieder unter die Tür geschoben hatte. Sein erstes Ziel nach der Rückkehr in ihr Wohngebiet würde das 7-Eleven sein, wo er eine Packung von diesem wirklich starken Teaberry-Kaugummi kaufen würde, damit er auch bestimmt keine Fahne mehr hatte. Er hatte Kinder sagen hören, aus der Hausbar seiner Eltern klaue man am besten Wodka, weil er geruchlos sei – aber Pete war jetzt ein klügeres Kind als noch eine Stunde zuvor.
»Außerdem möchte ich wetten, dass meine Augen rot sind«, erklärte er dem ausgeräumten Restaurant in belehrendem Ton. »Wie die von meinem Vater, wenn er su vill Mantinis getrunken hat.« Er hielt inne. Das klang nicht ganz richtig, aber scheiß drauf.
Er sammelte die Dartpfeile ein, ging bis zur Beeber-Linie zurück und warf sie. Er verfehlte Justin mit allen bis auf einen, und das kam ihm lachhafter als alles andere vor. Er fragte sich, ob der Beeb mit einem Song, der »My Baby Shaves Her Pussy« hieß, einen Hit landen könnte, und das erschien ihm so komisch, dass er einen Lachkoller bekam und sich vornübergebeugt mit den Händen auf den Knien abstützen musste.
Als der Anfall vorbei war, wischte er sich die zwiefache Rotzglocke von der Nase, schlenzte sie auf den Fußboden (da geht sie dahin, deine Einstufung als gutes Restaurant, dachte er, sorry, Burger King) und trottete zur Beeber-Linie zurück. Beim zweiten Versuch hatte er noch mehr Pech. Dabei sah er nichts doppelt oder so; er konnte nur den Beeb nicht festnageln.
Außerdem fühlte er sich doch ein bisschen kotzerig. Nicht sehr, aber er war froh, dass er keinen vierten Schluck genommen hatte. »Ich hätte meinen Popov gepoppt!«, sagte er und lachte. Dann ließ er einen volltönenden Rülpser hören, der beim Heraufkommen brannte. Scheiße. Er ließ die Pfeile liegen und ging zu den Matratzen zurück. Bevor er sich setzte, überlegte er, sein Vergrößerungsglas zu nehmen und nachzusehen, ob vielleicht etwas Klitzekleines darauf rumkrabbelte, entschied dann aber, dass er es lieber doch nicht wissen wollte. Er dachte daran, ein paar Oreos zu essen, hatte aber Angst davor, was sie im Magen anrichten könnten. Der fühlte sich, ehrlich gesagt, etwas empfindlich an.
Er streckte sich aus und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Er hatte gehört, wenn man wirklich betrunken sei, fange alles an, sich um einen zu drehen. Er spürte nichts dergleichen, aber ein Nickerchen konnte nicht schaden. Um das Schwipschen auszuschlafen, gewissermaßen.
»Aber nicht zu lange.«
Nein, nicht zu lange. Das wäre schlecht. Sollte er nicht zu Hause sein, wenn seine Eltern heimkamen, und sie ihn nicht finden können, würde er Ärger bekommen. George wahrscheinlich auch, weil er ihn allein gelassen hatte. Die Frage war nur, ob er auch wirklich aufwachen würde, wenn die St.-Joseph’s-Uhr schlug.
In diesen letzten klaren Sekunden erkannte Pete, dass er das einfach würde hoffen müssen. Weil er sich nicht länger wach halten konnte.
Er schloss die Augen.
Und schlief in dem verlassenen Restaurant ein.
Draußen, auf der I-95 in Richtung Süden, erschien ein Kombi unbestimmter Marke und unbestimmten Baujahrs. Er fuhr weit langsamer als die auf dem Turnpike vorgeschriebene Mindestgeschwindigkeit. Ein flott gefahrener Sattelschlepper musste auf die Überholspur ausweichen und ließ wütend seine Druckluftfanfare ertönen.
Der Kombi, der fast nur noch ausrollte, bog auf die Einfahrt zur Raststätte ab, ohne das große Schild GESCHLOSSEN BETRIEB EINGESTELLT NÄCHSTE RASTSTÄTTE 27 MI zu beachten. Er prallte gegen vier der orangeroten Fässer, die die Zufahrt blockierten, ließ sie beiseiterollen und kam ungefähr sechzig Meter vor dem ehemaligen Restaurantgebäude zum Stehen. Die Fahrertür ging auf, aber niemand stieg aus. Es gab kein Warnsignal (he, Dämlack, deine Tür ist offen). Sie hing einfach stumm offen.
Hätte Pete Simmons den Wagen beobachtet, anstatt zu schlafen, hätte er den Fahrer nicht sehen können. Der Kombi war über und über mit Schlamm bespritzt, und die Frontscheibe war völlig verschmiert. Was seltsam war, weil es in Neuengland seit über einer Woche nicht mehr geregnet hatte und der Turnpike staubtrocken war.
Unter dem bewölkten Aprilhimmel stand der Wagen ungefähr im ersten Drittel der Einfahrt. Die Fässer, die er umgefahren hatte, rollten aus. Die Fahrertür stand offen wie eine Einladung.
2. Doug Clayton (Prius, Bj. 2009)
Doug Clayton, seines Zeichens Versicherungsvertreter aus Bangor, war auf der Fahrt nach Portland, wo er eine Reservierung im Sheraton hatte. Er rechnete damit, spätestens um zwei Uhr dort zu sein. So hatte er reichlich Zeit für ein Nickerchen am Nachmittag (einen Luxus, den er sich selten leisten konnte), bevor er irgendwo auf der Congress Street zu Abend essen würde. Morgen würde er früh und munter im Portland Conference Center erscheinen, sein Namensschild erhalten und mit vierhundert weiteren Vertretern an einer Tagung zum Thema Naturkatastrophen mit dem Titel Feuer, Sturm und Überschwemmung: Elementarschadenversicherung im 21. Jahrhundert teilnehmen. Als Doug am Meilenstein 82 vorbeifuhr, näherte er sich seiner ganz persönlichen Katastrophe – die jedoch nichts mit dem zu tun hatte, was auf der Konferenz in Portland besprochen werden sollte.
Sein Koffer und seine Aktentasche lagen auf dem Rücksitz. Auf dem rechten vorderen Schalensitz lag eine Bibel (die King-James-Ausgabe; für Doug kam keine andere infrage). Er war einer von vier Laienpredigern der Kirche des Heiligen Erlösers, und wenn er mit dem Predigen an der Reihe war, bezeichnete er seine Bibel gern als »das ultimative Versicherungshandbuch«.
Doug hatte Jesus Christus nach zehnjährigem Trinken (das im späten Teenageralter begonnen und bis weit in seine Zwanziger gereicht hatte) als persönlichen Erlöser angenommen. Diese ein Jahrzehnt andauernde Sauftour hatte mit einem Totalschaden und dreißig Tagen im Penobscot County Jail geendet. In der ersten Nacht in jener übel riechenden, sarggroßen Haftzelle war er auf die Knie gesunken und hatte seither jeden Abend auf den Knien gelegen.
»Hilf mir, besser zu werden«, hatte er bei jenem ersten Mal und seitdem immer wieder gebetet. Das war ein einfaches Gebet, das erst zweifach, dann zehnfach, dann hundertfach beantwortet worden war. In ein paar Jahren, glaubte er, würde er tausendfach erreichen können. Und das Beste daran? Zuletzt erwartete einen das Paradies.
Seine Bibel war ziemlich abgenutzt, weil er jeden Tag darin las. Er mochte alle Geschichten darin, aber die eine, die er am meisten mochte und über die er am häufigsten meditierte, war das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Über diesen Abschnitt des Lukasevangeliums hatte er schon mehrmals gepredigt, und die Gemeinde der Erlöserkirche hatte ihn anschließend immer großzügig gelobt, Gott segne sie.
Vermutlich lag es daran, dass dieses Gleichnis ihn so persönlich betraf. An dem am Straßenrand liegenden ausgeraubten und verletzten Reisenden war zunächst ein Priester vorübergegangen; das hatte auch ein Levit getan. Und wer kommt dann vorbei? Ein böser, Juden hassender Samariter. Er jedoch ist derjenige, der hilft – Judenhasser hin oder her. Er gießt Öl und Wein auf die Wunden des Reisenden, dann verbindet er sie. Er lädt den Verletzten auf seinen Esel und bezahlt ihm ein Zimmer in der nächsten Herberge.
»Welcher dünkt dich, der unter diesen dreien der Nächste sei gewesen dem, der unter die Mörder gefallen war?«, fragt Jesus den jungen Staranwalt, der ihn nach den Voraussetzungen für das ewige Leben gefragt hat. Und der Staranwalt, offensichtlich nicht dumm, erwidert: »Der die Barmherzigkeit an ihm tat.«
Wenn Doug Clayton einen Horror vor irgendetwas hatte, dann davor, wie der Levit in diesem Gleichnis zu sein. Hilfe zu verweigern, wo Hilfe gebraucht wurde. Auf der anderen Seite vorbeigehen. Als er den schlammigen Kombi ein kleines Stück weit in der Einfahrt der ehemaligen Raststätte stehen sah – die umgefahrenen orangeroten Fässer davor, die Fahrertür halb offen –, zögerte er daher nur kurz, bevor er den Blinker setzte und in die Einfahrt abbog.
Er hielt hinter dem Kombi und schaltete die Warnblinkanlage ein. Als er gerade aussteigen wollte, fiel ihm auf, dass der Kombi hinten kein Kennzeichen zu haben schien – obwohl er so verdammt schlammig war, dass sich das kaum genau feststellen ließ. Doug nahm sein Mobiltelefon aus der Mittelkonsole und vergewisserte sich, dass es eingeschaltet war. Ein barmherziger Samariter zu sein war so weit in Ordnung; sich einer nicht gekennzeichneten Rostlaube ohne Vorsichtsmaßnahmen zu nähern wäre einfach dumm gewesen.
Mit dem locker in der Linken gehaltenen Handy ging er auf den Kombi zu. Jawoll, kein Kennzeichen, das hatte er richtig gesehen. Er linste durch die Heckscheibe, konnte aber nichts erkennen. Zu viel Schlamm. Er ging auf die Fahrertür zu, dann blieb er stehen und betrachtete den Wagen stirnrunzelnd als Ganzes. War das ein Ford oder ein Chevy? Der Teufel sollte ihn holen, wenn er das erkennen konnte. Was irgendwie merkwürdig war, weil er in seiner beruflichen Laufbahn Tausende von Kombis versichert haben musste.
Ob der wohl umgebaut war, fragte er sich. Na, vielleicht … Aber wer würde sich die Mühe machen, einen Kombi in etwas so Anonymes umzubauen?
»Hi, hallo? Alles in Ordnung?«
Er ging auf die Tür zu und umklammerte dabei unmerklich sein Handy etwas fester. Er musste an irgendeinen Film denken, der ihm als Kind eine Heidenangst eingejagt hatte, irgendeine Geschichte von einem Spukhaus. Eine Gruppe von Teenagern hatte sich dem alten, verlassenen Haus genähert, und als einer sah, dass die Tür offen stand, hatte er seinen Kumpels zugeflüstert: »Seht mal, sie ist offen!« Man hätte sie gern davor gewarnt, dort reinzugehen, aber sie hatten es natürlich getan.
Das war Blödsinn. Falls jemand in diesem Wagen war, könnte er verletzt sein.
Natürlich konnte der Kerl ins Restaurant weitergegangen sein – vielleicht auf der Suche nach einem Münztelefon –, aber wenn er wirklich verletzt war …
»Hallo?«
Doug streckte die Hand nach dem Türgriff aus, überlegte es sich dann anders und bückte sich, um hineinzulugen. Was er zu sehen bekam, war erschreckend: Die Vordersitzbank war ebenso mit Schlamm bedeckt wie das Lenkrad und das Instrumentenbrett. Dunkler Schleim tropfte von den altmodischen Drehknöpfen des Radios, und auf dem Lenkrad zeichneten sich Spuren ab, die zu seltsam aussahen, als dass sie von Händen stammen konnten. Die Handflächenabdrücke waren schrecklich groß, während die Fingerspuren schmal wie Bleistiftabdrücke waren.
»Ist da drinnen jemand?« Er nahm das Handy in die rechte Hand und griff mit der linken nach der Fahrertür. Er wollte sie ganz öffnen, um einen Blick auf den Rücksitz zu werfen. »Ist jemand ver…«
Er hatte einen Augenblick lang Zeit, den scheußlichen Gestank wahrzunehmen, dann explodierte seine linke Hand mit einem Schmerz, der so stark war, dass er den gesamten Körper durchzuckte und eine Feuersbrunst hinter sich herzuziehen schien, die jeder Faser Höllenqualen bereitete. Doug schrie nicht, konnte nicht schreien. Seine Kehle war von dem plötzlichen Schock gelähmt. Er sah nach unten und stellte fest, dass der Türgriff offenbar seine Handfläche aufgespießt hatte.
Die Finger waren kaum noch da. Er konnte nur noch Stummel sehen – alles bis unmittelbar zu den Knöcheln, wo der Handrücken begann, war irgendwie von der Tür verschluckt worden. Während Doug das alles betrachtete, brach der Ringfinger. Sein Ehering fiel klirrend auf den Asphalt.
Er konnte etwas spüren, o Gott und liebster Jesus, etwas wie Zähne. Sie kauten. Der Wagen fraß seine Hand.
Doug versuchte die Hand zurückzuziehen. Das Blut spritzte, teils gegen die schlammige Tür, teils auf seine Hose. Die Blutstropfen auf der Tür verschwanden sofort mit einem schwachen Sauggeräusch: schlürf. Einen Augenblick lang sah es so aus, dass er wieder freikam. Er konnte glänzende Fingerknochen sehen, von denen das Fleisch gesaugt war, und hatte kurz das albtraumhafte Bild vor sich, wie er einen Hähnchenflügel von KFC abnagte. Leg ihn erst weg, wenn alles runter ist, hatte seine Mutter immer gesagt, dicht am Knochen ist das Fleisch am besten.
Dann wurde er wieder nach vorn gerissen. Die Fahrertür öffnete sich, um ihn willkommen zu heißen: Hallo, Doug, komm nur rein. Er prallte mit dem Kopf gegen die Türoberkante und spürte eine kalte Linie quer über die Stirn, die sofort brennend heiß wurde, als die Dachkante des Kombis durch seine Haut drang.
Er machte einen weiteren Fluchtversuch, indem er das Handy fallen ließ und sich mit der rechten Hand gegen das hintere Seitenfenster stemmte. Statt Halt zu bieten, gab die Scheibe nach und umklammerte gleich darauf seine Hand. Doug verdrehte die Augen und sah, dass die vermeintliche Glasscheibe jetzt wie eine Wasserfläche bei leichtem Wind Wellen schlug. Und wieso schlug sie Wellen? Weil sie kaute. Weil sie fraß.
Wenn das mein Lohn dafür ist, dass ich ein barmherziger Sam…
Die Oberkante der Fahrertür durchsägte die Schädeldecke und glitt mühelos ins Gehirn. Doug Clayton hörte ein lautes, helles Knacken, als zerbärste ein Tannenholzknoten in heißer Glut. Dann sank Dunkel über ihn herab.
Der Fahrer eines Lieferwagens, der nach Süden unterwegs war, blickte zufällig nach rechts und sah einen kleinen, grünen Wagen, der mit eingeschalteter Warnblinkanlage hinter einem mit Schlamm bedeckten Kombi stand. Ein Mann – vermutlich gehörte er zu dem kleinen, grünen Wagen – schien sich in die offene Tür des Kombis zu beugen und mit dem Fahrer zu sprechen. Panne, dachte der Lieferwagenfahrer und konzentrierte sich wieder auf den Verkehr. Kein barmherziger Samariter, er nicht.
Doug Clayton wurde in das Fahrzeug gerissen, als hielten Hände – welche mit großen Handflächen und bleistiftdünnen Fingern – ihn am Hemd gepackt und zerrten daran. Der Kombi verlor seine Form und kräuselte sich nach innen wie ein Mund von jemand, der etwas außergewöhnlich Saures kostete – oder etwas außergewöhnlich Süßes. Aus seinem Inneren kam eine Folge einander überlappender Knackgeräusche – als würde ein Mann mit schweren Stiefeln durch dürres Gehölz stapfen. Der Kombi blieb ungefähr zehn Sekunden lang nach innen gekräuselt und sah dabei mehr wie eine klumpige Faust als wie ein Auto aus. Dann sprang er mit einem Ploppen, als würde ein Tennisball mit Schwung von einem Schläger getroffen, in seine Kombiform zurück.
Die Sonne spitzte durch die Wolken, spiegelte sich auf dem fallen gelassenen Handy und beschrieb kurz einen heißen Lichtkreis um Dougs Ehering. Dann ging sie wieder hinter den Wolken in Deckung.
Hinter dem Kombi blinkte der Prius mit seinen Warnblinkern. Das leise Geräusch erinnerte an ein Uhrwerk: Tick … tick … tick.
Einige weitere Autos fuhren vorbei. Die beiden Arbeitswochen vor und nach Ostern waren die verkehrsärmsten Zeiten auf Amerikas Turnpikes, und der Nachmittag war die zweitschwächste Zeit des Tages; nur in den Stunden zwischen Mitternacht und fünf Uhr war der Verkehr noch schwächer.
Tick … tick … tick.
In dem ehemaligen Restaurant schlief Pete Simmons weiter.
3. Julianne Vernon (Dodge Ram, Bj. 2005)
Julie Vernon brauchte keine alte King-James-Bibel. Sie wusste auch so, was einen zu einem barmherzigen Samariter machte. In der 2400 Seelen zählenden Kleinstadt Readfield, Maine, wo sie aufgewachsen war, gehörte Nachbarschaftshilfe zum Lebenswandel und wurden auch Fremde wie Nachbarn behandelt. Das hatte ihr niemand eintrichtern müssen; sie hatte es sich von ihrer Mutter, ihrem Vater und ihren großen Brüdern angeeignet. Die verloren kaum ein Wort über solche Dinge, aber mit gutem Beispiel voranzugehen war nun einmal die wirkungsvollste Unterweisung. Wenn man jemand am Straßenrand liegen sah, spielte es keine Rolle, ob er ein Samariter oder ein Marsianer war. Man hielt an und half.
Sie hatte auch nie gefürchtet, sie könnte von jemand, dessen Hilfsbedürftigkeit nur vorgetäuscht war, ausgeraubt, vergewaltigt oder ermordet werden. Als die Schulkrankenschwester sie in der fünften Klasse nach ihrem Gewicht gefragt hatte, hatte Julie stolz geantwortet: »Mein Dad sagt, dass ich ungefähr fünfundsiebzig auf die Waage bringe. Ohne Klamotten etwas weniger.« Jetzt, mit fünfunddreißig, brachte sie eher hundertfünfundzwanzig auf die Waage und hatte kein Interesse daran, irgendeinem Mann eine gute Ehefrau zu sein. Sie war lesbisch wie nur irgendwas und stolz darauf. Auf der hinteren Stoßstange ihres Rams klebten zwei Aufkleber. Einer forderte: GLEICHES RECHT FÜR JEDES GESCHLECHT. Der andere, in grellem Pink, verkündete: SCHWUL IST EIN GEILES WORT!
Die Aufkleber waren jetzt nicht zu sehen, weil ihr Pferdeanhänger die Sicht darauf verdeckte. Sie hatte in der Kleinstadt Clinton eine zweijährige Spanish-Jennet-Stute gekauft, mit der sie nun auf der Rückfahrt nach Readfield war, wo sie mit ihrer Partnerin auf einer Farm lebte, die nur zwei Meilen von ihrem Elternhaus entfernt war.
Eben dachte sie, wie so oft, an ihre fünf Jahre auf Tournee mit The Twinkles, einem Frauenteam für Schlammringkämpfe. Jene Jahre waren sowohl gut als auch schlecht gewesen. Schlecht, weil die Twinkles allgemein als Monstrositätenkabinett betrachtet wurden (was sie in gewisser Weise wohl auch waren). Und gut, weil sie mit den Mädels so viel von der Welt gesehen hatte. Hauptsächlich von der amerikanischen Welt, wohl wahr, aber die Twinkles waren einmal drei Monate lang durch England, Frankreich und Deutschland getourt, wo sie fast unheimlich freundlich und respektvoll behandelt worden waren. Mit anderen Worten: wie junge Damen.
Sie besaß immer noch ihren Reisepass und hatte ihn erst im Jahr zuvor verlängern lassen, obwohl sie vermutlich nie wieder ins Ausland reisen würde. Was mehr oder weniger in Ordnung war. Meistens war sie auf der Farm mit Amelia und ihrer bunt gescheckten Menagerie aus Hunden, Katzen und Vieh glücklich, aber gelegentlich vermisste sie auch die Zeit auf Tournee – die One-Night-Stands, die Kämpfe im Scheinwerferlicht und die raue Kameradschaft der anderen Girls. Manchmal fehlte ihr sogar der oft derbe Kontakt mit dem Publikum.
»Pack sie an der Fotze, sie ist ’ne Lesbe, das mag sie!«, hatte irgendein schwachsinniger Bauernlümmel eines Nachts gebrüllt – in Tulsa war das gewesen, wenn sie sich recht erinnerte.
Sie und Melissa, das Mädchen, mit dem sie in der Schlammarena gerungen hatte, hatten sich angesehen, sich zugenickt, waren aufgestanden und hatten sich dem Zuschauerblock zugewandt, aus dem der Ruf gekommen war. Sie hatten mit nichts als ihren klatschnassen Bikinihöschen, mit von Haaren und Brüsten tropfendem Schlamm dagestanden und dem Zwischenrufer gemeinsam den Stinkefinger gezeigt. Das Publikum hatte spontan mit Beifall reagiert … der dann zur stehenden Ovation wurde, nachdem Julianne, gefolgt von Melissa, sich umdrehte, vornüberbeugte, das Höschen herunterzog und dem Arschloch den blanken Hintern zeigte.
Sie war in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass man sich um jemand kümmerte, der hingefallen war und nicht mehr hochkam. Sie war auch in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass man sich keinen Scheiß gefallen ließ – nicht was eines Pferde, eines Statur, eines Beruf oder eines sexuelle Vorlieben betraf. Sobald man anfing, sich Scheiß gefallen zu lassen, konnte das leicht zum Dauerzustand werden.
Die CD, die sie gerade hörte, war zu Ende, und sie wollte eben die Auswurftaste drücken, als sie vor sich einen Wagen sah, der ein kleines Stück weit in der Einfahrt zur ehemaligen Raststätte Mile 81 stand. Seine Warnblinkanlage war eingeschaltet. Vor ihm stand ein weiteres Auto, eine schlammige alte Schrottkiste von einem Kombi. Vermutlich ein Ford oder ein Chevrolet, die Marke war schwer auszumachen.
Julie traf keine Entscheidung, weil es keine zu treffen gab. Sie setzte den Blinker, sah dann, dass in der Einfahrt kein Platz für sie sein würde, nicht mit dem Anhänger im Schlepp, und fuhr auf der Standspur so weit nach rechts, wie sie konnte, ohne dass die Räder im weichen Untergrund neben dem Asphalt versanken. Jetzt das Pferd umzuwerfen, für das sie gerade achtzehnhundert Dollar bezahlt hatte, wäre das Letzte gewesen.
Hier war vermutlich nichts Ernstes vorgefallen, aber nachzusehen konnte nicht schaden. Man wusste nie, ob nicht gerade irgendeine Frau beschlossen hatte, auf der Interstate ein Baby zu bekommen, oder irgendein Kerl, der hilfsbereit gehalten hatte, vor Aufregung in Ohnmacht gefallen war. Julie schaltete ihre Warnblinkanlage ein, die jedoch kaum zu sehen war, weil der Pferdeanhänger die Blinker verdeckte.
Sie stieg aus und blickte zu den beiden Wagen hinüber, sah aber keine Menschenseele. Möglicherweise hatte jemand die Insassen mitgenommen, aber wahrscheinlich waren sie nur zum Restaurant weitergegangen. Julie bezweifelte, dass sie dort viel finden würden; es war seit letztem September geschlossen. Sie selbst hatte oft an der Raststätte Mile 81 gehalten, um sich eine Waffeltüte mit Frozen Yogurt zu holen, seither holte sie sich ihren Imbiss zwanzig Meilen weiter nördlich, bei Damon’s in Augusta.
Sie ging nach hinten zu dem Anhänger, und ihr neues Pferd – das DeeDee hieß – streckte das Maul heraus. Julie streichelte über die Nüstern. »Ruhig, Baby, ganz ruhig. Das dauert nur einen Augenblick.«
Sie öffnete die zweiflüglige Hecktür, um an die Werkzeugkiste an der linken Wand heranzukommen. DeeDee fand, dass es eine günstige Gelegenheit war, dem Anhänger zu entfliehen, aber Julie versperrte ihr mit einer massigen Schulter den Weg und murmelte dabei wieder: »Ruhig, Baby, ganz ruhig.«
Sie klappte den Deckel der Stahlkiste auf. Auf dem Werkzeug lagen ein paar Warnfackeln und zwei Mini-Warnkegel in fluoreszierendem Pink. Julie hakte je einen Finger in die hohlen Spitzen der Kegel (an einem allmählich aufklarenden Nachmittag waren Warnfackeln überflüssig), klappte den Deckel zu und verriegelte ihn, weil sie nicht wollte, dass DeeDee hineintrat und sich vielleicht verletzte. Dann schloss sie die Türflügel. DeeDee streckte wieder den Kopf heraus. Obwohl Julie eigentlich nicht glaubte, dass ein Pferd besorgt aussehen könnte, tat DeeDee irgendwie genau das.
»Dauert nicht lange«, sagte sie. Dann stellte sie die Warnkegel hinter den Anhänger und machte sich auf den Weg zu den beiden Wagen.
Der Prius war leer, aber nicht abgesperrt. Was Julie nicht besonders gefiel, weil auf dem Rücksitz ein Koffer und eine ziemlich teuer aussehende Aktentasche lagen. Die Fahrertür des alten Kombis stand offen. Julie wollte gerade darauf zugehen, blieb dann aber stirnrunzelnd stehen. Auf dem Asphalt unter der offenen Tür lagen ein Handy und etwas, was fast nichts anderes als ein Ehering sein konnte. Über das Handygehäuse zog sich ein großer gezackter Sprung, als wäre das Gerät zu Boden gefallen. Und auf dem kleinen Display, auf dem sonst immer die Rufnummern erschienen … War das ein Tropfen Blut?
Vermutlich nicht, vermutlich war es nur Schlamm – der Kombi war über und über damit bedeckt –, aber Julie gefiel das alles immer weniger. Vor dem Einladen war sie mit DeeDee einen leichten, kurzen Galopp geritten, und sie hatte ihren zweckmäßigen geteilten Reitrock gleich für die Heimfahrt anbehalten. Jetzt holte sie ihr eigenes Handy aus der rechten Rocktasche und überlegte, ob sie die Notrufnummer eintippen sollte.
Nein, entschied sie, noch nicht. Aber wenn der über und über mit Schlamm bedeckte Kombi so leer war wie der kleine grüne Wagen oder dieser daumennagelgroße Fleck auf dem fallen gelassenen Handy sich wirklich als Blut erwies, würde sie es tun. Und genau hier warten, bis ein Streifenwagen der State Police kam, anstatt zu dem leer stehenden Gebäude weiterzugehen. Sie war mutig, und sie war gutherzig, aber sie war nicht blöd.