Bausoldaten in der DDR - Bernd Eisenfeld - E-Book

Bausoldaten in der DDR E-Book

Bernd Eisenfeld

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Beschreibung

Mit diesem Buch legen die Autoren eine wissenschaftlich fundierte Geschichte der Bausoldaten in der DDR von 1964 bis 1990 vor. Erstmals werden die Hintergründe der Bausoldatenregelung, die Dimensionen des Ersatzdienstes sowie das Verhalten der offiziellen Stellen gegenüber Bausoldaten umfassend dargestellt. Zu den etwa 15.000 jungen Männern, die das Tragen von Waffen oder den Wehrdienst aus Glaubens- oder Gewissensgründen ablehnten, zählen Rainer Eppelmann, Wolfgang Tiefensee, Werner Schulz, Gerhard Schöne und Rainer Schult. Ein Exkurs zu den etwa 7.500 grundwehrpflichtigen Totalverweigerern vervollständigt den Band.

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Seitenzahl: 1052

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Bernd Eisenfeld / Peter Schicketanz

Bausoldaten in der DDR

Die »Zusammenführung feindlich-negativer Kräfte« in der NVA

Ch. Links Verlag, Berlin

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und der Evangelischen Kirche in Deutschland.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage 2012 (entspricht der 1. Druck-Auflage von 2011)

© Christoph Links Verlag GmbH

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

www.christoph-links-verlag.de; [email protected]

Umschlaggestaltung: KahaneDesign, Berlin, unter Verwendung eines Fotos von Berndt Püschel,

Bausoldaten in Holzdorf, 1974; Robert-Havemann-Gesellschaft

Lektorat: Jana Fröbel, Berlin

eISBN 978-3-86284-122-6

Inhaltsverzeichnis

Geleitwort von Joachim Gauck

Einleitung

1 Die Wehrpolitik der DDR bis zum Mauerbau

1.1 Die weltanschaulichen Grundlagen der Militärpolitik der SED und ihr Verhältnis zum Pazifismus

1.2 Die Militarisierung der DDR-Gesellschaft

1.3 Wehrdienstverweigerungstendenzen im Vorfeld der Einführung der Wehrpflicht

2 Die Vorgeschichte der Bausoldaten

2.1 Die Situation in der DDR nach dem Mauerbau 1961–1964

2.2 Die Einführung der Wehrpflicht und ihre Folgen

2.2.1 Militarisierung und Wehrpflicht ohne Alternative

2.2.2 Die kirchenpolitische Situation und die Reaktionen der Kirchen

2.2.3 Reaktionen der Blockparteien

2.2.4 Die Lage der Wehrdienstverweigerer

2.2.5 Strafrechtliche Sanktionen

2.2.6 Die Entstehung der Bausoldatenanordnung und ihre Interpretation

2.2.7 Hintergründe der Einführung des waffenlosen Wehrdienstes

3 Bausoldaten als Teil der Nationalen Volksarmee

3.1 Die erste Periode 1964–1975

3.1.1 Die innen- und außenpolitischen Rahmenbedingungen

3.1.2 Die kirchlichen Reaktionen auf die Anordnung

3.1.3 Die Handreichung »Zum Friedensdienst der Kirche«

3.1.4 Der Alltag der Bausoldaten

3.2 Die zweite Periode 1975–1982

3.2.1 Die innen- und außenpolitischen Rahmenbedingungen

3.2.2 Die lautlose Veränderung des Bausoldatendienstes

3.2.3 Gründe und Auswirkungen der neuen Regelungen

3.3 Die dritte Periode 1982–1989

3.3.1 Die innen- und außenpolitischen Rahmenbedingungen

3.3.2 Rückkehr zur Zentralisierung und verschärfte Regelungen

3.3.3 Erschwerte Bedingungen im Alltag der Bausoldaten

3.3.4 Dauerprobleme: Gelöbnis und ziviler Ersatzdienst

4 Von den Bausoldaten zum zivilen Ersatzdienst

5 Periodenübergreifende Themenfelder

5.1 Die Wandlung der Motive

5.2 Die Stellung der Bausoldaten in der NVA und das Verhältnis zu den Vorgesetzten

5.2.1 Die Stellung der Bausoldaten

5.2.2 Das Verhältnis zwischen Vorgesetzten und Bausoldaten

5.3 Bausoldaten und öffentliche Medien in beiden deutschen Staaten 1964–1989

5.3.1 Tabuisierung in der DDR

5.3.2 Zurückhaltendes Interesse in der Bundesrepublik

5.4 Politische Aktivitäten der Bausoldaten

5.4.1 Kontroversen im Rahmen der politischen Bildung

5.4.2 Konflikte bei den Wahlen

5.4.3 Sonstige politische Aktivitäten

5.5 Bausoldaten im Visier des MfS

5.5.1 Das Feindbild

5.5.2 Vorlauf

5.5.3 Das Spitzelsystem

5.5.4 Die »operative Bearbeitung« – dislozieren und zersetzen

5.5.5 Die Zeit danach – ehemalige Bausoldaten

5.6 Die Begleitung der Bausoldaten durch die Kirchen

5.7 Größenordnung und soziologische Daten

5.7.1 Musterungsergebnisse

5.7.2 Einberufungen

5.7.3 Soziologische Daten

5.8 Reservisten

6 Bausoldaten nach ihrer Armeezeit

6.1 Bildungspolitische und berufliche Diskriminierungen

6.2 Der 19. Monat

6.3 Aufbau und Wirkungen von Organisationsstrukturen

6.4 Die Rolle der Bausoldaten für die Oppositionsgeschichte in der DDR

7 Exkurs zur Totalverweigerung

7.1 Größenordnung und Motive

7.2 Der Umgang mit den Totalverweigerern

7.3 Ablauf und Strafvollzug

7.4 Die Gruppenbildung der Totalverweigerer

Anhang

Dokumente

Abkürzungen

Literatur- und Quellenverzeichnis

Stichwortregister

Register geographischer Namen

Personenregister

Die Autoren

Geleitwort

Ich freue mich sehr, dass im 21. Jahr nach der Wiedervereinigung eine Gesamtgeschichte der Bausoldaten erscheint und die Forschung zur Geschichte der untergegangenen DDR-Diktatur um eine wichtige Facette bereichert. In die Freude mischt sich Trauer, denn der Autor Bernd Eisenfeld, der mich um dieses Vorwort bat und der in der Stasiunterlagenbehörde ein sehr wichtiger, hochgeschätzter und verlässlicher Mitarbeiter war, ist am 12. Juni 2010 völlig überraschend gestorben. Er war von 1966 bis 1967 selbst Bausoldat, verweigerte aber das Gelöbnis der Bausoldaten, erhielt deshalb Berufsverbot und wurde 1969 wegen seiner Flugblattaktion gegen den Einmarsch in die Tschechoslowakei zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt, die er zum überwiegenden Teil in der Haftvollzugsanstalt Bautzen I absaß. Ich weiß, wie sehr ihm dieses Buch, an dem er bis zuletzt schrieb, am Herzen lag. Seinem Mitautor Peter Schicketanz, der von 1965 bis 1989 in der evangelischen Kirche an der Beratung von Wehrpflichtigen beteiligt war und der die Geschichte der Bausoldaten von Anfang an verfolgt und begleitet hat, ist es zu verdanken, dass er im Einverständnis mit Bernd Eisenfelds Ehefrau das gemeinsam begonnene Werk zu Ende führen konnte. So ist nun ein Buch entstanden, das wissenschaftlich fundiert die Entstehung der Bausoldaten und die verschiedenen Phasen ihrer Existenz erläutert, ihre Stellung innerhalb der NVA erklärt, ihre politischen Aktivitäten während und nach der Bausoldatenzeit sowie die Gegen- und Zersetzungsmaßnahmen der Stasi untersucht. Mir ist dabei wichtig, dass uns in diesem Buch diejenigen Bewohner der DDR nähergebracht werden, die als junge Männer in einer Zeit, als Angst und damit Anpassung regierten, den Schutz der Masse verließen, ihre Deckung aufgaben, auf Karriere und auf gesellschaftliche Anerkennung verzichteten. Die Totalverweigerer, auch von ihnen berichtet das Buch, gingen noch einen Schritt weiter, riskierten für den aufrechten Gang den Weg ins Gefängnis. Aber schon der Entschluss, Bausoldat zu werden, war die Entscheidung zum Anderssein in einer Gesellschaft der Gleichgeschalteten. Und wie wichtig diese Anderen, diese Minderheit waren, lässt sich nur vom Ende her erklären. Um die Mauer zu Fall zu bringen, war es wichtig, Minderheiten zu haben, die schon weiter waren als die Gleichförmigen. Es waren Menschen, die ihre Angst schon überwunden und Mut schon an den Tag gelegt hatten. Sie rissen andere mit und schließlich wurde aus den Minderheiten die Mehrheit, die Ohnmächtigen ermächtigten sich und fegten ihre Unterdrücker von der Bühne der Geschichte. Die Wichtigkeit der Bausoldaten für die Opposition in der DDR und für das Entstehen der friedlichen Revolution herauszuarbeiten und zu betonen, ist die wichtigste Aufgabe des Buches.

Dr.h.c. Joachim Gauck

Vorsitzender von Gegen Vergessen –

Für Demokratie e. V.

Einleitung

»Es bleibt mühsam, die verschlungenen Lebenswege in der Diktatur zwischen Widerstand und Ergebung, zwischen Anpassung und Verweigerung zu beschreiben. Noch viel schwerer ist es zu erklären, warum man so und nicht anders entschieden hat und diesen und nicht jenen Weg gegangen ist.«

Wehrdienstverweigerer Axel Noack1

Die Geschichte der Bausoldaten ist überfällig. Vor dem Mauerfall konnte zwar auf ein Buch zurückgegriffen werden, das sich dem Thema komplex zuwandte,2 aber mit dem Herausgeberjahr 1978 lediglich einen bis dahin begrenzten Zeitraum abdecken konnte und auf Quellen beruht, die vornehmlich auf die Stimmen und das Schriftgut von Betroffenen sowie kirchlicher Stellen und auf äußerst magere staatsoffizielle Verlautbarungen zurückgehen. Behandelt als hochgradige Geheimsache, blieben die Hintergründe der Bausoldatenregelung, die Größenordnung und Bewertungen sowie der Umgang mit Bausoldaten durch offizielle Stellen mangels Zugang zu Originalquellen im Wesentlichen verschlossen, so dass dementsprechende Erkenntnisse eher spekulativen bzw. abgeleiteten Charakter besaßen und dem Wahrheitsgehalt Grenzen setzten. Diese Aspekte erfüllten in Verbindung mit dem verstellten Blick hinter die Kulissen zugleich eine vom SED-Staat erhoffte und gewünschte Disziplinierungsfunktion zu allen Gedanken und Versuchen, Öffentlichkeit herzustellen. Das führte mit dazu, dass der »Bausoldat« trotz seiner außergewöhnlichen politischen Brisanz sowohl in der DDR-Geschichtsschreibung als auch in der westlichen Medienlandschaft nur marginal aufgegriffen wurde.3

Das änderte sich nach dem Mauerfall und dem damit möglich gewordenen Zugang zu den Archiven des SED-Staates. Es erschienen inzwischen einige Bücher, die neben Geschichten von direkt Betroffenen auch aus der neuen Quellenlage schöpfen und den subjektiven Erfahrungsbereich vertiefen und erweitern konnten.4 Das 40-jährige Jubiläum der Bausoldaten, das im Jahre 2004 in Form eines Bausoldatenkongresses vom 3. bis 5. September in Potsdam gewürdigt wurde, konnte ebenfalls die bisherigen Kenntnisse anreichern und ein Aufflackern des öffentlichen Interesses bewirken. Letzteres blieb jedoch im Wesentlichen in der Erinnerungskultur und in der Vernachlässigung der geschichtlichen Bedeutung der Bausoldaten hängen. Und selbst im Licht des 20. Jahrestages des Mauerfalls, der euphorisch die Friedfertigkeit des revolutionären Prozesses widerspiegelte und würdigte, blieb die Geschichte der Bausoldaten eher eine Randnotiz, obwohl sie hauptsächlich und über Jahrzehnte vom Geist und Willen der Gewaltlosigkeit geprägt war. Ohne diese Vorgeschichte erscheint der friedliche Charakter der 89er Revolution nicht denkbar.

Es ist das Anliegen der Autoren, mit diesem Buch auf der Grundlage vorliegender Veröffentlichungen, Archivalien und eigener Forschungsergebnisse eine nunmehr möglichst weithin geschlossene und wissenschaftlich fundierte Geschichte der Bausoldaten vorzulegen, die diesen verengten Blickwinkel erweitert und der Bedeutung der Bausoldaten gerecht wird.

Dazu gehört, dass die Autoren bemüht waren, die Phasen der Entwicklungsgeschichte der Bausoldaten in die jeweiligen innen- und außenpolitischen Rahmenbedingungen einzubinden. Und es sind vor allem die »periodenübergreifenden Themenfelder«, die neue und vertiefende Einblicke in die Bausoldatengeschichte geben: wie etwa die Wandlung der Motive der Bausoldaten und ihr Verhältnis zu den Vorgesetzten, die politischen Aktivitäten oder das Medienecho in beiden deutschen Staaten sowie die Situation der Reservisten.

Als besonders schwierig erwies sich die Aufbereitung soziologischer Daten über die Bausoldaten, denn sie spiegelt einerseits das Problem wider, dass die Sammlung solcher Daten außerhalb staatlicher Instanzen streng untersagt bzw. als Geheimnisverrat geahndet werden konnte; andererseits unterlagen Datenerfassungen, die hauptsächlich durch die HA I des MfS als Überwachungs- und Kontrollorgan der NVA erfolgten, vorrangig der Aktenvernichtung. So wie die NVA mit den Bausoldaten nur unwillig umging, so war offensichtlich auch ihre Aktenführung, denn sie verzichtete auf eine spezielle Bestandsführung, so dass auch hier nur ein recht mageres und punktuelles Datenmaterial auszumachen ist. Befragungen ehemaliger Bausoldaten nach dem Untergang der DDR, wie sie etwa bei Treffen anlässlich des 30- und 40-jährigen Bestehens der Bausoldaten 1994 und 2004 unternommen wurden, konnten mangels nur spärlicher Rückläufe die Defizite ebenfalls nicht ausgleichen.

So war es also Aufgabe der Autoren, aus den verschiedensten Quellen, also aus der Literatur, vornehmlich aber aus verbliebenen Datenbeständen des MfS und aus den Selbstzeugnissen von Bausoldaten sowie unter Rückgriff auf bereits veröffentlichte Befragungsergebnisse in den siebziger Jahren, die dort erfassten Daten zusammenzuführen und auszuwerten und daraus ein Bild abzuleiten, das wissenschaftlich vertretbar erscheint.

Das Geschichtsbild über die Bausoldaten wäre höchst unvollkommen, wenn es auf die Zeit beschränkt bliebe, in der sie Träger der Uniform mit dem Spatensymbol waren. Auf der einen Seite käme hinsichtlich der Diskriminierung der waffenlosen Soldaten nur die halbe Wahrheit ans Licht. Auf der anderen Seite ginge ein Zusammenhang verloren, der insbesondere die Rolle der Bausoldaten in der Oppositionsgeschichte beleuchtet, denn was Bausoldaten unter der Befehls- und Disziplinierungsgewalt der Armee vermieden oder nur ansatzweise in Gruppen umsetzen konnten, das griff nach der Armeezeit umso beherzter eine besonders engagierte Minderheit auf. Beides hat, weil in dieser Komplexität bisher auch nicht behandelt, ein gesondertes Kapitel verdient.

Letztlich haben sich die Autoren auch für einen Exkurs »Totalverweigerung« entschieden. Das diesbezügliche Quellenmaterial ist nicht nur mangels soziologischer Daten, sondern generell und nicht zuletzt wegen der mageren Selbstzeugnisse derart dünn, dass abgesehen von den bisher vorliegenden Arbeiten über die Zeugen Jehovas von einer abgeschlossenen Geschichte keine Rede sein kann. Der Exkurs ist aber insofern unumgänglich, als die Totalverweigerung mit der Geschichte der Bausoldaten eng und wechselseitig verbunden ist.

Wie gezeigt wird, haben die SED und die NVA zum einen ohne jeglichen Seitenblick auf die anderen Ostblockstaaten die Bausoldatenanordnung entwickelt und durchgesetzt, zum anderen aber die verschiedensten Vorstöße der Bausoldaten, den waffenlosen Dienst in einen Zivildienst umzuwandeln, u.a. auch mit dem Argument zurückgewiesen, dass die DDR mit dem Zugeständnis eines waffenlosen Wehrdienstes innerhalb des Ostblocks eine Regelung schuf, die durch weitere Zugeständnisse nicht mehr zu halten sei. Diese Argumentation, die den Bausoldaten bei ihren weitergehenden Forderungen auch seitens kirchlicher Repräsentanten entgegenschlug, trug zu der weitverbreiteten, bis in die heutige Zeit hineinwirkenden stereotypischen Auffassung bei, dass der waffenlose Dienst in der DDR innerhalb des Ostblocks eine Ausnahme und deshalb umso verdienstvoller gewesen sei. Da die Auseinandersetzung mit dieser Frage die Geschichte der Bausoldaten sprengen würde, dieses Buch aber nicht dazu beitragen soll, diesem Stereotyp Vorschub zu leisten, soll an dieser Stelle kurz auf Entwicklungen verwiesen werden, die den Nimbus der Einmaligkeit des waffenlosen Wehrdienstes in der DDR im Ostblock relativieren.

Bezogen auf die ČSSR und Bulgarien gab es zwar im strengsten Sinne des Wortes für Wehrpflichtige keine gesetzliche Grundlage für eine Alternative, aber immerhin ließen interne Verwaltungsvorschriften, wenn auch nur für bestimmte religiöse Gruppen wie etwa die Zeugen Jehovas, einen waffenlosen Dienst in der Armee bzw. einen mehrjährigen Arbeitsdienst zu.5

In Ungarn bestand eine gesetzliche Grundlage. Sie erlaubte einen waffenlosen Dienst in der Armee für solche Mitglieder von Religionsgemeinschaften, deren Religion, wie etwa bei den Zeugen Jehovas und Nazarenern, ausdrücklich die Ableistung eines Wehrdienstes verbietet.6

In Polen gab es laut Auskunft des Generalkonsulats der Volksrepublik in Leipzig schon seit 1967 die Möglichkeit, auf der Grundlage eines Gesetzes vom 21. November 1967 im Gesundheitswesen, bei der Sozialfürsorge, in Pflegeheimen und im Umweltschutz sowie in öffentlichen Einrichtungen »einen ersatzweisen Wehrdienst über die allgemeine Verteidigungspflicht der VR Polen« zu absolvieren.7 Zudem lief man der DDR 1988 auch den gesetzgeberischen Rang ab, als am 13. Juli im Rahmen einer Änderung des Gesetzes über die allgemeine Wehrpflicht der Begriff »Wehrersatzdienst« durch den Begriff »Ersatzdienst« abgelöst und schwarz auf weiß festgelegt wurde, dass »aus religiösen oder moralischen Gründen bei der regionalen Musterungskommission schriftlich und begründet die Ableistung des Ersatzdienstes beantragt werden konnte und die Zuweisung zu einem solchen 36monatigen Dienst zugunsten des Umweltschutzes, der Sozialfürsorge, der Kommunalwirtschaft und der Wasserwirtschaft« von den örtlichen Organen der staatlichen Leitung unter Kontrolle des Ministers für Arbeit und Sozialwesen erfolgte.8

Die weitverbreitete, aber falsche Auffassung über die Sonderstellung der DDR dürfte möglicherweise ein Grund dafür gewesen sein, dass Wehrdienstverweigerer erst in den späten achtziger Jahren versuchten, Kontakte mit Gleichgesinnten innerhalb des Ostblocks aufzubauen. Mit diesem Konjunktiv deutet sich ebenfalls eine Forschungslücke an, die noch zu schließen ist.

Zur Arbeitsweise bei der Erarbeitung der Texte ist zu sagen: Die einzelnen Abschnitte sind jeweils unter Berücksichtigung des speziellen Wissensstandes von einem der beiden Autoren entworfen und vom anderen jeweils korrigiert und miteinander abgestimmt worden. Insofern stehen beide Autoren für alle Texte in der Verantwortung. Für beide gilt, dass sie sich nicht nur über Jahrzehnte mit der Geschichte der Bausoldaten publizistisch auseinandergesetzt haben, sondern dass sie auch direkt in das Thema involviert waren. Dieser Erfahrungshintergrund ist deshalb erwähnenswert, weil in der DDR insbesondere konfliktbeladene Auseinandersetzungen, sofern sie der Staatssicherheit entgingen, häufig nicht schwarz auf weiß festgehalten worden sind.

Sofern im Text Namen ausgeschrieben werden, insbesondere von Bausoldaten, geht das entweder auf Fälle zurück, die bereits namentlich in anderen Publikationen genannt wurden oder bei denen Betroffene den Autoren entsprechende Unterlagen verfügbar gemacht haben. Der gewählte Titel entstammt einer an der Juristischen Hochschule des MfS eingereichten Diplomarbeit aus dem Jahre 1986. Er beweist, welchen Stellenwert die Bausoldaten intern hatten.9

Der SED-Staat, der die Bausoldatenregelung zähneknirschend einführte und seine waffenlosen Soldaten als mehr oder weniger weltfremde und missliebige, ja staatsfeindliche Gesellen stigmatisierte, brachte zwar die Betroffenen a priori in die Rolle von Außenseitern. Die vorliegende Geschichte ist aber nicht nur eine Geschichte von Außenseitern, sondern auch eine Geschichte, die mit ihren Widersprüchen und Konflikten bis in die Mitte der Gesellschaft reichte. Es ging um Entmündigung und Mündigkeit, um ein schlechtes oder um ein gutes Gewissen, um Verrat oder Solidarität, um Anpassung oder Wehrhaftigkeit, um Selbstgenügsamkeit oder um die Teilhabe an einer Bewegung, die dem Ziel verbunden war, die Widersprüche und Konflikte offenzulegen und mit den Mitteln der Gewaltlosigkeit zu überwinden. Wer sich Gedanken über die Grenzen und Möglichkeiten von Zivilcourage in einer Diktatur oder zur Verhinderung totalitärer Versuchungen macht, der wird auch noch heute an den Bausoldaten und ihrer Geschichte nicht vorbeikommen.

Berlin und Garbsen, Mai 2010

Bernd Eisenfeld und Peter Schicketanz

Nachtrag: Das Manuskript und die Einleitung waren im Mai 2010 fertig. Am 12. Juni 2010 ist der Mitautor Bernd Eisenfeld plötzlich verstorben. Die Register und einige Ergänzungen sind von mir bearbeitet worden. Rudolf Albrecht, Martin Kramer, Harald Bretschneider und Marlies Eisenfeld danke ich für Durchsicht, Korrekturen und Vorschläge. Der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und der Evangelischen Kirche in Deutschland danke ich für die Gewährung der nötigen Druckkostenzuschüsse. Auch der Robert-Havemann-Stiftung, in deren Archiv Bernd Eisenfelds Privatarchiv nun aufbewahrt wird, und insbesondere Irena Kukutz sei gedankt für die freundliche und unkomplizierte Zusammenarbeit mit dem Verlag.

Garbsen, November 2010

Peter Schicketanz

1 Möllering, Worauf du dich verlassen kannst, S. 245.

2 Eisenfeld, KDV; vgl. auch Abschnitt 5.3.2.

3 Vgl. Abschnitt 5.3.

4 Vor allem Koch, Zähne hoch; Koch, Baueinheiten; Koch, Zivilcourage; Pausch, Waffendienstverweigerung; Wenzke, Staatsfeinde.

5 Hierzu Richter, Kirche 1979, S. 39, sowie Budrewicz, WED in Polen, und Hücking, KDV in Ungarn, S. 361–371.

6 Hierzu Hücking, KDV in Ungarn, S. 365 ff., sowie Die Kirche, Nr. 11 vom 13.3.1988 über ein Gespräch vom 2.2.1988 mit dem Leiter des Staatlichen Kirchenamtes in Ungarn.

7 Brief vom 11.4.1988; PAE. Vgl. auch SZ, 22.1.1987, sowie BStU, MfS, HA I, ZMA 2195, Bl. 373.

8 Hierzu Budrewicz, WED in Polen, S. 363 f. Vgl. auch SZ, 22.6.1988.

9 Mehner, Einschätzung (MfS), Bl. 10.

1 Die Wehrpolitik der DDR bis zum Mauerbau

1.1 Die weltanschaulichen Grundlagen der Militärpolitik der SED und ihr Verhältnis zum Pazifismus

Das Problem der Wehrdienstverweigerung in der DDR ist ohne die gesellschaftlichen Grundlagen des SED-Staates nicht erklärbar. Diese Grundlagen beruhten auf dem Marxismus-Leninismus, einer angeblich wissenschaftlichen Weltanschauung, deren absolutistischer Anspruch auch die Fragen von Krieg und Frieden in der Welt einschloss.

Karl Marx und Friedrich Engels sahen das Grundproblem in der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen in einer Klassengesellschaft, die die Kapitalbesitzer von den Arbeitenden, dem Proletariat, unversöhnlich trennt. Im Kommunistischen Manifest aus dem Jahre 1848 heißt es: »In dem Maße, wie die Exploitation des einen Individuums durch das andere aufgehoben wird, wird die Exploitation einer Nation durch die andere aufgehoben. Mit dem Gegensatz der Klassen im Innern der Nationen fällt die feindliche Stellung der Nationen gegeneinander.«1

So würde eine Gesellschaft entstehen, »deren Prinzip der Frieden sein wird, weil bei jeder Nation dasselbe Prinzip herrscht – die Arbeit«.2 Den Weg dorthin sahen die Klassiker des Kommunismus aber ganz und gar nicht friedlich, sondern gepflastert von Gewalt. Marx und Engels waren sich einig, »daß das Proletariat seine politische Herrschaft, die einzige Tür in die neue Gesellschaft, nicht erobern kann ohne gewaltsame Revolution«.3 Diese müsse einmünden in die »Diktatur des Proletariats«, die »nicht mehr wie bisher« die bürokratischmilitärische Maschinerie aus einer Hand in die andere zu übertragen, sondern zu zerbrechen habe.4

Der führende Kopf der Bolschewiki in Russland, Wladimir Iljitsch Lenin, verstand sich nicht nur als Gralshüter dieses revolutionären gewaltsamen Weges, er spitzte, gestützt auf seine Analyse des Kapitalismus,5 die Frage von Krieg und Frieden weiter zu. Lenin übernahm nicht nur die Kriegsdefinition von Carl von Clausewitz, der den Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln charakterisierte, er postulierte auch die Unvermeidbarkeit der Kriege, solange der Sieg des Proletariats nicht weltweit gesichert sei: »Erst nachdem wir die Bourgeoisie in der ganzen Welt und nicht nur in einem Land niedergeworfen, vollständig besiegt und expropriiert haben, werden Kriege unmöglich sein.«6 Daraus entwickelte Lenin im Gegensatz zu Marx und Engels auch ein anderes Verständnis von gerechten und ungerechten Kriegen. Räumten Marx und Engels dem »siegreichen Proletariat« lediglich Verteidigungskriege ein,7 so ging Lenin einen Schritt weiter. In seiner revolutionären Strategie schloss er auch »Kriege des Sozialismus […] gegen andere bürgerliche und reaktionäre Länder« nicht aus,8 soweit sie sich »im Interesse des Proletariats [als] notwendig erweisen können«.9

Diese leninschen Positionen zu Krieg und Frieden erfuhren im Ostblock erst unter Nikita Sergejewitsch Chruschtschow eine Modifizierung, als dieser im Lichte des XX. Parteitages der KPdSU 1956 einräumte, dass der Übergang kapitalistischer Gesellschaften in sozialistische auch ohne Bürgerkrieg und durch eine Politik der friedlichen Koexistenz mit kapitalistischen Staaten möglich sei. Diese Korrekturen wurden allerdings nicht als Folge einer veränderten Charakteristik kapitalistischer Systeme verstanden, sondern aus der gewachsenen Stärke des Sozialismus/Kommunismus abgeleitet. Vor diesem Hintergrund wurde sogar das Prinzip der militärischen Überlegenheit und offensivfähiger Streitkräfte der sozialistischen gegenüber den kapitalistischen Staaten vertreten und gerechtfertigt.10 Die Politik der friedlichen Koexistenz gegenüber kapitalistischen Staaten, so wurde behauptet, sei nur deshalb möglich, weil die militärische Stärke und Überlegenheit der sozialistischen Staaten die imperialistische Aggressionsbereitschaft eindämmen und die kapitalistischen Staaten zu friedlichen Beziehungen zwingen würden.

Das Verhältnis der ostdeutschen Machthaber zum Pazifismus spiegelte diese Friedensdoktrin wider. Der Pazifismus galt als eine »liberale bürgerliche Strömung der Friedensbewegung«, die kritisiert werden müsse, da sie den Krieg von seinen »sozial-ökonomischen Wurzeln löst«, sich klassenneutral verhält, die Losung »Frieden um jeden Preis« ausgibt und gerechte Kriege ablehnt.11 Ungeachtet dieser grundlegenden Kritik sahen die Kommunisten aber durchaus enge Berührungspunkte mit Pazifisten und pazifistischen Bewegungen in kapitalistischen Staaten, da sie deren militärischen Ambitionen im Wege stehen und damit objektiv die Kräfte des Friedens im Sinne des Sozialismus/Kommunismus stärken würden. Diese Linie wurde bereits von Lenin abgesteckt. Sie ist zu finden in seiner Empfehlung für die russische Delegation zur Genueser Wirtschaftskonferenz 1922 und lautete:

»Wenn wir als Kaufleute nach Genua gehen, so ist es uns begreiflicherweise nicht gleichgültig, ob wir es mit jenen Vertretern des bürgerlichen Lagers zu tun haben, die zur kriegerischen Lösung der Frage neigen, oder mit jenen Vertretern des bürgerlichen Lagers, die zum Pazifismus neigen, mag er auch das allerübelste sein und vom Standpunkt des Kommunismus nicht einmal eine Spur einer Kritik standhalten. Das wäre doch ein schlechter Kaufmann, der es nicht verstände, diesen Unterschied zu erfassen und zur Erreichung praktischer Ziele ihm seine Taktik anzupassen.«12

Pazifismus in sozialistischen bzw. kommunistischen Staaten würde hingegen die Friedenskräfte schwächen und dem aggressiven Wesen imperialistischer Staaten Vorschub leisten.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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