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Stephen King

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Beschreibung

Die sterbende Welt, die Roland auf der Suche nach dem „Dunklen Turm“ durchquert, nimmt immer groteskere Formen und seltsamere Gestalten an. Am Rande des Wahnsinns träumt Roland von dem Schlüssel, der aus dem Nichts des wüsten Landes auftaucht, um ihm die Geheimnisse des „Dunklen Turms“ zu offenbaren.

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Inhaltsverzeichnis
 
EINLEITUNG
VORREDE
ERLÖSUNG
 
ERSTES BUCH JAKE – Angst in einer Hand voll Staub
Kapitel 1 – BÄR UND KNOCHEN
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Kapitel 2 – SCHLüSSEL UND ROSE
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3 – MEIN VERSTÄNDNIS VON WAHRHEIT von Jake Chambers
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Kapitel 3 – TÜR UND DÄMON
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ZWEITES BUCH LUD – Gehäuf zerbrochner Bilder
Kapitel 4 – DORF UND Ka-Tet
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Kapitel 5 – BRÜCKE UND STADT
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Kapitel 6 – RÄTSEL UND WÜSTES LAND
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NACHWORT
Copyright
Titel der Originalausgabe THE WASTE LANDS – THE DARK TOWER III erschienen bei Scribner, New York
 
Quellenhinweis: T.S. Eliot, DAS WÜSTE LAND/ The Waste Land Copyright © der deutschen Übersetzung by Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main, 1975 Ins Deutsche übersetzt von Ernst Robert Curtius
 
Robert Browning, HERR ROLAND KAM ZUM FINSTERN TURM/ Child Roland To The Dark Tower Came aus: Ausgewählte Gedichte von Robert Browning Copyright © der deutschen Übersetzung by Verlag von M. Heinsius Nachfolger, Bremen, 1984 Ins Deutsche übersetzt von Edmund Ruete
 
Robert Aickman, HAND IM HANDSCHUH / Hand in Glove aus: Terrarium – Die besten Stories aus »The Magazine of Fantasy And Science Fiction«, 63. Folge, herausgegeben von Manfred Kluge Copyright © der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co.KG, München Ins Deutsche übersetzt von Barbara Schönberg
Dieser dritte Band der Geschichteist in Dankbarkeit meinem Sohn gewidmet,OWEN PHILIP KING:
 
Khef, Ka und Ka-Tet.
EINLEITUNG
Über Dinge, die neunzehn sind(und anderes)

I

Als ich neunzehn war (eine Zahl, die in den Geschichten, die Sie zu lesen im Begriff sind, von einiger Bedeutung ist), waren Hobbits schwer angesagt.
Während des großen Woodstock-Musikfestivals gab es wahrscheinlich ein halbes Dutzend Merrys und Pippins, die sich dort über Max Yasugars matschiges Farmgelände schleppten, doppelt so viele Frodos und zahllose Hippie-Gandalfs. J. R. R. Tolkiens Herr der Ringe war in jenen Tagen wahnsinnig beliebt, und wenn ich es auch nicht nach Woodstock schaffte (leider, leider), war ich vermutlich wenigstens ein Hippie-Halbling. Auf jeden Fall Hippie genug, um nach der Lektüre richtig in die Bücher vernarrt gewesen zu sein. Die Bücher um den Dunklen Turm – wie überhaupt die meisten längeren Fantasy-Geschichten von Männern und Frauen meiner Generation (als zwei Beispiele für viele seien hier Die Chroniken von Thomas Covenant von Stephen Donaldson und Das Schwert von Shannara von Terry Brooks genannt) – verdanken ihre Herkunft diesen Büchern Tolkiens.
Obwohl ich die Bücher bereits in den Jahren 1966 und 1967 las, hielt ich mich mit dem Schreiben zurück. Ich war für Tolkiens mitreißenden Einfallsreichtum – die Zielsetzung seiner Geschichte – sehr empfänglich (und zwar mit ergreifender rückhaltloser Hingabe), aber ich wollte meine eigene Geschichte schreiben, und hätte ich damals angefangen, wäre nur wieder seine Geschichte dabei herausgekommen. Und das, wie der inzwischen verstorbene Tricky Dick Nixon so gern sagte, wäre falsch gewesen. Dank Mr. Tolkien hatte das 20. Jahrhundert bereits alle Elfen und Zauberer, die es brauchte.
1967 hatte ich nicht die leiseste Vorstellung, wie meine Geschichte aussehen würde, aber das machte mir nichts aus: Ich war zuversichtlich, dass ich sie schon erkennen würde, wenn sie mir über den Weg lief. Ich war neunzehn und überheblich. Zweifellos überheblich genug, um das Gefühl zu haben, noch ein Weilchen auf meine Muse und mein Meisterwerk (das es mit Sicherheit werden würde) warten zu können. Mit neunzehn, finde ich, hat man alles Recht, überheblich zu sein; die Zeit hat gewöhnlich noch nicht mit ihrer verstohlenen und niederträchtigen Subtraktion begonnen. Sie nimmt einem das Haar und die Sprungkraft, wie es in einem beliebten Countrysong heißt, aber in Wahrheit nimmt sie einem eine ganze Menge mehr als das. 1966/67 habe ich das noch nicht gewusst, und wenn, dann wär’s mir egal gewesen. Ich konnte mir gerade noch vorstellen, vierzig zu sein, aber fünfzig? Nein. Sechzig? Nie! Sechzig war völlig ausgeschlossen. Mit neunzehn ist das eben so. Neunzehn ist das Alter, in dem man sagt: Pass auf, Welt, ich rauche TNT und trinke Dynamit, und wenn dir dein Leben lieb ist, geh mir aus dem Weg – hier kommt Stevie.
Neunzehn ist ein selbstsüchtiges Alter, in dem man seine Interessen fest umrissen sieht. Ich wollte hoch hinaus, das war mir wichtig. Ich hatte jede Menge Ehrgeiz, das war mir wichtig. Ich besaß eine Schreibmaschine, die ich von einem Rattenloch zum nächsten schleppte, immer ein Briefchen Dope in der Tasche und ein Lächeln im Gesicht. Die Kompromisse des mittleren Alters waren in weiter Ferne, die Würdelosigkeit des Greisenalters jenseits des Horizonts. Wie der Protagonist in jenem Bob-Seger-Song, der inzwischen in der Werbung für Trucks verwendet wird, fühlte ich mich unendlich stark und unendlich optimistisch; meine Taschen waren leer, aber ich hatte den Kopf voller Dinge, die ich mitteilen wollte, und das Herz voller Geschichten, die ich erzählen wollte. Klingt heute abgedroschen, fühlte sich damals aber wunderbar an. Richtig cool. Mehr als alles wollte ich hinter die Abwehr der Leser gelangen, wollte sie aufmischen und einsacken, um sie mit nichts als einer Geschichte für immer zu verändern. Und ich spürte, dass ich dazu in der Lage war. Ich spürte, dass ich dafür geradezu geschaffen war.
Wie eingebildet klingt das? Ganz schön oder nur ein bisschen? So oder so, ich entschuldige mich für nichts. Ich war neunzehn. Mein Bart wies nicht eine einzige graue Strähne auf. Ich besaß drei Paar Jeans, ein Paar Schuhe, die Vorstellung, dass mir die Welt zu Füßen lag; und nichts, was die nächsten zwanzig Jahre passieren sollte, konnte mich widerlegen. Schließlich, so um die neununddreißig, fingen meine Sorgen an: Alkohol, Drogen, ein Straßenunfall, der meine Gangart (unter anderem) verändern sollte. Ich habe über diese Dinge bereits ausführlich geschrieben und brauche mich hier nicht zu wiederholen. Außerdem geht es Ihnen doch auch nicht anders, oder? Irgendwann schickt einem die Welt einen fiesen Verkehrspolizisten, der einen runterbremst, um einem zu zeigen, wer das Sagen hat. Wer das hier liest, ist seinem bestimmt schon begegnet (oder wird das tun); mir ist das jedenfalls so gegangen, und dass es sich wiederholen wird, ist so sicher wie nur was. Meine Adresse hat er ja jetzt. Er ist ein übler Bursche, dieser »Bad Lieutenant«, ein eingeschworener Gegner von Verfehlungen, Patzern, Hochmut, Ambition, lauter Musik und aller Dinge, die neunzehn sind.
Trotzdem halte ich es für ein tolles Alter. Vielleicht sogar für das beste von allen. Rock and Roll die ganze Nacht, und wenn die Musik verebbt und das Bier zur Neige geht, kommen die Gedanken. Träumt man seine großen Träume. Irgendwann kommt dann dieser fiese Verkehrspolizist und stutzt einen zusammen, und wenn man eh schon klein anfängt, na ja, dann stehen die Hosenbeine sozusagen von allein da, sobald er mit einem fertig ist. »Und jetzt zum nächsten Übeltäter!«, ruft er, guckt in sein Vorladungsbüchlein und macht sich auf den Weg. Ein bisschen Überheblichkeit (oder sogar große) ist also gar nicht so schlecht, obwohl einem Muttern höchstwahrscheinlich etwas anderes erzählt hat. Meine hat das. Hochmut kommt vor dem Fall, Stephen, hat sie gesagt … und schließlich hat sich irgendwie herausgestellt – genau in dem Alter, das 19 × 2 entspricht -, dass man zu guter Letzt tatsächlich fällt. Oder in den Graben geschubst wird. Wenn man neunzehn ist, können sie in den Bars von einem einen Ausweis verlangen, um einem dann zu bescheiden, man solle sich verpissen und seine erbärmliche Erscheinung (und seinen noch erbärmlicheren Arsch) wieder auf die Straße verpflanzen, aber keiner kann einen Ausweis verlangen, wenn man sich hinsetzt, um ein Bild zu malen, ein Gedicht zu schreiben oder eine Geschichte zu erzählen, wirklich nicht; und solltet ihr Leser noch sehr jung sein, dann lasst euch von Älteren mit vermeintlich mehr Lebenserfahrung bloß nichts anderes erzählen. Klar, ihr wart noch nicht in Paris. Auch seid ihr noch nicht mit den Stieren durch Pamplona gerannt. Natürlich seid ihr Nobodys, die vor drei Jahren noch nicht einmal Achselhaare hatten – na und? Wenn man nicht großspurig anfängt, wie will man es dann als Erwachsener je schaffen, auf der Bahn zu bleiben? Gebt Gas, egal, wer immer auch anderes erzählt, sage ich da nur. Setzt euch hin und lasst es krachen.

II

Meiner Meinung nach gibt es zwei Typen von Romanautoren, und das schließt die Art von Jungautor ein, die ich 1970 inzwischen selbst darstellte. Jene, die auf dem Weg sind, sich der mehr literarischen beziehungsweise »ernsteren« Seite dieser Sache zu widmen, prüfen jedwedes Thema vor dem Hintergrund folgender Frage: Was könnte das Schreiben einer solchen Geschichte für mich bedeuten? Jene aber, deren Schicksal es ist (oder Ka, wenn’s beliebt), das Schreiben von Unterhaltungsromanen nicht außer Acht zu lassen, neigen dazu, eine ganz andere Frage zu stellen: Was könnte das Schreiben einer solchen Geschichte für andere bedeuten? Der »ernste Romanautor« sucht Antworten und Schlüssel zu seinem Selbst; der »Unterhaltungsschriftsteller« sucht ein Publikum. Beide Typen von Autoren sind dabei aber in gleicher Weise selbstsüchtig. Darauf verwette ich meine Uhr und Urkunde, denn mir sind von beiden reichlich über den Weg gelaufen.
Wie dem auch sei, schon im Alter von neunzehn habe ich die Geschichte von Frodo und seinen Bestrebungen, den Einen Großen Ring loszuwerden, irgendwie immer der zweiten Gruppe zugeschlagen. Sie handelte von den Abenteuern einer im Grunde britischen Pilgerschar vor dem verschwommenen Hintergrund nordischer Mythologie. Mir gefiel die Vorstellung mit der abenteuerlichen Suche – war sogar überaus angetan davon -, aber mich interessierten weder Tolkiens unerschütterliche bäuerliche Figuren (was nicht heißt, dass ich sie nicht mochte, im Gegenteil) noch seine waldreichen altnordischen Schauplätze. Sollte ich mich in dieser Richtung versuchen, würde ich nur alles falsch machen.
Also wartete ich ab. 1970 war ich zweiundzwanzig, schon zeigten sich die ersten grauen Bartsträhnen (wahrscheinlich hatte der Verbrauch von zweieinhalb Päckchen Pall Mall am Tag irgendwie damit zu tun), aber selbst noch mit zweiundzwanzig kann man sich das Abwarten leisten. Mit zweiundzwanzig hat man noch alle Zeit der Welt, obwohl der fiese Verkehrspolizist in der Nachbarschaft schon Fragen stellt.
Eines Tages sah ich mir dann in einem fast leeren Kino (dem Bijou in Bangor, Maine, wen’s interessiert) einen Film des Regisseurs Sergio Leone an. Er hieß Zwei glorreiche Halunken, und bevor der Film noch zur Hälfte um war, wurde mir klar, dass ich einen Roman schreiben wollte, der zwar Tolkiens Gespür für abenteuerliches Suchen und Magie nachvollzog, aber vor Leones fast schon absurd majestätischem Westernhintergrund spielte. Wenn man diesen exzentrischen Western nur im Fernsehen gesehen hat, wird man kaum verstehen, worüber ich rede – erflehe Eure Vergebung, aber es ist wahr. Mit dem richtigen Panavision-Vorführgerät auf eine Kinoleinwand projiziert, kann Zwei glorreiche Halunken es als Filmepos mit Ben Hur aufnehmen. Clint Eastwood erscheint ungefähr fünf Meter groß, wobei jede drahtig vorsprießende Bartstoppel ungefähr vom Ausmaß eines jungen Mammutbaums ist. Die Furchen, die Lee Van Cleefs Mund umspielen, sind so tief wie Canyons, an deren Sohle sich gut Schwachstellen (siehe Glas) befinden könnten. Die Wüstenschauplätze scheinen sich mindestens bis zur Umlaufbahn des Neptuns zu erstrecken. Und die Läufe der Revolver wirken ungefähr so groß wie der Holland Tunnel.
Mehr noch als nach dem Schauplatz verlangte es mich nach jener epischen, apokalyptischen Größe. Dass Leone einen Scheiß über amerikanische Geografie wusste (laut einer der Figuren liegt Chicago irgendwo in der Nähe von Phoenix, Arizona), trug nur noch zur Stimmung des Films hinsichtlich einer herrlichen Verrückung des Schauplatzes bei. Und in meinem ganzen Enthusiasmus – von der Art, wie sie vermutlich nur ein junger Mensch aufbieten kann – wollte ich nicht nur ein langes Buch schreiben, sondern den längsten Unterhaltungsroman der Geschichte. Das ist mir dann zwar nicht gelungen, aber ich finde, es war ein anständiger Versuch: Die Bände eins bis sieben von Der Dunkle Turm enthalten eigentlich eine einzige Geschichte, und allein die vier ersten Bände der amerikanischen Taschenbuchausgabe umfassen über zweitausend Seiten. Die drei abschließenden Bände umfassen im Manuskript weitere zweitausendfünfhundert Seiten. Ich will hier nicht andeuten, dass Länge das Geringste mit Qualität zu tun hat; ich möchte damit bloß sagen, dass ich ein Epos hatte schreiben wollen, was mir in mancher Hinsicht auch gelungen ist. Fragte man mich, warum ich das tun wollte, müsste ich die Antwort schuldig bleiben. Möglicherweise hat es teilweise damit zu tun, dass ich in Amerika aufgewachsen bin: am höchsten bauen, am tiefsten graben, am längsten schreiben. Und die hilflose Verlegenheit, wenn die Frage nach der Motivation aufkommt? Auch das ist wohl Teil davon, Amerikaner zu sein. Zu guter Letzt bleibt uns nur die eine Antwort: Damals kam mir das wie eine klasse Idee vor.

III

Eines der anderen Dinge, wenn man neunzehn ist, wenn’s beliebt: Es ist meiner Meinung nach das Alter, in dem man irgendwie stecken bleibt (verstandes- und gefühlsmäßig, wenn nicht gar körperlich). Die Jahre ziehen vorüber, und eines Tages schaut man dann verwirrt in den Spiegel. Warum sind da diese Falten im Gesicht?, fragt man sich. Woher kommt diese dämliche Wampe? Verdammt, ich bin erst neunzehn. Das ist zwar nicht gerade die allerneuste Erkenntnis, was aber in keiner Weise hilft, die Verblüffung zu lindern.
Die Zeit schmiert einem das Grau in den Bart, die Zeit nimmt einem die Sprungkraft, während man ständig denkt – du Dummerchen auch -, dass man alle Zeit der Welt hat. Die Stimme der Logik weiß es zwar besser, aber im Innersten wollen wir es einfach nicht glauben. Wenn man Glück hat, hält einem jener Verkehrspolizist, der einen wegen Geschwindigkeitsübertretung und überbordender Lebensfreude vor sich zitiert hat, eine Prise Riechsalz unter die Nase. Mehr oder weniger ist mir dergleichen am Ende des 20. Jahrhunderts selbst widerfahren. Er kam in Gestalt eines Plymouth-Vans, der mich in meiner Heimatstadt in den Straßengraben stieß.
Etwa drei Jahre nach dem Unfall war ich anlässlich einer Signierstunde zu meinem Buch Der Buick in einer Filiale der Buchhandelskette Borders in Dearborn, Michigan. Einer der Leser, der sich die Warteschlange vorgearbeitet hatte, sagte dort zu mir, wie überaus er sich freue, dass ich noch am Leben sei. (Ich bekomme das oft zu hören, und es schlägt um Längen die Frage: »Warum, zum Teufel, bist du nicht abgekratzt?«)
»Ich saß gerade mit einem guten Freund zusammen, als wir gehört haben, dass Sie abgeschossen wurden«, sagte er. »Mann, wir haben nur den Kopf geschüttelt und gesagt, da geht er hin, der Turm, er kippt, er stürzt ein, ach Scheiße, jetzt wird er ihn nie zu Ende bringen.«
Ein ähnlicher Gedanke war mir selbst schon gekommen – der beunruhigende Gedanke, dass ich jetzt, wo ich den Dunklen Turm in der kollektiven Phantasie von einer Million Leser hochgezogen hatte, sozusagen der Verpflichtung unterlag, ihn zu befestigen, solange die Leute noch darüber lesen wollten. Das mochte noch fünf Jahre der Fall sein, gut möglich aber auch fünfhundert, was weiß ich. Fantasy-Geschichten, die schlechten wie die guten (selbst in diesem Moment liest wahrscheinlich irgendwo jemand gerade Varney der Vampir oder Der Mönch), scheinen eine lange Lebensdauer zu haben. Roland beschützt den Turm, indem er die drohende Gefahr von den Balken, die den Turm stützen, fern zu halten versucht. Ich musste den Turm beschützen, wie mir nach meinem Unfall klar wurde, indem ich die Geschichte um den Revolvermann fertig schrieb.
Während der großen Pausen zwischen dem Erscheinen der ersten vier Erzählungen um den Dunklen Turm erhielt ich hunderte Briefe mit dem Tenor »Pack deine Sachen, das schlechte Gewissen geht auf Reisen«. Im Jahr 1998 (als ich mich sozusagen nach wie vor der Täuschung hingab, im Grunde immer noch neunzehn zu sein) erhielt ich einen solchen von »Großmama, 82 J., will nicht mit meinen Sorgen aufdringlich sein, aber!! bin grad ziemlich krank«. Sie erzählte mir, dass sie wahrscheinlich nur noch ein Jahr zu leben habe (»14 Melanome, Krebs im ganzen Körper«), und obwohl sie nicht erwarte, dass ich Rolands Geschichte rechtzeitig fertig bekäme, wolle sie dennoch anfragen, ob ich ihr nicht bitte (bitte) das Ende verraten könne. Die Zeile, die mir am meisten zu Herzen ging (allerdings nicht ganz so stark, dass ich mich sofort ans Schreiben machte), war ihr Versprechen, es auch »keiner einzigen Seele weiterzuerzählen«. Etwa ein Jahr später – möglicherweise nach dem Unfall, der mich ins Krankenhaus verfrachtete – öffnete meine Mitarbeiterin Marsha DiFilippo den Brief eines Zeitgenossen, der entweder in Texas oder Florida in der Todeszelle saß und im Wesentlichen dasselbe wissen wollte: Wie geht die Geschichte aus? (Er versprach, das Geheimnis mit ins Grab zu nehmen, was mir richtig Gänsehaut verschaffte.)
Ich hätte beiden gegeben, wonach sie verlangten – eine Zusammenfassung von Rolands weiteren Abenteuern -, wenn es mir möglich gewesen wäre, aber ach!, ich konnte nicht. Ich hatte nicht die leiseste Idee, wie sich die Dinge für den Revolvermann und seine Freunde entwickeln würden. Um es herauszubekommen, muss ich es schreiben. Es hatte zwar einmal eine Liste mit den Grundzügen gegeben, aber die war inzwischen verloren gegangen. (Vermutlich war sie sowieso Scheiße.) Alles, was ich hatte, waren ein paar Notizen (»Schripp und schrapp und schrull, und schon ist das Körbchen voll«, lautet beispielsweise eine, die gerade vor mir auf dem Schreibtisch liegt). Im Juli 2001 fing ich dann endlich mit dem Schreiben an. Inzwischen wusste ich, dass ich weder länger neunzehn war noch gefeit vor jenen Leiden, die den Leib heimsuchen konnten. Ich wusste, dass ich sechzig werden würde, vielleicht sogar siebzig. Und ich wollte meine Geschichte zu Ende gebracht haben, bevor der fiese Verkehrspolizist ein letztes Mal kam. Ich verspürte nicht den Drang, das gleiche Schicksal zu erleiden wie Chaucer mit den Canterbury-Erzählungen oder Dickens mit dem Geheimnis des Edwin Drood.
Das Ergebnis – zu Freude oder Leid – liegt nun vor, o treue Leserschaft, ob man nun mit Band eins beginnen oder sich auf Band fünf vorbereiten mag. Egal, was man letztlich davon halten wird, die Geschichte von Roland ist jetzt vollbracht. Ich hoffe, sie bereitet Freude.
Ich habe mich königlich amüsiert.
 
Stephen King25. Januar 2003
VORREDE
tot. ist der dritte Band einer langen Geschichte, die von Robert Brownings langem erzählendem Gedicht »Herr Roland kam zum finstern Turm« beeinflusst und in gewissem Maße auch davon abhängig ist.
Der erste Band (Schwarz) schildert, wie Roland, der letzte Revolvermann in einer Welt, die sich »weiterbewegt« hat, den Mann in Schwarz verfolgt und letztlich stellt, einen Zauberer namens Walter, der sich zu der Zeit, als die Einheit von Mittwelt noch erhalten war, arglistig der Freundschaft mit Rolands Vater rühmte. Diesen halb menschlichen Hexer zu fangen ist nicht Rolands endgültiges Ziel, sondern lediglich ein Meilenstein auf dem Weg zum mächtigen und geheimnisvollen Dunklen Turm, der im Brennpunkt der Zeit steht.
Wer genau ist Roland? Wie hat seine Welt ausgesehen, bevor sie sich weiterbewegt hat? Was ist der Turm, und weshalb sucht Roland ihn? Darauf wissen wir nur bruchstückhafte Antworten. Roland ist eindeutig eine Art Ritter, einer von denen, die die Aufgabe hatten, eine Welt »voll Liebe und Licht«, wie Roland sich erinnert, zu erhalten (oder möglicherweise zu erlösen). Ob sich Rolands Erinnerung freilich damit deckt, wie diese Welt tatsächlich ausgesehen hat, steht sehr in Frage.
Wir wissen: Er wurde zu einer allzu frühen Mannbarkeitsprüfung gezwungen, nachdem er herausgefunden hatte, dass seine Mutter die Geliebte von Marten geworden war, einem viel größeren Zauberer als Walter; wir wissen, Marten hat es eingefädelt, dass Roland von der Affäre seiner Mutter erfährt, weil er damit rechnete, Roland würde die Mannbarkeitsprüfung nicht bestehen und »nach Westen« geschickt werden, ins wüste Land; wir wissen auch, dass Roland Martens Pläne vereitelte, indem er die Prüfung bestand.
Darüber hinaus wissen wir, dass die Welt des Revolvermanns auf eine seltsame, aber entscheidende Weise mit der unseren verbunden und der Durchgang zwischen den Welten manchmal möglich ist.
Bei einer Zwischenstation an einer längst aufgegebenen Kutschenstraße durch die Wüste trifft Roland einen Jungen namens Jake, der in unserer Welt gestorben ist, einen Jungen, der eigentlich an einer Straßenecke in Manhattan vor ein heranfahrendes Auto geschubst wurde. Jake Chambers starb, während der Mann in Schwarz – Walter – auf ihn herabsah, und erwachte in Rolands Welt.
Bevor sie den Mann in Schwarz einholen, stirbt Jake wieder … diesmal weil der Revolvermann, vor die zweitschwierigste Entscheidung seines Lebens gestellt, sich dafür entscheidet, diesen symbolischen Sohn zu opfern. Vor die Wahl zwischen dem Turm und dem Kind gestellt, wählt Roland den Turm. Jakes letzte Worte an den Revolvermann, bevor er in den Abgrund stürzt, sind: »Dann geh – es gibt andere als diese Welten.«
Die letzte Konfrontation zwischen Roland und Walter findet in einem staubigen Golgatha verfallender Gebeine statt. Der Mann in Schwarz liest Roland die Zukunft aus einem Blatt Tarotkarten. Drei sehr seltsame Karten – Der Gefangene, Die Herrin der Schatten und Der Tod (»aber nicht für dich, Revolvermann«) – werden Rolands Aufmerksamkeit besonders nahe gebracht.
Der zweite Band (Drei) beginnt am Ufer des Westlichen Meeres nicht lange nach dem Ende von Rolands Konfrontation mit Walter. Ein erschöpfter Revolvermann wacht mitten in der Nacht auf und stellt fest, dass die Flut einen Schwarm kriechender, Fleisch fressender Kreaturen gebracht hat – »Monsterhummer«. Ehe er ihrer – wenn auch begrenzten – Reichweite entkommen kann, wird Roland von diesen Kreaturen ernstlich verwundet und verliert dabei zwei Finger der rechten Hand. Darüber hinaus vergiftet ihn das Sekret der Monsterhummer, und als der Revolvermann seine Reise am Ufer des Westlichen Meeres entlang nach Norden fortsetzt, ist er krank … möglicherweise todkrank.
Er kommt zu drei Türen, die frei am Ufer stehen. Jede Tür öffnet sich – für Roland und nur für Roland – in unsere Welt; genauer: in die Stadt, wo Jake lebte. Roland besucht New York an drei Punkten unseres Zeitkontinuums, um sein eigenes Leben zu retten und die Drei zu ziehen, die ihn auf dem Weg zum Turm begleiten müssen.
Eddie Dean ist Der Gefangene, ein Heroinsüchtiger aus dem New York Ende der Achtzigerjahre. Roland tritt durch die Tür auf dem Strand seiner Welt in Eddie Deans Kopf, als Eddie, der für einen Mann namens Enrico Balazar als Kokainschmuggler arbeitet, gerade auf dem JFK-Flughafen landet. Im Verlauf ihrer gemeinsamen qualvollen Abenteuer gelingt es Roland, eine begrenzte Menge Penizillin zu bekommen und Eddie Dean in seine Welt zu holen. Eddie, ein Junkie, der feststellen muss, dass er in eine Welt entführt wurde, wo es keinen Stoff gibt (ebenso wenig wie Popeye’s Fried Chicken, was das betrifft), ist alles andere als erfreut, dort zu sein.
Die zweite Tür führt Roland zur Herrin der Schatten – eigentlich zwei Frauen in einem Körper. Diesmal findet sich Roland im New York der frühen Sechzigerjahre in einer jungen, an den Rollstuhl gefesselten Bürgerrechtlerin namens Odetta Holmes wieder. Die Frau, die sich in Odetta verbirgt, ist die verschlagene und hasserfüllte Detta Walker. Als diese gespaltene Frau in Rolands Welt gezogen wird, sind die Folgen für Eddie und den Revolvermann, dessen Gesundheitszustand sich rapide verschlechtert, äußerst lebhaft. Odetta glaubt sich in einem Traum oder einer Halluzination gefangen; Detta, ein brutalerer und offenerer Intellekt, stellt sich einfach die Aufgabe, Roland und Eddie zu töten, die sie als weiße Teufel und Peiniger betrachtet.
Jack Mort, ein Serienmörder, der sich hinter der dritten Tür versteckt (im New York Mitte der Siebzigerjahre) ist Der Tod. Mort hat zweimal große Veränderungen im Leben von Odetta Holmes/Detta Walker bewirkt, auch wenn es anfänglich keinem bewusst ist. Mort, dessen Modus Operandi es ist, seine Opfer entweder zu schubsen oder ihnen etwas von oben auf den Kopf fallen zu lassen, hat Odetta im Verlauf seiner irren (aber ach so vorsichtigen) Karriere beides angetan. Als Odetta ein Kind war, hat er ihr einen Backstein auf den Kopf fallen lassen, worauf das kleine Mädchen ins Koma fiel; dies war gleichzeitig die Geburtsstunde von Detta Walker, Odettas heimlicher Schwester. Jahre später, 1959, trifft Mort Odetta wieder und schubst sie in Greenwich Village vor eine einfahrende U-Bahn. Odetta überlebt Morts Anschlag wieder, doch zu einem hohen Preis: Die U-Bahn trennt ihr beide Beine oberhalb der Knie ab. Lediglich die Anwesenheit eines jungen Arztes (und möglicherweise der hässlichen, aber unbezähmbaren Seele von Detta Walker) rettet ihr das Leben... so scheint es jedenfalls. Für Roland deuten diese Verbindungen auf eine größere Macht als den reinen Zufall hin; er glaubt, dass die titanischen Kräfte, welche den Dunklen Turm umgeben, erneut dabei sind, sich zu sammeln.
Roland findet heraus, dass Mort sich ebenfalls im Zentrum eines weiteren Geheimnisses befinden könnte, bei dem es sich gleichermaßen um ein den Verstand vernichtendes Paradox handelt. Das Opfer nämlich, das Mort zu dem Zeitpunkt verfolgt, als der Revolvermann in dessen Leben tritt, ist niemand anderer als Jake, der Junge, den Roland an der Zwischenstation kennen gelernt hat, um ihn unter den Bergen wieder zu verlieren. Roland hatte keinen Grund gehabt, an Jakes Geschichte, wie er in unserer Welt gestorben ist, zu zweifeln, ebenso wenig die Identität von Jakes Mörder zu hinterfragen – Walter natürlich. Jake sah diesen als Priester verkleidet, als sich eine Menge um die Stelle versammelt hatte, wo er im Sterben lag, und Roland hat nie an dieser Schilderung gezweifelt.
Auch jetzt zweifelt er nicht daran; Walter war dort, o ja, kein Zweifel. Aber angenommen, es war Jack Mort und nicht Walter, der Jake vor den heranfahrenden Cadillac geschubst hat? Wäre so etwas überhaupt möglich? Roland kann es nicht mit Sicherheit sagen, aber wenn das der Fall ist, wo ist dann Jake jetzt? Tot? Am Leben? Irgendwo in der Zeit gefangen? Und wenn Jake Chambers in seiner Welt in Manhattan Mitte der Siebzigerjahre noch am Leben ist, wie kommt es dann, dass sich Roland immer noch an ihn erinnert?
Trotz dieser verwirrenden und möglicherweise gefährlichen Entwicklung endet die Prüfung der Türen – und das Ziehen der Drei – erfolgreich für Roland. Eddie Dean akzeptiert seinen Platz in Rolands Welt, weil er sich in die Herrin der Schatten verliebt hat. Detta Walker und Odetta Holmes, die beiden anderen von Rolands Drei, verschmelzen zu einer neuen Persönlichkeit mit Elementen von Detta und Odetta, als der Revolvermann schließlich imstande ist, beide Persönlichkeiten dazu zu bringen, einander anzuerkennen. Diese Hybride kann Eddies Liebe akzeptieren und erwidern. Odetta Susannah Holmes und Detta Susannah Walker werden so zu einer neuen Frau, einer dritten Frau: Susannah Dean.
Jack Mort stirbt unter den Rädern derselben U-Bahn – des legendären A-Train -, der fünfzehn oder sechzehn Jahre zuvor Odettas Beine abgetrennt hat. Kein großer Verlust.
Und zum ersten Mal seit ungezählten Jahren ist Roland von Gilead nicht mehr allein auf seiner Suche nach dem Dunklen Turm. Cuthbert und Alain, seine verlorenen Gefährten von einst, sind durch Eddie und Susannah ersetzt worden... aber der Revolvermann ist ein gefährlicher Geselle für seine Freunde. Wahrlich ein sehr gefährlicher Geselle. tot. erzählt die Geschichte dieser drei Pilger auf dem Antlitz von Mittwelt einige Monate nach der Konfrontation bei der letzten Tür am Strand. Sie sind ein gutes Stück ins Landesinnere gereist. Die Zeit der Ruhe ist zu Ende, eine Zeit des Lernens hat begonnen. Susannah lernt schießen … Eddie lernt schnitzen … und der Revolvermann lernt, wie es ist, wenn man Stück für Stück den Verstand verliert.
(Eine letzte Anmerkung: Meine Leser in New York werden feststellen, dass ich mir gewisse geografische Freiheiten bei der Beschreibung der Stadt herausgenommen habe. Ich hoffe, sie werden mir diese verzeihen.)
Gehäuf zerbrochner Bilder unter Sonnenbrand, Der tote Baum gibt Obdach nicht, die Grille Trost nicht, Der trockne Stein kein Wasserrauschen. Aber Es schattet unter dem roten Stein (Komm unter den Schatten des roten Steins), Und ich will dir weisen ein Ding, das weder Dein Schatten am Morgen ist, der dir nachfolgt, Noch dein Schatten am Abend, der dir begegnet; Ich zeige dir die Angst in einer Handvoll Staub.
T. S. Eliot DAS WÜSTE LAND
 
Hob sich ein Distelstengel aus den Reih’n Der Brüder war der Kopf ihm abgerissen: Des Ampfers rauhe Blätter schau! zerschlissen, Durchlöchert, daß der letzte grüne Schein Verschwunden war. Drang wohl ein Tier hier ein, Das fühllos sei und zersplissen?
Robert Browning HERR ROLAND KAM ZUM FINSTERN TURM
 
»Was ist das für ein Fluss?«, fragte Millicent ohne viel Interesse. »Eigentlich nur ein Bach. Na ja, vielleicht ein kleines bisschen größer. Er heißt Wüst.« »Tatsächlich?« »Ja, tatsächlich.«
Robert Aickman »HAND IM HANDSCHUH«
19
ERLÖSUNG
ERSTES BUCH JAKE
Angst in einer Hand voll Staub
Kapitel 1
BÄR UND KNOCHEN

1

Es war ihr drittes Mal mit scharfer Munition … und das erste Mal, dass sie die Waffe aus dem Halfter zog, das Roland für sie zurechtgemacht hatte.
Sie hatten ausreichend scharfe Munition; Roland hatte mehr als zweihundert Schuss aus der Welt mitgebracht, wo Eddie und Susannah Dean ihr Leben verbracht hatten, bis er sie gezogen hatte. Aber Munition im Übermaß zu haben bedeutete nicht, dass man sie verschwenden konnte; ganz im Gegenteil. Die Götter zürnten Verschwendern. Roland war zuerst von seinem Vater und dann von Cort, seinem größten Lehrmeister, in diesem Glauben erzogen worden, und er glaubte es immer noch. Die Götter straften vielleicht nicht auf der Stelle, aber früher oder später musste die Strafe bezahlt werden … und je länger die Wartezeit, desto strenger das Urteil.
Zuerst hatte sowieso keine Veranlassung bestanden, mit scharfer Munition zu üben. Roland ging schon länger mit Waffen um, als dies die wunderschöne braunhäutige Frau im Rollstuhl für möglich gehalten hätte. Anfangs hatte er sie verbessert, indem er ihr nur zusah, wie sie auf die Ziele anlegte, die er aufgestellt hatte, und trocken feuerte. Sie lernte schnell. Sie und Eddie lernten beide schnell.
Wie er vermutet hatte, waren beide geborene Revolvermänner.
Heute übten Roland und Susannah auf einer Lichtung, keine Meile von dem Lager im Wald entfernt, das seit fast zwei Monaten ihr Zuhause war. Die Tage waren mit ihrer ureigenen süßen Einförmigkeit verstrichen. Der Körper des Revolvermanns heilte, während Eddie und Susannah lernten, was der Revolvermann ihnen beibringen musste: wie man schoss, jagte, ausweidete und sauber machte, was man erlegt hatte; wie man die Häute dieser Tiere erst streckte, dann spannte und gerbte; wie man Norden am Alten Stern und Süden an der Alten Mutter erkannte; wie man auf den Wald hörte, in dem sie sich jetzt befanden, sechzig Meilen oder mehr nordöstlich des Westlichen Meeres. Heute war Eddie im Lager geblieben, was den Revolvermann nicht betrübte. Die Lektionen, die man am besten behalten konnte, wusste Roland, waren stets diejenigen, die man sich selbst beibrachte.
Doch die wichtigste Lektion – in der Vergangenheit und in der Gegenwart – war: wie man schoss und wie man das traf, worauf man schoss. Wie man tötete.
Dunkle, wohlriechende Fichten bildeten einen ungefährlichen Halbkreis am Rand dieser Lichtung. Im Süden fiel der Boden in Form einer Reihe verkarsteter Simse und bröckelnder Klippen rund hundert Meter tief ab wie eine gigantische Treppe. Ein klarer Bach führte aus dem Wald und durch das Zentrum der Lichtung, wo er zuerst durch einen tiefen Kanal in der feuchten Erde und dem bröckelnden Stein floss und dann über den zerklüfteten Felsrand fiel, der schräg bis zu der Stelle verlief, wo der Abgrund anfing.
Das Wasser stürzte in einer Folge von Wasserfällen abwärts und bildete eine Anzahl hübscher, wabernder Regenbogen. Hinter dem Rand lag ein atemberaubendes tiefes Tal, in dem dicht an dicht weitere Fichten und eine Hand voll alter Ulmen wuchsen, die sich nicht vertreiben lassen wollten. Letztere ragten grün und üppig empor – Bäume, die schon alt gewesen sein konnten, als das Land, aus dem Roland stammte, noch jung war; er konnte keine Anzeichen erkennen, dass es in dem Tal jemals gebrannt hatte, vermutete aber, dass hie und da einmal Blitze eingeschlagen haben mussten. Und Blitze waren keinesfalls die einzige Gefahr. In längst vergangener Zeit hatten Menschen in diesem Tal gelebt; im Lauf der vergangenen Wochen war Roland mehrmals auf ihre Spuren gestoßen. Weitgehend handelte es sich um primitive Kunstgegenstände, doch fanden sich darunter auch Scherben von Töpferarbeiten, die in Feuer gebrannt waren. Und Feuer war etwas Böses, dem es Vergnügen bereitete, den Händen zu entkommen, die es geschaffen hatten.
Über dieser Bilderbuchszenerie erstreckte sich ein makellos blauer Himmel, an dem einige Meilen entfernt ein paar Krähen kreisten und mit ihren alten, rostigen Stimmen schrien. Sie wirkten unruhig, als würde sich ein Sturm zusammenbrauen, aber Roland hatte in der Luft geschnuppert, und diese brachte überhaupt keinen Regen mit sich.
Links vom Bach ragte ein Findling empor. Darauf hatte Roland sechs Steinsplitter gelegt. Jeder war von Flechten überzogen; sie glänzten im warmen Nachmittagslicht wie Linsen.
»Letzte Chance«, sagte der Revolvermann. »Wenn das Halfter unbequem ist, und sei es nur eine Winzigkeit, dann sag es mir jetzt. Wir sind nicht hierher gekommen, um Munition zu verschwenden.«
Sie maß ihn mit einem höhnischen Blick, und einen Moment lang konnte er Detta Walker in ihr sehen: ein Blick wie dunstiges Sonnenlicht, welches von einem Stahlträger reflektiert wurde. »Was würdest du machen, wenn es unbequem wäre, ich es dir aber nicht sagen würde? Wenn ich alle sechs von diesen Itzibitzidingern verfehlen würde? Mir eins auf den Kopf hauen, wie es dein alter Lehrmeister gemacht hat?«
Der Revolvermann lächelte. In den vergangenen fünf Wochen hatte er öfter gelächelt als in den fünf Jahren davor. »Das kann ich nicht, wie du sehr wohl weißt. Zunächst einmal waren wir Kinder – Kinder, die den Mannbarkeitsritus noch nicht hinter sich hatten. Man kann ein Kind schlagen, wenn man es verbessern will, aber …«
»In meiner Welt betrachtet die bessere Schicht es als unschicklich, die Bälger zu hauen«, bemerkte Susannah trocken.
Roland zuckte die Achseln. Es fiel ihm schwer, sich diese Welt vorzustellen – hieß es nicht im Großen Buch: »Spare nicht mit der Rute, auf dass du das Kind nicht verdirbst«? -, aber er glaubte nicht, dass Susannah log. »Deine Welt hat sich nicht weiterbewegt«, sagte er. »Hier ist vieles anders. Habe ich nicht selbst gesehen, dass es so ist?«
»Das hast du wohl.«
»Wie auch immer, du und Eddie – ihr seid keine Kinder. Es wäre falsch, würde ich euch als solche behandeln. Und falls Prüfungen erforderlich wären, so habt ihr sie beide bestanden.«
Auch wenn er es nicht sagte, musste er daran denken, wie es am Strand geendet hatte, als Susannah drei der riesigen Monsterhummer zur Hölle gepustet hatte, bevor sie ihn und Eddie bis auf die Knochen abnagen konnten. Er sah ihr Lächeln wie eine Antwort und dachte, dass sie sich möglicherweise an dasselbe erinnerte.
»Also, was willste denn machn, wenn ich’n Scheiß zusammenschieß?«
»Ich werde dich ansehen. Ich glaube, mehr ist nicht erforderlich.«
Sie dachte darüber nach, dann nickte sie. »Könnte sein.«
Sie überprüfte noch einmal den Revolvergurt. Er war fast wie ein Schulterhalfter über ihren Busen geschlungen (eine Anordnung, die Roland als Dockerschlinge bezeichnete) und sah schlicht und einfach aus, aber es hatte viele Wochen des Probierens gekostet – und jede Menge Kürschnerarbeit -, bis er richtig saß. Der Gürtel und der Revolver, dessen abgenutzter Sandelholzgriff aus dem alten geölten Holster ragte, hatten einmal dem Revolvermann gehört; das Holster hatte an seiner rechten Hüfte gehangen. In den vergangenen fünf Wochen hatte er genügend Zeit mit der Erkenntnis verbracht, dass es nie wieder dort hängen würde. Dank der Monsterhummer war er jetzt ein ausschließlich linkshändiger Schütze.
»Und, wie ist es?«, fragte er wieder.
Diesmal lachte sie zu ihm hoch. »Roland, dieser olle Revolvergurt is so bequem, wie er nur sein kann. Möchtest du jetzt, dass ich schieß – oder einfach hier sitz und mir die Krähenmusik von da drüben anhör?«
Jetzt spürte er, dass die Spannung sich wie spitze kleine Finger unter seine Haut bohrte, und vermutete, Cort musste sich zuzeiten unter seinem griesgrämigen, vorgeschützten Gebaren ganz ähnlich gefühlt haben. Er wollte, dass sie gut war … sie musste gut sein. Aber wenn er ihr zeigte, wie sehr er das wollte und brauchte, konnte es zu einer Katastrophe führen.
»Wiederhole deine Lektion, Susannah.«
Sie seufzte in gespielter Verzweiflung, doch beim Sprechen verschwand das Lächeln, und ihr dunkles, hübsches Gesicht wirkte auf einmal ernst. Und er vernahm von ihren Lippen erneut den alten Katechismus, der in ihrem Mund so neu klang. Er hätte nie damit gerechnet, diese Worte von einer Frau zu hören. Wie natürlich sie sich anhörten … und doch wie seltsam und gefährlich obendrein.
»›Ich ziele nicht mit der Hand; wer mit der Hand zielt, hat das Angesicht seines Vaters vergessen.
Ich ziele mit dem Auge.
Ich schieße nicht mit der Hand; wer mit der Hand schießt, hat das Angesicht seines Vaters vergessen.
Ich schieße mit dem Verstand.
Ich töte nicht mit meiner Waffe …‹«
Sie verstummte und deutete auf die flechtenschimmernden Steine auf dem Findling.
»Ich werde sowieso nichts töten – sind ja nur Itzibitzi-Steine.«
Ihr Gesichtsausdruck – ein bisschen garstig, ein bisschen verdrossen – deutete darauf hin, dass sie davon ausging, Roland würde resigniert sein, vielleicht sogar ein bisschen wütend auf sie. Aber Roland hatte schon hinter sich, was sie gerade durchmachte; er hatte nicht vergessen, dass angehende Revolvermänner manchmal schnippisch und übermütig waren, nervös und geneigt, genau im falschen Augenblick zuzubeißen … und er hatte eine unerwartete Fähigkeit in sich entdeckt. Er konnte unterrichten. Mehr noch, es machte ihm Spaß zu unterrichten, und er fragte sich von Zeit zu Zeit, ob es Cort ebenso ergangen war. Er vermutete, dass dem so war.
Jetzt fingen noch mehr Krähen rau zu krächzen an – diesmal im Wald hinter ihnen. Ein Teil von Rolands Verstand registrierte die Tatsache, dass diese Schreie aufgeregt waren, nicht nur zänkisch; diese Vögel hörten sich an, als wären sie von dem Aas weggescheucht worden, das sie gerade gefressen hatten. Aber er musste über wichtigere Dinge nachdenken als den Grund, der ein paar Vögel aufgescheucht haben mochte, daher speicherte er die Information einfach ab und konzentrierte seine Aufmerksamkeit wieder auf Susannah. Mit einem Schüler anders zu verfahren hieße, einen zweiten, nicht mehr so verspielten Biss zu riskieren. Und wer würde dafür die Verantwortung tragen? Wer, wenn nicht der Lehrmeister? Aber bildete er sie denn nicht aus, um zu beißen? Bildete sie beide aus, um zu beißen? War ein Revolvermann nicht genau das, wenn man ihn der wenigen strengen Maßregeln des Rituals und der wenigen eisernen Vorschriften des Kodex entblätterte? War er (oder sie) nicht ein menschlicher Falke, der darauf trainiert war, auf Befehl zu beißen?
»Nein«, sagte er. »Es sind keine Steine.«
Sie zog die Brauen ein wenig in die Höhe und fing wieder an zu lächeln. Als sie sah, dass er nicht explodieren würde – wie manchmal, wenn sie langsam oder schnippisch war – (jedenfalls noch nicht), nahmen ihre Augen wieder das spöttische Funkeln wie von Sonne auf Stahl an, das er mit Detta Walker verband. »Nicht?« Das Spötteln in ihrer Stimme war immer noch humorvoll, aber er dachte sich, es würde gemein werden, wenn er es zuließ. Sie war nervös, aufgekratzt und hatte die Krallen schon halb ausgefahren.
»Nein«, sagte er und erwiderte ihren Spott. Auch sein Lächeln stellte sich wieder ein, aber es war hart und humorlos. »Susannah, erinnerst du dich noch an die blassn Wichsah?«
Ihr Lächeln verblasste langsam.
»Die blassn Wichsah aus Oxford Town?«
Ihr Lächeln war dahin.
»Weißt du noch, was die blassn Wichsah dir und deinen Freunden angetan haben?«
»Das war nicht ich«, sagte sie. »Das war die andere Frau.« Ihre Augen hatten einen stumpfen, mürrischen Ausdruck angenommen. Er hasste diesen Ausdruck, aber er gefiel ihm auch ganz gut. Es war der richtige Ausdruck, der sagte, dass die Zweige brannten und die größeren Scheite bald Feuer fangen würden.
»Doch. Das warst du. Ob es dir gefällt oder nicht, es war Odetta Susannah Holmes, Tochter von Sarah Walker Holmes. Nicht du, wie du bist, sondern du, wie du warst. Erinnerst du dich noch an die Feuerwehrschläuche, Susannah? Erinnerst du dich an die Goldzähne, die du gesehen hast, als sie mit den Feuerwehrschläuchen gegen dich und deine Freunde in Oxford vorgegangen sind? Wie du sie funkeln gesehen hast, als sie lachten?«
Diese Geschichten – und viele andere – hatten sie ihm in zahlreichen langen Nächten erzählt, während das Lagerfeuer niederbrannte. Der Revolvermann hatte nicht alles verstanden, aber er hatte trotzdem aufmerksam zugehört. Und nichts vergessen. Schließlich war Schmerz ein Werkzeug. Manchmal war er das beste Werkzeug.
»Was stimmt mit dir nicht, Roland? Warum musst du mich an diesen Dreck erinnern?«
Jetzt funkelten die verdrossenen Augen ihn gefährlich an; sie erinnerten ihn an Alains Augen, wenn der gutmütige Alain doch einmal erzürnt war.
»Jene Steine sind diese Männer«, sagte Roland leise. »Die Männer, die dich in eine Zelle eingesperrt haben, wo du dich selbst besudeln musstest. Die Männer mit den Stöcken und Hunden. Die Männer, die dich eine Niggerfotze genannt haben.«
Er deutete auf sie und bewegte den Finger von rechts nach links.
»Da ist derjenige, der dich in die Brust gekniffen und gelacht hat. Das ist derjenige, der dir gesagt hat, du sollst dich lieber vergewissern, ob du etwas in den Arsch gesteckt hättest. Da ist derjenige, der dich eine Schimpansin in einem Kleid für fünfhundert Dollar genannt hat. Das ist derjenige, der mit seinem Schlagstock über die Speichen deines Rollstuhls gestrichen ist, bis du gedacht hast, dass das Geräusch dich verrückt macht. Da ist derjenige, der deinen Freund Leo eine Fummeltunte genannt hat. Und der am Ende, Susannah, das ist Jack Mort.
Dort. Jene Steine. Jene Männer.«
Sie atmete jetzt heftig, ihr Busen hob und senkte sich schnell und ruckartig unter dem Patronengurt mit seiner schweren Ladung an Munition. Sie hatte den Blick von ihm abgewendet und sah zu den flechtenbewachsenen Steinen hinüber. Hinter ihnen splitterte in einiger Entfernung ein Baum und stürzte um. Noch mehr Krähen krächzten am Himmel. Die beiden waren tief in das Spiel vertieft, das kein Spiel mehr war, und bemerkten es nicht.
»Ach ja?«, schnaufte sie. »Ist das so?«
»Es ist so. Und nun sag deine Lektion, Susannah Dean, und sei wahrhaftig.«
Diesmal kamen ihr die Worte wie winzige Eiskristalle über die Lippen. Ihre rechte Hand auf der Handstütze des Rollstuhls zitterte leicht, so wie ein Motor im Leerlauf.
»›Ich ziele nicht mit der Hand; wer mit der Hand zielt, hat das Angesicht seines Vaters vergessen.
Ich ziele mit dem Auge.‹«
»Gut.«
»›Ich schieße nicht mit der Hand; wer mit der Hand schießt, hat das Angesicht seines Vaters vergessen.
Ich schieße mit dem Verstand.‹«
»So ist es immer gewesen, Susannah Dean.«
»›Ich töte nicht mit meiner Waffe; wer mit seiner Waffe tötet, hat das Angesicht seines Vaters vergessen.
Ich töte mit dem Herzen.‹«
»Dann TÖTE sie, bei deinem Vater!«, brüllte Roland. »TÖTE SIE ALLE!«
Ihre rechte Hand war auf einmal nur ein Flirren zwischen der Lehne des Rollstuhls und dem Griff von Rolands Sechsschüsser. Diesen hatte sie binnen einer Sekunde herausgeholt, senkte die linke Hand und spannte den Hahn mit Bewegungen, die fast so geschwind und zierlich wie der Flügelschlag eines Kolibris waren. Sechs Schüsse hallten über das Tal, und fünf der sechs Steine auf dem Findling verschwanden von der Bildfläche.
Einen Augenblick sagte keiner etwas – sie atmeten nicht einmal, schien es -, während die Echos ersterbend hin und her hallten. Selbst die Krähen waren verstummt, zumindest vorübergehend.
Der Revolvermann unterbrach das Schweigen mit vier tonlosen und dennoch seltsam bewegten Worten: »Das war sehr gut.«
Susannah betrachtete die Waffe in ihrer Hand, als hätte sie sie noch nie zuvor gesehen. Ein Rauchfähnchen stieg in der windstillen Luft vollkommen senkrecht vom Lauf empor. Dann steckte sie sie langsam wieder in das Halfter unter dem Busen.
»Gut, aber nicht perfekt«, sagte sie schließlich. »Ich habe einen verfehlt.«
»Wirklich?« Er ging zu dem Findling und hob das verbliebene Stück Stein hoch. Er betrachtete es, dann warf er es ihr zu.
Sie fing den Stein mit der Linken; die Rechte behielt sie am Halfter der Waffe, wie er mit Wohlgefallen sah. Sie schoss besser und natürlicher als Eddie, hatte diese spezielle Lektion aber nicht so schnell gelernt wie Eddie. Wäre sie während der Schießerei in Balazars Nachtclub bei ihnen gewesen, hätte sie es vielleicht. Jetzt, stellte Roland fest, lernte sie auch das. Sie betrachtete den Stein und sah die kaum zwei Millimeter tiefe Kerbe an der oberen Ecke.
»Du hast ihn nur gestreift«, sagte Roland und kam zu ihr zurück, »aber manchmal reicht das. Wenn man einen Menschen streift, aus dem Gleichgewicht bringt …« Er verstummte. »Warum siehst du mich so an?«
»Du weißt es nicht, was? Du weißt es wirklich nicht.«
»Nein. Dein Denken ist mir häufig verschlossen, Susannah.«
In seiner Stimme klang nichts Rechtfertigendes mit, und Susannah schüttelte resigniert den Kopf. Der rasende Ringelreihen ihrer Persönlichkeit raubte ihm manchmal den Nerv. Sein scheinbares Unvermögen, jemals etwas anderes auszusprechen als das, was ihm gerade durch den Kopf ging, bewirkte dasselbe bei ihr. Er war der offenste Mensch, dem sie jemals begegnet war.
»Na gut«, sagte sie, »dann will ich dir sagen, warum ich dich so ansehe, Roland. Weil du mir einen üblen Streich gespielt hast. Du hast gesagt, du würdest mich nicht schlagen, könntest mich nicht schlagen, selbst wenn ich gemein wäre … aber entweder hast du gelogen, oder du bist dumm, und ich weiß, dass du nicht dumm bist. Die Menschen schlagen nicht immer mit der Hand, wie jeder Mann und jede Frau meiner Rasse bestätigen kann. Wo ich herkomme, kennen wir einen kleinen Reim: ›Stock und Stein brechen mein Gebein …‹«
»›… doch Spott wird mir nichts tun‹«, sprach Roland weiter.
»Na ja, ganz so heißt es bei uns nicht, aber ich glaube, es kommt irgendwie hin. Aber es ist dummes Zeug – wie man es auch sagt. Was du getan hast, nennt man nicht umsonst verbale Prügel. Deine Worte haben mir wehgetan, Roland – möchtest du hier stehen und mir sagen, du hättest das nicht gewusst?«
Sie saß in ihrem Rollstuhl und sah voll strahlender, strenger Neugier zu ihm auf, und Roland dachte – nicht zum ersten Mal -, dass die blassn Wichsah aus Susannahs Land entweder sehr tapfer oder sehr dumm gewesen sein mussten, ihr in die Quere zu kommen, Rollstuhl hin oder her. Und da er sie kennen gelernt hatte, glaubte er nicht, dass Tapferkeit die Antwort war.
»Ich habe nicht daran gedacht, ob sie dir wehtun würden, und es war mir auch egal«, sagte er geduldig. »Ich habe gesehen, wie du die Zähne gefletscht hast und beißen wolltest, darum habe ich dir einen Stock zwischen die Kiefer geschoben. Und es hat funktioniert … oder nicht?«
Jetzt zeigte ihr Ausdruck gekränktes Erstaunen. »Du Dreckskerl!«
Statt zu antworten, holte er die Waffe aus dem Holster, fummelte mit den verbliebenen Fingern seiner rechten Hand die Trommel auf und lud die Kammern mit der rechten Hand nach.
»Von allen herablassenden arroganten …«
»Du musstest beißen«, sagte er im selben geduldigen Ton. »Wenn nicht, hättest du nur danebengeschossen – mit der Hand und der Waffe statt mit Auge und Verstand und Herzen. War das ein Trick? War es arrogant? Ich finde nicht. Ich finde, Susannah, du warst diejenige mit Arroganz im Herzen. Ich glaube, du warst diejenige, die Tricks im Schilde geführt hat. Aber das beunruhigt mich nicht. Ganz im Gegenteil. Ein Revolvermann ohne Zähne ist kein Revolvermann.«
»Verdammt, ich bin kein Revolvermann!«
Er achtete nicht auf sie; er konnte es sich leisten. Wenn sie kein Revolvermann – oder eine Revolverfrau – war, dann war er ein Billy-Bumbler. »Hätten wir ein Spiel gespielt, wäre es vielleicht anders gewesen. Aber das hier ist kein Spiel. Es …«
Seine gute Hand glitt einen Moment zur Stirn und verweilte da, mit über der linken Schläfe gespreizten Fingern. Die Fingerspitzen, sah sie, zitterten fast unmerklich.
»Roland, was überkommt dich?«, fragte sie.
Die Hand sank langsam herunter. Er klappte die Trommel wieder ein und steckte den Revolver ins Holster zurück. »Nichts.«
»O doch. Ich habe es gesehen. Eddie auch. Es hat angefangen, nachdem wir gerade vom Strand aufgebrochen waren. Etwas stimmt nicht, und es wird immer schlimmer.«
»Es ist alles in Ordnung«, sagte er.
Sie streckte die Hände aus und ergriff die seinen. Ihre Wut war verflogen, jedenfalls vorläufig. Sie sah ihm ernst in die Augen. »Eddie und ich … das hier ist nicht unsere Welt, Roland. Ohne dich würden wir hier sterben. Wir hätten deine Waffen, und wir könnten schießen, das hast du uns beigebracht; aber wir würden trotzdem sterben. Wir … wir sind von dir abhängig. Also sag mir, was mit dir nicht stimmt. Lass mich versuchen, dir zu helfen. Lass uns versuchen, dir zu helfen.«
Er war nie ein Mann gewesen, der sich selbst durch und durch verstand oder dem daran etwas gelegen wäre; der Begriff der Selbstbetrachtung (ganz zu schweigen von Selbstanalyse) war ihm fremd. Seine Art war es, zu handeln – rasch seine inneren, völlig fremden Instinkte zu befragen und dann zu handeln. Von ihnen allen war er der Perfekteste gewesen, ein Mann, dessen romantischer Kern in einen brutalen, einfachen Behälter eingeschlossen war, welcher aus Instinkt und Pragmatismus bestand. Jetzt richtete er einen dieser raschen Blicke nach innen und beschloss, ihr alles zu erzählen. Etwas stimmte nicht mit ihm, o ja. Ja, wahrhaftig. Etwas stimmte nicht mit seinem Verstand, etwas so Einfaches wie sein Wesen und doch so Seltsames wie das rastlose Wanderleben, zu dem dieses Wesen ihn getrieben hatte.
Er wollte den Mund aufmachen und sagen: Ich werde dir erzählen, was mit mir nicht stimmt, Susannah, und ich werde es mit vier einfachen Worten tun: Ich verliere den Verstand.
Aber bevor er etwas sagen konnte, stürzte noch ein Baum im Wald um – mit einem gewaltigen, knirschenden Prasseln. Dieser Baum lag näher, und diesmal waren sie nicht tief in eine Probe der Willenskraft verwickelt, die sich als Unterricht verkleidet hatte. Beide hörten es, beide hörten das aufgeregte Krächzen der Krähen, das darauf folgte, und beide registrierten die Tatsache, dass der Baum ganz in der Nähe ihres Lagers umgestürzt war.

ENDE DER LESEPROBE

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Übersetzung der Einleitung und durchgesehen von: Patrick Niemeyer
 
Copyright © 1991, 2003 by Stephen King Copyright © der gebundenen Ausgabe 2005 by
Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1992 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, MünchenUmschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, nach einer Originalvorlage von (c) Rhett Podersoo
eISBN : 978-3-894-80394-0V004
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