Drei - Stephen King - E-Book

Drei E-Book

Stephen King

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Beschreibung

Nach der Konfrontation mit dem Mann in Schwarz erreicht Roland den Meeresstrand. Krabbenmonster fügen ihm schwere Wunden zu; halb im Delirium beobachtet er, wie sich ihm drei Türen in unsere reale Welt öffnen und seine Blicke auf die Drei lenken, die auserwählt sind, ihm bei der Suche nach dem „Dunklen Turm“ zu helfen.

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Titel der Originalausgabe THE DRAWING OF THE THREE – THE DARK TOWER II erschienen bei Scribner, New York

Der Titel erschien bereits in der Allgemeinen Reihe mit der ISBN 3-453-12385-9 und 3-453-87557-5

Für Don Grant, der mit diesen Geschichten ein Risiko einging, mit jeder einzelnen.

Inhaltsverzeichnis

WidmungEINLEITUNG - Über Dinge, die neunzehn sind (und anderes)VORREDEERNEUERUNGPROLOG - DER SEEFAHRERDER GEFANGENECopyright

EINLEITUNG

Über Dinge, die neunzehn sind (und anderes)

I

Als ich neunzehn war (eine Zahl, die in den Geschichten, die Sie zu lesen im Begriff sind, von einiger Bedeutung ist), waren Hobbits schwer angesagt.

Während des großen Woodstock-Musikfestivals gab es wahrscheinlich ein halbes Dutzend Merrys und Pippins, die sich dort über Max Yasugars matschiges Farmgelände schleppten, doppelt so viele Frodos und zahllose Hippie-Gandalfs. J. R. R. Tolkiens Herr der Ringe war in jenen Tagen wahnsinnig beliebt, und wenn ich es auch nicht nach Woodstock schaffte (leider, leider), war ich vermutlich wenigstens ein Hippie-Halbling. Auf jeden Fall Hippie genug, um nach der Lektüre richtig in die Bücher vernarrt gewesen zu sein. Die Bücher um den Dunklen Turm – wie überhaupt die meisten längeren Fantasy-Geschichten von Männern und Frauen meiner Generation (als zwei Beispiele für viele seien hier Die Chroniken von Thomas Covenant von Stephen Donaldson und Das Schwert von Shannara von Terry Brooks genannt) – verdanken ihre Herkunft diesen Büchern Tolkiens.

Obwohl ich die Bücher bereits in den Jahren 1966 und 1967 las, hielt ich mich mit dem Schreiben zurück. Ich war für Tolkiens mitreißenden Einfallsreichtum – die Zielsetzung seiner Geschichte – sehr empfänglich (und zwar mit ergreifender rückhaltloser Hingabe), aber ich wollte meine eigene Geschichte schreiben, und hätte ich damals angefangen, wäre nur wieder seine Geschichte dabei herausgekommen. Und das, wie der inzwischen verstorbene Tricky Dick Nixon so gern sagte, wäre falsch gewesen. Dank Mr. Tolkien hatte das 20. Jahrhundert bereits alle Elfen und Zauberer, die es brauchte.

1967 hatte ich nicht die leiseste Vorstellung, wie meine Geschichte aussehen würde, aber das machte mir nichts aus: Ich war zuversichtlich, dass ich sie schon erkennen würde, wenn sie mir über den Weg lief. Ich war neunzehn und überheblich. Zweifellos überheblich genug, um das Gefühl zu haben, noch ein Weilchen auf meine Muse und mein Meisterwerk (das es mit Sicherheit werden würde) warten zu können. Mit neunzehn, finde ich, hat man alles Recht, überheblich zu sein; die Zeit hat gewöhnlich noch nicht mit ihrer verstohlenen und niederträchtigen Subtraktion begonnen. Sie nimmt einem das Haar und die Sprungkraft, wie es in einem beliebten Countrysong heißt, aber in Wahrheit nimmt sie einem eine ganze Menge mehr als das. 1966/67 habe ich das noch nicht gewusst, und wenn, dann wär’s mir egal gewesen. Ich konnte mir gerade noch vorstellen, vierzig zu sein, aber fünfzig? Nein. Sechzig? Nie! Sechzig war völlig ausgeschlossen. Mit neunzehn ist das eben so. Neunzehn ist das Alter, in dem man sagt: Pass auf, Welt, ich rauche TNT und trinke Dynamit, und wenn dir dein Leben lieb ist, geh mir aus dem Weg – hier kommt Stevie.

Neunzehn ist ein selbstsüchtiges Alter, in dem man seine Interessen fest umrissen sieht. Ich wollte hoch hinaus, das war mir wichtig. Ich hatte jede Menge Ehrgeiz, das war mir wichtig. Ich besaß eine Schreibmaschine, die ich von einem Rattenloch zum nächsten schleppte, immer ein Briefchen Dope in der Tasche und ein Lächeln im Gesicht. Die Kompromisse des mittleren Alters waren in weiter Ferne, die Würdelosigkeit des Greisenalters jenseits des Horizonts. Wie der Protagonist in jenem Bob-Seger-Song, der inzwischen in der Werbung für Trucks verwendet wird, fühlte ich mich unendlich stark und unendlich optimistisch; meine Taschen waren leer, aber ich hatte den Kopf voller Dinge, die ich mitteilen wollte, und das Herz voller Geschichten, die ich erzählen wollte. Klingt heute abgedroschen, fühlte sich damals aber wunderbar an. Richtig cool. Mehr als alles wollte ich hinter die Abwehr der Leser gelangen, wollte sie aufmischen und einsacken, um sie mit nichts als einer Geschichte für immer zu verändern. Und ich spürte, dass ich dazu in der Lage war. Ich spürte, dass ich dafür geradezu geschaffen war.

Wie eingebildet klingt das? Ganz schön oder nur ein bisschen? So oder so, ich entschuldige mich für nichts. Ich war neunzehn. Mein Bart wies nicht eine einzige graue Strähne auf. Ich besaß drei Paar Jeans, ein Paar Schuhe, die Vorstellung, dass mir die Welt zu Füßen lag; und nichts, was die nächsten zwanzig Jahre passieren sollte, konnte mich widerlegen. Schließlich, so um die neununddreißig, fingen meine Sorgen an: Alkohol, Drogen, ein Straßenunfall, der meine Gangart (unter anderem) verändern sollte. Ich habe über diese Dinge bereits ausführlich geschrieben und brauche mich hier nicht zu wiederholen. Außerdem geht es Ihnen doch auch nicht anders, oder? Irgendwann schickt einem die Welt einen fiesen Verkehrspolizisten, der einen runterbremst, um einem zu zeigen, wer das Sagen hat. Wer das hier liest, ist seinem bestimmt schon begegnet (oder wird das tun); mir ist das jedenfalls so gegangen, und dass es sich wiederholen wird, ist so sicher wie nur was. Meine Adresse hat er ja jetzt. Er ist ein übler Bursche, dieser »Bad Lieutenant«, ein eingeschworener Gegner von Verfehlungen, Patzern, Hochmut, Ambition, lauter Musik und aller Dinge, die neunzehn sind.

Trotzdem halte ich es für ein tolles Alter. Vielleicht sogar für das beste von allen. Rock and Roll die ganze Nacht, und wenn die Musik verebbt und das Bier zur Neige geht, kommen die Gedanken. Träumt man seine großen Träume. Irgendwann kommt dann dieser fiese Verkehrspolizist und stutzt einen zusammen, und wenn man eh schon klein anfängt, na ja, dann stehen die Hosenbeine sozusagen von allein da, sobald er mit einem fertig ist. »Und jetzt zum nächsten Übeltäter!«, ruft er, guckt in sein Vorladungsbüchlein und macht sich auf den Weg. Ein bisschen Überheblichkeit (oder sogar große) ist also gar nicht so schlecht, obwohl einem Muttern höchstwahrscheinlich etwas anderes erzählt hat. Meine hat das. Hochmut kommt vor dem Fall, Stephen, hat sie gesagt … und schließlich hat sich irgendwie herausgestellt – genau in dem Alter, das 19 × 2 entspricht –, dass man zu guter Letzt tatsächlich fällt. Oder in den Graben geschubst wird. Wenn man neunzehn ist, können sie in den Bars von einem einen Ausweis verlangen, um einem dann zu bescheiden, man solle sich verpissen und seine erbärmliche Erscheinung (und seinen noch erbärmlicheren Arsch) wieder auf die Straße verpflanzen, aber keiner kann einen Ausweis verlangen, wenn man sich hinsetzt, um ein Bild zu malen, ein Gedicht zu schreiben oder eine Geschichte zu erzählen, wirklich nicht; und solltet ihr Leser noch sehr jung sein, dann lasst euch von Älteren mit vermeintlich mehr Lebenserfahrung bloß nichts anderes erzählen. Klar, ihr wart noch nicht in Paris. Auch seid ihr noch nicht mit den Stieren durch Pamplona gerannt. Natürlich seid ihr Nobodys, die vor drei Jahren noch nicht einmal Achselhaare hatten – na und? Wenn man nicht großspurig anfängt, wie will man es dann als Erwachsener je schaffen, auf der Bahn zu bleiben? Gebt Gas, egal, wer immer auch anderes erzählt, sage ich da nur. Setzt euch hin und lasst es krachen.

II

Meiner Meinung nach gibt es zwei Typen von Romanautoren, und das schließt die Art von Jungautor ein, die ich 1970 inzwischen selbst darstellte. Jene, die auf dem Weg sind, sich der mehr literarischen beziehungsweise »ernsteren« Seite dieser Sache zu widmen, prüfen jedwedes Thema vor dem Hintergrund folgender Frage: Was könnte das Schreiben einer solchen Geschichte für mich bedeuten? Jene aber, deren Schicksal es ist (oder Ka, wenn’s beliebt), das Schreiben von Unterhaltungsromanen nicht außer Acht zu lassen, neigen dazu, eine ganz andere Frage zu stellen: Was könnte das Schreiben einer solchen Geschichte für andere bedeuten? Der »ernste Romanautor« sucht Antworten und Schlüssel zu seinem Selbst; der »Unterhaltungsschriftsteller« sucht ein Publikum. Beide Typen von Autoren sind dabei aber in gleicher Weise selbstsüchtig. Darauf verwette ich meine Uhr und Urkunde, denn mir sind von beiden reichlich über den Weg gelaufen.

Wie dem auch sei, schon im Alter von neunzehn habe ich die Geschichte von Frodo und seinen Bestrebungen, den Einen Großen Ring loszuwerden, irgendwie immer der zweiten Gruppe zugeschlagen. Sie handelte von den Abenteuern einer im Grunde britischen Pilgerschar vor dem verschwommenen Hintergrund nordischer Mythologie. Mir gefiel die Vorstellung mit der abenteuerlichen Suche – war sogar überaus angetan davon –, aber mich interessierten weder Tolkiens unerschütterliche bäuerliche Figuren (was nicht heißt, dass ich sie nicht mochte, im Gegenteil) noch seine waldreichen altnordischen Schauplätze. Sollte ich mich in dieser Richtung versuchen, würde ich nur alles falsch machen.

Also wartete ich ab. 1970 war ich zweiundzwanzig, schon zeigten sich die ersten grauen Bartsträhnen (wahrscheinlich hatte der Verbrauch von zweieinhalb Päckchen Pall Mall am Tag irgendwie damit zu tun), aber selbst noch mit zweiundzwanzig kann man sich das Abwarten leisten. Mit zweiundzwanzig hat man noch alle Zeit der Welt, obwohl der fiese Verkehrspolizist in der Nachbarschaft schon Fragen stellt.

Eines Tages sah ich mir dann in einem fast leeren Kino (dem Bijou in Bangor, Maine, wen’s interessiert) einen Film des Regisseurs Sergio Leone an. Er hieß Zwei glorreiche Halunken , und bevor der Film noch zur Hälfte um war, wurde mir klar, dass ich einen Roman schreiben wollte, der zwar Tolkiens Gespür für abenteuerliches Suchen und Magie nachvollzog, aber vor Leones fast schon absurd majestätischem Westernhintergrund spielte. Wenn man diesen exzentrischen Western nur im Fernsehen gesehen hat, wird man kaum verstehen, worüber ich rede – erflehe Eure Vergebung, aber es ist wahr. Mit dem richtigen Panavision-Vorführgerät auf eine Kinoleinwand projiziert, kann Zwei glorreiche Halunken es als Filmepos mit Ben Hur aufnehmen. Clint Eastwood erscheint ungefähr fünf Meter groß, wobei jede drahtig vorsprießende Bartstoppel ungefähr vom Ausmaß eines jungen Mammutbaums ist. Die Furchen, die Lee Van Cleefs Mund umspielen, sind so tief wie Canyons, an deren Sohle sich gut Schwachstellen (siehe Glas) befinden könnten. Die Wüstenschauplätze scheinen sich mindestens bis zur Umlaufbahn des Neptuns zu erstrecken. Und die Läufe der Revolver wirken ungefähr so groß wie der Holland Tunnel.

Mehr noch als nach dem Schauplatz verlangte es mich nach jener epischen, apokalyptischen Größe. Dass Leone einen Scheiß über amerikanische Geografie wusste (laut einer der Figuren liegt Chicago irgendwo in der Nähe von Phoenix, Arizona), trug nur noch zur Stimmung des Films hinsichtlich einer herrlichen Verrückung des Schauplatzes bei. Und in meinem ganzen Enthusiasmus – von der Art, wie sie vermutlich nur ein junger Mensch aufbieten kann – wollte ich nicht nur ein langes Buch schreiben, sondern den längsten Unterhaltungsroman der Geschichte. Das ist mir dann zwar nicht gelungen, aber ich finde, es war ein anständiger Versuch: Die Bände eins bis sieben von Der Dunkle Turm enthalten eigentlich eine einzige Geschichte, und allein die vier ersten Bände der amerikanischen Taschenbuchausgabe umfassen über zweitausend Seiten. Die drei abschließenden Bände umfassen im Manuskript weitere zweitausendfünfhundert Seiten. Ich will hier nicht andeuten, dass Länge das Geringste mit Qualität zu tun hat; ich möchte damit bloß sagen, dass ich ein Epos hatte schreiben wollen, was mir in mancher Hinsicht auch gelungen ist. Fragte man mich, warum ich das tun wollte, müsste ich die Antwort schuldig bleiben. Möglicherweise hat es teilweise damit zu tun, dass ich in Amerika aufgewachsen bin: am höchsten bauen, am tiefsten graben, am längsten schreiben. Und die hilflose Verlegenheit, wenn die Frage nach der Motivation aufkommt? Auch das ist wohl Teil davon, Amerikaner zu sein. Zu guter Letzt bleibt uns nur die eine Antwort: Damals kam mir das wie eine klasse Idee vor.

III

Eines der anderen Dinge, wenn man neunzehn ist, wenn’s beliebt: Es ist meiner Meinung nach das Alter, in dem man irgendwie stecken bleibt (verstandes – und gefühlsmäßig, wenn nicht gar körperlich). Die Jahre ziehen vorüber, und eines Tages schaut man dann verwirrt in den Spiegel. Warum sind da diese Falten im Gesicht?, fragt man sich. Woher kommt diese dämliche Wampe? Verdammt, ich bin erst neunzehn. Das ist zwar nicht gerade die allerneuste Erkenntnis, was aber in keiner Weise hilft, die Verblüffung zu lindern.

Die Zeit schmiert einem das Grau in den Bart, die Zeit nimmt einem die Sprungkraft, während man ständig denkt – du Dummerchen auch –, dass man alle Zeit der Welt hat. Die Stimme der Logik weiß es zwar besser, aber im Innersten wollen wir es einfach nicht glauben. Wenn man Glück hat, hält einem jener Verkehrspolizist, der einen wegen Geschwindigkeitsübertretung und überbordender Lebensfreude vor sich zitiert hat, eine Prise Riechsalz unter die Nase. Mehr oder weniger ist mir dergleichen am Ende des 20. Jahrhunderts selbst widerfahren. Er kam in Gestalt eines Plymouth-Vans, der mich in meiner Heimatstadt in den Straßengraben stieß.

Etwa drei Jahre nach dem Unfall war ich anlässlich einer Signierstunde zu meinem Buch Der Buick in einer Filiale der Buchhandelskette Borders in Dearborn, Michigan. Einer der Leser, der sich die Warteschlange vorgearbeitet hatte, sagte dort zu mir, wie überaus er sich freue, dass ich noch am Leben sei. (Ich bekomme das oft zu hören, und es schlägt um Längen die Frage: »Warum, zum Teufel, bist du nicht abgekratzt? «)

»Ich saß gerade mit einem guten Freund zusammen, als wir gehört haben, dass Sie abgeschossen wurden«, sagte er. »Mann, wir haben nur den Kopf geschüttelt und gesagt, da geht er hin, der Turm, er kippt, er stürzt ein, ach Scheiße, jetzt wird er ihn nie zu Ende bringen.«

Ein ähnlicher Gedanke war mir selbst schon gekommen – der beunruhigende Gedanke, dass ich jetzt, wo ich den Dunklen Turm in der kollektiven Phantasie von einer Million Leser hochgezogen hatte, sozusagen der Verpflichtung unterlag, ihn zu befestigen, solange die Leute noch darüber lesen wollten. Das mochte noch fünf Jahre der Fall sein, gut möglich aber auch fünfhundert, was weiß ich. Fantasy-Geschichten, die schlechten wie die guten (selbst in diesem Moment liest wahrscheinlich irgendwo jemand gerade Varney der Vampir oder Der Mönch), scheinen eine lange Lebensdauer zu haben. Roland beschützt den Turm, indem er die drohende Gefahr von den Balken, die den Turm stützen, fern zu halten versucht. Ich musste den Turm beschützen, wie mir nach meinem Unfall klar wurde, indem ich die Geschichte um den Revolvermann fertig schrieb.

Während der großen Pausen zwischen dem Erscheinen der ersten vier Erzählungen um den Dunklen Turm erhielt ich hunderte Briefe mit dem Tenor »Pack deine Sachen, das schlechte Gewissen geht auf Reisen«. Im Jahr 1998 (als ich mich sozusagen nach wie vor der Täuschung hingab, im Grunde immer noch neunzehn zu sein) erhielt ich einen solchen von »Großmama, 82 J., will nicht mit meinen Sorgen aufdringlich sein, aber!! bin grad ziemlich krank«. Sie erzählte mir, dass sie wahrscheinlich nur noch ein Jahr zu leben habe (»14 Melanome, Krebs im ganzen Körper«), und obwohl sie nicht erwarte, dass ich Rolands Geschichte rechtzeitig fertig bekäme, wolle sie dennoch anfragen, ob ich ihr nicht bitte (bitte) das Ende verraten könne. Die Zeile, die mir am meisten zu Herzen ging (allerdings nicht ganz so stark, dass ich mich sofort ans Schreiben machte), war ihr Versprechen, es auch »keiner einzigen Seele weiterzuerzählen«. Etwa ein Jahr später – möglicherweise nach dem Unfall, der mich ins Krankenhaus verfrachtete – öffnete meine Mitarbeiterin Marsha DiFilippo den Brief eines Zeitgenossen, der entweder in Texas oder Florida in der Todeszelle saß und im Wesentlichen dasselbe wissen wollte: Wie geht die Geschichte aus? (Er versprach, das Geheimnis mit ins Grab zu nehmen, was mir richtig Gänsehaut verschaffte.)

Ich hätte beiden gegeben, wonach sie verlangten – eine Zusammenfassung von Rolands weiteren Abenteuern –, wenn es mir möglich gewesen wäre, aber ach!, ich konnte nicht. Ich hatte nicht die leiseste Idee, wie sich die Dinge für den Revolvermann und seine Freunde entwickeln würden. Um es herauszubekommen, muss ich es schreiben. Es hatte zwar einmal eine Liste mit den Grundzügen gegeben, aber die war inzwischen verloren gegangen. (Vermutlich war sie sowieso Scheiße.) Alles, was ich hatte, waren ein paar Notizen (»Schripp und schrapp und schrull, und schon ist das Körbchen voll«, lautet beispielsweise eine, die gerade vor mir auf dem Schreibtisch liegt). Im Juli 2001 fing ich dann endlich mit dem Schreiben an. Inzwischen wusste ich, dass ich weder länger neunzehn war noch gefeit vor jenen Leiden, die den Leib heimsuchen konnten. Ich wusste, dass ich sechzig werden würde, vielleicht sogar siebzig. Und ich wollte meine Geschichte zu Ende gebracht haben, bevor der fiese Verkehrspolizist ein letztes Mal kam. Ich verspürte nicht den Drang, das gleiche Schicksal zu erleiden wie Chaucer mit den Canterbury-Erzählungen oder Dickens mit dem Geheimnis des Edwin Drood.

Das Ergebnis – zu Freude oder Leid – liegt nun vor, o treue Leserschaft, ob man nun mit Band eins beginnen oder sich auf Band fünf vorbereiten mag. Egal, was man letztlich davon halten wird, die Geschichte von Roland ist jetzt vollbracht. Ich hoffe, sie bereitet Freude.

Ich habe mich königlich amüsiert.

Stephen King25. Januar 2003

VORREDE

Drei ist der zweite Band einer langen Geschichte mit dem Titel Der Dunkle Turm, eine Geschichte, die teilweise von Robert Brownings erzählendem Gedicht »Herr Roland kam zum finstern Turm« inspiriert wurde (das selbst wiederum Shakespeares König Lear einiges verdankt).

Der erste Band, Schwarz, erzählt davon, wie Roland, der letzte Revolvermann einer Welt, die sich »weiterbewegt« hat, schließlich den Mann in Schwarz einholt … einen Zauberer, den er lange Zeit verfolgt hat – wie lange genau, wissen wir noch nicht. Wie sich herausstellt, ist der Mann in Schwarz ein Bursche namens Walter, der sich in den Tagen, ehe die Welt sich weiterbewegt hat, hinterhältig die Freundschaft von Rolands Vater erschlichen hatte.

Rolands Ziel ist aber nicht dieses halb menschliche Wesen, sondern der dunkle Turm; der Mann in Schwarz – und genauer, was der Mann in Schwarz weiß – ist der erste Schritt auf der Straße zu diesem geheimnisvollen Ort.

Wer genau ist Roland? Wie war seine Welt, bevor sie sich »weiterbewegt« hat? Was ist der Turm, und weshalb sucht er ihn? Darauf wissen wir nur bruchstückhafte Antworten. Roland ist ein Revolvermann, eine Art Ritter, einer derjenigen, deren Aufgabe es war, eine Welt, welche von »Liebe und Licht erfüllt« war, wie Roland sich erinnert, zu bewahren; zu verhindern, dass sie sich weiterbewegt.

Wir wissen, dass Roland zu einer verfrühten Mannbarkeitsprüfung gezwungen war, nachdem er herausfand, dass seine Mutter die Geliebte von Marten geworden war, einem viel größeren Zauberer als Walter (der Martens Verbündeter ist, was Rolands Vater aber nicht weiß); wir wissen, dass Marten Rolands Entdeckung dieser Liebschaft geplant hat, weil er erwartete, dass Roland scheitern und »nach Westen« geschickt werden würde; wie wir auch wissen, hat Roland bei dieser Prüfung triumphiert.

Was wissen wir sonst noch? Dass die Welt des Revolvermanns nicht völlig von unserer verschieden ist. Artefakte wie Benzinpumpen und bestimmte Songs (»Hey Jude« zum Beispiel oder die Zote mit den Worten »Jedes Böhnchen gibt ein Tönchen …«) haben überlebt; ebenso Geräusche und Rituale, welche unseren verklärten Ansichten über den amerikanischen Wilden Westen seltsam ähneln.

Und es existiert eine Nabelschnur, die unsere Welt irgendwie mit der des Revolvermanns verbindet.

An der Zwischenstation einer längst vergessenen Kutschenstraße, in einer großen und unfruchtbaren Wüste, trifft Roland einen Jungen namens Jake, der in unserer Welt gestorben ist. Ein Junge, der tatsächlich vom allgegenwärtigen (und niederträchtigen) Mann in Schwarz an einer Straßenecke vom Gehsteig geschubst wurde. Jakes letzte Erinnerung ist die, dass er in seiner Welt – unserer Welt – von den Reifen eines Cadillacs zermalmt wurde, als er mit der Schultasche in der einen und der Pausenbrottüte in der anderen Hand zur Schule ging – und starb.

Bevor sie den Mann in Schwarz erreichen, stirbt Jake noch einmal … dieses Mal, weil der Revolvermann, der vor die zweitschmerzlichste Entscheidung seines Lebens gestellt wurde, beschlossen hat, seinen symbolischen Sohn zu opfern.

Mit der Wahl zwischen Turm und Kind, möglicherweise zwischen Verdammnis und Erlösung, entscheidet sich Roland für den Turm.

»Dann geh«, sagt Jake zu ihm, bevor er in den Abgrund stürzt. »Es gibt mehr als diese Welten.«

Die letzte Konfrontation zwischen Roland und Walter findet in einem staubigen Golgatha verfallender Gebeine statt. Der Mann in Schwarz sagt Roland mit Tarotkarten die Zukunft voraus. Diese Karten zeigen einen Mann mit Namen »Der Gefangene«, eine Frau namens »Herrin der Schatten« und eine dunkle Gestalt, die schlicht der Tod ist (»Aber nicht für dich, Revolvermann«, sagt ihm der Mann in Schwarz); diese Prophezeiungen sind das Thema dieses Buches, das von Rolands zweitem Schritt auf dem langen und schwierigen Weg zum dunklen Turm berichtet.

Am Ende von Schwarz sitzt Roland am Ufer des Westlichen Meeres und betrachtet den Sonnenuntergang. Der Mann in Schwarz ist tot, Rolands Zukunft ungewiss; Drei fängt weniger als sieben Stunden später am selben Ufer an.

ERNEUERUNG

PROLOG

DER SEEFAHRER

PROLOG

Der Revolvermann erwachte aus einem wirren Traum, der aus nur einem einzigen Bild zu bestehen schien: dem des Seefahrers im Tarotblatt, aus dem der Mann in Schwarz dem Revolvermann dessen jämmerliche Zukunft vorhergesagt (oder jedenfalls so getan) hatte.

Er ertrinkt, Revolvermann, sagte der Mann in Schwarz, und niemand wirft ihm ein Seil zu. Der Junge Jake.

Aber dies war kein Albtraum. Es war ein guter Traum. Er war gut, weil er der Ertrinkende war, und das bedeutete, er war überhaupt nicht Roland, sondern Jake, und das war eine Erleichterung für ihn, weil es wesentlich besser war, als Jake zu ertrinken, denn als er selbst weiterzuleben, als ein Mann, der eines kalten Traumes wegen ein Kind verraten hatte, das ihm vertraute.

Gut, schon recht, ertrinke ich eben, dachte er und lauschte dem Dröhnen des Meeres. Lass mich ertrinken. Aber dies war nicht das Tosen offener Tiefen; es war das knirschende Geräusch von Wasser in einem Schlund voller Steine. War er der Seefahrer? Wenn ja, warum war das Land so nahe? Und war er nicht tatsächlich auf dem Land? Es war, als …

Eiskaltes Wasser drang durch seine Stiefel und lief an seinen Beinen hinauf bis zum Schritt. Er riss die Augen auf, und nicht seine fröstelnden Eier, die plötzlich, schien es, zur Größe von Walnüssen geschrumpft waren, holten ihn aus dem Traum zurück, auch nicht das Grauen zu seiner Rechten, sondern der Gedanke an seine Revolver … seine Revolver und, noch wichtiger, seine Patronen. Nasse Revolver konnte man rasch zerlegen, trocknen, ölen, nochmals trocknen und nochmals ölen und wieder zusammenbauen; nasse Patronen konnte man, wie nasse Streichhölzer, eventuell wieder benützen, möglicherweise auch nicht.

Das Grauen war ein kriechendes Ding, das von einer Woge emporgespült worden sein musste. Es schleppte einen nassen, glänzenden Leib mühsam über den Sand. Es war etwa einen Meter lang und rund vier Schritte von ihm entfernt. Es betrachtete Roland mit ausdruckslosen Stielaugen. Der lange, gezackte Schnabel klappte auf, und es fing an, ein Geräusch von sich zu geben, welches auf unheimliche Weise menschlicher Sprache glich: flehentliche, sogar verzweifelte Fragen in einer fremden Sprache. »Did-a-chick? Dum-a-chum? Dad-a-cham? Ded-a-check?«

Der Revolvermann hatte schon Hummer gesehen. Dies war keiner, doch waren Hummer die einzigen Lebewesen, die er je gesehen hatte, mit denen dieses Wesen auch nur entfernte Ähnlichkeit aufwies. Es schien überhaupt keine Angst vor ihm zu haben. Der Revolvermann wusste nicht, ob es gefährlich war oder nicht. Seine eigene geistige Verwirrung war ihm einerlei – sein vorübergehendes Unvermögen, sich daran zu erinnern, wo er war und wie er hierher gelangt war, ob er den Mann in Schwarz tatsächlich eingeholt hatte oder ob alles nur ein Traum gewesen war. Er wusste nur, er musste vom Wasser weg, bevor es seine Patronen überspülen würde.

Er hörte das knirschende, anschwellende Dröhnen des Wassers und sah von dem Wesen (es hatte innegehalten und hielt die Scheren hoch, mit denen es sich vorangeschleppt hatte, wodurch es auf absurde Weise wie ein Boxer aussah, der die Eröffnungsposition einnahm, die, wie Cort sie gelehrt hatte, die Ehrenposition genannt wurde) zu dem heranrollenden Brecher mit seiner Gischtkrone.

Es hört die Welle, dachte der Revolvermann. Was immer es ist, es hat Ohren. Er versuchte aufzustehen, aber seine Beine, die so gefühllos waren, dass er sie nicht spüren konnte, knickten unter ihm ein.

Ich träume immer noch, dachte er, doch das war selbst in seinem momentanen Zustand der Verwirrung eine Überzeugung, die zu verlockend war, als dass er sie wirklich glauben konnte. Er versuchte, nochmals aufzustehen, schaffte es fast, fiel dann aber zurück. Die Welle brach. Es gab kein zweites Mal. Er musste sich damit begnügen, sich so zu bewegen, wie sich das Wesen zu seiner Rechten zu bewegen schien: Er grub beide Hände ein und zog seine Kehrseite den steinigen Kiesstrand entlang, weg von der Welle.

Er kam nicht weit genug, der Welle völlig zu entgehen, aber er kam für seine Zwecke weit genug. Die Welle begrub lediglich seine Stiefel. Sie kam bis fast an seine Knie, zog sich dann aber zurück. Vielleicht ging die erste nicht so weit, wie ich gedacht habe. Vielleicht.

Ein Halbmond stand am Himmel. Eine Nebelschwade verdeckte ihn, aber er spendete hinreichend Licht; der Revolvermann konnte sehen, dass die Holster zu dunkel waren. Die Revolver waren auf jeden Fall nass geworden. Es war unmöglich zu sagen, wie schlimm es war, ob die Patronen in den Zylindern oder die in den überkreuzten Patronengurten ebenfalls nass geworden waren. Bevor er es überprüfte, musste er weg vom Wasser. Musste …

»Dod-a-chock?« Viel näher. In seiner Sorge wegen des Wassers hatte er das Wesen vergessen, welches das Wasser gebracht hatte. Er sah sich um und stellte fest, dass es jetzt nur noch zwei Schritte entfernt war. Die Scheren waren im von Steinen und Muscheln übersäten Sand des Strandes vergraben, so zog es seinen Körper voran. Es hob den fleischigen, eingeschnürten Leib, wodurch es einen Augenblick einem Skorpion ähnelte, aber Roland konnte keinen Stachel am Ende des Körpers erkennen.

Wieder ein knirschendes Dröhnen, diesmal viel lauter. Das Wesen blieb auf der Stelle stehen und hob die Scheren wieder zu seiner eigentümlichen Version der Ehrenposition.

Diese Welle war größer. Roland schleppte sich wieder den Hang des Strandes hinauf, und als er die Hände ausstreckte, bewegte sich das Geschöpf mit den Scheren mit einer Schnelligkeit, die seine bisherigen Bewegungen nicht einmal angedeutet hatten.

Der Revolvermann verspürte ein grelles Auflodern von Schmerzen in der rechten Hand, aber jetzt war keine Zeit, darüber nachzudenken. Er schob mit den Absätzen seiner durchnässten Stiefel, krallte sich mit den Händen fest und konnte so der Welle entkommen.

»Did-a-chick?«, erkundigte sich die Monstrosität mit ihrer flehentlichen »Hilfst du mir nicht? Siehst du nicht, dass ich verzweifelt bin?«-Stimme; und Roland sah die Kuppen des Zeige – und des Mittelfingers seiner rechten Hand im gezackten Schnabel des Wesens verschwinden. Es schnellte erneut vor, und Roland hob die tropfende rechte Hand gerade noch rechtzeitig, um die beiden verbleibenden Finger zu retten.

»Dum-a-chum? Dad-a-cham?«

Der Revolvermann rappelte sich auf die Beine. Das Ding riss seine tropfnassen Jeans auf, schnitt einen Stiefel durch, dessen altes Leder weich, aber fest wie Eisen war, und riss ein Stück Fleisch aus Rolands Wade heraus.

Er zog mit der rechten Hand und stellte erst fest, dass zwei der Finger, die zum Ausführen dieses uralten Tötungsvorgangs notwendig waren, fehlten, als der Revolver in den Sand fiel.

Die Monstrosität schnappte gierig danach.

»Nein, Miststück!«, fauchte Roland und trat danach. Es war, als hätte er gegen einen Felsblock getreten … der beißen konnte. Es riss das Ende von Rolands rechtem Stiefel weg, fast den ganzen großen Zeh, und zerrte den Stiefel vom Fuß.

Der Revolvermann bückte sich, hob den Revolver auf, ließ ihn fallen, fluchte und hatte schließlich Erfolg. Was einstmals so einfach gewesen war, dass er es nicht auf sich genommen hatte, darüber nachzudenken, war plötzlich zu einer dem Jonglieren vergleichbaren Kunstfertigkeit geworden.

Das Wesen kauerte auf dem Stiefel des Revolvermanns, an dem es riss, während es seine stammelnden Fragen stellte. Eine Welle rollte dem Strand entgegen, der Gischt, welcher ihren Gipfel krönte, sah im fahlen Licht des Halbmonds bleich und tot aus. Der Monsterhummer hörte auf, am Stiefel zu reißen, und hob die Scheren zur Boxerpose.

Roland zog mit der linken Hand und betätigte dreimal den Abzug. Klick, klick, klick.

Wenigstens wusste er jetzt über die Patronen in den Kammern Bescheid.

Er steckte den linken Revolver ins Holster. Um den rechten einzuhalftern, musste er den Lauf mit der linken Hand nach unten drehen und dann an Ort und Stelle fallen lassen. Blut lief die abgenutzten Sandelholzgriffe entlang; Blut befleckte die Holster und alten Jeans, an welche die Holster mit Lederschnüren gebunden waren. Es floss aus den Stummeln, wo seine Finger gewesen waren.

Sein verstümmelter rechter Fuß war noch so taub, dass er nicht schmerzte, aber seine rechte Hand schrie. Die Geister geschickter und lange trainierter Finger, die sich bereits in den Verdauungssäften der Eingeweide dieses Dings zersetzten, schrien auf, dass sie noch da waren, dass sie brannten.

Ich sehe ernste Probleme auf mich zukommen, dachte der Revolvermann am Rande.

Die Welle wich zurück. Die Monstrosität senkte die Scheren und riss ein neuerliches Loch in den Stiefel des Revolvermanns, kam aber dann zu dem Ergebnis, dass der Träger ungleich wohlschmeckender gewesen war als dieses Stück Haut, das er irgendwie abgestreift hatte.

»Dud-a-chum?«, fragte es und eilte mit gespenstischer Schnelligkeit auf ihn zu. Der Revolvermann wich auf Beinen zurück, die er kaum spüren konnte, und ihm wurde klar: Das Wesen musste über eine Art Intelligenz verfügen. Es hatte sich ihm vorsichtig genähert, möglicherweise einen langen Strandabschnitt entlang, und war unsicher gewesen, was er war oder wozu er fähig sein würde. Hätte die spülende Welle ihn nicht geweckt, hätte das Ding sein Gesicht weggerissen, während er noch tief in seinen Traum versunken gewesen war. Jetzt war es zu dem Ergebnis gekommen, dass er nicht nur schmackhaft war, sondern auch verwundbar; leichte Beute.

Es war fast über ihm, ein eineinhalb Meter langes und dreißig Zentimeter hohes Ding, ein Lebewesen, das gut siebzig Pfund wiegen mochte und das ebenso ausschließlich Fleisch fressend war wie David, der Falke, den er als Junge besessen hatte – aber ohne Davids dumpfen Loyalitätssinn.

Mit dem linken Absatz stieß der Revolvermann gegen einen Stein, der aus dem Sand aufragte, und er stolperte am Rand des Fallens dahin.

»Dod-a-chock?«, fragte das Ding scheinbar besorgt und betrachtete den Revolvermann mit seinen wankenden Stielaugen, während es die Scheren ausstreckte … dann kam eine Welle, und die Scheren schnellten wieder zur Ehrenposition in die Höhe. Doch jetzt zitterten sie ein klein wenig, und dem Revolvermann wurde klar, dass es auf den Laut der Welle reagierte, und dieser Laut wurde – jedenfalls für es – leiser.

Er trat über den Stein zurück, dann bückte er sich, während sich die Welle mit ihrem knirschenden Dröhnen am Strand brach. Sein Kopf war Zentimeter vom insektenhaften Gesicht der Kreatur entfernt. Eine der Scheren hätte ihm mühelos die Augen aus dem Gesicht reißen können, aber die zitternden Klauen, die so sehr an geballte Fäuste erinnerten, blieben zu beiden Seiten des papageienähnlichen Schnabels erhoben.

Der Revolvermann griff nach dem Stein, über den er fast gestürzt wäre. Er war groß und halb im Sand begraben, und seine verstümmelte rechte Hand heulte auf, als sich Sandkörner und die scharfen Kanten von Geröll in das bloße, blutende Fleisch bohrten, aber er zerrte den Stein frei und hob ihn, die Lippen über entblößten Zähnen gespannt, empor.

»Dad-a…«, begann die Monstrosität, die die Scheren senkte und öffnete, während die Welle brach und ihr Tosen zurückwich, und der Revolvermann schlug den Stein mit aller Kraft nach unten.

Man hörte ein knirschendes Geräusch, als der unterteilte Rücken der Kreatur brach. Es zuckte heftig unter dem Stein, die hintere Körperhälfte hob sich und bebte, hob sich und bebte. Seine Laute wurden zu summenden Schmerzensrufen. Die Scheren öffneten sich und schlossen sich um nichts. Das Maul des Schnabels warf Sandklumpen und Kieselsteine hoch.

Doch als eine weitere Welle heranwogte, versuchte es wieder, die Scheren zu heben, und als es das tat, trat ihm der Revolvermann mit dem verbliebenen Stiefel auf den Kopf. Ein Laut, als würden viele trockene kleine Zweige gebrochen. Zähe Flüssigkeit spritzte unter dem Absatz von Rolands Stiefel hervor in zwei Richtungen. Sie sah schwarz aus. Das Ding krümmte und wand sich wie von Sinnen. Der Revolvermann trat fester mit dem Stiefel auf.

Eine Welle kam.

Die Scheren der Monstrosität hoben sich einen Zentimeter … zwei Zentimeter … zitterten und sanken dann nach unten, wo sie sich zuckend öffneten und schlossen.

Der Revolvermann nahm den Fuß weg. Der zackige Schnabel des Dings, der ihm bei lebendigem Leibe zwei Finger und einen Zeh abgebissen hatte, ging langsam auf und zu. Ein Fühler lag abgebrochen im Sand. Der andere zitterte sinnlos.

Der Revolvermann trat wieder zu. Und noch einmal.

Er kickte den Stein mit einem angestrengten Grunzen beiseite und schritt an der rechten Körperseite der Monstrosität vorbei, während er systematisch mit dem linken Fuß trampelte, die Schale zerschmetterte und die bleichen Gedärme auf den dunkelgrauen Sand quetschte. Es war tot, aber er wollte dennoch auf seine Weise damit umspringen, er war noch niemals so grundlegend verletzt worden, in seinem ganzen Leben nicht, und alles war so unerwartet geschehen.

Er machte weiter, bis er die Kuppe eines seiner eigenen Finger im sauren Matsch des Dings sah, bis er den weißen Staub unter dem Fingernagel erblickte, der vom Golgatha stammte, wo er und der Mann in Schwarz ihr langes Gespräch gehabt hatten, und dann wandte er sich ab und übergab sich.

Der Revolvermann schritt wie ein Betrunkener zum Wasser zurück, hielt die verletzte Hand ans Hemd, drehte sich von Zeit zu Zeit um und vergewisserte sich, dass das Ding nicht noch lebte, gleich einer zähen Wespe, die man immer wieder zerquetschen kann und die dennoch zuckt, die betäubt, aber nicht tot ist; um sich zu vergewissern, dass es ihm nicht folgte und mit der tödlich verzweifelten Stimme seine unverständlichen Fragen stellte.

Auf halbem Wege am Strand blieb er schwankend stehen, sah zu der Stelle, wo er gewesen war, und erinnerte sich. Er war offenbar direkt unterhalb der Flutlinie eingeschlafen. Er ergriff seine Tasche und den zerrissenen Stiefel.

Im kahlen Licht des Mondes sah er andere Geschöpfe derselben Art, und er konnte in den Zäsuren zwischen einer Welle und der nächsten ihre fragenden Stimmen hören.

Der Revolvermann wich einen Schritt nach dem anderen zurück, bis er den Grasrand des Strandes erreichte. Dort setzte er sich und erledigte alles, was ihm einfiel: Er bestreute die Stummel seiner Finger und Zehen mit dem letzten Rest seines Tabaks, um die Blutung zu stillen, und er trug ihn dick auf, obwohl das Brennen erneut begann (sein fehlender großer Zeh hatte sich zu dem Chor gesellt). Danach saß er nur noch da, schwitzte trotz der Kälte, machte sich Gedanken wegen Infektionen, fragte sich, wie er ohne die beiden fehlenden Finger seiner rechten Hand in dieser Welt bestehen wollte (was die Waffen anbetraf, so waren beide Hände gleichwertig gewesen, aber bei allem anderen regierte seine rechte Hand), fragte sich, ob der Biss des Dings ein Gift enthalten haben mochte, das sich bereits in ihm ausbreitete, und fragte sich, ob der Morgen jemals kommen würde.

DER GEFANGENE

Übersetzung der Einleitung und durchgesehen von: Patrick Niemeyer

Copyright © 1987, 2003 by Stephen King

Copyright © der gebundenen Ausgabe 2005 by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1989 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München

Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

eISBN 978-3-89480-392-6

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