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Ein Leben mit der Angst im Nacken
Nach 14 Jahren Ehehölle bringt Rosie Daniels endlich die Kraft auf, vor der Gewalt ihres brutalen Mannes zu fliehen. Doch der ist ein rachelüsterner Cop und folgt ihr dicht auf den Fersen ...
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Seitenzahl: 940
DAS BUCH
Höllenqualen und panische Angst gehören zum Ehealltag von Rosie Daniels, die mit dem brutalen Polizisten Norman verheiratet ist. Vierzehn Jahre lang hält sie es aus. Sie übersteht es sogar, als Normans Schläge ihr das Baby nehmen, das in ihrem Bauch heranwächst. Aber dann kommt der Tag, an dem sie einfach aus der Tür geht und in den nächsten Bus steigt. Unterwegs trifft Rosie nicht nur Menschen, die ihr weiterhelfen; sie stößt auch auf ein Ölgemälde, das sie sofort gefangen nimmt und ihr auf mythische Weise Kraft zu geben scheint. Doch während Rosie in ein selbstbestimmtes neues Leben aufbricht, verfolgt der von Rachegelüsten besessene Norman längst ihre Spur…
DER AUTOR
Stephen King, geboren 1947, ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Er hat weltweit über 400 Millionen Bücher in mehr als 40 Sprachen verkauft und erhielt den Sonderpreis der National Book Foundation für sein Lebenswerk.
DASBILD
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Joachim Körber
Wilhelm Heyne Verlag
München
Die Originalausgabe
ROSE MADDER
erschien bei Viking, Penguin Inc., New York
Vollständige deutsche Taschenbuchausgabe 09/2013
Copyright © 1995 by Richard Bachman
Copyright © 1995 der deutschsprachigen Ausgabe
und Copyright © 2013 dieser Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Umschlaggestaltung und Motiv: Hauptmann und Kompanie
Werbeagentur, Zürich unter Verwendung einer
Illustration von © Anja Filler
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-12797-8
www.heyne.de
Für Joan Marks
Ich bin richtig Rosie,
Und ich bin Rosie Richtig,
Ihr glaubt mir lieber,
Ich bin ziemlich wichtig …
Maurice Sendak
Ein blutiger
Dotter. Ein Brandloch,
das sich in einem Blatt Papier ausbreitet.
Eine erboste Rose, die gerade zu erblühen droht.
May Swenson
Prolog – Dunkle Küsse
Sie sitzt in der Ecke und versucht, Luft in einem Zimmer einzuatmen, in dem es bis eben noch genügend gegeben hat, die aber nun völlig verschwunden zu sein scheint. Wie aus weiter Ferne hört sie ein dünnes Hchch-hchch und weiß, es ist die Luft, die ihren Hals hinabströmt und in fiebrigen, kurzen Stößen wieder entweicht, aber das ändert nichts an dem Gefühl, dass sie hier in der Ecke ihres Wohnzimmers ertrinkt, während sie die Fetzen des Romans betrachtet, in dem sie gelesen hatte, als ihr Mann nach Hause kam.
Nicht dass es ihr viel ausmacht. Die Schmerzen sind so groß, sie kann nicht auf Nebensächlichkeiten wie Atmung oder die Tatsache achten, dass kein Sauerstoff mehr in der Luft zu sein scheint, die sie einatmet. Die Schmerzen haben sie verschluckt wie der Wal angeblich Jonas, diesen heiligen Kriegsdienstverweigerer. Sie pochen wie eine giftige Sonne, die tief in ihrem Inneren scheint, an einer Stelle, wo bis heute Abend nur das angenehme Gefühl von etwas heranwachsenden Neuem vorgeherrscht hat. Etwas Gutem.
Schmerzen wie diese hat sie, soweit sie sich erinnern kann, noch niemals empfunden– nicht einmal damals, mit dreizehn, als sie mit dem Fahrrad einem Schlagloch ausweichen wollte, stürzte, sich den Kopf auf dem Asphalt aufschlug und eine Platzwunde zuzog, die, wie sich später herausstellte, genau elf Stiche lang war. Sie erinnerte sich an eine silberne Lanze des Schmerzes, gefolgt von einer dunklen, sternenerfüllten Überraschung, die in Wirklichkeit eine kurze Ohnmacht gewesen war… aber jene Schmerzen hielten keinem Vergleich mit diesen Qualen stand. Diesen schrecklichen Qualen. Ihre Hand auf ihrem Bauch spürt Haut, die keine Haut mehr ist; als wäre ihr Leib aufgeschnitten und das lebende Baby durch einen heißen Stein ersetzt worden.
O Gott, bitte, denkt sie. Bitte lass das Baby unversehrt sein.
Aber jetzt, wo ihr Atmen sich endlich ein wenig normalisiert, stellt sie fest, dass das Baby nicht unversehrt ist, dass er dafür gesorgt hat. Wenn du im vierten Monat schwanger bist, dann ist das Baby immer noch mehr ein Teil von dir als von sich selbst, und wenn du in einer Ecke hockst, das Haar dir in verschwitzten Strähnen am Gesicht klebt und du dich fühlst, als hättest du einen heißen Stein verschluckt…
Etwas haucht dunkle, feuchte Küsse auf die Innenseiten ihrer Oberschenkel.
»Nein«, flüstert sie. »Nein. O gütiger Gott, nein. Großer Gott, barmherziger Gott, lieber Gott, nein.«
Lass es Schweiß sein, denkt sie. Lass es Schweiß sein…oder vielleicht hab ich mir auch in die Hose gemacht. Ja, das ist es wahrscheinlich. Als er mich zum dritten Mal geschlagen hat, hat es so wehgetan, dass ich mir in die Hose gemacht und es nicht mal bemerkt habe. Das ist es.
Aber es ist weder Schweiß noch Pipi. Es ist Blut. Sie sitzt hier, in der Ecke des Wohnzimmers, betrachtet das verstümmelte Taschenbuch, das halb auf dem Sofa und halb unter dem Beistelltisch liegt, und ihre Gebärmutter ist im Begriff, das Baby zu erbrechen, das sie bis jetzt ohne Beschwerden oder irgendwelche Probleme getragen hat.
»Nein«, stöhnt sie. »Nein, lieber Gott, bitte sag nein.«
Sie kann den Schatten ihres Mannes sehen, der verzerrt und in die Länge gezogen wie eine Vogelscheuche oder der Schatten eines Gehängten an der Wand des Durchgangs vom Wohnzimmer in die Küche tanzt. Sie kann einen Schattentelefonhörer sehen, der an ein Schattenohr gepresst wird, und den langen Schatten der Spiralkordel. Sie kann sogar seine Schattenfinger sehen, die die Spiralen aus dem Kabel drehen, sie einen Moment lang festhalten und dann in ihre ursprüngliche Form zurückschnalzen lassen wie eine schlechte Gewohnheit, die man einfach nicht ablegen kann.
Ihr erster Gedanke ist, dass er die Polizei ruft. Was selbstverständlich lächerlich ist– er ist die Polizei.
»Ja, ein Notfall«, sagt er. »Das können Sie aber singen, wunderbar, und sie ist obendrein schwanger.« Er horcht, lässt die Schnur durch die Finger gleiten, und als er wieder spricht, ist sein Ton gereizt. Die Andeutung von Zorn in seiner Stimme lässt ihre Angst wieder aufflackern und füllt ihren Mund mit einem metallischen Geschmack. Wer würde sich mit ihm anlegen, ihm widersprechen? Oh, wer könnte so närrisch sein, das zu tun? Selbstverständlich nur jemand, der ihn nicht kannte– der ihn nicht so kannte, wie sie ihn kannte. »Selbstverständlich werde ich sie nicht bewegen, halten Sie mich für einen Idioten?«
Ihre Finger gleiten unter ihr Kleid und am Schenkel hinauf zum durchnässten, heißen Baumwollstoff ihres Schlüpfers. Bitte, denkt sie. Wie oft ist ihr dieses Wort durch den Kopf gegangen, seit er ihr das Buch aus den Händen gerissen hat? Sie weiß es nicht, aber da ist es schon wieder. Bitte lass die Flüssigkeit an meinen Fingern klar sein. Bitte, lieber Gott. Bitte lass sie klar sein.
Aber als sie die Hand unter dem Kleid hervorzieht, sind ihre Fingerspitzen rot von Blut. Noch während sie sie betrachtet, frisst sich ein monströser Krampf durch ihr Inneres wie das Blatt einer Säge. Sie muss die Zähne zusammenbeißen, um einen Schrei zu unterdrücken. Sie hat Verstand genug, in diesem Haus nicht zu schreien.
»Vergessen Sie diesen Quatsch, kommen Sie einfach her! Aber dalli!« Er knallt den Hörer auf die Gabel.
Sein Schatten tanzt an der Wand und schwillt an, und plötzlich steht er unter dem Torbogen und sieht sie mit seinem geröteten, hübschen Gesicht an. Die Augen in diesem Gesicht sind so ausdruckslos wie Glasscherben, die am Rand einer Landstraße funkeln.
»Nun sieh dir das an«, sagt er, hebt kurz beide Hände und lässt sie dann mit einem leisen Klatschen wieder an die Seite sinken. »Sieh dir diese Schweinerei an.«
Sie streckt ihm die eigene Hand entgegen, zeigt ihm die blutigen Fingerspitzen– einen deutlicheren Vorwurf wagt sie nicht.
»Ich weiß«, sagt er, als würde die Tatsache, dass er es weiß, alles erklären und die ganze Angelegenheit in einen zusammenhängenden, rationalen Kontext bringen. Er wendet sich ab und betrachtet starr das zerfetzte Taschenbuch. Er hebt das Stück auf der Couch auf, dann bückt er sich und holt das unter dem Beistelltisch hervor. Als er sich aufrichtet, kann er den Umschlag sehen, der eine Frau in weißer Bauernbluse zeigt, die am Bug eines Schiffs steht. Ihr Haar weht dramatisch im Wind und entblößt die alabasterfarbenen Schultern. Der Titel, Miserys Reise, ist mit roten Buchstaben geprägt.
»Das ist das Problem«, sagt er und fuchtelt mit den Überresten des Taschenbuchs vor ihr wie ein Mann mit einer zusammengerollten Zeitung vor einem Welpen, der auf den Boden gepinkelt hat. »Wie oft hab ich dir schon gesagt, was ich davon halte, dass du so einen Mist liest?«
An sich lautet die Antwort darauf: niemals. Sie weiß, sie könnte hier genauso in der Ecke sitzen und eine Fehlgeburt haben, wenn er nach Hause gekommen wäre und gesehen hätte, wie sie die Nachrichten im Fernsehen anschaute oder einen Knopf an einem seiner Hemden annähte, oder einfach nur auf der Couch lag und ein Nickerchen machte. Es sind schwere Zeiten für ihn, eine Frau namens Wendy Yarrow macht ihm Ärger, und wenn Norman Ärger hat, müssen andere es ausbaden. Wie oft habe ich dir schon gesagt, was ich davon halte, dass du so einen Mist liest?, hätte er unabhängig davon gebrüllt, um was für einen Mist es sich handelte. Und dann, kurz bevor er mit den Fäusten loslegte: Ich will mit dir reden, Schatz. Aus der Nähe.
»Verstehst du nicht?«, flüstert sie. »Ich verliere das Baby.«
Es ist unglaublich, aber er lächelt. »Du kannst wieder eins bekommen«, sagt er. Als würde er ein Kind trösten, das seine Eistüte hat fallen lassen. Dann trägt er das zerrissene Taschenbuch in die Küche, wo er es zweifellos in den Mülleimer werfen wird.
Du Dreckskerl, denkt sie, ohne zu wissen, dass sie es denkt. Die Krämpfe setzen wieder ein, diesmal nicht nur einer, sondern viele, sie schwärmen in ihr aus wie grässliche Insekten, und sie streckt den Kopf tief in die Ecke und stöhnt. Du Dreckskerl, wie ich dich hasse.
Er kommt aus dem Durchgang und geht auf sie zu. Sie strampelt mit den Füßen und versucht, sich in der Wand zu verkriechen, während sie mit schreckerfüllten Augen zu ihm aufschaut. Einen Moment lang ist sie davon überzeugt, dass er sie diesmal umbringen wird, ihr nicht nur wehtun oder ihr das Baby nehmen, das sie sich so lange gewünscht hat, sondern sie richtig umbringen wird. Es hat etwas Unmenschliches an sich, wie er mit gesenktem Kopf, an den Seiten hängenden Händen und schwellenden Oberschenkelmuskeln auf sie zukommt. Bevor man Leute wie ihren Mann Schmier nannte, gab es einen anderen Ausdruck dafür, und dieser Ausdruck kommt ihr jetzt in den Sinn, als sie ihn mit dem gesenkten Kopf und Händen, die wie Pendel aus Fleisch an den Armen baumeln, das Zimmer durchqueren sieht, denn genau so sieht er aus– wie ein Bulle.
Sie stöhnt, schüttelt den Kopf, strampelt mit den Füßen. Ein Schuh gleitet von ihrem Fuß und bleibt auf der Seite liegen. Sie kann frische Schmerzen spüren, Krämpfe bohren sich in ihren Unterleib wie Anker mit alten, rostigen Widerhaken, und sie spürt mehr Blut fließen, kann aber nicht aufhören zu strampeln. Wenn er so ist, kann sie gar nichts in ihm sehen; nur eine Art schrecklicher Leere.
Er steht über ihr und schüttelt resigniert den Kopf. Dann geht er in die Hocke und schiebt die Arme unter sie. »Ich werde dir nicht wehtun«, sagt er, während er niederkniet, damit er sie ganz hochheben kann. »Also sei keine Memme.«
»Ich blute«, flüstert sie und erinnert sich, dass er der Person am Telefon gesagt hat, er würde sie nicht bewegen, selbstverständlich würde er das nicht tun.
»Ja, ich weiß«, antwortet er, aber ohne Interesse, geschweige denn Mitgefühl. Er sieht sich in dem Zimmer um und versucht zu entscheiden, wo der Unfall passiert ist– sie weiß so sicher, was er denkt, als wäre sie in seinem Kopf. »Macht nichts, es wird aufhören. Sie werden die Blutung stoppen.«
Werden sie auch die Fehlgeburt stoppen können?, schreit sie in ihrem eigenen Kopf, ohne daran zu denken, dass er es auch hören kann, wenn sie es kann, oder auf die argwöhnische Weise zu achten, wie er sie ansieht. Und wieder lässt sie sich selbst nicht hören, was sie noch denkt: Ich hasse dich. Hasse dich.
Er trägt sie durch das Zimmer zur Treppe. Er kniet nieder und legt sie am Fuß der Treppe hin.
»Bequem?«, fragt er fürsorglich.
Sie macht die Augen zu. Sie kann ihn nicht mehr ansehen, nicht jetzt. Sie glaubt, dass sie verrückt wird, wenn sie es tut.
»Gut«, sagt er, als hätte sie geantwortet, und als sie die Augen aufschlägt, sieht sie den Ausdruck, den er manchmal annimmt– diese Leere. Als wäre sein Geist weggeflogen und hätte nur den Körper zurückgelassen.
Wenn ich ein Messer hätte, könnte ich ihn erstechen, denkt sie… aber wieder ist es ein Gedanke, den sie sich nicht einmal selbst hören, geschweige denn ernsthaft in Erwägung ziehen lässt. Er ist nur ein tiefes Echo, möglicherweise ein Widerhall des Wahnsinns ihres Mannes, so sanft wie der Flügelschlag von Fledermäusen in einer Höhle.
Mit einem Mal strömt wieder Leben in sein Gesicht, und er steht mit knackenden Knien auf. Er sieht an seinem Hemd hinab und vergewissert sich, dass kein Blut daran ist. Prima. Er sieht in die Ecke, wo sie zusammengebrochen ist. Da ist Blut, ein paar Tropfen und Spritzer. Mehr Blut fließt aus ihr, schneller und heftiger; sie kann spüren, wie es sie mit einer ungesunden, irgendwie begierigen Wärme tränkt. Es ist ein Sturzbach, als hätte das Blut den Fremdling schon die ganze Zeit aus seiner winzigen Wohnstatt spülen wollen. Fast kommt es ihr vor– oh, was für ein schrecklicher Gedanke–, als hätte sich ihr eigenes Blut auf die Seite ihres Mannes gestellt… welche Seite das auch immer sein mag.
Er geht wieder in die Küche und bleibt etwa fünf Minuten dort. Sie kann hören, wie er sich zu schaffen macht, während die eigentliche Fehlgeburt stattfindet und die Schmerzen ihren Höhepunkt erreichen und mit einem flüssigen Schwall wieder abklingen, den sie so sehr spürt wie hört. Plötzlich ist ihr, als säße sie in einem Sitzbad voll warmer, dicklicher Flüssigkeit. Einer Art Blutsoße.
Sein in die Länge gezogener Schatten tanzt in dem Durchgang, als der Kühlschrank geöffnet und wieder geschlossen wird, und dann wird ein Schränkchen (das leise Quietschen verrät ihr, dass es das unter der Spüle ist) auf- und wieder zugemacht. Wasser läuft in das Spülbecken, und dann fängt er, kaum vorstellbar, etwas zu summen an– sie glaubt, es könnte »When a Man Loves a Woman« sein–, während ihr Baby aus ihr herausgespült wird.
Als er aus dem Durchgang herauskommt, hat er ein Sandwich in einer Hand– logisch, er hat noch kein Abendessen bekommen und muss hungrig sein– und einen feuchten Lappen aus dem Korb unter der Spüle in der anderen. Er geht in der Ecke in die Hocke, wohin sie gestolpert ist, nachdem er ihr das Taschenbuch aus der Hand gerissen und ihr drei feste Schläge in den Magen verpasst hat– wumm, wumm, wumm, leb wohl, Fremdling–, und macht sich daran, die getrockneten Blutstropfen und Spritzer mit dem Lappen aufzuwischen; der größte Teil des Blutes und der restlichen Schweinerei ist hier, an der Treppe, genau da, wo er sie haben will.
Beim Saubermachen isst er sein Sandwich. Sie findet, der Belag zwischen den Brotscheiben riecht wie der Rest des gegrillten Schweinefleischs, das sie am Samstagabend mit ein paar Nudeln machen wollte– eine leichte Mahlzeit vor dem Fernseher, während der Abendnachrichten.
Er schaut den Lappen an, der leicht rosa verfärbt ist, dann in die Ecke, dann wieder auf den Lappen. Er nickt, reißt einen großen Bissen aus dem Sandwich und steht auf. Als er diesmal wieder aus der Küche kommt, kann sie das leise Heulen einer näher kommenden Sirene hören. Wahrscheinlich der Krankenwagen, den er gerufen hat.
Er durchquert den Raum, kniet sich neben ihr hin und nimmt ihre Hände. Er runzelt die Stirn, weil sie so kalt sind, dann reibt er sie sanft, während er mit ihr spricht.
»Es tut mir leid«, sagt er. »Es ist einfach… so viel ist passiert… die Hure aus dem Motel…« Er verstummt, wendet sich einen Moment lang ab, dann sieht er sie wieder an. Er lässt ein seltsames, klägliches Lächeln sehen. Seht nur, wem ich das zu erklären versuche, scheint dieses Lächeln zu sagen. So weit ist es schon gekommen– herrje.
»Baby«, flüstert sie. »Baby.«
Er drückt ihre Hände, drückt sie so fest, dass es wehtut.
»Vergiss das Baby, hör mir zu. In einer oder zwei Minuten werden sie hier sein.« Ja– der Krankenwagen ist schon sehr nahe und saust heulend durch die Nacht wie ein unaussprechlicher Hund. »Du bist nach unten gegangen und ausgerutscht. Du bist gestürzt. Hast du verstanden?«
Sie sieht ihn schweigend an. Die Schmerzen in ihrem Unterleib klingen ein wenig ab, und als er ihr diesmal die Hände zusammendrückt– fester denn je–, spürt sie es wirklich und stöhnt.
»Hast du verstanden?«
Sie sieht in seine eingesunkenen, abwesenden Augen und nickt. Ein durchdringender Geruch von Salzwasser und Kupfer steigt rings um sie herum auf. Keine Blutsoße mehr– jetzt ist es, als würde sie in einem umgeschütteten Chemiebaukasten sitzen.
»Gut«, sagt er. »Weißt du, was passieren wird, wenn du etwas anderes sagst?«
Sie nickt.
»Sag es. Es ist besser für dich, wenn du es sagst. Sicherer.«
»Du würdest mich umbringen«, flüstert sie.
Er nickt zufrieden. Wie ein Lehrer, der einem denkfaulen Schüler eine komplizierte Antwort aus der Nase gezogen hat.
»Ganz recht. Und ich würde es auskosten. Bis ich mit dir fertig wäre, würde dir das, was heute Abend passiert ist, wie ein eingeklemmter Finger vorkommen.«
Draußen pulsiert scharlachrotes Licht in der Einfahrt.
Er nimmt den letzten Bissen seines Sandwichs in den Mund und steht auf. Er wird zur Tür gehen und sie hereinlassen, der besorgte Ehemann, dessen schwangere Frau unglücklich gestürzt ist. Bevor er sich abwenden kann, hält sie ihn an der Manschette seines weißen Hemds fest. Er schaut auf sie hinab.
»Warum?«, flüstert sie. »Warum das Baby, Norman?«
Einen Augenblick lang sieht sie einen Ausdruck in seinem Gesicht, den sie kaum glauben kann– so etwas wie Angst. Aber weshalb sollte er Angst vor ihr haben? Oder vor dem Baby?
»Es war ein Unfall«, sagt er. »Das ist alles, nur ein Unfall. Ich hatte nichts damit zu tun. Und so sollte es sich besser anhören, wenn du mit ihnen redest. Sonst gnade dir Gott.«
Sonst gnade mir Gott, denkt sie.
Draußen schlagen Türen; Schritte laufen zum Haus, das metallene Zähneklappern und Scheppern der Bahre ist zu hören, auf der sie an ihren Platz unter der Sirene gerollt werden wird. Er dreht sich noch einmal zu ihr um, sein Kopf ist in der Bullenhaltung gesenkt, seine Augen milchig.
»Du wirst wieder ein Baby bekommen, und so was wird nicht mehr passieren. Dem nächsten wird nichts geschehen. Ein Mädchen. Oder ein süßer kleiner Junge. Das Geschlecht spielt keine Rolle, richtig? Wenn es ein Junge wird, kaufen wir ihm ein kleines Baseballtrikot. Wenn es ein Mädchen wird…« Er macht eine unbestimmte Geste. »…eine Damenhaube oder so was. Wirst schon sehen. So wird es sein.« Dann lächelt er, und bei dem Anblick möchte sie am liebsten schreien. Als würde man einen Leichnam in seinem Sarg grinsen sehen. »Hör auf meine Worte, alles wird gut. Darauf kannst du dich verlassen, Herzblatt.«
Dann macht er die Tür auf, lässt die Sanitäter herein und sagt ihnen, sie sollten sich beeilen, überall sei Blut. Sie schließt die Augen, als sie zu ihr kommen, damit sie keine Möglichkeit haben, in ihr Innerstes zu sehen, und sie drängt ihre Stimmen so gut sie kann in den Hintergrund.
Keine Angst, Rose, mach kein Theater, es ist eine Kleinigkeit, nur ein Baby, du kannst ein neues haben.
Eine Nadel pikt in ihren Arm, dann wird sie hochgehoben. Sie lässt die Augen geschlossen und denkt: Ja, gut, ich schätze, ich kann ein neues Baby haben. Ich kann es haben und vor ihm in Sicherheit bringen. Vor seiner mörderischen Wut.
Aber die Zeit vergeht, und langsam verschwindet der Gedanke, ihn zu verlassen– der ohnehin nie richtig formuliert worden ist–, wie das Wissen um eine rationale, wache Welt im Schlaf versinkt; mit der Zeit gibt es keine Welt mehr für sie, außer der Welt des Traums, in dem sie lebt, eines Traums, der denen gleicht, die sie als kleines Mädchen hatte, in denen sie lief und lief, wie in einem Wald ohne Wege oder einem schattigen Labyrinth, während der Hufschlag eines großen Tieres sie verfolgte, ein Furcht einflößendes, wahnsinniges Geschöpf, das unaufhaltsam näher kam und sie irgendwann einmal erwischt hätte, sooft sie auch Haken schlug oder um Biegungen lief oder Spurts einlegte oder Kehrtwendungen machte.
Dem wachen Geist ist das Konzept des Traums bekannt, aber für den Träumenden gibt es kein Erwachen, keine wirkliche Welt, keine sichere Zuflucht; nur das kreischende Tohuwabohu des Schlafs. Rose McClendon Daniels schlief noch neun weitere Jahre im Wahnsinn ihres Mannes.
I – Ein Tropfen Blut
1
Alles in allem waren es vierzehn Jahre in der Hölle, aber das bekam sie kaum mit. Den größten Teil dieser Jahre verbrachte sie in einer so tiefen Benommenheit, dass sie dem Tode gleichkam, und mehr als einmal war sie fast davon überzeugt, dass sich ihr Leben so gar nicht abspielte, dass sie eines Tages erwachen, gähnen und sich strecken würde– so hübsch wie die Heldin eines Zeichentrickfilms von Walt Disney. Diesen Gedanken hatte sie meistens dann, wenn er sie so sehr verprügelt hatte, dass sie eine Weile das Bett hüten musste, um sich wieder zu erholen. Das machte er drei- bis viermal pro Jahr. 1985– das Jahr von Wendy Yarrow, das Jahr der offiziellen Disziplinarmaßnahme, das Jahr der »Fehlgeburt«– war es fast ein Dutzend Mal geschehen. Im September dieses Jahres erlebte sie den zweiten und letzten Krankenhausaufenthalt als Folge von Normans Anwandlungen– den jedenfalls bis jetzt letzten. Sie hatte Blut gehustet. Er hinderte sie drei Tage lang daran, zu gehen, weil er hoffte, es würde wieder aufhören, aber als es stattdessen schlimmer wurde, befahl er ihr einfach, was sie sagen sollte (er befahl ihr immer, was sie sagen sollte) und brachte sie ins St. Mary’s. Dorthin brachte er sie, weil die Sanitäter sie nach der »Fehlgeburt« ins City General gebracht hatten. Wie sich herausstellte, hatte sie eine gebrochene Rippe, die in die Lunge stach. Sie erzählte die Geschichte vom Sturz die Treppe hinunter zum zweiten Mal innerhalb von drei Monaten und war davon überzeugt, dass nicht einmal der Internist, der die Untersuchung und Behandlung überwachte, sie diesmal glaubte, aber niemand stellte unbequeme Fragen; sie verarzteten sie nur und schickten sie wieder nach Hause. Aber Norman wusste, er hatte Glück gehabt, und danach war er vorsichtiger.
Manchmal, wenn sie nachts im Bett lag, schossen ihr Bilder durch den Kopf wie seltsame Kometen. Das häufigste war das der Faust ihres Mannes, mit getrocknetem Blut an den Knöcheln und auf der Goldgravur seines Rings von der Polizeiakademie. Manchmal waren die Worte auf diesem Ring– Hilfsbereitschaft, Loyalität, Kameradschaft– am Morgen in die Haut ihres Bauchs gedrückt oder auf einer ihrer Brüste abgebildet. Dabei musste sie nicht selten an die blauen Stempel des Fleischbeschauers denken, die man auf Schweineschnitzeln oder Steaks sehen konnte.
Sie war immer dabei, gerade einzudösen, entspannt und gelöst, wenn diese Bilder kamen. Dann sah sie die Faust auf sich zukommen, wurde sofort hellwach und lag zitternd neben ihm und hoffte, er würde sich, selbst im Halbschlaf, nicht umdrehen und ihr einen Schlag in den Magen oder auf den Oberschenkel verpassen, weil sie ihn gestört hatte.
Sie kam in diese Hölle, als sie achtzehn war, und erwachte etwa einen Monat nach ihrem zweiunddreißigsten Geburtstag aus der Benommenheit, fast ein halbes Leben später. Was sie aufweckte, war ein einziger Tropfen Blut, nicht größer als ein Zehncentstück.
2
Sie sah ihn beim Bettenmachen. Er war auf dem Laken, auf ihrer Seite, etwa dort, wo das Kissen lag, wenn das Bett gemacht war. Sie hätte sogar das Kissen ein wenig nach links schieben und dadurch den Fleck verstecken können, der eingetrocknet eine hässlich kastanienbraune Farbe angenommen hatte. Sie sah, wie einfach es gewesen wäre, und fühlte sich versucht, es zu tun, und zwar hauptsächlich, weil sie das Laken nicht einfach wechseln konnte; sie hatte kein sauberes weißes Bettzeug mehr, und wenn sie eines mit Blumenmuster als Ersatz für das weiße mit dem Tropfen Blut darauf aufzog, würde sie auch das andere durch eines mit Blumenmuster ersetzen müssen. Wenn nicht, würde er sich mit Sicherheit beschweren.
Sieh sich einer das an, konnte sie ihn sagen hören. Die verdammten Laken passen nicht mal zusammen– unten ein weißes und darüber eines mit Blumen drauf. Herrgott, warum musst du soschlampig sein? Komm hierher, ich will mit dir reden– aus der Nähe.
Sie stand auf ihrer Seite des Bettes unter einem Strahl der Frühlingssonne, die faule Schlampe, die den ganzen Tag damit verbrachte, das kleine Haus zu putzen (ein einziger verschmierter Fingerabdruck in der Ecke des Badezimmerspiegels konnte Auslöser für einen Schlag sein) und zwanghaft darüber zu grübeln, was sie ihm zum Abendessen machen sollte; sie stand da und betrachtete den winzigen Blutfleck auf dem Laken, und dabei sah ihr Gesicht so völlig erschlafft und leblos aus, dass ein Beobachter sie für geistig zurückgeblieben hätte halten können. Ich hab gedacht, meine verdammte Nase hätte aufgehört zu bluten, sagte sie zu sich. Das hab ich wirklich.
Er schlug sie nicht oft ins Gesicht; dazu war er zu schlau. Ins Gesicht wurden die betrunkenen Arschlöcher geschlagen, die er in seiner Laufbahn als uniformierter Polizist und dann als städtischer Detective zu Hunderten verhaftet hatte. Schlug man jemand– zum Beispiel seine Frau– zu oft ins Gesicht, dann verloren die Geschichten vom Die-Treppe-Hinunterfallen, Mitten-in-der-Nacht-gegen-die-Toilettentür-Laufen oder Im-Garten-auf-den-Rechen-Treten ihre Glaubwürdigkeit. Dann merkten es die Leute. Dann redeten die Leute. Und mit der Zeit bekam man Ärger, auch wenn die Frau den Mund hielt, denn die Zeiten, als die Leute noch wussten, wie man sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmert, waren offensichtlich vorbei.
Das alles bezog jedoch nicht sein Temperament mit ein. Er hatte ein böses Temperament, ein sehr böses, und manchmal ging es einfach mit ihm durch. Das war gestern Abend passiert, als sie ihm das zweite Glas Eistee gebracht und dabei etwas auf seine Hand geschüttet hatte. Wumm, und ihre Nase blutete wie ein zerbrochenes Wasserrohr, ehe er noch recht wusste, was er tat. Sie sah seinen angewiderten Gesichtsausdruck, als ihr das Blut über Mund und Kinn lief, dann den Ausdruck besorgter Berechnung– wenn ihre Nase nun tatsächlich gebrochen sein sollte? Das bedeutete wieder einen Ausflug ins Krankenhaus. Einen Augenblick lang hatte sie gedacht, dass ihr nun eine richtige Tracht Prügel bevorstand, eine, nach der sie zusammengekrümmt in der Ecke lag, stöhnte und weinte und versuchte, so viel Luft zu bekommen, dass sie sich erbrechen konnte. In ihre Schürze. Immer in ihre Schürze. In diesem Haus schrie man nicht laut auf oder widersprach dem Hausherrn, und ganz sicher erbrach man sich nicht auf den Fußboden– das heißt, wenn man wollte, dass man den Kopf auf den Schultern behielt.
Dann hatte sein geschärfter Selbstschutzinstinkt die Oberhand gewonnen, und er hatte ihr einen mit Eis gefüllten Waschlappen geholt und sie ins Wohnzimmer geführt, wo sie sich aufs Sofa legte und den behelfsmäßigen Eisbeutel zwischen die tränenden Augen drückte. Dahin musste man ihn halten, informierte er sie, wenn man die Blutung rasch stoppen und die resultierende Schwellung gering halten wollte. Natürlich galt seine Hauptsorge der Schwellung. Morgen war Markttag, und eine geschwollene Nase konnte man nicht mit einer Sonnenbrille verbergen wie ein blaues Auge.
Dann hatte er zu Ende gegessen– gebratener Barsch und neue Röstkartoffeln.
Es gab keine nennenswerte Schwellung, wie ihr ein Blick heute Morgen in den Spiegel verraten hatte (er selbst hatte sie schon mit einem prüfenden Blick betrachtet und zufrieden genickt, bevor er eine Tasse Kaffee getrunken hatte und zur Arbeit gegangen war), und die Blutung hatte nach fünfzehn Minuten mit dem Eisbeutel aufgehört… hatte sie jedenfalls geglaubt. Aber irgendwann im Lauf der Nacht, während sie schlief, war ihr ein verräterischer Tropfen Blut aus der Nase gelaufen und hatte diesen Fleck hinterlassen, was bedeutete, sie musste trotz ihrer Rückenschmerzen das Bett abziehen und neu machen. In letzter Zeit hatte sie immer Rückenschmerzen; selbst wenn sie sich kaum bückte und nur leichte Sachen hob, hatte sie Schmerzen. Ihr Rücken war eines seiner liebsten Ziele. Im Gegensatz zu dem, was er »Schläge ins Gesicht« nannte, war es sicher, jemand in den Rücken zu schlagen… das heißt, wenn die fragliche Person ihren Mund halten konnte. Norman bearbeitete ihre Nieren seit vierzehn Jahren, und die Blutspuren, die sie immer häufiger in ihrem Urin fand, überraschten oder beunruhigten sie längst nicht mehr. Es war nur eine von vielen unangenehmen Begleiterscheinungen der Ehe, und wahrscheinlich gab es Millionen Frauen, denen es noch schlechter ging. Tausende allein in dieser Stadt. So hatte sie es jedenfalls immer gesehen, bis jetzt.
Sie betrachtete den Blutfleck, spürte ungewohnten Groll in ihrem Kopf pochen und spürte noch etwas, ein Kribbeln wie die Stiche winziger Nadeln, aber sie wusste nicht, dass es sich so anfühlte, wenn man endlich aufwachte.
Auf ihrer Seite des Betts stand ein kleiner Wiener Schaukelstuhl, den sie, ohne dass sie den Grund erklären konnte, immer als Pus Stuhl betrachtet hatte. Dorthin wich sie nun zurück und setzte sich, ohne den kleinen Blutfleck aus den Augen zu lassen, der auf dem weißen Laken prangte. Sie saß fast fünf Minuten in Pus Stuhl, und dann zuckte sie zusammen, als eine Stimme in dem Zimmer ertönte, weil sie anfangs gar nicht bemerkte, dass es ihre eigene war.
»Wenn es so weitergeht, wird er mich umbringen«, sagte sie, und als sie ihren ersten Schrecken überwunden hatte, nahm sie an, dass sie zu dem Blutstropfen sprach– dem kleinen Teil von ihr, der schon tot, der aus ihrer Nase gelaufen und auf dem Laken gestorben war.
Die Antwort darauf erfolgte nur in ihrem Kopf, und sie war unendlich viel schrecklicher als die Möglichkeit, die sie laut ausgesprochen hatte.
Vielleicht auch nicht. Hast du daran schon mal gedacht? Vielleicht auch nicht.
3
Sie hatte nicht daran gedacht. Der Gedanke, dass er sie eines Tages zu fest oder an der falschen Stelle schlagen würde, war ihr oft durch den Kopf gegangen (aber sie hatte ihn bis heute nie laut ausgesprochen, nicht einmal zu sich selbst), jedoch nie die Möglichkeit, dass sie überleben könnte…
Das Kribbeln in ihren Muskeln und Gelenken wurde stärker. Normalerweise saß sie nur mit im Schoß gefalteten Händen auf Pus Stuhl und sah über das Bett und durch die Badezimmertür ihr Bild im Spiegel, aber heute Morgen fing sie an zu schaukeln und bewegte den Stuhl mit kurzen, ruckartigen Bewegungen vor und zurück. Sie musste schaukeln. Das summende, kribbelnde Gefühl in ihren Muskeln verlangte, dass sie schaukelte. Um nichts auf der Welt wollte sie ihr eigenes Spiegelbild sehen, mochte ihre Nase auch kaum geschwollen sein.
Komm hier rüber, Süße, ich will mit dir reden– aus der Nähe.
Vierzehn Jahre lang. Hundertachtundsechzig Monate, angefangen damit, dass er sie in ihrer Hochzeitsnacht an den Haaren gezogen und in die Schulter gebissen hatte, weil sie eine Tür zugeschlagen hatte. Eine Fehlgeburt. Ein durchstochener Lungenflügel. Das Schreckliche, das er ihr mit dem Tennisschläger angetan hatte. Die alten Narben an den Stellen ihres Körpers, die von der Kleidung verborgen wurden. Größtenteils Bissspuren. Norman biss für sein Leben gern. Zuerst hatte sie sich einzureden versucht, dass es Liebkosungen waren. Seltsamer Gedanke, dass sie jemals so jung gewesen war, aber sie musste es wohl gewesen sein.
Komm hier rüber, ich will mit dir reden– aus der Nähe.
Plötzlich konnte sie das Kribbeln identifizieren, das mittlerweile ihren ganzen Körper ergriffen hatte. Sie verspürte Zorn, Wut, und diese Erkenntnis war von Staunen begleitet.
Verschwinde von hier, sagte dieser tief verborgene Teil von ihr plötzlich. Verschwinde auf der Stelle von hier, noch in dieser Minute. Nimm dir nicht mal Zeit, dich zu kämmen. Geh einfach.
»Das ist lächerlich«, sagte sie und schaukelte schneller denn je vor und zurück. Der Blutfleck auf dem Laken tanzte vor ihren Augen. Von hier aus sah er wie der Punkt unter einem Ausrufungszeichen aus. »Das ist lächerlich, wohin sollte ich gehen?«
Überallhin, wo er nicht ist, meldete sich die Stimme wieder. Aber du musst es sofort tun. Bevor…
Bevor was?
Das war einfach. Bevor sie wieder einschlief.
Ein anderer Teil ihres Verstands– der gewohnheitsmäßige, zaghafte Teil– stellte plötzlich fest, dass sie diesen Gedanken ernsthaft in Erwägung zog, und stimmte ein entsetztes Gezeter an. Ihr Heim verlassen, wo sie vierzehn Jahre gewohnt hatte? Das Haus, wo sie alles mit einem Griff finden konnte? Den Mann, der sie, wenn auch cholerisch und schnell mit den Fäusten, stets gut versorgt hatte? Der Gedanke war lächerlich. Sie musste ihn vergessen, und zwar sofort.
Und das hätte sie wahrscheinlich auch getan, mit ziemlicher Sicherheit getan, wäre da nicht der Tropfen Blut auf dem Laken gewesen. Der einzelne, dunkelrote Tropfen.
Dann schau eben nicht hin!, rief der Teil ihres Verstands nervös, der sich für praktisch und vernünftig hielt. Um Himmels willen, schau nicht hin, es wird dir nur Scherereien einhandeln!
Aber sie stellte fest, dass sie nicht mehr wegsehen konnte. Ihre Augen blieben starr auf den Fleck fixiert, und sie schaukelte noch schneller. Ihre in weiße flache Turnschuhe gekleideten Füße trommelten einen immer schnelleren Rhythmus auf dem Boden (das Kribbeln war inzwischen fast ausschließlich in ihrem Kopf, schüttelte ihr Gehirn durch, heizte sie auf), und sie dachte: Vierzehn Jahre. Vierzehn Jahre wollte er mit mir reden– aus der Nähe. Die Fehlgeburt. Der Tennisschläger. Drei Zähne, einen davon hab ich geschluckt. Die gebrochene Rippe. Die Schläge. Das Kneifen. Und natürlich die Bisse. Ziemlich viele Bisse. Ziemlich viele…
Hör auf! Es ist sinnlos, so was zu denken, weil du nicht fortgehen kannst, er würde dir folgen und dich zurückbringen, er würde dich finden, er ist Polizist, da gehört es zu seinen Aufgaben, Leute zu finden, darin ist er gut…
»Vierzehn Jahre«, murmelte sie, und jetzt dachte sie nicht an die letzten vierzehn, sondern an die nächsten. Denn die andere Stimme, die tiefere Stimme hatte recht. Vielleicht tötete er sie nicht. Vielleicht nicht. Und wie würde sie sein, wenn er noch mal vierzehn Jahre mit ihr redete– aus der Nähe? Würde sie sich noch bücken können? Würde sie eine Stunde täglich haben– oder auch nur fünfzehn Minuten–, wenn sich ihre Nieren nicht wie heiße Steine in ihrem Rücken anfühlen würden? Würde er sie möglicherweise so fest schlagen, dass eine wichtige Verbindung abstarb, sodass sie einen Arm oder ein Bein nicht mehr bewegen konnte oder eine Gesichtshälfte von ihr schlaff und ausdruckslos herunterhing wie bei der armen Mrs. Diamond, die im Store 24 unten am Hügel arbeitete?
Sie stand unvermittelt und so heftig auf, dass die Lehne von Pus Stuhl gegen die Wand schlug. Sie blieb einen Moment lang schwer atmend stehen, ohne den Blick von dem kastanienfarbenen Fleck abzuwenden, dann ging sie zur Tür ins Wohnzimmer.
Was machst du da?, kreischte Ms. Praktisch-Vernünftig in ihrem Kopf– der Teil von ihr, der es in Kauf zu nehmen schien, verstümmelt oder getötet zu werden, nur um weiterhin in den Genuss des Privilegs zu kommen, dass sie wusste, in welcher Schublade die Teebeutel waren und wo unter der Spüle sie die Putzlappen aufbewahrte. Wohin willst du denn überhaupt…
Sie brachte die Stimme zum Schweigen, obwohl sie bis zu diesem Augenblick nicht gewusst hatte, dass sie das konnte. Dann holte sie die Handtasche vom Tisch und ging durch das Wohnzimmer zur Eingangstür. Plötzlich kam ihr der Raum ziemlich groß vor, der Weg sehr weit.
Ich muss das hier Schritt für Schritt angehen. Wenn ich nur einen Schritt im Voraus plane, wird mich der Mut verlassen.
Aber eigentlich glaubte sie nicht, dass das ein Problem sein würde. Zunächst einmal hatte ihr Tun etwas Halluzinatorisches angenommen– ganz bestimmt konnte sie doch nicht einfach aus einer Laune heraus ihrem Haus und ihrer Ehe den Rücken kehren, oder? Es musste ein Traum sein, richtig? Und da war noch etwas: Nicht im Voraus zu planen, das war ihr in Fleisch und Blut übergegangen, angefangen in ihrer Hochzeitsnacht, als er sie wie ein Hund gebissen hatte, weil sie eine Tür zugeschlagen hatte.
Nun, du kannst nicht einfach so gehen, selbst wenn du nur bis zum Ende des Blocks kommst, bevor dir die Luft ausgeht, sagte Ms. Praktisch-Vernünftig. Zieh wenigstens diese Jeans aus, wo man sehen kann, wie breit dein Hintern geworden ist. Und kämm dich.
Sie hielt inne und war einen Moment lang nahe dran, die ganze Sache aufzugeben, bevor sie auch nur zur Eingangstür gekommen war. Dann entlarvte sie den Rat als das, was er war– ein verzweifelter Versuch, sie im Haus zu halten. Und ein listiger obendrein. Es dauerte nicht lange, um eine Jeans gegen einen Rock auszuwechseln oder sich das Haar zurechtzuzupfen und mit einem Kamm durchzufahren, aber für eine Frau in ihrer Situation war es mit Sicherheit lang genug.
Wofür? Selbstverständlich, um wieder einzuschlafen. Bis sie den Reißverschluss an der Seite des Rocks hochgezogen hatte, würden ihr ernsthafte Zweifel kommen, und bis sie mit dem Kämmen fertig wäre, würde sie zum Ergebnis gekommen sein, dass sie einfach einen kurzen Anfall von Wahnsinn erlebt hatte, einen vorübergehenden Blackout, der wahrscheinlich mit ihrem Monatszyklus zu tun hatte.
Dann würde sie ins Schlafzimmer zurückkehren und die Laken wechseln.
»Nein«, murmelte sie. »Das werde ich nicht. Auf keinen Fall.«
Aber als sie eine Hand auf den Türknauf legte, verweilte sie wieder.
Sie kommt wieder zu Verstand!, rief Ms. Praktisch-Vernünftig, deren Stimme eine Mischung aus Erleichterung, Jubel und– war es möglich?– gelinder Enttäuschung ausdrückte. Halleluja, das Mädchen kommt wieder zu Verstand! Besser spät als nie!
Jubel und Erleichterung der Stimme in ihrem Kopf verwandelten sich in stummes Entsetzen, als sie rasch zum Sims über dem Kamin ging, den er vor zwei Jahren eingebaut hatte. Wonach sie suchte, würde wahrscheinlich sowieso nicht da sein, es gehörte zu seinen eisernen Regeln, dass er es erst gegen Monatsende dort ließ (»damit du nicht in Versuchung kommst«, sagte er), aber es konnte nicht schaden, wenn sie nachsah. Und sie kannte die PIN-Nummer; er hatte einfach die erste und letzte Zahl ihrer Telefonnummer vertauscht.
Das WIRD schmerzhaft!, schrie Ms. Praktisch-Vernünftig. Wenn du etwas nimmst, das ihm gehört, wird es ziemlich schmerzhaft, das weißt du! ZIEMLICH!
»Ist sowieso nicht da«, murmelte sie– aber sie war da, die hellgrüne Bankkarte der Merchant’s Bank mit seinem eingestanzten Namen.
Nimm sie nicht! Wage es nicht!
Aber sie stellte fest, dass sie es wagte– sie musste sich nur diesen Tropfen Blut ins Gedächtnis zurückrufen. Außerdem war es auch ihre Karte, ihr Geld; war das nicht der Sinn des Eheversprechens?
Aber es ging an sich gar nicht um das Geld, wirklich nicht. Es ging darum, die Stimme von Ms. Praktisch-Vernünftig zum Schweigen zu bringen; es ging darum, diese plötzliche, unerwartete Flucht in die Freiheit zu etwas Notwendigem statt etwas Freiwilligem zu machen. Ein Teil von ihr wusste, wenn ihr das nicht gelang, würde sie wirklich nicht weiter als bis zum Ende des Blocks kommen, bevor die ganze unsichere Zukunft wie eine Nebelbank vor ihr liegen und sie hastig kehrtmachen und nach Hause gehen würde, um schnellstens die Betten neu zu beziehen, damit sie noch vor dem Mittag den Boden schrubben konnte… und so schwer es zu glauben war, als sie heute Morgen aufgestanden war, hatte sie an nichts anderes gedacht als daran, die Böden zu schrubben.
Sie achtete nicht auf das Zetern der Stimme in ihrem Kopf, holte die Bankkarte vom Sims, ließ sie in ihre Handtasche fallen und ging rasch wieder zur Tür.
Tu es nicht!, wimmerte die Stimme von Ms. Praktisch-Vernünftig. O Rosie, dafür wird er dir nicht nur wehtun, dafür schlägt er dich krankenhausreif, vielleicht bringt er dich sogar um– weißt du das denn nicht?
Sie wusste es wohl, ging aber trotzdem weiter, Kopf gesenkt und Schultern nach vorn gereckt, wie eine Frau, die bei starkem Gegenwind läuft. Das alles würde er wahrscheinlich tun… aber vorher musste er sie erst einmal haben.
Diesmal zögerte sie nicht, als ihre Hand den Türknauf berührte– sie drehte ihn, öffnete die Tür und ging hinaus. Es war ein wunderschöner, sonniger Tag Mitte April, Knospen zeigten sich an den Ästen der Bäume. Ihr Schatten fiel, als wäre er mit einer scharfen Schere aus Kohlepapier ausgeschnitten worden, über die Stufen und das frische Gras. Sie stand da, atmete die Frühlingsluft in vollen Zügen und roch die Erde, die durch einen Regenschauer in der Nacht, als sie schlafend mit einem Nasenloch über dem trocknenden Blutfleck im Bett gelegen hatte, durchnässt (und wahrscheinlich erfrischt) worden war.
Die ganze Welt wacht auf, dachte sie. Nicht nur ich.
Ein Mann im Jogginganzug lief auf dem Bürgersteig vorbei, als sie die Tür ins Schloss zog. Er hob die Hand zum Gruß, und sie grüßte zurück. Sie lauschte, ob die Stimme in ihr wieder mit ihrem Gezeter anfangen würde, doch die Stimme blieb stumm. Vielleicht hatte der Diebstahl der Bankkarte sie so geschockt, dass sie schwieg, vielleicht besänftigte sie auch nur die überirdische Ruhe dieses Aprilmorgens.
»Ich gehe«, murmelte sie. »Ich gehe wirklich und wahrhaftig.«
Aber sie blieb noch einen Moment lang, wo sie war, wie ein Tier, das so lange in einem Käfig gehaust hat, dass es die Freiheit, die sich ihm bietet, gar nicht begreifen kann. Sie griff hinter sich und berührte den Knauf der Tür– der Tür, die zu ihrem Käfig führte.
»Nicht mehr«, flüsterte sie. Sie klemmte die Handtasche unter einen Arm und ging die ersten zwölf Schritte hinein in die Nebelbank, die jetzt ihre Zukunft bildete.
4
Diese zwölf Schritte führten sie zu der Stelle, wo der betonierte Gehweg mit dem Bürgersteig verschmolz– die Stelle, wo vor etwa einer Minute der Jogger vorbeigelaufen war. Sie wandte sich nach links, blieb aber stehen. Norman hatte ihr einmal erzählt, dass Menschen, die glaubten, sie würden sich zufällig für eine Richtung entscheiden– zum Beispiel, wenn sie sich im Wald verirrt hatten–, fast immer in die Richtung ihrer dominierenden Hand gingen. Wahrscheinlich spielte es keine Rolle, aber sie stellte fest, sie wollte nicht mal, dass er recht damit hatte, in welche Richtung sie die Westmoreland Street hinunterging, als sie das Haus verließ.
Nicht mal das.
Sie wandte sich nach rechts statt nach links, die Richtung ihrer dummen Hand, und ging bergab. Sie ging am Store 24 vorbei und unterdrückte den Impuls, die Hand zu heben und ihr Gesicht zu verbergen, als sie daran vorbeiging. Sie kam sich schon vor, als wäre sie auf der Flucht, und ein schrecklicher Gedanke nagte in ihrem Gehirn wie eine Ratte an Käse: Wenn er nun früher von der Arbeit nach Hause kam und sie sah? Wenn er sie in Jeans und Turnschuhen die Straße entlangschlendern sah, Handtasche unter einen Arm geklemmt und mit ungekämmtem Haar? Er würde sich fragen, was, um alles in der Welt, sie hier zu suchen hatte, wo sie doch zu Hause sein und die Böden im Erdgeschoss schrubben sollte, richtig? Und er würde bestimmt wollen, dass sie zu ihm kam. Ja. Er würde wollen, dass sie dorthin kam, wo er stand, damit er mit ihr reden konnte– aus der Nähe.
Das ist albern. Welchen Grund hätte er, jetzt nach Hause zu kommen? Er ist erst vor einer Stunde gegangen. Das ist Unsinn.
Ja… aber manchmal machten die Leute eben etwas Unsinniges. Sie, zum Beispiel– was machte sie denn gerade? Und angenommen, er hatte eine plötzliche Eingebung. Wie oft hatte er ihr gesagt, dass Cops nach einer Weile einen sechsten Sinn entwickelten, dass sie wussten, wenn etwas Ungewöhnliches geschehen würde? Man bekommt diese kleine Nadel am Rückenansatz, hatte er einmal gesagt. Ich weiß nicht, wie ich es sonst beschreiben sollte. Ich weiß, die meisten Menschen würden lachen, aber frag einen Cop– der lacht nicht. Diese kleine Nadel hat mir ein paarmal das Leben gerettet, Süße.
Angenommen, er spürte diese Nadel die letzten zwanzig Minuten oder so? Angenommen, er war in sein Auto eingestiegen und nach Hause gefahren? Dann müsste er genau diesen Weg nehmen, und sie verfluchte sich schon, weil sie nach rechts statt nach links von ihrem Gehweg abgebogen war. Dann kam ihr noch ein unangenehmerer Gedanke, der auf grässliche Weise plausibel schien… ganz zu schweigen von seiner ausgleichenden ironischen Gerechtigkeit. Wenn er nun am zwei Blocks vom Polizeirevier entfernten Geldautomaten gehalten hatte, weil er zwanzig Piepen oder so zum Mittagessen wollte? Und nachdem er feststellen musste, dass er seine Karte nicht bei sich hatte, war er nach Hause gefahren, um sie zu holen.
Nimm dich zusammen. So weit wird es nicht kommen. So weit wird es ganz und gar nicht kommen.
Ein Auto bog einen halben Block entfernt in die Westmoreland ein. Es war rot, und das war ein Zufall, denn sie hatten ein rotes Auto… besser gesagt, er hatte eines; das Auto gehörte ihr ebenso wenig wie die Bankkarte oder das Geld, das sie damit holen konnte. Ihr rotes Auto war ein neuer Sentra, und– Zufall über Zufall!– war das Auto, das auf sie zukam, nicht auch ein roter Sentra?
Nein, es ist ein Honda!
Aber es war kein Honda, das wollte sie nur glauben. Es war ein Sentra, ein brandneuer roter Sentra. Sein roter Sentra. Ihr schlimmster Albtraum war buchstäblich in dem Moment wahr geworden, als sie daran gedacht hatte.
Einen Augenblick lang fühlten sich ihre Nieren unglaublich schwer an, unglaublich schmerzhaft, unglaublich voll, und sie war sich sicher, sie würde sich in die Hose machen. Hatte sie wirklich geglaubt, sie könnte ihm entkommen? Sie musste den Verstand verloren haben.
Jetzt ist es zu spät, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, sagte Ms. Praktisch-Vernünftig zu ihr. Deren bibbernde Hysterie war verschwunden; sie schien der einzige Teil ihres Verstands zu sein, der noch einen klaren Gedanken fassen konnte, und der sprach nun mit dem kalten, berechnenden Tonfall eines Geschöpfs, das Überleben über alles stellt. Du solltest dir schnellstens überlegen, was du ihm sagen willst, wenn er anhält und dich fragt, was du hier zu suchen hast. Und es sollte gut sein. Du weißt, wie schlau er ist und wie viel er sieht.
»Die Blumen«, murmelte sie. »Ich hab einen kleinen Spaziergang gemacht, weil ich sehen wollte, wessen Blumen schon austreiben, das ist alles.« Sie war stehen geblieben, presste die Schenkel fest zusammen und versuchte zu verhindern, dass der Damm brach. Würde er ihr glauben? Sie wusste es nicht, aber es würde genügen müssen. Etwas anderes fiel ihr nicht ein. »Ich wollte nur bis zur Ecke St. Mark’s Avenue gehen und dann zurückkommen, um die Böden zu…«
Sie verstummte und sah mit großen, fassungslosen Augen, wie das Auto– doch ein Honda, nicht neu, und eigentlich mehr orange als rot– langsam an ihr vorbeifuhr. Die Frau hinter dem Lenkrad betrachtete sie mit einem merkwürdigen Blick, und die Frau auf dem Bürgersteig dachte: Wenn er es gewesen wäre, hätte keine Geschichte gereicht, wie plausibel auch immer– er hätte dir die Wahrheit im Gesicht geschrieben gesehen, unterstrichen und mit Neonscheinwerfern angestrahlt. Bist du jetzt bereit, wieder zurückzukehren? Vernunft anzunehmen und zurückzukehren?
Sie konnte es nicht. Der überwältigende Drang zu urinieren war vorbei, aber ihre Blase fühlte sich immer noch schwer und übervoll an, ihre Nieren pochten immer noch, ihre Beine zitterten, und das Herz schlug ihr so heftig in der Brust, dass sie es mit der Angst zu tun bekam. Sie hätte unmöglich wieder den Hügel hinaufgehen können, obwohl es nicht besonders steil war.
Doch, du kannst. Du weißt, dass du es kannst. Du hast in deiner Ehe Schlimmeres bewältigt und überlebt.
Okay– vielleicht hätte sie es den Hügel hinauf geschafft, aber jetzt ging ihr ein anderer Gedanke durch den Kopf. Manchmal rief er an. Für gewöhnlich fünf- oder sechsmal pro Monat, aber manchmal auch öfter. Nur hallo, wie geht es dir, soll ich einen Karton H-Milch oder einen Becher Eis mitbringen, okay, tschüs. Aber sie spürte nichts Fürsorgliches an diesen Anrufen, keine Zuneigung. Er überwachte sie, das war alles, und wenn sie nicht ans Telefon ging, würde es einfach läuten. Sie hatten keinen Anrufbeantworter. Sie hatte ihn einmal gefragt, ob es nicht praktisch wäre, sich einen zuzulegen. Er hatte ihr einen durch und durch unfreundlichen Stoß gegeben und gesagt, sie sollte ihren Kopf gebrauchen. Du bist der Anrufbeantworter, hatte er gesagt.
Wenn er nun anrief und sie nicht da war?
Dann wird er denken, dass ich früher zum Markt gegangen bin, das ist alles.
Aber das würde er nicht. Das war es. Heute Vormittag die Fußböden, heute Nachmittag der Markt. So war es immer gewesen, und er ging davon aus, dass es so immer sein würde.
Spontaneität wurde in der Westmoreland Street 908 nicht gefördert. Wenn er anrief…
Sie setzte sich wieder in Bewegung, wohl wissend, dass sie die Westmoreland an der nächsten Ecke verlassen musste, auch wenn sie sich nicht sicher war, wohin die Tremont in beiden Richtungen führte. Das war im Moment nicht wichtig; wichtig war, sie befand sich auf dem direkten Heimweg ihres Mannes, wenn er, wie gewöhnlich, auf der I-295 von der Stadt zurückkam, und sie kam sich vor, als wäre sie mitten aufs Schwarze einer Schießscheibe gebunden worden.
Sie bog nach links in die Tremont ab und passierte weitere ruhige Vorstadthäuschen, die durch niedrige Hecken oder dekorative Baumreihen voneinander getrennt waren– russische Oliven schienen hier besonders en vogue zu sein. Ein Mann, der mit seiner Hornbrille, den Sommersprossen und dem auf den Kopf gedrückten, formlosen blauen Hut wie Woody Allen aussah, goss gerade die Blumen, schaute auf und winkte ihr verhalten zu. Es schien, als wollte heute jeder gutnachbarschaftlich sein. Sie vermutete, dass es am Wetter lag, hätte aber darauf verzichten können. Sie konnte sich nur allzu leicht vorstellen, wie er ihr später hinterherkam, wie er geduldig ihrer Spur folgte, Fragen stellte, seine kleinen Tricks anwandte, um dem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, und an jeder Tür ihr Bild zeigte.
Wink zurück. Er soll dich nicht als unfreundliche Zeitgenossin zur Kenntnis nehmen, unfreundliche Zeitgenossen bleiben einem im Gedächtnis, also wink einfach zurück, und geh weiter.
Sie winkte zurück und ging weiter. Der Drang zu pinkeln war wieder da, aber damit würde sie leben müssen. Keine Erleichterung war in Aussicht– vor ihr lagen nichts als mehr Häuser, mehr Hecken, mehr hellgrüne Rasenflächen, mehr russische Olivenbäume.
Sie hörte ein Auto hinter sich und wusste, dass er es war. Sie drehte sich mit weit aufgerissenen, dunklen Augen um und sah einen rostigen Ford Tempo kaum schneller als mit Schrittgeschwindigkeit die Straße entlangkriechen. Der alte Mann hinter dem Lenkrad trug einen Strohhut und einen Ausdruck verbissener Entschlossenheit zur Schau. Sie drehte sich rasch wieder um, bevor er ihre eigene ängstliche Miene registrieren konnte, stolperte und ging dann resolut mit gesenktem Kopf weiter. Der pochende Schmerz in ihren Nieren war zurückgekehrt, und nun pochte auch ihre Blase. Sie schätzte, dass ihr nicht mehr als eine Minute blieb, höchstens zwei, bis sie es nicht mehr halten konnte. Wenn das passierte, konnte sie ein unbemerktes Entkommen getrost in den Wind schreiben. Die Leute erinnerten sich vielleicht nicht an eine Frau mit hellbraunem Haar, die an einem strahlenden Frühlingsmorgen die Straße entlangging, aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie eine Frau mit hellbraunem Haar und einem wachsenden dunklen Fleck im Schritt ihrer Jeans vergessen würden. Sie musste sich des Problems annehmen, und zwar auf der Stelle.
Zwei Häuser weiter auf ihrer Straßenseite stand ein schokoladenbrauner Bungalow. Die Jalousien waren heruntergelassen, drei Zeitungen lagen auf der Veranda. Eine vierte lag auf dem Gehweg am Fuß der Eingangstreppe. Rosie sah sich rasch um, erblickte niemand, der sie beobachtete, und eilte hastig durch den Vorgarten des Bungalows und an der Seite entlang. Der Garten war menschenleer. Ein rechteckiges Blatt Papier hing am Knauf des Fliegengitters aus Aluminium. Sie ging mit kleinen, verkrampften Schritten hin und las die vorgedruckte Nachricht: Schöne Grüße von Ann Corao, Ihrer hiesigen Avon-Beraterin! Diesmal konnte ich Sie leider nicht zu Hause antreffen, aber ich komme wieder! Danke! Rufen Sie mich an unter 555-1731, wenn Sie über die vorzüglichen Produkte von Avon-Kosmetik reden möchten! Das an den unteren Rand gekritzelte Datum war der 17.4., vor zwei Tagen.
Rosie sah sich noch einmal um, stellte fest, dass sie auf der einen Seite von Hecken und auf der anderen von russischen Oliven vor Blicken geschützt wurde, öffnete Gürtel und Reißverschluss ihrer Jeans und hockte sich in der Nische zwischen der hinteren Treppe und den LP-Gastanks hin. Es war zu spät, sich Gedanken zu machen, wer– wenn überhaupt– sie aus den Obergeschossen der umliegenden Häuser beobachten konnte. Und außerdem, angesichts der Erleichterung schienen solche Fragen– zumindest im Augenblick– eher nebensächlich zu sein.
Mal ehrlich, du bist verrückt.
Ja, selbstverständlich wusste sie das… aber als der Druck auf ihre Blase nachließ und der Strahl ihres Urins als zickzackförmiges Rinnsal zwischen die Platten der hinteren Veranda floss, spürte sie, wie plötzlich eine irre Freude ihr Herz erfüllte. In diesem Augenblick wusste sie, wie es sein musste, wenn man einen Fluss in ein fremdes Land überquerte, die Brücke hinter sich in Brand steckte und dann am Ufer stand, erleichtert aufatmete und zusah, wie die einzige Möglichkeit der Rückkehr in Flammen aufging.
5
Sie ging fast zwei Stunden, durch ein unbekanntes Viertel nach dem anderen, bevor sie zu einer Einkaufspassage im, wie sie meinte, westlichen Stadtteil gelangte. Vor einem Geschäft mit dem Schild PAINT ’NCARPETWORLD stand ein Münzfernsprecher, und als sie von dort ein Taxi rief, stellte sie erstaunt fest, dass sie sich gar nicht mehr in der Stadt befand, sondern im Vorort Mapleton. Sie hatte große Blasen an beiden Fersen, was kein Wunder war– sie musste mehr als sieben Meilen gegangen sein.
Das Taxi kam fünfzehn Minuten nach ihrem Anruf, und bis dahin hatte sie den Gemischtwarenladen am anderen Ende der Passage besucht und eine billige Sonnenbrille und ein leuchtend rotes Halstuch gekauft. Sie erinnerte sich, Norman hatte ihr einmal gesagt, wenn man die Aufmerksamkeit von seinem Gesicht ablenken wollte, trug man am besten etwas Grellbuntes, das die Aufmerksamkeit des Betrachters in eine andere Richtung lenkte.
Der Taxifahrer war ein dicker Mann mit ungekämmtem Haar, blutunterlaufenen Augen und Mundgeruch. Auf seinem weiten, verblassten T-Shirt war eine Karte von Vietnam abgebildet. WENNICHSTERBE, KOMMEICHINDENHIMMEL, WEILICHMEINEZEITINDERHÖLLESCHONHINTERMIRHABE, lautete die Legende unter der Karte. IRONTRIANGLE, 1969. Seine roten Knopfaugen musterten sie rasch von den Lippen über die Brüste zu den Hüften, dann schien er offenbar das Interesse zu verlieren.
»Wohin soll’s denn gehen, Süße?«, fragte er.
»Können Sie mich zum Greyhound-Bahnhof bringen?«
»Sie meinen Portside?«
»Ist das der Busbahnhof?«
»Jawoll.« Er schaute auf und sah ihr via Rückspiegel in die Augen. »Liegt aber auf der anderen Seite der Stadt. Macht locker zwanzig Piepen. Können Sie sich das leisten?«
»Selbstverständlich«, sagte sie, dann holte sie tief Luft und fuhr fort: »Glauben Sie, Sie können unterwegs an einem Geldautomaten der Merchant’s Bank halten?«
»Wenn nur alle Probleme des Lebens so einfach zu lösen wären«, sagte er und klappte die Flagge seines Taxameters herunter. $ 2,50, zeigte es an. GRUNDGEBÜHR.
Sie setzte den Anfang ihres neuen Lebens auf den Augenblick, als die Ziffern der Taxameteranzeige von $ 2,50 auf $ 2,75 wechselten und das Wort GRUNDGEBÜHR verschwand. Sie würde nie wieder Rose Daniels sein, wenn sie es nicht musste– nicht nur weil Daniels sein Name war und daher gefährlich, sondern weil sie ihn hinter sich gelassen hatte. Sie würde wieder Rosie McClendon sein, das Mädchen, das im Alter von achtzehn Jahren in der Hölle verschwunden war. Sie vermutete, dass sie manchmal gezwungen sein würde, ihren angeheirateten Namen zu verwenden, aber in Herz und Kopf würde sie trotzdem Rosie McClendon bleiben.
Ich bin richtig Rosie, dachte sie, während das Taxi über die Trunkatawny Bridge fuhr, und musste lächeln, als die Worte von Maurice Sendak und die Stimme von Carole King wie zwei Geister durch ihren Verstand schwebten. Und ich bin Rosie Richtig.
Aber war sie das auch? War sie wirklich richtig?
Ich fange an, es herauszufinden, dachte sie. Hier und jetzt.
6
Der Taxifahrer hielt auf dem Iroquois Square und deutete auf eine Reihe von Geldautomaten an einer Plaza mit Springbrunnen und einer abstrakten Chromskulptur. Die Maschine ganz links war hellgrün.
»Okay?«, fragte er.
»Ja, danke. Bin gleich wieder da.«
Aber es dauerte doch etwas länger. Zuerst schien es, als könnte sie trotz der großen Tastatur der Maschine die Geheimzahl nicht richtig eingeben, und als sie den Teil der Prozedur endlich gemeistert hatte, konnte sie sich nicht entscheiden, wie viel sie abheben sollte. Sie tippte sieben fünf Komma null null, zögerte über der Bestätigungstaste und zog die Hand zurück. Wenn er sie erwischte, würde er sie verprügeln, weil sie weggelaufen war– daran bestand nicht der geringste Zweifel. Aber wenn er sie schon so sehr verprügelte, dass sie im Krankenhaus landete (oder dich umbringt, murmelte eine leise Stimme in ihr, er könnte dich tatsächlich umbringen, und es wäre dumm von dir, das zu vergessen), dann nur deswegen, weil sie seine Bankkarte gestohlen… und benutzt hatte. Wollte sie diese strenge Bestrafung nur wegen fünfundsiebzig Dollar riskieren? Lohnte sich das?
»Nein«, murmelte sie und streckte die Hand wieder aus. Diesmal tippte sie drei fünf null Komma null null… doch dann zögerte sie wieder. Sie wusste nicht, wie viel genau von dem, was er als »Barschaft« bezeichnete, sich auf dem Girokonto befand, das die Maschine belastete, aber dreihundertfünfzig Dollar musste schon ein beachtlicher Teil davon sein. Er würde so wütend werden…
Sie bewegte ihre Hand zur Abbruch- und Wiederholungstaste, und dann fragte sie sich wieder, was das noch für eine Rolle spielte.
Er würde so oder so wütend werden. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
»Brauchen Sie noch lange, Ma’am?«, fragte eine Stimme hinter ihr. »Meine Kaffeepause ist nämlich gleich vorbei.«
»Oh, tut mir leid!«, sagte sie und zuckte etwas zusammen. »Nein, ich war nur… in Gedanken.« Sie drückte die Bestätigungstaste. Die Worte BITTEWARTEN leuchteten auf dem Monitor des Automaten auf. Die Wartezeit dauerte nicht lange, aber lange genug, dass sie sich vorstellen konnte, wie die Maschine plötzlich einen schrillen, heulenden Sirenenton von sich geben und eine mechanische Stimme bellen würde: »DIESEFRAUISTEINEDIEBIN! HALTETSIEAUF! DIESEFRAUISTEINEDIEBIN!«
Aber statt sie eine Diebin zu nennen, ließ der Monitor nun ein DANKESCHÖN aufleuchten, wünschte ihr einen angenehmen Tag und spie siebzehn Zwanziger und einen Zehner aus.
Rosie schenkte dem jungen Mann hinter ihr ein nervöses Lächeln ohne Blickkontakt, dann eilte sie zum Taxi zurück.
7