Bayerische Kurzgeschichten - Irmgard Irro - E-Book

Bayerische Kurzgeschichten E-Book

Irmgard Irro

0,0

Beschreibung

Niedergeschrieben sind Schicksale von Menschen, die mir auf meinen Reisen und in meinem Leben begegnet sind; so beispiesweise die Flucht einer Familie vom Böhmerwald in den Bayerischen Wald und anschließend das Leben im Lager, Einzelbiografien, sowie das Familienleben um 1955 in Niederbayern.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 198

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



INHALTSVERZEICHNIS

NACH DEM KRIEG

In Oberzwiedlern, Kreis Krumau, Böhmerwald, Sudetenland

Die Flucht vom Böhmerwald in den Bayerischen Wald

In den Flüchtlingslagern in Niederbayern

Kindheit im Lager

Ministrant von 1953 bis 1958

Pflichten als Realschüler

Rolf, ein treuer Freund

IM GÄUBODEN

„Der alte Rempl“

Der Schneider „Kikeriki“

Mein Onkel und der Semmelknödel

Im 2. Weltkrieg

Das Leid meiner masurischen Mutter

Schulzeit in den fünfziger und sechziger Jahren

Das Küssen der Wundmale Christi

WEITERE DORFGESCHICHTEN

Das verlorene Selbst

Heimliche tödliche Dorfliebschaften

5. Gebot: „Du sollst nicht töten!“

Einsames Sterben

Eine niederbayerische Leichenfrau erzählt ihr Leben

BEGEGNUNGEN -

Im Krankenhaus in Straubing

„So lasst mir doch meinen Tod!“

„Manfred“

Angst

Wer bist Du?

VERSCHIEDENES

Eine alte Dampflok

Ach, wäre es doch so gewesen!

Kuh Yvonne

Mia ham amoi an Bärn ghabt!

Elegie für Bruno

Heini, der Oimara (Senner)

RÜBESCHNITZ UND MOKKATORTE -

Eine Kindheit in Niederbayern

NACH DEM KRIEG

In Oberzwiedlern, Kreis Krumau, Böhmerwald, Sudetenland

lebten wir im Jahre 1946 in einem kleinen Dorf. Die liebliche waldreiche böhmische Landschaft hob und senkte sich in sanften Wellen. Eine schmale Sandstraße, unterbrochen durch einen kurzen Hohlweg, führte von Oberzwiedlern bergab zum Dorf Unterzwiedlern. In Unterzwiedlern hatten unsere Verwandten väterlicherseits gelebt; sie waren bereits 1945 ausgesiedelt worden. Wir siedelten nicht aus, da die Mutter meines Vaters, von uns allen „Muada“ genannt, rigoros zu verstehen gab: „Man kon doch net s’Haus und d’Hoamat verlassn! Sie sagte dies immer so mit Nachdruck, dass augenblicklich ihr „Gouda“ (Doppelkinn) verstärkt hervortrat.

Mein Vater war von Beruf Schuhmachermeister. Er arbeitete in der ungefähr zwanzig Kilometer entfernten Stadt Krumau, in einem Schuhgeschäft mit Maßanfertigung sowie in der Schuhreparatur–Werkstätte. In unserem neu renovierten und vergrößerten Haus hatte er eine kleine Werkstatt, in der er für die Dorfleute nebenberuflich Schuhe reparierte oder auch neue nach Maß anfertigte. Unsere Familie bestand aus Vater Josef Bernhard, geb. im Jahr 1910 und Mutter Maria, geb. Lawitsch, geb. im Jahr 1909, meinem sechzehnjährigen Bruder Josef, meiner sechsjährigen Schwester Rosemarie und ich, Otmar, im Alter von vier Jahren, sowie unserer Großmutter. Wir hatten Hühner und ein paar Schafe, zu denen wir in unserem Böhmerwald–Dialekt „Lamml“ sagten. Auf unserem Grundstück gab es einen Gemüsegarten, und hinter dem Haus den Obstgarten, in dem Obstbäume in zwei Doppelreihen standen. Die Südseite unserer Hauswand war durch das Grün und im Laufe des Sommers durch die vielen goldgelben Marillen, eines in Spalierform gewachsenen Marillenbaumes, verschönert.

Ich erinnere mich an die Zeit, als unser Besitz schon von den Tschechen konfisziert war. Zur Obsternte war es uns allen verboten, von den Obstbäumen, die die Tschechen mit einem hängenden Strohbüschel sichtbar als ihren Besitz gekennzeichnet hatten, reifes Obst zum Verzehr zu pflücken. Eines Tages wurde meinen Eltern der Termin gesetzt, an dem sie unser Haus zu räumen hatten. Bepackt mit ein paar Holzkisten, in dem wir das Nötigste verstaut hatten, zogen wir mit einem ausgeliehenen Pferdefuhrwerk in eine Notunterkunft in einer kleinen Gasse in Krumau. Da meine Geschwister und ich nach Obst verlangten, fuhr unser Vater öfter nachts mit dem Fahrrad zu unserem Obstgarten und stahl seine eigenen Früchte.

Auch in dieser Notunterkunft konnten wir nicht lange bleiben, denn meine Eltern und mein Bruder waren zur Zwangsarbeit im Wald und bei Bauern verpflichtet. Das bedeutete, dass wir ungefähr sechsmal zu der Örtlichkeit ziehen mussten, wo ihnen Arbeit zugeteilt wurde. Einmal zur Kornernte lebten wir bei einem Bauern in einem Haus, dessen Dach mit Stroh gedeckt war. Der Bauer hatte zwei schwere Kaltblüter. Wenn der Erntewagen von den beiden Rössern heimgezogen wurde, durfte ich auf dem breiten Rücken eines dieser Pferde sitzen. Dieses Erlebnis war für mich ganz neu, und ich erlebte den Aufenthalt bei diesem Bauern als sehr schön. Auch war ich immer ganz glücklich, wenn wir zur Erntezeit alle zusammen auf dem Feld bei den Kornmännchen saßen und unsere spärliche Brotzeit verzehrten.

Im Jahr 1947 hatte mein Vater das Glück, in seinem Beruf zu arbeiten. Das war im Ort Kostelec, in dem es ein Schuhgeschäft mit Reparaturwerkstatt gab. Wir wurden in eine kleine Wohnung im Pfarrhaus eingewiesen. Zu gerne ging ich meinen Vater besuchen, da die Besitzer des Schuhgeschäftes ein kleines Schoßhündchen hatten. Varoš war ein ganz liebes Hündchen. Er hatte ein hellbraunes Kurzhaarfell, sehr dürre Beine, dunkle glasige Glotzaugen und nur einen kleinen Stummel als Schwanz. Varoš freute sich immer sehr, wenn ich kam. Da er nicht mit dem Schwanz wedeln konnte, wackelte er wild mit seinem Hinterteil hin und her. In diesem Dorf musste ich in den Kindergarten gehen, obwohl ich kein Wort tschechisch sprach und verstand. Als Neuankömmling gesellte man mich gleich zu der kleinen Tochter des tschechischen Bürgermeisters, mit der niemand sonst von den Kindern etwas zu tun haben wollte. Sie hatte immer lange und unappetitliche Rotzglocken unter der Nase hängen, vor denen ich mich sehr ekelte. Wenn wir in zwei Reihen Händchen haltend Spaziergänge machten, und sie ihre klebrige Hand in meine krallte, ekelte es mich nicht nur, sondern ich schämte mich auch sehr.

Im Ort Kostelec waren die Häuser aneinandergebaut. Am Kirchplatz gegenüber der Kirche lag die Häuserzeile mit Pfarrhaus. Am Ende dieser Häuserzeile befanden sich die Schule und der Kindergarten. In dem Pfarrhaus lebten der Pfarrer, seine Köchin und wir. Hinter dem Pfarrhaus gab es einen Gartenbereich für die Haustiere, der mit einer Mauer zu dem dahinter liegenden Obst– und Gemüsegarten abgegrenzt war. Die Pfarrköchin war eine nette schlanke große Frau, die sich rührend um ihren großen Truthahn und ihre Hühnerschar kümmerte. Wie so oft hielt ich mich einmal mit ihr im Garten auf. Wir sahen dem Truthahn zu, wie er zwischen den ,ruiselnden‘ Hühnern stolz umher marschierte und zufrieden vor sich hin gluckste. Es herrschte eine eigentümliche Stille im Ort. Plötzlich wurde diese Stille durch lautes Schießen zerrissen. Wir hatten zwar Militärfahrzeuge und Soldaten auf dem Kirchplatz gesehen, ahnten aber nichts von einem bevorstehenden Manöver. Ich warf mich auf den Boden und hielt mir mit den Händen die Ohren zu. Trotzdem hörte ich, wie die Pfarrköchin schrie: „Krieg ist! Krieg ist!“ Als ich Hilfe suchend zu ihr rüber schaute, damit sie mich beschützen sollte, sah ich, wie sie vor lauter Angst zu der Mauer lief, um über die angelehnte Leiter in den Obstgarten zu flüchten. In ihrer Panik verhängte sie sich an einer Sprosse, schwankte kurz wie in Zeitlupe hin und her und fiel schließlich mitsamt der Leiter zurück auf den Boden. Dabei brach sie sich ein Bein.

Nach der Kindergartenzeit kam ich in die tschechische Schule. Hier wurde meine Leidenszeit noch größer, denn ich verstand außer dem Wort „Nemecke brasse“, das „deutsches Schwein“ hieß – wie wir oft genannt wurden – kein tschechisch. Einmal forderte mich im Unterricht der Lehrer zu etwas auf, was ich nicht verstand. Das erboste mich so, dass ich in meiner Verzweiflung den Bleistift auf die Schulbank knallte und ihn weinend anschrie: „Ich verstehe Sie nicht!“

Die Flucht vom Böhmerwald in den Bayerischen Wald

Die Zeit für uns Deutsche wurde immer unsicherer. Meine Eltern entschieden sich schließlich zur Flucht. Mein Vater hatte zu einem tschechischen Dorfbewohner von Kostelec, der einen alten Lastwagen besaß, Vertrauen gefasst. Heimlich bereitete er mit dessen Hilfe unseren Fluchtweg vor. Da wir nicht auf den Hauptstraßen fahren konnten, sahen wir uns gezwungen, Schleichwege durch den verschneiten böhmischen Wald zu benutzen.

In der Nacht des 13. Dezember 1949, am Geburtstag meiner Schwester Rosemarie, war es soweit. Heimlich luden meine Eltern und der Fahrer die vorher gepackten Kisten auf den Laster. Dann wurden auch wir verstaut. Die Frauen vorne im geschützten Fahrerhaus und wir Männer auf der offenen Ladefläche unter einer losen aufgelegten Plane. Es war sehr kalt und auch nicht bequem, da die Kisten auf den holprigen Waldwegen hin und her rutschten. Manchmal streifte der Wagen verschneite Äste, die sich nach unten neigten und den Schnee auf uns abluden.

Am frühen Morgen näherten wir uns dem Ort Haidmühle an der bayerischen–tschechischen Grenze. Unser Waldweg endete an einem zugefrorenen Bach, der die Grenze bildete. Mein Vater, mein neunzehnjähriger Bruder Beppi und der Fahrer luden schnell die Kisten ab und brachten sie auf bayerisches Gebiet. Dann fuhr der gute tschechische Helfer wieder zurück. Unser Treiben in der Morgendämmerung wurde von den Bauersleuten auf dem gegenüberliegenden Hang beobachtet. Sie kamen mit einem Schlitten herbei und halfen uns mit unserem Gepäck hinauf zu ihrem Hof.

In dem Bauernhaus wurden wir durchgefrorene Kinder sofort auf die Holzliege über dem Kachelofen gelegt, wo wir uns aufwärmen konnten. Von dort beobachteten wir, wie die Bauersfrau heiße Suppe mit Brot für uns auf den Tisch stellte und eine Gans, auch für uns, in den großen Küchenherd schob. Wir waren alle erschöpft, aber doch sehr glücklich.

In den Flüchtlingslagern in Niederbayern

Bei den hilfsbereiten Bauersleuten nahe Haidmühle konnten wir nur ein paar Tage bleiben. Unsere nächste Anlaufstelle war das Flüchtlingslager in Furth im Wald, in dem wir für ungefähr ein halbes Jahr Aufnahme fanden. Meine Schwester und ich gingen in der Stadt zur Schule. Wir Kinder erhielten eine Schulspeisung, die mir manchmal nicht schmeckte. Wenn es Erbsensuppe gab, ließ ich sie unberührt in meinem verschließbaren Alukännchen, denn ich hatte anderes mit ihr vor. Beim Nachhauseweg konnte ich es nicht erwarten, endlich die Brücke über die Bahngleise zu erreichen. Dort blieb ich dann stehen, um auf eine Dampflok zu warten. Sah ich endlich in der Ferne eine weiße Wolke, die immer näher kam, war ich ganz aufgeregt. Mein Ziel war, den Inhalt meines Kännchens in den Schornstein der Lok auszuleeren. Diesen immer punktgenau zu treffen, gelang mir nicht immer. Wenn es mir aber gelang, stieß ich jedes Mal einen triumphierenden Schrei aus.

Von Furth im Wald kamen wir in das Flüchtlingslager Waldstatt, bei Pocking, im Rottal, nahe der heutigen Bundesstraße 12. Das Flüchtlingslager war ursprünglich ein Militärstützpunkt der Luftwaffe mit Flugzeughallen, Rollfeld, Schutzbunker und Wohnbaracken, in denen die Soldaten untergebracht waren. Die Baracken waren ungefähr fünfundvierzig Meter lang und zehn Meter breit. In Längsrichtung gab es mittig einen zwei Meter breiten Gang, der an jedem Ende eine Eingangs– bzw. Ausgangstüre hatte. Von diesem langen Gang führten viele Türen in die Zimmer.

In den Anfängen des Flüchtlingslagers wurde jede einzelne Baracke von mehreren Familien bewohnt. Das änderte sich mit der Zeit, als Geschäfte eröffnet wurden. Die Familien, die ein Geschäft führen wollten, bezogen eine andere Baracke, die anders aufgeteilt war. Diese hatte zwar die gleichen Außenmaße, war aber in der Länge durch eine Trennwand halbiert. Jede Hälfte bestand nun aus zwei einzelnen Wohn– und Geschäftsbereichen. Es eröffneten folgende Geschäfte:

eine Metzgerei, eine Bäckerei, Schreibwaren mit Lebensmittel und Obst, eine kleine Möbelschreinerei, ein Malergeschäft, ein Cafe, eine Zahnarztpraxis, eine kleine Konfektions–Schneiderei, eine Gärtnerei, Kolonialwaren mit Milchladen und Poststelle, eine Konditorei mit Gastwirtschaft und Tanzlokal und Biergarten, ein Radio- und Elektrogeschäft, ein Fahrradgeschäft, eine Uhrmacherei, eine Schlosserei, unser Schuhgeschäft mit Reparatur und Maßanfertigung namens Irro, und eine Baracke für Freizeitgestaltung und Jugendtreff.

Im Lager gab es auch eine katholische Kirche. Sie war zusammen mit der Sakristei und der Mesnerwohnung in einer Baracke eingerichtet worden. Die Schule für alle schulpflichtigen Kinder im Lager war ebenfalls in einer Baracke untergebracht. Anfangs wurden alle schulpflichtigen Kinder unterschiedlichen Alters wegen Lehrermangel in einem einzigen großen Klassenzimmer unterrichtet.

Ab dem Zeitpunkt, als meine Eltern das Schuhgeschäft eröffneten, wohnten wir in der einen Hälfte der Baracke mit der Familie Robl vis–à–vis des Ganges als Wohnungsnachbarn. Unsere Wohnung bestand aus dem Verkaufsraum mit dem großen Schaufenster, einer kleinen Werkstatt, einer großen Wohnküche, einem Raum für die Großmutter und einem Schlafzimmer für Eltern und Kinder. Wir hatten einen Garten über die ganze Länge unserer bewohnten Barackenhälfte. In der abgetrennten, für uns nicht zugänglichen Hälfte unserer Baracke, lebte auf der einen Seite eine Schreinerfamilie und auf der anderen die mit ihnen verwandte Malerfamilie.

Kindheit im Lager

Meine Kindheit im Lager Waldstatt - welches ungefähr einen Quadratkilometer groß war und sich in den Wald hinein ausdehnte - war sehr schön. Mit meinen Freunden Norbert, Manfred und den anderen Buben aus meiner Ministrantengruppe verbrachte ich sehr viel Zeit auf dem Gelände des Lagers. Die größten Abenteuer erlebten wir auf dem am Wohngebiet angrenzenden ehemaligen Rollfeld, in den ehemaligen Flugzeughallen und in den Luftschutzbunkern, die durch unterirdische betonierte Gänge miteinander verbunden waren. Die Luftschutzbunker am Rollfeld waren um die Höhe der unterirdischen Gänge in der Erde versenkt. Die Luftschutzbunker zwischen den Wohnbaracken waren ebenerdig durch große Eisentore zugänglich. Sie wirkten auf uns Kinder wie Ameisenhügel, die zur Tarnung mit Erde bedeckt waren. Durch Wildwuchs von Gras, Sträuchern und Bäumen hatten sich diese Bunker im Laufe der Jahre der umgebenden Landschaft angepasst. Aus diesen Hügeln schauten vier Lüftungs- und Heizungskamine heraus.

Im Winter dienten die Luftschutzbunker, die zwischen den Baracken standen, uns Kindern als Schlittenberge. Hatten wir strengen Frost, schleppten wir Buben Wasser herbei und gossen dieses auf eine Abfahrt, die wir mit unseren Schlitten schon glatt abgeschliffen hatten. Mit großem Mut sausten wir Buben mit unseren Schlittschuhen diese Eisbahn hinunter. Bei Dunkelheit machte es uns noch mehr Spaß, da bei dieser Raserei unsere Kufen oft so an Steinen schürften, dass Funken sprühten.

Im Sommer streunten wir Kinder zu gerne in den Gängen der Luftschutzbunker am Rollfeld herum. Wir fanden dort so allerlei: Schießbrillen, Messer, Pistolen, Kohleaktivfilter von den ABC–Masken, leere Geschosshülsen und scharfe Munition, Handgranaten und verschiedene undefinierbare Eisenteile von Minen. Neugierig und schon technisch interessiert, klopften wir auf unseren gefundenen Stücken herum und versuchten sie zu zerlegen. Einmal wollte ein Mitschüler meiner Schwester, namens Thorsten, eine scharfe Munition öffnen. Dabei explodierte diese und riss ihm drei Finger von der linken Hand ab. Damit war diese Art von Abenteuer für uns Kinder zu Ende. Es wurde uns strikt verboten, nach solchen Sachen zu suchen.

Da wir nicht mehr zu den Luftschutzbunkern gehen durften, wendete sich unser Interesse den Flugzeughallen zu. In einer der drei Hallen fertigte eine Firma Betonsteine für Kellerbau. Die Hallen hatten segmentförmig gebogene Dächer aus Stahlfachwerkkonstruktion. In diesen nisteten sehr viele Dohlen, die sich darin sehr wohl fühlten und dies auch mit viel Geschrei kundtaten. Einige größere mutige Buben kletterten auf den Feuerleitern in das Fachwerk des Daches und holten aus den Nestern junge Dohlen, die noch nicht flügge waren. Diese nahmen sie mit nach Hause und zähmten sie. Ich kam immer wieder ins Staunen, wenn ich sah, wie brav diese gezähmten Dohlen auf den Schultern der Buben saßen.

Ministrant von 1953 bis 1958

Es war ein katholischer Brauch, dass in den Tagen zwischen Weihnachten und Heilig Drei König der Herr Hochwürden Breuer mit drei seiner Ministranten in Lagerwohnungen ging, um diese betend mit Weihrauch auszuräuchern und mit Weihwasser zu segnen. Auf Wunsch meiner Eltern kam er auch zu uns. Als wir alle mit gefalteten Händen seine und der Ministranten heilige Handlungen verfolgten, war ich tief beeindruckt. Aufmerksam beobachtete ich, wie ernst und feierlich die festlich gekleideten Buben das silberne Weihrauchfass und das silberne Weihrauchschiffchen öffneten und dem Herrn Pfarrer hinhielten, damit dieser mit einem kleinen Löffel das Weihrauchharz aus dem Schiffchen entnehmen und in die Holzkohlenglut des Weihrauchfässchens einlegen konnte. Der Ministrant, der das Weihrauchfässchen hielt, senkte den Deckel über eine Kette wieder herab und überreichte es dem Herrn Hochwürden, damit dieser mit nach vorne schwenkenden Bewegungen das Harz zum Brennen brachte. Sogleich stieg wunderbarer Duft heraus, welcher sich in unserer ganzen Wohnung verbreitete. Nachdem der feierliche Akt beendet war, gab mein Vater ein paar Geldstücke in die Ministrantenkasse. Das alles gefiel mir sehr. Sofort entschloss ich mich, auch Ministrant zu werden.

Im kommenden Sommer, als ich noch Jungministrant war, machten wir mit unserem Herrn Hochwürden Breuer eine Fahrt zum Ministrantentreffen im Dom zu Passau. Nach einem feierlichen Hochamt gab es für uns ein Mittagessen in einem Biergarten mit Kastanienbäumen im Zentrum der Stadt. Mir schmeckten die Wienerwürstchen mit Semmel so hervorragend, dass ich auf die guten Sitten vergaß und genüsslich mein Messer abschleckte. Plötzlich richtete Herr Hochwürden das Wort an mich und sagte vorwurfsvoll vor versammelter Mannschaft: „Messer schleckt man nicht ab!“ Ich wurde ganz rot im Gesicht und fühlte mich vor allen anderen sehr blamiert. Da ich ja mit dem Essen schon fertig war, hielt ich meinen Blick schweigsam auf den Pfarrer gerichtet, der mit Genugtuung seine Suppe weiter löffelte. In diesem Moment erleichterte sich eine Taube, die über ihm im Kastanienbaum saß. Ihr Schiss traf mitten in den Suppenteller des ehrwürdigen Herrn hinein. Darüber, dass die Suppe nur so aus dem Teller spritzte und das Priestergewand des Herr Hochwürden befleckte, mussten wir Buben sehr lachen, vor allem ich. Ich dachte an das, womit uns Herr Hochwürden oft einschüchterte: „Kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort!“

Wir Buben hatten ein aufregendes und interessantes Ministrantenleben. Mit unserem Mesner Herrn Leger erlebten wir so manches Abenteuer. Im Spätherbst marschierten wir in den Wald, kletterten auf die Bäume und schnitten Mistelzweige ab, die dann statt Blumen als Altarschmuck dienten. Wir sammelten auch Pilze und lernten dabei die wichtigsten kennen, wie Steinpilze, Maronenröhrling, Reherl, Ziegenlippe, Rotfußröhrling, Blautäubling, echter Täubling, Blutreizker und Hallimasch. Herr Leger hatte ein Herz für uns Buben. Wenn er uns in der Sakristei beim Naschen von Hostien und Messwein erwischte, sagte er nur augenzwinkernd: „Ja, ja, die Ministranten sind die Lausbuben Gottes!“

Herr Hochwürden war ein gestrenger Herr, der immer eine gewisse Distanz zu uns Ministranten hielt. Sein Nachfolger, Herr Pfarrer Wildinger, war da ganz anders. Einmal unternahm dieser mit uns einen Ausflug nach Österreich. Wir fuhren mit einem VW–Bus, und das war für uns etwas ganz Besonderes. Zu dieser Zeit gab es noch nicht viele Autos, und die meisten von uns waren noch nie in einem Auto gesessen. In Gmunden angekommen, ruderte Herr Pfarrer Wildinger mit uns Buben auf dem Traunsee. Dies war ein sehr aufregendes, neues und lustiges Erlebnis für uns. In Badehosen gekleidet spielten wir danach alle Fußball auf den Wiesen am See. Zur Übernachtung wanderten wir zu einer Almhütte auf den Grünberg. In einer kleinen Hütte daneben, abgetrennt vom Schlafplatz des Esels, schliefen wir auf dem Heu.

1954 trat ich nach Beendigung der 5. Klasse Volksschule in Waldstatt in die staatlich anerkannte Realschule in Pocking über. Nun musste ich bei jedem Wetter die einfache Wegstrecke von sechs Kilometern mit dem Rad bewältigen. Zu meinem Ministrantenleben erhielt ich eine zusätzliche ehrenvolle Aufgabe. Von Zeit zu Zeit beauftragte mich unser Herr Pfarrer, die Hostien, die er immer von der Pfarrei in Pocking erhielt, diese im Pfarrhaus dort abzuholen und ihm zu überbringen.

Pflichten als Realschüler

Irgendwie hatte es sich herumgesprochen, dass ich mit meinen elf Jahren ein gewissenhafter und zuverlässiger Bub war. Da es im Lager kein Geldinstitut gab, baten mich die Besitzer des Schreibwaren- und Lebensmittelgeschäftes und der Konditorei, einmal in der Woche ihre Einnahmen mitzunehmen und in der Bank in Pocking einzuzahlen. An diesem Tag fuhr ich früher als sonst in die Schule, um das Geld noch vor Schulbeginn in der Bank abzugeben. Für meine Gefälligkeiten erhielt ich reichlich Obst und von der Konditorei viele feine Kuchenstücke.

In meiner Klasse war ich der einzige Schüler, der so einen weiten Weg zur Schule hatte. Bei schlechtem Wetter kam ich oft völlig durchnässt an. Dann durfte ich auch mit anderen durchnässten Klassenkameraden vorne rund um den Kanonenofen sitzen, mich aufwärmen und meine Kleidung trocknen.

Ich ging gerne zur Schule, da ich als Kartenwart - ich durfte die Karten für den Erdkundeunterricht holen - Verantwortung trug, wodurch ich mich sehr geehrt fühlte. Ein bitterer Tropfen war jedoch Lateinlehrer N., der einen bei geringsten Verfehlungen bestrafte. Meist schlich er sich von hinten an und schlug einen mit den scharfen Knöcheln seiner Faust unerwartet ins Gesicht.

Rolf, ein treuer Freund

Mein Freund Rolf war ein Schäferhund. Eines Tages kam mein Bruder Beppi mit dem Fahrrad heim und brachte Rolf mit, der ihm unterwegs zugelaufen war. Rolf war nun unser siebtes Familienmitglied. Wir liebten ihn alle sehr, denn er war noch sehr jung und verspielt. Sein Schlafplatz war eine alte Matratze in der Schuhmacherwerkstatt.

Mit der Zeit sah mein Bruder Beppi für sich im Lager Waldstatt keine Zukunft mehr. Er entschloss sich, so wie viele andere junge Männer auch, ins Ruhrgebiet zu gehen. Da er sich nicht gleich für eine Arbeit unter Tage entschließen konnte, nahm er zuerst eine Stelle als Straßenbahnschaffner an. Der Abschied fiel uns allen sehr schwer. Um meinen Schmerz zu lindern, freundete ich mich immer mehr mit Rolf an. Es entstand eine innige Bindung zwischen uns beiden.

Für Rolf gab es zu dieser Zeit kein fertig zubereitetes Futter zu kaufen. Einmal in der Woche ging ich mit einem Dreizehn-Liter Blecheimer zur Metzgerei D. und holte dort für eine Mark rohe Schlachtabfälle. Meine Familie bekam diese Innereien so billig, weil ich sie selbst im Schlachthaus reinigen musste. Der Blättermagen einer Kuh machte mir immer sehr viel Arbeit. Ihn von seinem vorgekauten grünen Nahrungsinhalt zu befreien, war nur möglich, indem ich ihn Blatt für Blatt mit Wasser ausspritzte. Wieder mit meinem gefüllten Blecheimer zurück in der Baracke, ging ich zum Hühnerstall, in dem ein alter Ofen stand. Auf diesem kochte ich die Innereien in einem nur für Rolf reservierten roten Topf.

Mit Rolf hatte ich immer großen Spaß. Da er auch im Winter viel Bewegung brauchte, hatten mein Vater und ich eine wunderbare Idee. Gesagt, getan! Mein Vater fertigte ihm aus breiten Lederriemen ein schönes Brustgeschirr. Bei der ersten Anprobe, war Rolf ganz und gar nicht damit einverstanden. Das änderte sich aber. Im Winter – und in diesen Wintern gab es noch viel Schnee, auch auf den Straßen – schnallte ich dieses Geschirr um Rücken, Brust und Bauch meines Hundes. Ich musste Rolf dabei unentwegt ermahnen, doch still zu stehen, weil er vor Freude auf das „Rennen“ ganz außer sich war. Wir hatten diesen Spaß ja schon öfters gehabt, und er erinnerte sich. Er trampelte auf der Stelle herum, schleckte mein Gesicht und meine Hände, wedelte wild mit seinem Schwanz, manchmal kam ihm sogar etwas Pipi aus und dabei winselte er herzerweichend. Endlich konnte ich den Griff des Geschirrs in die linke Hand nehmen und die Sitzfläche des Schlittens mit der rechten Hand fassen. Das war nicht einfach, da Rolf es nicht erwarten konnte, loszupreschen. Damit wir gut in Fahrt kamen, musste wir beide gleichzeitig starten. Mich gleich auf den Schlitten zu setzen, wäre für Rolf nur eine unnötige Kraftanstrengung gewesen mit dem Ergebnis, dass er vielleicht nicht lang genug hätte laufen können. Hatten wir beide, mithilfe meines Anfeuerns, die gewünschte Geschwindigkeit erreicht, schwang ich mich gezielt auf den Schlitten. Nicht nur mir, sondern auch Rolf gefiel das so sehr, dass er so schnell rannte, wie er nur konnte. In den Kurven kam Rolf nicht in Schwierigkeiten, aber ich. Der Schlitten schleuderte oft, und ich flog so manches Mal samt meinem Fahrzeug in den Schnee. Das kümmerte Rolf nicht im Geringsten. Da er kein Gewicht mehr zu ziehen hatte, kam er noch mehr in Fahrt. Er war so in seinem Element, rannte einfach weiter und konnte jetzt sogar schneller werden. Mit mir oder ohne mich war er allerdings nach einer Viertelstunde erschöpft und blieb dann einfach stehen. Er schnaufte ganz arg und die Zunge hing ihm heraus, aber er war glücklich. Ich aber auch!

IM GÄUBODEN

„Der alte Rempl“