Bavarese - Leo Reisinger - E-Book

Bavarese E-Book

Leo Reisinger

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Beschreibung

Ohne Hölle gibt es keinen Himmel

Frühmorgens, wenn die Schickeria in den Münchner Nobelclubs noch zwischen Champagner und Koks auf den Tischen tanzt, gehen auf dem Großmarkt schon die Lichter an. Hier reißt sich Sepko als Handlanger den Arsch auf. Die Schichten sind hart, der Lohn dürftig. Das echte Geld mit den Gastronomen machen andere – auch jenseits der Legalität. Sepko verliebt sich in Lene, die jeden Tag schon im Morgengrauen auf dem Großmarkt einkauft. Um sich und ihren Sohn über Wasser zu halten, beliefert sie einen kleinen Kundenstamm mit ihrem klapprigen Lieferwagen. Doch er ist nicht der einzige, der um Lenes Herz kämpft: Pfeiffer, Gastronom und Wiesnwirt in spe, hat Geld und Einfluss. Unwissentlich entfacht Sepko mit seinen Bemühungen um Lene eine Spirale der Gewalt, die unaufhaltsam eskaliert und sogar die verborgenen Kräfte des organisierten Verbrechens auf den Plan ruft.

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Das Buch

Frühmorgens, wenn die Schickeria in den Münchner Nobelclubs noch zwischen Champagner und Koks auf den Tischen tanzt, gehen auf dem Großmarkt die Lichter an. Hier reißt sich Sepko als Handlanger den Arsch auf. Die Schichten sind hart, der Lohn dürftig. Das echte Geld mit den Gastronomen machen andere – auch jenseits der Legalität. Sepko verliebt sich in Lene, die jeden Tag schon im Morgengrauen auf dem Großmarkt einkauft. Um sich und ihren Sohn über Wasser zu halten, beliefert sie einen kleinen Kundenstamm mit ihrem klapprigen Lieferwagen. Doch er ist nicht der Einzige, der um Lenes Herz kämpft: Pfeiffer, Gastronom und Wiesn-Wirt in spe, hat Geld und Einfluss. Unwissentlich entfacht Sepko mit seinen Bemühungen um Lene eine Spirale der Gewalt, die unaufhaltsam eskaliert und sogar die verborgenen Kräfte des organisierten Verbrechens auf den Plan ruft.

Der Autor

Leo Reisinger lernte mit sechs Klavier, mit siebzehn Schreiner und mit einundzwanzig Schauspiel. In der Zeit zwischen ungehobelten Brettern und denen, die die Welt bedeuten, arbeitete er als Kellner in der Münchner Gastro, auf der Wiesn und am Großmarkt. Wenn er nicht gerade dreht oder mit seiner Band das Publikum rockt, hat er ein Faible für ungewöhnliche Geschichten. »Bavarese« ist sein erster Roman. Er lebt mit seiner Familie südlich des Weltdorfs München mit Blick in die Berge.

LEO REISINGER

BAVARESE

Roman

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

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Originalausgabe 09/2024

Copyright © 2024 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Heiko Arntz

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München, unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com (Deviney Designs) und Adobe Stock (dule964)

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-31342-5V002

www.heyne.de

Für Jenny und Christian

DIE HAUPTFIGUREN

Josef »Sepko« Kollinger

Rechte Hand von Brunner

Georg Brunner

Gemüselieferant

Lene Palatzky

Gemüselieferantin

Luca Palatzky

Ihr Sohn

Markus Pfeiffer

Gastronom

Diredare

Autoschrauber und Sepkos Freund

Chinesen-Toni

Mitarbeiter von Brunner

Cookie

Mitarbeiter von Brunner

Ronny

Küchenchef

Ludwig Derfler

Inhaber des Guts Fürstenhof

Steff

Polizist

Rudi

Polizist

Teo

Koch

Ralf Floßmann

Wirtschaftsreferent

Matthias Grath

Brauereidirektor

Eberhard Loibl

Gastronom und Sprecher der Wiesn-Wirte

Georg »Schorsch« Hagmeier

Bayerischer Ministerpräsident

Albert Drösel

Münchner Oberbürgermeister

Süßmann

Landtagsabgeordneter

Werner »Kopfschuss« Obermaier

Bordellbesitzer

1 EINE KALTE OKTOBERNACHT IN EINER BAYERISCHEN METROPOLE

Sepko steckte seine Hände in die Hosentaschen und ballte sie zu Fäusten. Kalt würden sie schmerzen beim Zuschlagen. Immer wieder ging er in die Hocke, um sich warm- und vor allem wachzuhalten. Er wartete nun schon eine Ewigkeit. Eine Stunde? Zwei? Sein Zeitgefühl war dahin. Armbanduhr hatte er keine, und sein Handy hatte er zu Hause gelassen. Aus Vorsicht. Vielleicht würde man damit seinen Aufenthaltsort zurückverfolgen können. »Dem Arschloch einfach einen kleinen Denkzettel verpassen«, hatte Brunner entgegnet, als Sepko ihn gefragt hatte, was genau er mit dem Chinesen-Toni anstellen sollte. Der Chinesen-Toni hatte Brunner 40 000 Euro unterschlagen. Schwarzgeld. Damit war eine Anzeige bei der Polizei für den Brunner tabu und Sepko sollte die Sache erledigen. Er arbeitete seit zehn Jahren beim Brunner. Sepko wusste deshalb genau, was Brunner mit einem Denkzettel meinte. Je mehr Knochen brachen, desto besser.

Das Wettbüro, vor dem Sepko dem Chinesen-Toni auflauerte, lag ideal. Am Rand eines Industriegebiets im Münchner Norden, irgendwo zwischen Klärwerk, U-Bahnhof und Müllberg. Wenig Verkehr, kaum Straßenlaternen. Die größte Lichtquelle war die wenige Kilometer entfernte Allianz Arena, deren Außenfassade die Wolkendecke dunkelrot leuchten ließ. Sepko war früher nie in einem Stadion gewesen, auch nicht als Kind. Der Lebensgefährte seiner Mutter hatte seine Kohle immer in der Kneipe an der Ecke versoffen.

Durch das dichte Gestrüpp der Verkehrsinsel, von der aus er das Wettbüro im Auge behielt, leuchtete ein Neonschild über der Eingangstür. BETreloaded stand drauf. Was für eine Ironie. Es war die gleiche geschwungene Schrift wie bei »Ellies Kaffeestand« am Münchner Großmarkt, wo er unzählige Espressos mit Brunner gekippt hatte. Vor Sepkos innerem Auge zogen die Jahre vorbei. Seine ganz gewöhnliche Kindheit auf dem Land mit den dazugehörigen Schlägereien hinterm Bierzelt beim Dorffest. Als Teenager dann der Umzug in einen der gesichtslosen Bunker von Neuperlach-Süd. Ein »Glasscherbenviertel«, bayerisch für »Problembezirk«, das in keinem München-Reiseführer vorkommt. Genug schlechte Einflüsse für zwei Jahre Knast.

Brunner war danach für Sepko eine Art neues Zuhause geworden. Sepko hatte sich für ihn in der Arbeit am Großmarkt den Arsch aufgerissen. Beide wurden Big Buddies. Irgendwann kam dann der Chinesen-Toni angetanzt, der damit prahlte, für Brunner haufenweise Neukunden anzuschleppen. Sepko warnte Brunner von Anfang an. Sein Gefühl sagte ihm, dass dem Kerl nicht zu trauen war. Brunner dachte anders. Und nun durfte Sepko wieder einmal die Scheiße vom Brunner regeln, die er gar nicht verschuldet hatte. Und wieder einmal stand er da wie ein Depp, war keinen Schritt weiter als damals. Gut, der Deal mit dem Koks war für Sepko unglücklich gelaufen, und Brunner hatte ihn da rausgeholt, weswegen Sepko ihm nun einen Gefallen schuldig war. Dabei fragte er sich, wie es nur so weit hatte kommen können. Sepko war nicht glücklich, dass er wieder in krumme Dinger verwickelt war. Außerdem war es arschkalt.

Während er noch so überlegte, verließen drei Männer das Wettbüro. Im Gegenlicht des Neonschilds sah man nur ihre Silhouetten. Der Erste war unverkennbar Chinesen-Toni. Klein, fülliger Bauch, dünne Beinchen und ein kürbisartiger Kopf, der ohne erkennbaren Übergang zum Hals auf seinen Schultern thronte. Er schnippte einen Zigarettenstummel in die Dunkelheit. Die beiden anderen Männer bogen auf einen Parkplatz ab, der Chinesen-Toni ging in die entgegengesetzte Richtung, zur U-Bahn. Vorsichtig trat Sepko aus dem Gebüsch und folgte ihm mit genügend Abstand, um nicht entdeckt zu werden. Die gefälschten Oxford-Ledertreter vom Chinesen-Toni klapperten laut über den Asphalt. In ungefähr fünfzig Metern würden sie eine Straße erreichen, wo die dicht stehenden Bäume links und rechts kaum Straßenbeleuchtung durchdringen ließen. Dort wollte Sepko zuschlagen. Im Kopf ging er seinen Angriff durch, kontrollierte die Faust seiner rechten Hand. Sie war immer noch kalt. Um sich nicht selbst zu verletzen, durften die vier Finger seinen Daumen nicht umfassen. Zuerst ein Schlag auf den Kopf, dann ein Tritt gegen das Knie. Ein verdrehter Arm brach dank der Hebelwirkung schnell, Finger und Gelenke sowieso. Ein halbwegs harter Schlag mit der Handkante auf den Kehlkopf konnte tödlich sein. Sepko trainierte zwar keinen Kampfsport, aber er wusste intuitiv immer, was dem Gegner am meisten wehtat. Er hatte schon gegen Stärkere als den Chinesen-Toni gekämpft.

Noch zwanzig Meter und kaum Adrenalin. Es war schwieriger, zuzuschlagen, wenn man nicht provoziert wurde. Wenige Sekunden, die für Sepko wie Minuten vergingen. Der Chinesen-Toni schlenderte unbekümmert dahin. Die rote Wolkendecke über ihm war schwärzer geworden. Noch fünf Meter. Plötzlich blieb der Chinesen-Toni stehen, nahm eine Kippe in den Mund und suchte in seinen Hosentaschen nach einem Feuerzeug.

Jetzt! Jetzt! Doch Sepko verharrte. Fuck, was ist los mit mir? Nachdem der Chinesen-Toni auch in seiner Lederjacke nicht fündig geworden war, murrte er ein leises »Ach leck mich doch« im ländlichen Dialekt. Er war genauso wenig aus Shanghai wie Sepko vom Balkan. Beide kamen einfach nur aus Bayern.

In diesem Moment drehte Chinesen-Toni sich um. Sepko konnte die tiefen Furchen in seinem Gesicht auch im schwachen Licht gut erkennen, drum herum glänzte seine speckige Haut. Der Chinesen-Toni wirkte von Sepkos Anblick nicht sonderlich überrascht. Vielleicht war zu viel Alkohol im Blut. »Was machst denn du hier?« Noch während er das sagte, veränderte sich seine Miene, und Sepko erkannte, dass der Groschen fiel. Das darauffolgende Blickduell dauerte nicht länger als zwei Sekunden. Chinesen-Toni griff blitzschnell in die Innentasche seiner Jacke, Sepko war in drei Schritten bei ihm. Sein geplanter Schlag auf den Kopf traf nicht richtig. »Hilfe, Überfall! Hilfe, Überfall!« Die Schreie vom Chinesen-Toni hallten schrill durch die Häuserschlucht. Sepko musste ihm schnell das Maul stopfen, doch der Chinesen-Toni wandte sich ab, nahm eine gekrümmte Schutzhaltung ein. Keine Chance, an seinen Kopf zu gelangen. Sepko setzte gerade zu einem kräftigen Tritt auf sein Knie an, da spürte er ein unangenehmes Brennen an seinem Unterarm. Sofort wurde es an der Stelle feucht. Dort, wo Sepko bei der schwarzen Gestalt vor ihm die Hand vermuten durfte, blitzte eine Klinge auf. So lange der Chinesen-Toni nach seinem Feuerzeug gesucht hatte, so kurz hatte er gebraucht, ein Messer zu ziehen. Sepkos Adrenalin lief jetzt auf Hochtouren. »Ein Messer ist manchmal schwieriger abzuwehren als eine Knarre. Selten, dass du ohne Stichwunden davonkommst. Hau lieber ab«, hatte ihm mal ein Kumpel von der Straße geraten. Doch für eine Flucht war es zu spät, der Chinesen-Toni hatte ihn erkannt. Sepko schaltete auf Autopilot um. Mit voller Wucht trat er dem Chinesen-Toni zwischen die Beine, der daraufhin auf den Boden sackte. Zwei weitere Tritte trafen ihn ins Gesicht mit einem Geräusch, als würde man einen großen Tontopf zertrümmern. Danach war es still. Die Sache war schneller über die Bühne gegangen als gedacht.

Chinesen-Toni lag auf dem Rücken, das Messer neben sich. Sepko hob es auf. Die Klinge war erstaunlich lang, sicher fünfzehn Zentimeter. Er näherte sich langsam dem regungslosen Körper, Angst überkam ihn. Hoffentlich war es kein Knochen zu viel gewesen. Doch als sich Sepko über den Kopf vom Chinesen-Toni beugte, konnte er ein leises Röcheln vernehmen. Aus seinem Mund blubberte es, und das war gewiss kein Speichel. Sepko begann zu zittern und richtete sich schnell wieder auf. Dann betastete er seinen Ärmel auf Höhe des Unterarms. Der Stoff war blutgetränkt.

Plötzlich begann es um ihn herum zu rascheln. Sepko sah sich erschrocken um. Regentropfen. Auf einen Schlag wich die Stille einem monotonen Rauschen und es goss wie aus Eimern. Aus der Ferne meinte Sepko, Stimmen zu vernehmen. Noch sah er niemanden. Sepko musste weg. Die nassen Klamotten klebten ihm bereits am Körper. Im Rennen warf er einen Blick zurück, bevor er in der Dunkelheit verschwand. Wie ein zurückgelassener Müllsack lag er da, der tolle Chinesen-Toni.

2 DIESELBE OKTOBERNACHT IN DERSELBEN METROPOLE

23.58 Uhr zeigte der Bildschirm des Geldautomaten an. Lene tippte ihre Geheimzahl ein, Sekunden später spuckte das Gerät 500 Euro aus. Tageslimit erreicht erschien auf dem Touchscreen. Eine Zigarette später, um 00.01 Uhr, hob Lene weitere 500 Euro ab. Dann stieg sie in ihre Rostlaube, einen Mercedes Sprinter, und fuhr durch die leeren Straßen Münchens zurück zu ihrem Zuhause, einer Bausünde aus den Fünfzigerjahren in Berg am Laim mit dunklen Abgasflecken an der einstmals weißen Fassade. Lene musste unbedingt noch etwas schlafen.

Nur zwei Stunden später riss sie der Wecker aus dem Tiefschlaf. Luca, ihr fünfjähriger Sohn, lag neben ihr und wälzte sich unruhig. Schnell stellte Lene den Alarm stumm, damit er nicht aufwachte, kroch vorsichtig unter der warmen Decke hervor und schlich aus dem Schlafzimmer. Im Flur checkte sie zuerst den Anrufbeantworter, keine neuen Nachrichten. Mist. Derfler hatte wieder nicht bestellt. Schon die zweite Woche hintereinander. Er war ihr wichtigster Kunde, sie brauchte ihn. Und vor allem das Geld, das er ihr noch schuldig war.

In Lenes Wohnzimmer stand ein dreibeiniger Kunstholztisch mit Laptop drauf, davor auf dem Fußboden mischten sich in wildem Durcheinander gemalte Kinderbilder mit Formularen und Rechnungen. Lene sammelte sie zu einem Stapel, legte sie auf die Seite. Danach holte sie aus einer Nische hinter der Wohnzimmertür eine Matratze samt Kissen, Laken und Decke hervor, die dort zwischen Kunstholzschrank und Wand eingeklemmt verstaut war. Sie warf die Matratze auf den Boden, dann zog sie verschiedene Kleidungsstücke aus einem großen Wäscheberg, der sich auf einer durchgesessenen Couch türmte. Sie wählte eine enge Jeans und ein körperbetontes Top, obwohl es in der Nacht angefangen hatte zu regnen.

Wie vor jeder Schicht trug sie im Bad Wimperntusche auf und drehte das blonde Haar zu einem Dutt, wodurch man ihren nackten Hals sehen konnte. Zurück im Flur warf sie einen prüfenden Blick in den Spiegel: Ihre grazile Figur war trotz der dicken Daunenjacke gut zu erkennen, ihr Gesicht aber gefiel Lene schon lange nicht mehr. Sie lächelte, aber es sah traurig und ausgelaugt aus.

An der Wohnungstür summte die Klingel. Lene drückte den Türöffner, kurz darauf schlurften von unten Schritte in den dritten Stock. Je näher sie kamen, desto lauter wurde im Treppenhaus das Prusten eines leicht übergewichtigen Mädchens Anfang zwanzig im Jogginganzug. Sie hieß Nina und war Lucas Babysitterin.

»Guten Morgen«, flüsterte Lene freundlich.

»Morgen.«

Nina zog eine Duftwolke hinter sich her, eine beißende Mischung aus süßlichem Parfum und Nikotin. Sie verschwand sofort im Wohnzimmer und sank auf die Matratze, wo sie weiterschlief. Lene checkte noch mal, ob Luca okay war, dann stieg sie in ihre Arbeitsstiefel, schnappte sich das Reißbrett mit der Einkaufsliste und machte sich auf den Weg.

Zwei Becher Kaffee später, den sie sich am Abend zuvor gekocht hatte, erreichte sie den Großmarkt. Ein vierundvierzig Fußballfelder großes Areal, das wie eine Insel im zentrumnahen Stadtbezirk Thalkirchen lag. Als Lene vor drei Jahren das kleine Einzelunternehmen ihres Vaters Gerhard übernommen hatte, wusste sie noch nicht, dass jede Tomate, jeder Apfel, jeder Salat, der zwischen Prag und Stuttgart, Salzburg und Nürnberg gegessen wurde – egal ob aus dem Supermarkt, in der Drei-Sterne-Küche oder an der Dönerbude –, einmal hier vorbeigekommen war. Als Gerhard Lene das erste Mal zum Großmarkt mitgenommen hatte, schwärmte er, als stünde dort das achte Weltwunder: »Nirgends in Europa wird mehr Obst und Gemüse umgeschlagen. Hier ist das Drehkreuz der Lebensmittellogistik.« Lene hatte nicht verstanden, warum sich ihr Vater im fortgeschrittenen Alter diesen Knochenjob antat, noch dazu um drei Uhr morgens. Noch weniger verstand sie allerdings, was um alles in der Welt sie getrieben hatte, selbst in das Geschäft einzusteigen. Auf sie wirkte der Großmarkt wie ein riesiger, platt gewalzter Teerbatzen voller LKWs – laut, dunkel, dreckig und chaotisch. Als sie zum ersten Mal die von Ratten und Ungeziefer verseuchten, verrotteten Lagerräume im Kellergeschoss der Markthallen sah, konnte sie nicht glauben, dass die Kisten Salat, die dort umgeben von Dieselabgasen vor sich hinwelkten, später in Spitzenrestaurants zu Gerichten verarbeitet werden würden.

Vor der Haupteinfahrt entlang des hohen Maschendrahtzauns, der das Betriebsgelände umfasste, wartete eine Armada aus LKWs und Sattelschleppern auf ihren Einlass. Lene reihte sich in die Schlange ein. Turmhohe Straßenlampen jenseits des Zauns tauchten das Gelände in gelblichen Schein, und Lene konnte durch das dichte Gestrüpp einer Hecke nur erahnen, dass dort schon Hochbetrieb herrschte, während der Rest der Stadt noch schlief. Der Motor ihres Sprinters ließ die Fahrzeugkabine vibrieren.

Nach fünfzehn Minuten Warten konnte Lene endlich die Haupteinfahrt passieren. Schwer beladene Gabelstapler manövrierten in Hochgeschwindigkeit ihre Paletten durch das Blechlabyrinth unzähliger LKWs und Sattelschlepper mit den verschiedensten Kennzeichen. Zu den regionalen Erzeugern kamen Vierzigtonner aus Italien, Spanien, der Türkei oder Griechenland hinzu, die ihre Fracht aus den riesigen Anbaugebieten im Mittelmeerraum über den Brenner geschleppt hatten. Belgien und Holland waren weitere große Importländer.

Irgendwo zwischen den Ungetümen fand Lene einen Parkplatz für ihre geliebte Rostlaube. Der Regen hatte nachgelassen, Lene lief im Eilschritt über die großen Parkplätze. Um ein Haar wurde sie von einem Gabelstapler über den Haufen gefahren. »Kannst du nicht aufpassen, Blödmann!«, raunzte sie den Fahrer an, ohne ihren Schritt zu verlangsamen. Die Regeln der Straßenverkehrsordnung galten hier nicht. Münchens Bauch, wie der Großmarkt von den Einheimischen genannt wurde, war eine eigene Welt.

Lene erreichte die vier Haupthallen. Hier wurde der größte Anteil der Ware angeboten. Beim Betreten setzte Lene ihr charmantestes Lächeln auf, ihre Sorgen und Nöte gingen niemanden etwas an. Der Geruch von nassem Asphalt und Diesel wechselte mit dem blumigen Duft eines tropischen Urwalds, gelegentlich trat eine herzhafte Prise Leberkäs oder Imprägniermittel von den hölzernen Salatkisten hinzu. Seitlich der langen Gänge waren die Stände der Händler wie die Parzellen eines Campingplatzes aneinandergereiht. Hier handelte und verkaufte die versammelte Münchner Gemüse-Mafia jegliche Sorte an Salat, Gemüse, Obst, Beeren, Südfrüchten und Nüssen an Großhändler. Als junge Frau war Lene in der Männerdomäne eine seltene, doch gern gesehene Ausnahme. Dass sie genauso hart arbeitete wie ihre männlichen Kollegen, war nicht allen klar. Sie spürte jedes Mal die Blicke, die ihr ungeniert folgten, wenn sie mit ihren schweren Arbeiterstiefeln und Sackkarre versuchte, sich so elegant wie möglich durch das Gewirr aus Paletten und Hubwagen zu kämpfen.

Ihre erste Anlaufstelle war Michi, Berufsbezeichnung Fruchtimporteur, in der Halle sagte man Standverkäufer. Anfang dreißig. Junggeselle und Sohn vom Chef. Das lichte Haar trug er gepflegt nach hinten gegelt, die Steppweste über einem anwaltsblauen Hemd mit Manschettenknöpfen. Er war sympathisch, doch so gar nicht Lenes Typ, dafür sie eindeutig seiner, und das wusste Lene zu ihrem Vorteil zu nutzen. Er stand hinter einem rollbaren Schreibpodest, zugepflastert mit handschriftlich vollgekritzelten Zetteln – Bestellungen der Kunden. Ein Chaos, in das nur Michis fotografisches Gedächtnis eine Ordnung brachte. Sein Gesicht hellte sich auf, als er Lene erblickte.

»Scheiß Regen«, sagte sie und umarmte Michi kumpelhaft.

»Hm, dein Haar riecht gut. Riechst du überall so gut?«

Lene ging auf solche Sprüche aus Prinzip nicht ein. Sie lächelte nur. »Schnauze. Was kosten die Gurken?«

Michi hatte gute Laune, das lag wahrscheinlich am Wochentag. Mittwochs ging es in der Halle etwas ruhiger zu als an Freitagen – dann benötigten die Gastronomen viel Ware für das Wochenende und es blieb wenig Zeit für Smalltalk. Ebenso montags, wenn die Kühlhäuser wieder leer gefuttert waren.

»Kiste sieben fünfzig«, gab Michi Auskunft.

»Okay, da nehme ich zwölf.«

Lene ging ihre Bestellliste durch. »Strauchtomaten?«

»Neun zwanzig.«

Lene überlegte kurz. Sie hätte den Preis noch bei einem anderen Standverkäufer erfragen können, aber sie war auf Michis Hilfe angewiesen, da er sie schon die letzten Tage hatte anschreiben lassen.

»Welchen Preis brauchst du denn?«, unterbrach Michi ihre Gedanken.

»Acht Euro.«

»Acht?«

Michi warf einen vorsichtigen Blick über die Schulter zu seinem Vater, der hinter der Plexiglasscheibe eines bemitleidenswerten Kabuffs saß, das er sein Büro nannte. Aber der alte Herr war ganz in seine Rechnungen vertieft. »Okay, geht klar. Ausnahmsweise«, entschied Michi schnell. »Geschenk unter Freunden.«

Lene bedankte sich, heilfroh und erleichtert. Ihr war klar, dass Michi jetzt nichts mehr an der Kiste verdiente. Auch, dass das seinem Vater gar nicht schmecken würde. Er gehörte zur Nachkriegsgeneration und hatte als Kind mitgeholfen, das wieder aufzubauen, was die Engländer in Schutt und Asche gebombt hatten.

Lene begann, die Gurken und die Strauchtomaten auf ihre Sackkarre zu laden.

»Lass gut sein, ich sag meinen Leuten, sie sollen sie dir mit dem Gabelstapler zum Auto fahren.«

»Ach, was würde ich nur ohne dich tun!« Sie zwinkerte ihm zu und wandte sich zum Gehen, wohl wissend, dass sein Blick noch eine Weile auf ihrem Hintern kleben würde. Im Gehen hörte sie Michis Vater noch zu seinem Sprössling sagen: »Viel Haben kommt von wenig Geben. Merk dir das.«

Drei Stunden später hatte Lene ihre Einkäufe erledigt, zum Glück hatte sie auch bei anderen Standverkäufern anschreiben dürfen. Sie litt darunter, ständig zu kitten. Kaum war eine Rechnung bei einem Fruchtimporteur bezahlt, musste sie beim nächsten anschreiben.

Als sie zu ihrem Sprinter kam, stand ein Teil der gekauften Ware schon vor der Heckklappe. Der Regen hatte aufgehört, am Horizont brachen erste Sonnenstrahlen durch die Wolken und färbten sie glutrot. Lene hatte den brennenden Morgenhimmel schon immer geliebt. Sie seufzte, dann lud sie Kiste für Kiste in den Laderaum. Als ein Gabelstapler die letzte Palette etwas ruppig abstellte und dabei fast ihre Kisten mit den Zucchini umstieß, machte Lenes Herz einen Satz. Für den Fahrer waren es nur Kisten, für sie waren die Kisten die Sicherung ihrer Existenz. Doch heute meinte es das Leben gut mit ihr und alles blieb heil. Als die Ware eingeladen war, machte sie sich auf den Weg zu ihren Kunden. Um halb elf hatte Lene alle Restaurants beliefert und fuhr nach Hause zu Luca.

Es würde noch ein langer Tag werden. Zweimal in der Woche arbeitete sie nachmittags in der Kinderbetreuung eines exklusiven Fitnessstudios im Nobelvorort Grünwald, so auch heute. Sie mochte den Job. Es war ein Ausgleich zum Großmarkt. Und das Gute war, dass sie Luca mitnehmen konnte …

Dort, wo sich bis vor ein paar Jahren in ihrer Straße noch Schrebergärten befunden hatten, war inzwischen ein metallisch glänzender Bürokomplex hochzogen worden. Die wenigen Parklücken wurden von den geleasten Karossen der Anzugträger blockiert. Deswegen hatte Lene sich um einen Deal gekümmert. Sie durfte ihren Wagen unter einer Brücke des Mittleren Rings abstellen, wo ein älteres Pärchen eine Leergut-Annahmestelle betrieb und wöchentlich von ihr mit einer Obstkiste bezahlt wurde.

Lene stapfte die drei Stockwerke zu ihrer Wohnung hoch und freute sich auf den Pudding, den ihr ein Küchenchef heute geschenkt hatte. Sie öffnete die Wohnungstür, wo sie das Plärren des Fernsehers empfing. Im Wohnzimmer hockte Luca im Schlafanzug auf einem Kissen vor dem Sofa am Boden und sah eine Action-Zeichentrickserie.

»Hey, Stinker«, sagte Lene und drückte ihn. »Wie lange guckst du schon?«

Keine Antwort. Luca war zu gebannt von den Actionhelden, die gerade mit Weltraum-Kettcars versuchten, die Welt zu retten.

Lene ging in die Küche, wo Nina auf ihrem Handy irgendwelche Bullshit-Games spielte.

»Hi! Willst du noch mitessen?«, versuchte Lene ein Gespräch einzuleiten.

»Nee, danke. Wie sieht es heute mit meiner Kohle aus?«

Lene ignorierte den patzigen Unterton.

»Ja klar. Wie viel bekommst du?«

»Na, es sind inzwischen dreißig Stunden – macht vierhundertfünfzig Euro.«

Lene schluckte, öffnete ihr Portemonnaie und kratzte mit Ach und Krach das Geld zusammen.

Nina nahm es rasch an sich. »Außerdem komme ich ab morgen nicht mehr«, platzte es aus ihr heraus.

»Was?«

»Ich habe einen neuen Job.«

Lene wusste, dass Nina log. Sie zu überreden, hatte keinen Sinn. Sie machte sich ohnehin sofort aus dem Staub.

»Mama, ich hab Hunger«, rief Luca von nebenan.

»Ich mach dir was«, antwortete Lene mit dünner Stimme.

Sie kochte Luca Nudeln, während sie am Telefon versuchte, Luca irgendwo unterzubringen. Doch niemand hatte Zeit.

Als Lene im Fitnessstudio ankam, warteten schon die ersten Mütter darauf, ihre Kinder vor der Aerobic-Stunde abgeben zu können. Lene führte die Kleinen in den Gruppenraum und die stürzten sich auf die Spielsachen. Nur Luca war zu Anfang noch zurückhaltend und hing seiner Mama am Bein. Lene spielte mit den Kindern Verstecken und beobachtete sie in ihrer Unbeschwertheit. Sie war ein bisschen neidisch, wie sie so sorgenfrei durchs Leben liefen. Auch Luca verlor bald seine Schüchternheit und gesellte sich lachend zu den anderen.

In diesem Moment öffnete sich die Tür und eine Mutter kam mit ihrer Tochter an der Hand herein. Janine. Lene wusste, dass ihr schon immer ein Dorn im Auge gewesen war, dass Lene ihr eigenes Kind dabeihatte. Und dementsprechend abfällig schaute sie jetzt drein. Janine schob ihre Tochter vor sich her und blickte Lene in die Augen: »Sie wissen schon, dass wir für die Betreuung bezahlen. Mein Kind geht vor.« Lene wollte gerade verblüfft antworten, da rauschte sie auch schon aus dem Raum.

»Mama? Hey, Mama!« Lene riss die Augen auf. Scheiße. Sie war tatsächlich eingeschlafen. Vor ihr lagen die Rechnungen, die sie immer abarbeitete, während die Kinder spielten. Punkt achtzehn Uhr kamen die Mütter, um ihre Kinder abzuholen. Sie waren beladen mit schweren Einkaufstaschen, sichtlich beschwipst, keine Spur von Schweiß. Von wegen Sport. Die Mitgliedschaft im Fitnessstudio diente den Damen dazu, ihre Kinder zu parken, während sie ihren eigentlichen Interessen nachgingen.

Auf der Heimfahrt zerbrach sich Lene den Kopf, wie sie den morgigen Tag bestreiten sollte, während Luca vergnügt neben ihr saß und ein Lied vor sich hin sang.

3 ZEHN JAHRE ZUVOR

Sepko fuhr mit einem Ruck aus dem Schlaf auf. »Fuck«, stieß er aus. Er hatte vergessen, den Wecker zu stellen. Seine Hände suchten die kleine Schreibtischlampe, die neben seiner Matratze auf dem nackten Boden stand. Er schaltete sie ein, kniff die Augen gegen das grelle Licht zusammen. Der altmodische Wecker zeigte Viertel nach eins. Gott sei Dank. Er würde es pünktlich zur Arbeit schaffen.

Seit vier Wochen hauste er nun in diesem Hinterzimmer der Kfz-Werkstatt, in der sein Kumpel Diredare ihm zwischen Ersatzteilen und anderem Gerümpel einen Schlafplatz eingerichtet hatte. Er war es auch gewesen, der ihn vom Knast abgeholt hatte. Auf Diredare war wie immer Verlass. Aber Sepko war klar, dass er ihm nicht länger zur Last fallen konnte. Er musste sein Leben endlich in den Griff bekommen. Die Arbeit beim Brunner schien dafür ein guter Ansatz. Die Jobangebote vom Bewährungshelfer waren dagegen ein Reinfall gewesen. Eine Sportfiliale war dringend auf der Suche nach Mitarbeitern im Einzelhandel, und Sepko landete in der Damen-Skibekleidung. Dort hatte er es nicht länger als drei Tage ausgehalten. Er hatte Kleiderbügel sortiert und Kartons zerkleinert, weil man ihn als Verkäufer nicht ernst nahm. Vielleicht, weil die Kolleginnen ihn als Ex-Knacki entlarvt hatten und sie ihn nicht auf Kundinnen loslassen wollten. Noch kürzer war der Job im Schlachthof gewesen. Als er den Metzgern zusehen musste, wie sie eine Kuh nach der anderen mit dem Bolzenschussgerät ins Jenseits beförderten, wurde ihm umgehend schlecht. Der Anblick der schreienden Kälber ließ ein altes Trauma wieder aufleben. Acht Jahre war Sepko damals alt gewesen, als die Sache mit dem Kater geschah. Der Kater hieß Ignaz und war eine verschmuste, rot getigerte Schönheit vom Bauernhof nebenan. Sepko liebte es, wenn er angelaufen kam, sich um seine Beine schmiegte und kraulen ließ. An jenem Tag war etwas anders. Sepko sah Ignaz in der Ferne über die Straße gehen. Das heißt, das Tier ging nicht, es kroch vorwärts wie eine Robbe. Sepko ging zu Ignaz hin und sah, dass er seine Hinterbeine nicht mehr bewegen konnte. Irgendetwas hatte dem Tier das Kreuz gebrochen. Sepko eilte in den Stall, um Hilfe zu holen. »Schon wieder eine, die man erschlagen muss«, sagte der Bauer lapidar. Dann reichten seine rauen Arbeiterhände Sepko ein Brecheisen. »Musst wahrscheinlich ein paarmal zuhauen, die Viecher sind zäh.« Sepko sah ihn mit großen Augen an. Als er zurückkehrte, hatte Ignaz die Straße überquert und sich in den Schatten eines Baumes gelegt. Sepko zögerte. Dann hob er das Brecheisen. Blieb so stehen wie erstarrt. Ignaz sah zu Sepko auf, so wie sonst, wenn er am warmen Ofen der Stube gestreichelt werden wollte. Dann begann der Todeskampf. Ignaz röchelte erst. Es folgte ein seltsamer Schrei. Als würde ein Baby weinen. Einen derartigen Laut hatte Sepko noch nie gehört. Erschrocken warf Sepko das Brecheisen von sich und lief, blind vor Tränen, davon. Am nächsten Tag ging er ängstlich zu der Stelle bei Baum, aber von Ignaz keine Spur …

»Hab dich nicht so«, unterbrach die laute Stimme des Metzgers Sepkos Gedanken. »Im Kuhhimmel haben sie’s gut.« Mit blassem Gesicht stand er vor dem Mann, als er ungerührt fortfuhr: »Sei froh. Schon mal einem Wolf dabei zugesehen, wie er ein Schaf reißt?« Ohne auf Sepkos Antwort zu warten, schilderte er den Vorgang in allen Einzelheiten.

Sepko gab die weiße, mit Blut bespritzte Arbeitskleidung zurück. Dann brauchte er dringend ein Bier, um den metallisch-dumpfen Geschmack in seinem Mund loszuwerden.

Die »Gruam« war nur wenige Schritte entfernt – ein alteingesessenes Absturzlokal, das keine Konkurrenz zu fürchten hatte. Gelegen im Niemandsland unter einer Eisenbahnbrücke, zwischen den düsteren Industriehallen des Schlachthofs auf der einen und des Großmarkts auf der anderen Seite, war München vielleicht nirgendwo so Berlin wie hier. Es war fast zwei Uhr. Drinnen saßen vier einsame Gäste, allesamt Männer.

»Was ist denn mit dir passiert?«, sprach ihn einer in Cordhose, Steppjanker und Trachtenhut an.

Sepko erzählte, was er in den wenigen Stunden im Schlachthof erlebt hatte.

»Sauber«, sagte der Mann unbeeindruckt und trank den letzten Schluck seines Biers. »Aber ich muss dann mal zur Arbeit.« Jetzt?, dachte Sepko.

»Wenn du einen neuen Job suchst, melde dich bei mir. Gemüse schreit nicht«, fügte er hinzu und drückte Sepko beim Gehen einen Zettel in die Hand. »Sein Bier übernehme ich«, sagte der Mann zum Wirt und verließ das Lokal.

Sepko blickte auf den Zettel. Drauf stand handgeschrieben: Georg Brunner – Obst- und Gemüselieferant, dazu eine Telefonnummer.

Seit fünf Tagen war er jetzt dabei, und er schien sich langsam an den neuen Rhythmus zu gewöhnen, zumindest nahmen die Sekundenschlaf-Anfälle auf der Fahrt zum Großmarkt langsam ab. Diredare hatte ihm dafür einen Opel Corsa aus verschiedenen Fahrzeugen zusammengeflickt. Über die Zulassung des Wagens brauchte sich Sepko keine Gedanken zu machen, denn Diredares Augenzwinkern sagte alles: »Mein Kumpel arbeitet beim TÜV, verstehst du?« Sepko verstand.

Wenn er den Großmarkt erreichte, kamen schon die ersten Gabelstapler angefahren und umzingelten Brunners LKW mit Paletten voller Ware. Brunner war immer schon eine Stunde früher in der Markthalle, um die Ware zu bestellen. Wenn Sepko eintraf, musste alles sehr schnell gehen. Er wuchtete jede Kiste, jeden Sack einzeln in den LKW. Genau die richtige Betätigung, um den unangenehm frostigen Nächten im Februar zu trotzen. Brunners ehemaligem Möbelwagen fehlte die richtige Isolierung, vom Thermogerät ganz zu schweigen. Um sicherzustellen, dass der Salat auf der Fahrt nicht gefror, wärmte Brunner den Laderaum mit einem Gas-Heizstrahler, der mit Expanderseilen an der Außenwand befestigt war. Sepko hoffte sehr, dass Brunner ebenfalls jemanden beim TÜV kannte, legal sah die Konstruktion jedenfalls nicht aus.

Sepko sicherte die Ware im LKW, damit sie bei der ersten Bremsung nicht durcheinanderflog. Dabei summte er Lieder, die er sich als Eselsbrücke gebaut hatte, um sich die ganzen Obst- und Gemüsenamen zu merken. »Schickeria« für Chicorée, »Radio Gaga« für Radicchio. Bisher hatte er mit Grünzeug wenig am Hut, er war mit Schweinebraten, Kartoffelknödel und Dunkelbiersoße aufgewachsen und selbst verwundert, dass man das seiner Figur nicht ansah.

Seine Arbeit wurde einzig vom Gebrüll am Parkplatz gegenüber gestört. Dort lag die Ladezone vom Ragstager. Er war schon seit Jahren Brunners größter Konkurrent.

»Sechs LKWs und zwölf Mitarbeiter. Nicht schlecht, oder?«, hatte Brunner zu Sepko gesagt, als der ihn auf Ragstager ansprach. »Aber keine Kunst, wenn man bloß Ausländer beschäftigt. Die sind billig und leicht ersetzbar.« Er schüttelte verächtlich den Kopf. »Der Ragstager merkt sich nicht mal ihre Namen. Bei ihm heißen alle nur Arschloch-Wichser-Hurensohn.« Doch Sepko hörte den Neid heraus, als Brunner hinzufügte: »Aber sechs LKWs ist schon eine Hausnummer.« Sein Ziel war es, mindestens auch einmal so groß zu sein.

Wenn Brunner gegen sechs Uhr von seiner Tour durch die Markthalle zurückkam, hatte Sepko die Ware bereits verladen. Außer wenn sie auf sogenannte »Fehlmengen« warten mussten, weil am Brenner Schnee lag und die Ware aus Spanien oder Italien verspätet ankam, oder ein Schiff in Rotterdam mit der Ware aus Übersee zu spät angelegt hatte.

Wie immer gab es auch heute Frühstück um sechs in der »Gaststätte Großmarkthalle«. Das Traditionslokal war um diese Zeit noch leer, bis auf ein paar Bedienungen, die aussahen, als wären sie hier geboren. Brunner schrieb die Lieferscheine für die Kunden und trug per Hand die Tagespreise ein. Sepko saß derweil daneben, schlürfte Filterkaffee und aß eine Butterbreze. Später würde er es bereuen, dass er nicht besser aufgepasst hatte.

Kurz darauf setzte Brunner sich ans Steuer und Sepko neben ihn und beide lieferten quer durch München und Umgebung die Ware aus. Auf ihrer Fahrt von Kunde zu Kunde unterhielten sie sich über die Champions League und Autos, beide waren eingefleischte FC-Bayern-Fans und hatten eine Passion für amerikanische Autos aus den Sechziger- und Siebzigerjahren. Für Sepko war dies die beste Zeit des Tages. Draußen wurde es hell, die Stadt erwachte zum Leben, doch sie hatten den anstrengendsten Teil ihrer Arbeit bereits erledigt.

Drei Wochen später, es war kurz nach acht Uhr abends, und Sepko wollte gerade ins Bett, klingelte sein Handy. Es war Brunner.

»Du musst kommen. Ich bin im Harlachinger Krankenhaus.«

Er klang gefasst. Er sei nur unglücklich gestürzt, sagte er. Er habe Schmerzen in der Bauchgegend und war zur Kontrolle ins Krankenhaus gebracht worden. Als Sepko ihn in der Notaufnahme fand, hatte Brunner bereits eine Mappe für ihn vorbereitet. Sie enthielt eine Liste der Kunden, die für den morgigen Tag bestellt hatten. Dazu eine Liste, welche Waren Sepko dafür bei welchem Standverkäufer kaufen müsse, sowie einen groben Lageplan, wo in der Markthalle sich der jeweilige Standverkäufer befand. Sepko hatte keine Möglichkeit mehr, Details zu erfragen. Brunner wurde im nächsten Moment ins MRT geschoben. Sepko wollte warten, wurde aber eine gute halbe Stunde später davon in Kenntnis gesetzt, dass Brunner sich beim Sturz einen Leberanriss zugezogen habe. Nichts Schlimmes, doch er musste unter Vollnarkose operiert werden und würde erst morgen wieder ansprechbar sein.

Sepko stand wie vor den Kopf geschlagen da, mit den Listen in der Hand, und wusste nicht, was er tun sollte.

Als er am nächsten Morgen zur Arbeit erschien, war er nervös. Hätte er doch in den letzten Tagen besser aufgepasst! Er kannte sich noch immer nicht richtig in der Halle aus, von den Gemüsesorten ganz zu schweigen. Er hatte auch keinen LKW-Führerschein, das hatte er Brunner gegenüber nur behauptet, um den Job zu bekommen, und er war Brunners einziger Mitarbeiter.

Doch dann ging alles überraschend gut. Mit Befriedigung stellte Sepko fest, dass sich in den drei Wochen bereits eine gewisse Routine eingestellt hatte. Und wenn er etwas nicht wusste, gab es immer Menschen, die man fragen konnte. Mit seiner offenen, freundlichen Art kam er überall gut an. Selbst Fröstl, der grummelige Küchenchef vom »Kölblerwirt«, blieb auf ein paar Worte bei ihm stehen und erkundigte sich überraschenderweise nach dem Wohlbefinden seines Chefs.

Als Brunner nach einer Woche aus dem Krankenhaus entlassen wurde, staunte er nicht schlecht, wie gut Sepko sich geschlagen hatte. Er hatte die Sympathie von Standverkäufern und Kunden gewonnen und bereits zwei neue Kunden aufgetan – vier weitere sollten folgen, allesamt auf Empfehlung der Köche. Sepko hatte täglich die Fahrten variiert, um pünktliche Lieferungen zu gewährleisten. Brunner war zufrieden, überließ Sepko zunehmend die Organisation und setzte ihn immer dort ein, wo es mit den üblichen Schmiergeldern nicht getan war, sondern zwischenmenschliche Fähigkeiten gefragt waren.

Der Laden lief besser denn je. Ein halbes Jahr später investierte Brunner in einen neuen LKW und innerhalb des Jahres besaß die Firma vier Wagen und sieben Mitarbeiter. Im folgenden Jahr kamen drei weitere Laster hinzu und die Mitarbeiterzahl stieg auf fünfzehn. Brunner hatte es geschafft, er hatte seinen Konkurrenten Ragstager eingeholt. Zudem hatte er eine Lagerfläche angemietet, um die Ware zwischenzulagern. Dank der Laderampen mussten nun die LKWs nicht mehr auf dem Parkplatz beladen werden.

Und Sepko war sein Mann für alles. Er distribuierte die Lagerarbeiter und teilte die Kunden nach Touren auf. Doch seine eigentliche Stärke war der Umgang mit den Menschen. Sympathie war am Großmarkt das A und O. Sepko schaffte es immer, gute Preise auszuhandeln, und Brunner kümmerte sich um schnelle Überweisungen, das mochten die Standverkäufer.

In den ersten Jahren verbrachten Sepko und Brunner auch privat viel Zeit miteinander. Gemeinsam schraubten sie in Diredares Garage an Brunners Mustang Fastback und am Samstag gingen sie ins Bayernspiel. Sepko war zum ersten Mal in seinem Leben glücklich und vielleicht galt das nicht nur für Sepko. Brunner und er waren wie Vater und Sohn.

Doch ihre Zweisamkeit fand ein jähes Ende, als Brunner am Großmarkt eine Floristin kennenlernte. Brunner hatte nie zuvor eine Frau in seinem Leben erwähnt. Doch jetzt drehte sich alles nur noch um Corinna. Obwohl Sepko sie mochte und Corinna ihm immer freundlich begegnete, musste er sich eingestehen, dass er eifersüchtig auf sie war, weil sie ihm seinen besten Freund und Mentor wegnahm. Und vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn Corinna nicht gewesen wäre. Denn als wenig später Sepkos Stiefvater starb und ihm einen Haufen Schulden hinterließ, wandte sich Sepko in seiner Not nicht an Brunner, sondern an die Köche der Nobelrestaurants. Der Großmarkt war berüchtigt dafür, dass man dort Stoff bekommen konnte, Kokain vor allem. Die Köche hatten ihn oft gefragt, und Sepko hatte stets abgelehnt. Doch jetzt wurde er schwach. Als Brunner dahinterkam – und es war klar, dass er früher oder später dahinterkommen musste –, war er außer sich. Er beschwor ihn, diese Scheiße zu lassen.

Sepko erzählte ihm von den Schulden, die er geerbt hatte, worauf Brunner ihm ohne zu zögern 15 000 Euro lieh. Doch beiden war klar, dass es zwischen ihnen nie mehr werden würde wie früher.

Und irgendwann stand dann dieser Typ im Büro. Toni. Klein, untersetzt, feistes Gesicht, redete auf Brunner ein, behauptete, er hätte beste Kontakte zur asiatischen Gastronomie. Eine lukrative Kundengruppe, wie Brunner wusste, aber äußerst misstrauisch. Sepko hatte sich an den Asiaten schon die Zähne ausgebissen, sie wollten einfach nicht kaufen. Der Typ verbrachte anscheinend ständig Urlaub im asiatischen Raum, hatte eine Thailänderin zur Frau und sprach etwas Thailändisch und Chinesisch.

Sepko war dieser »Chinesen-Toni« von Anfang suspekt. Als Brunner ihm mitteilte, dass er ihn einstellen wolle, konnte er es nicht glauben. Er warf Brunner vor, leichtgläubig zu sein, und empfahl, zuerst Erkundigungen über den Mann einzuziehen, um herauszufinden, ob seine Kontakte wirklich so gut waren. Doch Brunner wollte davon nichts hören. »Bist neidisch, weil du bei den Chinesen nicht landen konntest?«, sagte er und grinste spöttisch. Sepko fühlte sich tief gekränkt.

Zu allem Überfluss hatte Chinesen-Toni auch noch Erfolg. Die Asiaten vertrauten ihm und bestellten reichlich. Und er gewann immer noch neue Kunden dazu. Brunner ließ keine Gelegenheit aus, seinen neuen Mitarbeiter zu loben, gern in Gegenwart von Sepko. Der war stinksauer. Seinen Ärger ließ er am Chinesen-Toni aus. Meist indem er ihm Arbeiten aufhalste, die er genauso gut einem Hilfsarbeiter hätte geben können. Toni rächte sich, indem er über ihn herzog und die anderen Mitarbeiter gegen ihn aufhetzte.

Wochenlang hatte der Hass zwischen ihnen geschwelt, bis es schließlich zum großen Knall kam. Der Auslöser war banal genug gewesen. Sepko war über eine Palette gestolpert und – zur allgemeinen Erheiterung – in eine Kiste mit Tomaten gefallen. Das Gelächter war groß. Doch Sepko war nicht nach Späßen zumute. Wutentbrannt stürzte er sich auf den Chinesen-Toni, der arglos mitgelacht hatte, und packte ihn am Kragen. Es kam zum Gerangel, in dessen Verlauf Sepko seinem Feind einen Kinnhaken verpasste. Nur mit Mühe konnten die Kollegen die beiden Kampfhähne voneinander trennen. Sepko musste bei Brunner zum Rapport erscheinen und bekam eine Abmahnung. Eine Abmahnung! Er, der die Scheiß-Firma mit aufgebaut hatte. Sepko war drauf und dran zu kündigen.

Zwei Tage ließ er sich nicht bei Brunner blicken. Als er am dritten Tag wieder erschien, erwartete er eine Standpauke, doch stattdessen teilte Brunner ihm mit, dass Toni ebenfalls nicht zur Arbeit gekommen sei. Sein Handy sei abgeschaltet, ob er, Sepko, etwas von ihm gehört habe. Nein, hatte Sepko nicht. Als der Chinesen-Toni auch nach vier Tagen noch nicht auftauchte, begann Brunner Verdacht zu schöpfen. Er fuhr die Kunden von Chinesen-Toni ab und sein Verdacht wurde Gewissheit. Der Chinesen-Toni war verschwunden und mit ihm das Geld, das er von seinen Kunden bar einkassiert hatte. Die Außenstände eines Monats – 40 000 Euro – weg!

Sepko hatte es ja gleich gewusst. Aber ihm war klar, dass Brunner das in dieser Situation nicht hören wollte. Als Brunner ihm auftrug, den Chinesin-Toni ausfindig zu machen und ihm einen Denkzettel zu verpassen, hatte er nur genickt. Er wusste, was zu tun war.

4 ZURÜCK IN DER GEGENWART

Der Samstagabend war noch jung. Sepko fläzte auf der Couch, es lief RTL. Irgendein jugendlicher Freak versuchte, die Jury von seiner Gesangsstimme zu überzeugen. Aber selbst wenn seine Stimme besser gewesen wäre, hätte Sepko sie nicht genießen können. Seine Wunde am Arm brannte noch immer, obwohl der Kampf bereits drei Wochen zurücklag. Seither war Sepko nicht zur Arbeit erschienen und ging auch kaum raus. Er konnte keine dummen Fragen zu seinem Verband gebrauchen.

Etwas umständlich löffelte er den letzten Happen von seinem Porridge, das er in der Vegan-Abteilung des Supermarkts gefunden hatte. Sepko wollte schon lange etwas für seine Gesundheit tun, aber es schmeckte beschissen. Als das Telefon klingelte, stellte er die leere Schüssel auf den Boden, wo bereits eine angebrochene Bierflasche stand, dann griff er zum Handy.

»Ich bin unten«, meldete sich eine raue, vertraute Stimme. »Mach auf.«

Kurz darauf stand Brunner in Sepkos Wohnzimmer. Die Wohnung war so spartanisch eingerichtet, als ob er erst vor Kurzem eingezogen wäre. Keine Bilder, keine Pflanzen, keine Bücher. Auch in der Küche gab es, abgesehen von einem Kasten Helles, keine Highlights.

»Ein Bier?«, fragte Sepko und hob seine Flasche an.

Brunner ging nicht darauf ein. »Geht’s besser?«

Sepko hob den verbundenen Arm. »Einigermaßen. Der Verband kann bald ab.«

»Gut. Dann kannst am Montag wiederkommen? Ist grad viel los.«

Er setzte sich an den kleinen Esstisch. Dann zog er aus der Innentasche seines Mantels ein in Butterbrotpapier gewickeltes Päckchen. Sepko wusste, dass es 50-Euro-Scheine enthielt.

»Für wen?«, fragte er.

»Das bringst du bitte dem Ronny.«

»Und die anderen?«

»Die anderen habe ich schon gemacht«, sagte Brunner. »Du hast dich ja erholen müssen.«

Sepko vernahm den sarkastischen Unterton.

Arschloch, ging es ihm durch den Kopf, ich wär fast für dich draufgegangen. Aber er verkniff sich einen Kommentar. Er nahm das Geld entgegen und setzte sich damit auf die Couch. Er legte das Päckchen neben sich und nahm einen Schluck von seinem Bier.

»Irgendwelche … Neuigkeiten?«, fragte Sepko vorsichtig. Er musste wissen, ob Gerüchte die Runde machten.

»Nein. Offenbar noch immer keine Zeugen. Nichts. Und der Regen hat alle Spuren verwischt.«

Sepko nickte erleichtert.

»Der Kerl hat’s nicht anders verdient«, fuhr Brunner fort. »Wir sind nicht die Einzigen, die er bestohlen hat. Den anderen ist es wahrscheinlich nur recht, dass er mit ner Essenssonde auf der Intensiv liegt. Und wenn er hopsgeht, umso besser. Hast du gut gemacht.«

Sepko brummte nur. Die Sache war aus dem Ruder gelaufen, er hatte dem Chinesen-Toni eine Abreibung verpassen wollen, nicht ihn halb totprügeln.

Doch Brunner lächelte zufrieden. Er stand auf und klopfte ihm zum Abschied auf die Schulter. »Dann bis Montag.«

Sepko hörte, wie die Wohnungstür zufiel. Er war auf der Couch sitzen geblieben.

Essensonde. Das hörte sich gar nicht gut an. Sepko stellte zu seiner Verwunderung fest, dass er Mitleid mit dem Chinesen-Toni verspürte, wie er da in seinem Krankenbett lag, Mitleid mit diesem Arschloch, dem er früher am liebsten täglich die Fresse poliert hätte. Brunner war da anders. Ihm war es egal, wenn der Chinesen-Toni draufging.

Sepko holte tief Luft. Wäre es ihm auch egal gewesen, wenn er, Sepko, draufgegangen wäre?

Er stand auf, ging ins Badezimmer. Dort wickelte er den Verband ab und ersetzte ihn durch ein harmloses Pflaster.

Wurde Zeit, dass er sich wieder unter Leute begab.

5 EIN GEWÖHNLICHERMONTAG

»Hausruckinger der Affe der blöde – da helfe ich ihm mit seinen drei Türken und jetzt stirbt er – hunderttausend krieg ich noch von ihm – hunderttausend – der hätte lieber beim Golfen bleiben sollen da in Pattaya – jetzt vögelt er diese Kokosnuss – Herzinfarkt – toll – und ich steh dumm da und schaue mit dem Ofenrohr ins Gebirge …«

Es war Montag, vier Uhr am Morgen, und seit Cookie vor fünfzehn Minuten auf dem Beifahrersitz neben Sepko Platz genommen hatte, redete er ohne Punkt und Komma. Am Anfang konnte Sepko den Aus- und Abschweifungen von Cookie nur schwer folgen. Doch je öfter Cookie seinen Monolog wiederholte, desto mehr Verständnislücken konnte Sepko füllen, es dauerte allerdings. Cookie war ein Kollege bei Brunner, und Sepko hatte ihm am Morgen eine Mitfahrgelegenheit angeboten, da das Männerwohnheim, in dem Cookie wohnte, auf seinem Weg lag.

Cookie war siebenundsechzig und in seiner Jugend einmal ein Stenz gewesen – vielleicht auch Profi-Fußballer, wie er immer wieder behauptete, Google jedenfalls wusste nichts davon. Dass er noch immer als Lagerarbeiter bei Brunner arbeitete, war dem Umstand geschuldet, dass er in seinem Leben keinen Cent in die Rentenkasse eingezahlt hatte. Nun stand er kurz vor der Obdachlosigkeit. Ein schräger Vogel, immer in Geldnöten. Den Nacken schmückte ein Tattoo, das das Logo eines Internetanbieters zeigte. Cookie hatte es sich stechen lassen, weil er dachte, er bekäme dafür Geld. Stattdessen erhielt er nur zwei Konzertkarten für eine unbekannte Punkband, zu deren Konzert ihn Sepko begleitet hatte.

»Da schmeißen die Schwuchteln Eier auf seinen Bentley reden blöd daher und der Depp lässt sich das auch noch gefallen – da hab ich zu ihm gesagt nein Hausruckinger das lässt du dir nicht gefallen – darfst du nicht – nicht von den Türken – bei denen wasche ich mir erst nach der Watschen die Hände das darfst du glauben …«

Sepko versuchte ein erstes Resümee: »Du kriegst also hunderttausend von einem Typ, dem du geholfen hast bei einem Problem.«

»Nix Problem. Türken«, antwortete Cookie.

»Wie auch immer. Und jetzt ist der Typ mit dem Geld tot.«

»Genau. Dabei bin ich extra auf den Billardtisch raufgesprungen.« Cookies Augen glänzten voller Stolz.

Sepko hatte schon geglaubt, den roten Faden gefunden zu haben, aber offenbar hatte er sich getäuscht. Er hatte Mühe, sich vorzustellen, wie Cookie mit seinen O-Beinen auf einen Billardtisch gesprungen sein wollte. Ganz abgesehen vom Warum.

Cookie bemerkte Sepkos zweifelnden Blick: »Mann da war diese Bar – ich wollte die drei Türken aufmischen da haben sie mich gepackt – aus Not bin ich auf den Billardtisch gesprungen hopp – top fit vom Fußball halt – und die Höhe war optimal verstehst du – genau richtig – beidfüßiger Außenverteidiger in der dritten Liga – da liegst du gleich am Boden wenn du vom Fuß getroffen wirst – einen Türken musste ich dann noch eins mit dem Queue überziehen – mit dem breiten Ende vorne logisch – der ist zerbrochen – scheiße den muss ich noch zahlen fällt mir grad ein – gar nicht billig die Dinger – siehst könnte ich dem Hausruckinger sein Geld jetzt gut gebrauchen Affe blöder …«

Und dann fing die Geschichte wieder von vorne an, mit neuen Variationen. Sepko erreichte das Haupttor des Großmarkts. Ein einsamer Pförtner in seinem Häuschen öffnete die Schranke. Es war noch ruhig auf dem Gelände. Sepko fuhr am Umschlagplatz vorbei, wo sich die Sattelschlepper aus Italien, Spanien und Holland aneinanderreihten. In einigen Fahrerkabinen brannte Licht. Die Fahrer wollten schnell entladen und zurück in ihre Heimat fahren. Ihre Fahrzeuge wirkten in der Dunkelheit wie überdimensionale Särge und der dampfende Schornstein des Heizkraftwerks im Hintergrund wie das dazugehörige Krematorium. Der Großmarkt in München glich um diese Uhrzeit mehr einem Friedhof als Europas größtem Drehkreuz der Lebensmittellogistik.

Schließlich erreichten sie Brunners Lager.

Ein unschöner Betonklotz aus den Achtzigern, nur eine Straßenbreite entfernt von den vier historischen Markthallen, in denen das Hauptgeschäft stattfand. Das Lager hatte sechs Ladebuchten für LKWs und drei Büroräume im ersten Stock.

Sepko parkte das Auto.

»War die Grippe, oder?«

Cookies Frage riss Sepko aus seinen Gedanken. Er musste seit Brunners Besuch am Freitag immer wieder an den Chinesen-Toni denken.

»Hatte letzte Woche auch ein bisschen Gliederschmerzen und bin zwei Tage zu Hause geblieben.«