9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €
Wiedersehen mit Castle Rock
Die kleine Stadt Castle Rock in Maine hat die seltsamsten Vorkommnisse und ungewöhnlichsten Besucher erlebt. Warum sollte es der 12-jährigen Gwendy anders ergehen? Eines Tages tritt ein schwarz gekleideter Unbekannter an sie heran und macht ihr ein Geschenk: einen Kasten mit lauter Schaltern und Hebeln. Wozu er dient? Gwendy probiert es aus, und ihr Leben verändert sich von Grund auf.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 168
Das Buch
Die kleine Stadt Castle Rock in Maine hat die seltsamsten Vorkommnisse und ungewöhnlichsten Besucher erlebt. Warum sollte es der 12-jährigen Gwendy anders ergehen? Eines Tages tritt ein schwarz gekleideter Unbekannter an sie heran und macht ihr ein Geschenk: einen Kasten mit lauter Schaltern und Hebeln. Wozu er dient? Gwendy probiert es aus, und ihr Leben verändert sich von Grund auf.
Eine berückende Geschichte über begründete und unbegründete Ängste, über Feinde und Freunde, über Enttäuschungen und Erfolge.
»Welch großartige Geschichte! So beängstigend wie belangvoll.«
J. J. Abrams
Die Autoren
Stephen King ist Autor von über fünfzig Büchern, die alle weltweit Bestseller wurden. Er gilt als der große Chronist des amerikanischen Alltags. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Preise, darunter 2003 den Sonderpreis der National Book Foundation für sein Lebenswerk und 2015 mit dem »Edgar Allan Poe Award« den bedeutendsten kriminalliterarischen Preis für Mr. Mercedes. 2015 ehrte Präsident Barack Obama ihn zudem mit der National Medal of Arts. Seine Werke erscheinen im Heyne-Verlag, zuletzt der Spiegel-Bestseller Mind Control.
Richard Chizmar ist Verleger von Cemetery Dance Publications und Autor von Kurzgeschichten. Als Herausgeber von Anthologien wurde er mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem »Bram Stoker Award«, mit dem »World Fantasy Special Award« und mit dem Preis der International Horror Guild.
STEPHEN KINGUND RICHARD CHIZMAR
Aus dem Englischenvon Ulrich Blumenbach
WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
GWENDY’S BUTTON BOX
bei Cemetery Dance Publications, Baltimore
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Copyright © 2017 by Stephen King und Richard Chizmar
Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe byWilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München
Covergestaltung: Hauptmann und Kompanie Werbeagentur, Zürich
Satz: Schaber Datentechnik, Austria
ISBN: 978-3-641-22219-2V003
www.heyne.de
www.facebook.com/stephenkinggermany
1
Von der Stadt Castle Rock gibt es drei Wege nach Castle View hoch: die Route 117, die Pleasant Road und die Selbstmordtreppe. In diesem Sommer ist die zwölfjährige Gwendy Peterson jeden Tag – ja, auch sonntags – die Treppe hochgelaufen, die sich, mit starken (wenn auch im Lauf der Zeit verrosteten) Schraubbolzen befestigt, im Zickzack am Steilhang hochzieht. Sie geht die ersten hundert Stufen, joggt die zweiten hundert, zwingt sich, die letzten hundertfünf zu laufen, und rennt dabei – wie ihr Vater sagen würde –, als wollte sie auf Teufel komm raus eine Wahl gewinnen. Oben angekommen, krümmt sie sich mit knallrotem Gesicht, stützt die Arme auf die Knie, die Haare kleben ihr in verschwitzten Strähnen an den Wangen (beim Endspurt lösen sie sich immer aus dem Pferdeschwanz, egal wie straff sie den bindet), und sie schnauft wie eine alte Schindmähre. Aber es zeigen sich schon die ersten Verbesserungen. Wenn sie sich aufrichtet und an sich hinabschaut, kann sie die Spitzen ihrer Turnschuhe sehen. Im Juni ging das noch nicht, am letzten Schultag, der auch ihr letzter Tag in der Grundschule von Castle Rock war.
Ihr durchgeschwitztes T-Shirt klebt an ihr, aber insgesamt fühlt sie sich richtig gut. Wenn sie im Juni oben angekommen war, hatte sie noch jedes Mal Angst gehabt, gleich an einem Herzinfarkt zu sterben. Sie hört das Kindergeschrei auf dem Spielplatz in der Nähe. Etwas weiter weg ertönt das Tocken eines Aluminiumschlägers, der auf einen Baseball trifft; die Jugendlichen aus der Senior League trainieren für das Benefizspiel am Labor Day.
Sie putzt sich die Brille gerade mit dem Taschentuch, das sie genau dafür in der Tasche ihrer Shorts immer dabeihat, da spricht sie auf einmal jemand an. »He, Mädchen. Komm doch mal hier rüber. Wir müssen uns unterhalten, du und ich.«
Gwendy setzt die Brille auf, und die verschwommene Welt wird wieder scharf. Auf einer schattigen Bank am Schotterweg, der von der Treppe in den Freizeitpark von Castle View führt, sitzt ein Mann in schwarzen Jeans, einer schwarzen Anzugjacke und einem weißen Hemd, das oben aufgeknöpft ist. Auf dem Kopf trägt er eine kecke, kleine Melone. Ein Hütchen, das Gwendy schon bald Albträume bereiten wird.
Der Mann hat die Woche über an jedem einzelnen Tag auf genau dieser Bank gesessen und immer dasselbe Buch gelesen (Die Enden der Parabel, ein richtig anstrengend aussehender Schinken), aber heute spricht er sie zum ersten Mal an. Gwendy mustert ihn misstrauisch.
»Ich darf nicht mit fremden Leuten sprechen.«
»Das ist ein guter Rat.« Er dürfte im Alter ihres Vaters sein, dann wäre er rund achtunddreißig, und er sieht nicht schlecht aus, aber an einem heißen Augustvormittag eine schwarze Anzugjacke zu tragen macht ihn in Gwendys Augen zu einem ziemlichen Spinner. »Den hat dir bestimmt deine Mutter gegeben, oder?«
»Mein Vater«, sagt Gwendy. Um auf den Spielplatz zu kommen, muss sie an ihm vorbei, und wenn er wirklich ein Spinner ist, könnte er versuchen, sie zu packen, aber echte Sorgen macht sie sich nicht. Es ist schließlich helllichter Tag, der Spielplatz ist ganz in der Nähe und gut besucht, und sie ist wieder bei Puste.
»In dem Fall möchte ich mich vorstellen«, sagt der Mann in der schwarzen Jacke. »Ich heiße Richard Farris. Und du bist …?«
Sie überlegt und sagt sich, was soll’s. »Gwendy Peterson.«
»Na bitte. Jetzt kennen wir uns.«
Gwendy schüttelt den Kopf. »Namen sind nicht kennen.«
Er legt den Kopf in den Nacken und lacht. In seiner ehrlichen guten Laune ist das richtig charmant, und Gwendy muss unwillkürlich lächeln. Aber sie bleibt noch auf Distanz.
Er macht aus seiner Hand eine Pistole und zielt auf sie. Peng. »Der ist gut. Du bist gut, Gwendy. Aber apropos, was ist denn das für ein Name?«
»Eine Kombination. Mein Vater wollte eine Gwendolyn – so hieß seine Oma –, und meine Mama wollte eine Wendy wie in Peter Pan. Da haben sie sich auf Gwendy geeinigt. Machen Sie hier Urlaub, Mr. Farris?« Denkbar wär’s; man ist hier schließlich in Maine, und Maine verkauft sich als URLAUBSLAND. Das steht sogar auf den Nummernschildern.
»Könnte man sagen. Ich bin mal hier und mal da. Diese Woche in Michigan, nächste Woche in Florida, und dann hüpf ich vielleicht nach Coney Island rüber und gönn mir einen Hotdog und eine Fahrt mit der Achterbahn. Man könnte sagen, ich bin ein Wanderer, und ganz Amerika ist mein Revier. Manche Leute behalte ich im Auge und sehe hin und wieder nach ihnen.«
Klonk macht der Schläger auf dem Sportfeld hinter dem Spielplatz, und Beifall brandet auf.
»Es war nett, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mr. Farris, aber ich muss dann wirklich wieder …«
»Bleib noch ein bisschen. Du gehörst nämlich zu den Leuten, die ich in letzter Zeit im Auge behalten habe.«
Das könnte unheilvoll klingen (und ein bisschen tut es das auch), aber vom abebbenden Lachen lächelt er noch, er hat lebhafte Augen, und wenn er ein böser Mann ist, ist ihm das nicht anzumerken. Aber das macht einen guten bösen Mann wahrscheinlich auch aus, sagt sie sich. Komm mal rüber, ich geb dir ’ne Birne.
»Was dich angeht, hab ich eine Theorie, Miss Gwendy Peterson. Die auf genauer Beobachtung beruht, wie sich das für alle guten Theorien gehört. Möchtest du sie hören?«
»Von mir aus.«
»Man könnte sagen, dass du ein bisschen zur Pummeligkeit neigst.«
Vielleicht sieht er, wie sie sich da verspannt, jedenfalls hebt er eine Hand und schüttelt den Kopf, als wollte er sagen: Sachte, nur die Ruhe!
»Vielleicht hältst du dich ja sogar für richtig dick. In diesem unserem Land haben Mädchen und Frauen ja die verrücktesten Vorstellungen davon, wie sie aussehen sollen. Die Medien … Weißt du, was ich mit den Medien meine?«
»Na klar. Zeitungen, Fernsehen, Time und Newsweek.«
»Ganz genau. Also. Die Medien sagen: ›Mädchen, Frauen, in dieser schönen neuen Welt der Gleichheit könnt ihr alles sein, was ihr wollt, solange ihr noch eure Zehen seht, wenn ihr aufrecht steht.‹«
Er hat mich wirklich beobachtet, denkt Gwendy, denn das mach ich jeden Tag, wenn ich oben angekommen bin. Sie wird rot. Sie kann es nicht ändern, aber das Erröten ist rein äußerlich. Innerlich regt sich so etwas wie Trotz. Deswegen hat sie ja überhaupt erst mit dem Treppenlaufen angefangen. Na ja, und wegen Frankie Stone.
»Meine Theorie ist, jemand hat dich wegen deinem Gewicht gepiesackt – oder wegen deinem Aussehen oder wegen beidem, und das hattest du einfach satt. Hab ich recht? Womöglich nicht ganz ins Schwarze, aber doch die Zielscheibe getroffen?«
Vielleicht liegt es daran, dass er ein Fremder ist, jedenfalls kann sie ihm etwas sagen, was sie nicht einmal ihren Eltern anvertraut hat. Vielleicht liegt es auch an seinen blauen Augen, die neugierig und interessiert sind, aber nichts Bösartiges an sich haben – oder zumindest kann sie das nicht erkennen. »In der Schule gibt es einen Jungen, Frankie Stone, der nennt mich immer Mugel, also wie …«
»… halb Mensch, halb Kugel, ich weiß.«
»Genau. Frankie ist ein Kotzbrocken.« Sie überlegt, ob sie dem Mann erzählen soll, wie Frankie immer über den Spielplatz stolziert ist und skandiert hat: Ich bin Frankie Schänder mit dem Dauerständer!, entscheidet sich aber dagegen.
»Ein paar von den anderen Jungs haben das nachgemacht, und dann haben auch die Mädchen damit angefangen. Nicht meine Freundinnen, andere halt. Das war in der sechsten Klasse. Nächsten Monat fängt die Mittelschule an, und … na ja …«
»Und du wolltest nicht, dass dich speziell dieser Spitzname dorthin begleitet«, sagt Mr. Richard Farris. »Verstehe. Immerhin wächst du ja auch noch.« Er mustert sie von Kopf bis Fuß, aber nicht so, dass sie es unheimlich fände. Eher wissenschaftlich. »Ich könnte mir denken, dass du am Ende 1,75 bis 1,80 groß wirst. Ganz schön groß für ein Mädchen.«
»Hat schon angefangen«, sagt Wendy. »Aber so lange will ich nicht warten.«
»Alles ziemlich so, wie ich’s mir gedacht hab«, sagt Farris. »Kurzer Prozess, nicht lange fackeln, ran ans Problem. Ein Mädchen schneller Entschlüsse. Bewundernswert. Genau deshalb wollte ich deine Bekanntschaft machen.«
»Es war nett mit Ihnen, Mr. Farris, aber ich muss jetzt wirklich los.«
»Nein. Du musst jetzt bleiben.« Er lächelt nicht mehr, sondern guckt streng. Die blauen Augen sind irgendwie grau geworden. Der Hut zieht eine schmale Schattenlinie über seine Brauen, wie eine Tätowierung. »Ich habe da etwas für dich. Ein Geschenk. Weil du die Auserwählte bist.«
»Von Fremden nehme ich nichts an«, sagt Gwendy. Jetzt hat sie doch ein bisschen Angst. Vielleicht ein bisschen mehr als nur ein bisschen.
»Namen sind nicht kennen, da bin ich deiner Meinung, aber du und ich, wir sind uns nicht fremd. Ich kenne dich, und ich weiß, dass ich etwas habe, was für jemand wie dich geschaffen wurde. Für jemand, der jung ist und mit beiden Beinen auf dem Boden steht. Ich habe dich gespürt, Gwendy, lange bevor ich dich gesehen habe. Und da stehst du nun vor mir.« Er rutscht ans Ende der Bank und tätschelt den Platz neben sich. »Komm, setz dich her.«
Gwendy geht zur Bank und fühlt sich wie in einem Traum. »Werden Sie … Mr. Farris, wollen Sie mir was antun?«
Er lächelt wieder. »Dich packen? Dich ins Gebüsch schleifen und mich übel an dir vergehen?« Er zeigt über den Weg und vielleicht fünfzehn Meter weit hoch. Zwei oder drei Dutzend Kinder im T-Shirt vom Castle-Rock-Ferienlager spielen auf den Rutschen, Schaukeln und Klettergerüsten, und vier Betreuer führen Aufsicht. »Ich glaube kaum, dass ich damit durchkäme. Du vielleicht? Und außerdem bin ich sexuell nicht an jungen Frauen interessiert. Die interessieren mich prinzipiell nicht, aber wie ich schon gesagt oder zumindest angedeutet habe, bei dir liegt die Sache anders. Und jetzt setz dich.«
Sie setzt sich. Der Schweiß, der sie bedeckt, ist kalt geworden. Sie hat das Gefühl, dass der Mann jetzt all seinem Schmus zum Trotz versuchen wird, sie zu küssen, und dass die Kinder auf dem Spielplatz und ihre jugendlichen Aufpasser ihm völlig egal sind. Aber nichts da. Er greift unter die Bank und zieht einen Segelbeutel hervor, der oben mit einer Kordel zugebunden ist. Er öffnet ihn und holt ein wunderschönes Mahagonikästchen heraus, dessen sattes braunes Holz so aus sich heraus funkelt, dass sie selbst unter der dicken Lackierung ein rotes Schimmern sehen kann. Der Kasten ist vielleicht vierzig Zentimeter lang, ungefähr dreißig Zentimeter breit und halb so hoch. Sie möchte ihn sofort haben, und das nicht allein nur, weil er so schön ist. Sie möchte ihn haben, weil er ihr gehört. Wie eine innig geliebte Kostbarkeit, die vor so langer Zeit verloren ging, dass sie fast in Vergessenheit geraten ist, die sich jetzt aber wieder eingefunden hat. Es ist, als hätte sie in einem anderen Leben, in dem sie eine Prinzessin oder so war, ihr gehört.
»Was ist das?«, fragt Gwendy leise.
»Ein Wunschkasten«, sagt er. »Dein Wunschkasten. Schau mal.«
Er hält den Kasten schräg, sodass sie die kleinen Tasten auf der Oberseite sehen kann, sechs Tasten paarweise in zwei Reihen und an jedem Ende noch eine Einzeltaste. Insgesamt acht. Die Paare sind hellgrün und dunkelgrün, gelb und orange, blau und violett. Die eine Taste am Ende ist rot. Die andere ist schwarz. Außerdem gibt es an jedem Ende des Kastens einen kleinen Hebel und in der Mitte etwas, was wie ein Schlitz aussieht.
»Die Tasten sind sehr schwer zu drücken«, sagt Farris. »Du musst den Daumen nehmen und richtig fest pressen. Und das ist auch gut so, glaub mir. Mit denen möchtest du nämlich ganz bestimmt keinen Fehler machen. Am wenigsten mit der schwarzen.«
Gwendy hat vergessen, dass sie vor dem Mann Angst haben wollte. Der Kasten fasziniert sie, und als er ihn ihr reicht, nimmt sie ihn. Sie hat erwartet, dass er schwer sein würde – Mahagoni ist schließlich ein schweres Holz, und wer weiß, was in dem Kasten drin ist –, aber das ist er nicht. Sie könnte ihn auf den Fingerspitzen auf und ab hüpfen lassen. Gwendy fährt mit einem Finger über die glasartige, leicht gewölbte Fläche der Tasten und hat das unbestimmte Gefühl, die Farben würden ihre Haut aufleuchten lassen.
»Warum? Wofür sind die da?«
»Das besprechen wir später. Schau dir erst mal die kleinen Hebel an. Die sind viel leichter zu ziehen, als die Tasten zu drücken; für die reicht dein kleiner Finger. Wenn du den ganz links ziehst – den neben der roten Taste –, gibt der Kasten dir ein Schokolädchen in Tierform aus.«
»Ich esse …«, setzt Gwendy an.
»Du isst keine Süßigkeiten von Fremden, ich weiß«, unterbricht Farris sie und verdreht die Augen auf eine Weise, dass sie kichern muss. »Haben wir das nicht schon hinter uns, Gwendy?«
»Das wollte ich gar nicht sagen. Ich esse keine Schokolade, wollte ich sagen. Nicht diesen Sommer. Wie soll ich denn abnehmen, wenn ich was Süßes esse? Wenn ich mal damit anfange, kann ich nämlich nicht mehr aufhören. Und bei Schokolade ist es am schlimmsten. Ich bin praktisch eine Schokoholikerin.«
»Siehst du, das ist gerade das Schöne an den Schokolädchen aus dem Wunschkasten«, sagt Richard Farris. »Die sind zwar klein, kaum größer als Gummibonbons, und sehr süß … aber wenn du eins gegessen hast, möchtest du nicht gleich noch eins. Du möchtest noch deine normalen Mahlzeiten, aber keinen Nachschlag mehr. Und du möchtest auch keine anderen Süßigkeiten mehr. Schon gar nicht die Taillenkiller vor dem Schlafengehen.«
Bis zu diesem Sommer hat sich Gwendy eine Stunde vor dem Zubettgehen gern noch einen Sandwich mit Erdnussbutter und Marshmallow-Creme gemacht, und daher weiß sie genau, was er meint. Und dass sie nach ihrem Morgenlauf immer schier am Verhungern ist.
»Hört sich nach einem ziemlich schrägen Appetitzügler an«, sagt sie. »Wie das Zeug, von dem man sich pappsatt fühlt, und dann muss man wie verrückt pinkeln. Meine Oma hat das mal ausprobiert, und nach einer Woche oder so ist ihr davon schlecht geworden.«
»Das hier ist nur Schokolade. Allerdings reine. Nicht so ein blödes Schokozeug vom Kiosk. Probier ruhig mal.«
Sie ist unschlüssig, aber nicht lange. Dann legt sie den kleinen Finger um den Hebel – er ist zu klein, als dass sie ihn mit einem anderen Finger bedienen könnte – und zieht. Der Schlitz geht auf. Ein schmales Holzbrettchen schiebt sich heraus, auf dem ein Schokoladenhäschen liegt, nicht größer als ein Gummibonbon, genau wie Mr. Farris gesagt hat.
Sie nimmt das Häschen hoch und schaut es bewundernd an. »Wow. Schauen Sie sich bloß den Pelz an. Die Ohren! Und diese süßen kleinen Augen.«
»Hab ich doch gesagt. Schön, nicht? Jetzt steck’s in den Mund! Schnell!«
Ohne nachzudenken, gehorcht Gwendy, und ein süßer Schwall durchflutet ihren Mund. Er hat recht, ein Hershey-Riegel hat ihr noch nie so gut geschmeckt. Sie kann sich nicht erinnern, je irgendetwas gegessen zu haben, was so gut geschmeckt hätte. Und der fantastische Geschmack ist auch nicht nur in ihrem Mund; er füllt ihren ganzen Kopf aus. Während das Häschen auf ihrer Zunge schmilzt, gleitet das Brettchen in den Kasten zurück, und der Schlitz schließt sich.
»Gut?«, fragt er.
»Mhm.« Mehr bringt sie nicht heraus. Wenn das eine normale Süßigkeit wäre, würde sie den kleinen Hebel wie eine Laborratte bei einem wissenschaftlichen Experiment so lange bearbeiten, bis er entweder abbräche oder auf dem Brettchen nichts mehr herauskäme. Aber sie möchte kein weiteres Stück. Und sie hat das Gefühl, dass sie sich am Kiosk auf der anderen Seite vom Spielplatz auch keinen Slushie holen wird. Sie hat überhaupt keinen Hunger mehr. Sie ist …
»Wunschlos glücklich?«, fragt Farris.
»Ja!« Das Wort trifft es. Noch nie ist sie so wunschlos glücklich gewesen, nicht einmal an ihrem neunten Geburtstag, wo sie das Fahrrad bekommen hat.
»Gut. Morgen möchtest du wahrscheinlich wieder ein Stück haben, und wenn ja, kannst du auch eins haben, weil du dann den Wunschkasten hast. Es ist jetzt dein Kasten, jedenfalls vorerst.«
»Wie viele Schokoladentiere sind da drin?«
Statt ihre Frage zu beantworten, bedeutet er ihr, am Hebel auf der anderen Kastenseite zu ziehen.
»Kommt da eine andere Süßigkeit raus?«
»Probier’s aus.«
Sie legt den kleinen Finger um den kleinen Hebel und zieht. Als sich das Brettchen diesmal aus dem Schlitz herausschiebt, liegt darauf eine Silbermünze, so groß und glänzend, dass sie gegen die von ihr reflektierte Vormittagssonne die Augen zusammenkneifen muss. Sie nimmt sie, und das Brettchen gleitet in den Kasten zurück. Die Münze liegt schwer in der Hand. Sie zeigt eine Frau im Profil, die eine Art Diadem auf dem Kopf hat. Unten ist ein Halbkreis aus Sternen zu sehen, in dessen Mitte das Datum 1891 steht. Oben stehen die Worte E Pluribus Unum.
»Das ist ein Morgan-Silberdollar«, sagt Farris belehrend. »Er enthält vierundzwanzig Gramm reines Silber. Das Design stammt von George T. Morgan, der erst dreißig Jahre alt war, als er die sogenannte Kopfseite der Münze mit dem Porträt von Anna Willess Williams graviert hat, einer Lehrerin aus Philadelphia. Auf der Wertseite ist der Weißkopfseeadler zu sehen.«
»Er ist wunderschön«, haucht sie, und dann hält sie ihm – sehr widerstrebend – den Silberdollar hin.
Farris kreuzt die Hände vor der Brust und schüttelt den Kopf. »Er gehört nicht mir, Gwendy. Er gehört dir. Alles, was aus dem Kasten kommt – die Süßigkeiten und die Münzen –, alles gehört dir, weil der Kasten dir gehört. Münzsammler zahlen für so einen Morgan-Dollar gegenwärtig übrigens knapp sechshundert Dollar.«
»Das … das kann ich nicht annehmen«, sagt sie. Sie hört die eigene Stimme nur wie von fern. Ähnlich wie zu Beginn ihres Lauftrainings die Selbstmordtreppe hoch vor zwei Monaten hat sie das Gefühl, gleich in Ohnmacht zu fallen. »Ich habe nichts getan, dass ich das verdient hab.«
»Das wirst du aber.« Er zieht eine altmodische Taschenuhr aus seiner schwarzen Jacke. Sie schießt Gwendy noch mehr Sonnenpfeile in die Augen, nur sind sie diesmal aus Gold und nicht aus Silber. Er lässt den Deckel aufspringen und wirft einen Blick auf das Zifferblatt. Dann steckt er sie wieder in die Tasche. »Meine Zeit wird knapp, also schau dir jetzt die Tasten an. Und hör gut zu. Schaffst du das?«
»J-ja.«
»Dann steck jetzt erst mal den Silberdollar ein. Der lenkt dich nur ab.«
Sie tut wie geheißen. Sie spürt die Münze am Oberschenkel, etwas kreisrundes Schweres.