Ostpreußen - Irmgard Irro - E-Book

Ostpreußen E-Book

Irmgard Irro

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Beschreibung

Für mich als kleines Kind reichte nur die Vorstellung, der Ort Groß Dankheim, von dem meine Mutter immer erzählte, müsse außerhalb der Welt liegen, mindestens so weit weg, wie der Mond und die Sterne, die ich auch nicht fassen konnte. Mitte Januar 2009 reiste ich in dieses masurische Dorf, jetzt polnisch Przezdziek Wielki, um meinen Traum zu verwirklichen. Ich wollte die Jahreszeiten in ihrer Stille und ihrem Wachstum erleben, wollte dem einstigen bäuerlichen Leben meiner Mutter und meiner Großeltern nachspüren, wollte sehen, wovon meine Mutter mir immer erzählte.

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INHALTSVERZEICHNIS

Der rote Koffer

Dreißig Tage in Masuren

Tagebuch Masuren

Ermländisches Tagebuch

Am Fluss Omulef in Masuren

Spiele der Kinder

Einführung

Die Märchen meiner Kindheit waren die Erzählungen meiner Mutter von ihrer Kindheit und Jugend in dem masurischen Dorf Groß Dankheim, bei Willenberg, im Kreis Ortelsburg - (Przeżdzięk Wielki, Wielbark, Szczytno) - in Polen.

Ihre Erinnerungen an diese Zeit in Masuren hatten prägenden Einfluss auf mich, so dass der Wunsch in mir wuchs, ihre ostpreußische Heimat kennenzulernen.

Im Januar 2009 machte ich mich auf den Weg.

DER ROTE KOFFER

September 2008

Meine Mutter wollte ihre Heimat nie mehr wieder sehen. Sie würde es nicht überleben, sagte sie. So starb sie dann auch, ohne jemals wieder auf dem sandigen Platz vor dem Anwesen ihrer Eltern gestanden zu sein. Doch trug sie ihre Heimat im Herzen, trug jeden Tag daran, erzählte uns Kindern jeden Tag davon. Wir wurden angesteckt von ihrer großen Liebe zu dem sehr einsam in einem großen Wald gelegenen Dorf namens Groß Dankheim, bei Willenberg, in Masuren, im früheren Ostpreußen, dem heutigen Polen. Der Krieg hatte ihr und zweieinhalb Millionen Ostpreußen die Heimat geraubt. Dieser grausame Krieg! Die Wunden sind noch immer nicht ganz verheilt. Manchmal bringt der scharfe Ostwind einen Hauch des vergangenen Leides in die Herzen der noch lebenden Vertriebenen und deren Nachkommen, welche auf der ganzen Welt verstreut sind.

Vor vier Jahren war ich schon einmal mit meinem älteren Bruder in Groß Dankheim, jetzt Przeżdzięk Wielki. Gerhard wurde dort geboren. Das ehemalige Grundstück zu betreten, den Stall für die Tiere zu sehen, den Brunnen, den Erdkeller, sich das einst kleine masurische Haus auf einer bestimmten Grasfläche vorzustellen, aus rotem Backstein gebaut, mit Strohdach, es war nicht leicht. Ich weinte, und ich weine auch jetzt, während ich dies schreibe. Alles war mir so unendlich vertraut, obwohl ich dort nie gelebt habe; wohl, weil ich unsere Mutter so sehr liebte. Das Bild des Dorfes im Winter, in dem ich meine Mutter als Kind mit anderen Buben und Mädchen, alle in Holzpantinen, immer wieder einen Schneebuckel gegenüber der Schule hinunterrutschen sehe, will nicht von meinem inneren Auge weichen. Ich sehe sie im Sommer auf dem fein mit dem Rechen gezogenen Sandstreifen vor dem Gartenzaun mit ihren Freundinnen Kästchen hüpfen, sehe sie Gänse hüten und dabei heimlich Liebesromane lesen oder Mundharmonika spielen, sehe sie vor dem plötzlich mit Urgewalt hereinbrechenden Gewitter in panischer Angst Kühe von der Weide heimholen. Mutters Welt und ihre Sehnsucht nach diesem verlorenen Land übertrugen sich auf mich und wurden schließlich auch zu meiner Sehnsucht.

Da kommt es mir eines Tages in den Sinn, wie schön es doch wäre, könnte ich ein Jahr in dem Dorf meiner Mutter verbringen. Ich würde die Jahreszeiten erleben, würde die Natur beobachten, würde wie in einem Traum eintauchen in das Leben meiner Ahnen, um endlich meine Sehnsucht zu stillen. Es lässt mir keine Ruhe, und ich beginne zu überlegen, wie sich mein Wunschdenken in die Tat umsetzen ließe.

Ich erinnere mich, dass vor ungefähr dreizehn Jahren in den deutschen Medien eine Sendung über die ,Deutsche Minderheit‘ in Ostpreußen gesendet wurde. Ein Herr Walter Angrik aus Olsztyn, früher Allenstein/Ermland, rief in den 90er Jahren, nachdem die Solidarnoś-Bewegung das sozialistische System aufzuweichen begann, den ,Allensteiner Verband der Deutschen Minderheit‘ ins Leben. In seinem Haus richtete er mit seiner Frau Rosemarie ein Büro ein, in dem sich immer mehr Verbliebene einfanden, um anstehende Probleme mit der polnischen Verwaltung vorzutragen. Für die erste öffentliche Versammlung in Olsztyn wurde ein Saal gemietet und es kamen zur großen Überraschung schon mindestens zweihundert Ostpreußen, welche aus den unterschiedlichsten Gründen die Heimat nicht verlassen hatten bzw. sie nicht verlassen konnten.1

Während ich darüber nachdenke, beginnt eine innere Stimme mich zu überreden, dieses Wunschdenken in die Tat umzusetzen. Ich rufe in der Telefonauskunft für das Ausland an und erhalte tatsächlich auf den Namen Rosemarie Angrik eine Telefonnummer. Ich wähle sie, und da meldet sich auch schon eine weibliche Stimme mit „Słucham“. Etwas irritiert sage ich „Dzień dobry, aus Niemcy“. Ich lerne seit einem Jahr polnisch, was aber bei dieser schwierigen Sprache gar nichts ist. „Sprechen Sie deutsch!“, sagt die Stimme weiter, mit dem herrlich gerollten „R“ und der harten Aussprache, und „sagen Sie mir, was Sie wollen!“ So direkt und unverblümt angesprochen, bin ich für einen Moment leicht verunsichert. Ich erkläre in kurzen Sätzen. Da bekommt Frau Rosemarie aber schon Interesse an meinem Anliegen und spricht plötzlich sehr eindringlich zu mir: „Also entschließen Sie sich schnell, dass Sie kommen, noch haben wir schönes Herbstwetter. Sie können auch die erste Nacht, bis wir was gefunden haben, bei mir bleiben.“ Ich lege den Hörer auf die Gabel, und ab diesem Zeitpunkt lassen mir meine Gedanken keine Ruhe. Soll ich oder soll ich nicht? Zwei Tage quäle ich mich damit: Soll ich oder soll ich nicht? Endlich mache ich der Qual ein Ende und entschließe mich: Ich soll!

Ich bestelle die Busfahrkarte, rufe Frau Rosemarie an, welche mich vor Begeisterung gleich für sämtliche Nächte in ihr Haus einlädt, außerdem sich mir als geübte Reiseleiterin anbietet. „Wie erkenne ich Sie denn?“ fragt sie noch schnell, bevor wir unser Telefonat beenden. „Ich habe einen roten Koffer“, sage ich; und schon bin ich unterwegs; zuerst in Gedanken, dann aber wirklich. Wer hätte das gedacht! Ich selbst nicht!

In München steige ich am 11. September 2008 abends in den Bus nach Polen. Ich fahre die ganze Nacht und den ganzen Tag. Hat man sich erst einmal darauf eingestellt und begriffen, dass die großen Fahrzeuge auf den sehr schmalen Straßen, oft Alleen, sich im letzten Moment noch geschickt ausweichen werden, nachdem sie aufeinander zurasen, als wären ihre Fahrzeuglenker von Furien gejagt, dann kann man eigentlich - zweiundzwanzig Stunden lang, inclusive kurzer Pausen - die Fahrt genießen. Die polnischen Landsleute sind sehr angenehme Reisegefährten, teilen sie doch großherzig ihre Brotzeiten, wenn sie selbst zu essen beginnen. Die Tagesfahrt genieße ich mit offenem Herzen und großen Augen. Wie unberührt und ursprünglich diese Landschaft doch ist! Und gar nicht fremd. Die Häuser, die Dörfer, sie versetzen einen in die deutsche Zeit vor dem Krieg, als in diesem herrlichen Bauernland die Welt noch in Ordnung war. Die Fahrt über die beeindruckende, stählerne Brücke in Bogenkonstruktion über die Weichsel vor der Stadt Toruń, früher Thorn, ist schon für sich ein Erlebnis. Wir kommen nach Nowe Miasto Lubawskie (früher Neumark). Ich sehe einen Wegweiser nach Nidzica (früher Neidenburg). Ich drehe mich etwas in die wegweisende Richtung, lasse meinen sehnsüchtigen Blick über die entfernt liegende dunkle Waldgrenze schweifen. Ja, Neidenburg, diese Stadt hat meine Mutter oft erwähnt. Von Ostrόda (früher Osterode) bis Olsztyn ist die Landschaft ganz besonders schön. Ockerfarbene Felder liegen als Scholle da, wie Meereswogen. Kleine Seen vermitteln eine Ahnung von den ,tausend kristallenen Seen‘ in Masuren.

Schließlich kommen wir aus dem Wald heraus und der Blick senkt sich auf Allenstein, den Türmen des Rathauses, der St-Jacobi-Kathedrale und der evangelischen Kirche, aber auch den hohen sozialistischen Plattenbauten an der Peripherie. In der Stadt kommen wir langsam voran, die Straßen können die Vielzahl der Autos nicht mehr aufnehmen. Gegen halb fünf Uhr fährt der Bus in das Bahnhofsgelände ein. Ich steige aus, stehe mit meinem roten Koffer auf der Busplattform Nr. 4 alleine da. Gut, wir hatten ja vereinbart, ich würde auf Abholung warten. Ich sehe in die Runde und stelle fest, dass alle Blicke der wartenden Menschen auf dem gegenüberliegenden Bahnhofsgelände auf mich gerichtet sind. Wir betrachten uns gegenseitig, was mir ein kleines Lächeln entlockt. Da höre ich auch schon ein „Hallo, da ist ja die Frau mit dem roten Koffer!“. Ja, es ist Frau Rosemarie. Wir begrüßen uns herzlich, sind uns sofort sympathisch, spüren sogleich eine gegenseitige Zuneigung. Etwas später in ihrem Haus fühle ich mich sehr wohl, genieße die Blumen aus dem Garten, die Zeugnis geben für diesen herrlichen Flecken Erde.

Frau Rosemarie hat schon Pläne gemacht. Ein älterer Herr, auch gebürtiger Allensteiner, stellt sich und sein Fahrzeug großzügig zur Verfügung. So fahren wir am nächsten Tag ungefähr achtzig Kilometer Richtung Süden in das Dorf meiner Mutter, das jetzt Przężdzięk Wielki heißt. Mit klopfendem Herzen betrete ich das Haus der polnischen Familie, die jetzt im Besitz des Grundstückes meiner Großeltern sind. Es ist nur die Tochter anwesend. Frau Rosemarie übersetzt mein Anliegen in die polnische Sprache. Nach einem kurzen Gespräch erfahre ich, ich könne gerne kommen. Als wir uns verabschieden, ist mir sehr zwiespältig zumute.

Noch ist in mir das Gefühl, was kostet die Welt! Ich kann alles, wenn ich nur will. Zweieinhalb Jahre hatte ich in meinem Wohnort in Oberbayern in einer pharmazeutischen Firma gearbeitet. Ich hatte mir die Arbeit in Schicht in der Maschinenhalle selbst verordnet, um über den Tod meiner über alles geliebten Mutter (+2001) hinwegzukommen. Je schwerer ich als Maschinenhelfer (,Knecht‘ des Maschinenführers) schuftete, umso leichter wurde es mir ums Herz. Nach zweieinhalb Jahren war aus meinem großen Schmerz ein kleiner geworden, mit dem ich leben konnte.

Ich bleibe noch ein paar Tage in Allenstein. Frau Rosemarie zeigt mir unter vielen anderen Sehenswürdigkeiten die Städte Frombork (früher Frauenburg) am Frischen Haff, Kadyny (früher Cadinen), Elbląg (früher Elbing), Morąg (früher Mohrungen), das Denkmal Grunwald (früher Grünwald)2, dann den Platz auf dem einmal das Tannenberg-Denkmal stand und natürlich in Allenstein das Schloss und das Hohe Tor. Sie ist eine sehr gute Reiseführerin, kennt sich in der Geschichte des Landes sehr gut aus. Kein Wunder, dass ihr Sohn Mariusz, der ihr Herzblut für die Heimat geerbt hat, von Beruf Reiseführer ist und die deutschen Reisebusse tagelang mit äußerster Fürsorge betreut.

Die Tage vergehen, jetzt kann ich nicht bleiben, muss wieder zurück. Ich fahre mit dem polnischen Bus einen ganzen Tag und eine ganze Nacht Richtung Deutschland. Es reisen überwiegend polnische Frauen, welche hier in der Altenpflege tätig sind. Polnische Männer sind in der Minderzahl. Alle sitzen sie versunken und schweigend in ihren Sitzen. Der Abschied von ihren Familien ist sicher nicht leicht für sie. Die Stunden vergehen schnell, denn in Gedanken durchlebe ich nochmals all das Schöne, was ich gesehen hatte, die Heimat meiner Mutter. Den roten Koffer habe ich nicht weggeräumt, denn ich hoffe, bald wieder dorthin zu fahren.

1 Z.B. wollten viele Menschen ihre alten Eltern nicht alleine zurücklassen.

2 Schlacht bei Tannenberg 1410. Der Anfang vom Ende des Deutschordensstaates.

DREIßIG TAGE IN MASUREN

Januar/Februar 2009

Ich kannte das Dorf meiner Mutter von ihren Erzählungen. Ich kannte das Dorf von zwei Kurzbesuchen. Als ich im Januar 2009 in das Dorf einfuhr, um dort dreißig Tage und dreißig Nächte zu verbringen, war ich erfüllt von dem Wunsch, dem Leben meiner Mutter und meiner Großeltern nachzuspüren und dieses nachzuempfinden. Bei meiner Abreise aus Deutschland klangen noch die Sätze der Menschen in meinen Ohren nach, die einmal diese Gegend ihre Heimat nannten und noch immer nennen: „Sie haben aber Mut!“ Einer von ihnen schmunzelte, ja amüsierte sich fast über mein Vorhaben. Damals dachte ich noch: „Was sie nur alle haben?“ Ich war einfach nur neugierig auf das, was auf mich zukommen und was ich im Laufe der Tage und Wochen empfinden würde. Ich hatte keine Vorstellung, wie es sein würde, in einer polnischen Familie als zahlender Gast zu leben. Meiner gewiss, in mir selbst zu ruhen und das Erlebte literarisch zu verarbeiten, ließen mich die Sache einfach angehen. Vier Wochen, wie in Klausur, warteten auf mich in dem früheren Nachbarhaus auf dem Grund und Boden meiner Großeltern. Und sehr schnell hatte ich auch begriffen, was diese Menschen meinten, von denen ich gedacht hatte: „Was sie nur alle haben?“

Es war ein klarer und sonniger Wintertag, als ich mich auf den Weg nach Przeżdzięnk Wielki/Groß Dankheim machte. Familie Angrik, bei der ich zuvor zwei Tage in Olsztyn/Allenstein verbracht hatte, erklärte sich bereit, mich mit dem Auto dorthin zu fahren. Hinter Szczytno/Ortelsburg änderten sich die Straßenverhältnisse. Die Schneeglätte zwang Mariusz mit dem Auto mehr zu schwimmen als zu fahren. Doch der Blick auf die hohen, weiß überzuckerten Kiefernbäume und die hellen schlanken Birken ließ mich die sehr konzentrierte und bedachte Fahrweise als angenehm empfinden. Diese herrlichen Wälder! Und diese Stille! Linkerhand unerwartet ein von Bäumen ausgesparter Parkplatz. Geht es hier zum Denkmal des russischen Generals Samsonow?3 Wie oft hatte meine Mutter von ihm gesprochen. Rechterhand ein paar einsam dastehende, kleine Häuser. Aus den Kaminen steigt Rauch auf. Wir hatten nicht mehr weit.

Von meinen Gastgebern wurden wir schon erwartet und auch sogleich reichlich bewirtet. Dann verabschiedeten sich meine lieben Helfer. Mein Abenteuer konnte beginnen.

Was ich sofort als sehr schwierig empfand, eine Empfindung, die etwa drei bis vier Tage anhielt, war die Verständigung in polnischer Sprache. Die Kommunikation mit meiner Gastgeberin war dadurch erheblich erschwert. Nachdem ich mich in meinem mir zugedachten Zimmer einquartiert hatte, stürzte ich mich sofort auf meine polnischen Lehrbücher. Mir war klar, schnell musste ich zu dem, was ich mir in den letzten eineinviertel Jahren in Abendkursen angeeignet hatte, soviel wie möglich dazu lernen. Zu meiner großen Enttäuschung hatte ich am dritten Tage nur noch ein Chaos polnischer Wörter in meinem Gehirn. Doch als ich der Verzweiflung ganz nahe war, spürte ich, wie sich plötzlich Einiges sortierte und entsprechend zuordnete. Mein Gehirn schien mir plötzlich einem Computer sehr ähnlich.

Dass ich mich am Anfang als Fremde empfand, war wohl auf die Tatsache unserer verschiedenen Nationalitäten zurückzuführen. Meiner Gastgeberfamilie wird es wahrscheinlich ebenso ergangen sein. Ich jedenfalls war ohne Vorurteile gekommen. Außerdem war ich schon vor sieben Jahren mit meinem Bruder Gerhard einmal hier. Um über den Tod meiner Mutter hinwegzukommen, schenkte er mir die Reise nach Masuren. Meine Gastgeberin war schon damals sehr freundlich gewesen. Zum Abschied hatte sie uns zwei große Gläser eingemachte Blaubeeren mitgegeben. Dennoch spürte ich immer wieder bei meinen Gängen durch das Dorf die misstrauischen Blicke. Oder bildete ich mir das nur ein?

Die Tage vergingen. Ich hatte sie mir genau eingeteilt, um die Zeit dort möglichst auszunutzen; und ich hielt mich in der Regel auch an meinen Plan. Dieser sah vor, solange wie möglich im Bett zu bleiben, etwa bis zehn Uhr, da wegen Geldmangel vorher nicht geheizt wurde. Meine Gastgeberin hatte mir erklärt, eigentlich würden sie den ganzen Winter nicht heizen, aber mir zuliebe würden sie ab dem frühen Nachmittag den Ofen mit Holz schüren. Als ich bei meinen Spaziergängen in den Wäldern sehr viel Reisig liegen sah und ich sie daraufhin ansprach, warum sie es denn nicht sammelten, erklärte sie mir, der polnische Staat verbiete dies, außerdem würde das als Diebstahl bestraft werden. Beim Frühstück - belegte Wurstbrote und Tee mit Zitrone - versuchten die Gastgeberin und ich uns zu unterhalten. Um drei Sätze zu verstehen, brauchten wir oft zehn Minuten! Was hätte ich wohl alles erfahren können, wäre ich der Sprache mehr mächtig gewesen. Mit Eifer widmete ich mich dann dem intensiven Lernen der polnischen Sprache.

Um meinen Kopf wieder frei zu bekommen, unternahm ich lange Spaziergänge um das Dorf in alle Richtungen, wie Baranowen, Przeżdzięk-Mało/Klein-Dankheim, am ehemaligen deutschen Friedhof vorbei in Richtung Bahnhof, Nidzica/Neidenburg, Wielbark/Willenberg. Alle Wege führten in herrliche lichte Wälder hinein. Auf diesen Spaziergängen erkannte ich von Tag zu Tag immer mehr Plätze, die meine Mutter mir in ihren Erzählungen so oft beschrieben hatte. Hier hatte sie Gänse gehütet, hier stand die Scheune, hier waren ihr die Kühe in den Wald davongelaufen, hier, gegenüber der Schule, war sie auf ihren ,Holzklumpen‘ im Winter den Hügel hinunter gerutscht. Die Bilder des Erkennens füllten sich allmählich mit dem Leben meiner Mutter und zu guter Letzt konnte ich sie als ein aufgewecktes und schönes Mädchen mit lustigen Zöpfen sehen, wie sie beim Gänsehüten im Gras lag, Mundharmonika spielte oder heimlich einen Liebesroman las. Ich sah sie neben ihrem Vater auf der Kutsche sitzen und in Richtung Willenberg zum Pferdemarkt fahren, sah sie mit ihren Freundinnen auf der sandigen Erde vor dem hölzernen Gartenzaun ,Kästchen hüpfen‘, sah meine Großmutter, wie sie schwer beladen mit weich gekochten Kartoffeln nach hinten zu den Ställen ging, um die Schweine zu füttern, sah den Großvater, wie er in den nachmittäglichen Stunden des Sonnabends den Hof kehrte. Mit einem Mal lebte ich in drei Welten: die vor siebzig Jahren bestehende Welt meiner Mutter, welche sich fast wie wirklich vor meinen Augen abspielte; die gegenwärtige Welt, die mir nur zum Zwecke diente, in diese Welt meiner Mutter einzutauchen und schließlich noch meine Welt in Deutschland, die ich in diesen Momenten sehr weit entrückt empfand.

Zu dem seit Kriegsende verlassenen Friedhof ging ich jeden Tag. Die Natur hatte in den folgenden Jahrzehnten fast vollständig davon Besitz ergriffen. Die meisten Grabsteine waren eingefallen und mit Moos bewachsen. Nur zwei fielen mir auf, denn sie waren neu und mit schönem Marmor gestaltet. Hier haben wohl ehemalige Vertriebene für ein würdevolles Andenken ihrer Vorfahren gesorgt. Mir war, als wollte ich es erzwingen, das Grab meines Großvaters, der 1946 in Groß-Dankheim verstarb, zu finden. Ich fand es nicht. Vielleicht konnte mich mein Gefühl leiten? Bei dem Verweilen und dem Beten in der Stille dieses Ortes wurde mein Blick von einem verwitterten Grabstein angezogen, der nur noch einen kleinen Sockel besaß. Aber ob darunter wirklich die Gebeine meines frommen und so aufrechten Großvaters lagen? Wie der Friedhof aussah, das machte mich sehr traurig. Ich dachte: vielleicht ist es mit Hilfe Gleichgesinnter einmal möglich - denen die Würde der Toten auch ein Anliegen ist - diesen von der Natur vereinnahmten Friedhof von seinem Gestrüpp zu befreien und zu einem stillen Ort des Gedenkens zu verwandeln?

Um etwa vier Uhr nachmittags gab es das Mittagessen. Anschließend setzte ich mich drei Stunden an mein Notebook, führte mein Tagebuch weiter und schrieb an meiner Familiengeschichte ,Pulver im Wurzelstock‘. Abends widmete ich mich dann der polnischen Geschichte.

Dennoch kann ich sagen, ich war, obwohl ich mich stets in allen Dingen sehr zurücknahm und trotz guten Willens meinerseits und der Gastgeber ihrerseits, ein Fremdkörper in ihrem Haus, im Dorf sowieso. Was mir mit jedem Tag mehr und mehr bewusst wurde, war der Mut der Gastgeberfamilie, mich ,Deutsche‘ aufzunehmen. Wer mir sehr aufgeschlossen begegnete, waren die älteren Männer des Dorfes, welche offensichtlich weniger vorurteilsbeladen waren, obwohl sie das Kriegsgeschehen noch erlebt hatten. Ohne viel Umschweife sprachen sie mich sehr freundlich an, mühten sich mir zuliebe mit deutschen Wörtern ab, welche sie noch aus früheren Zeiten wussten, luden mich nach Hause zu Kaffee und Mohnkuchen oder in das ,Sklep‘ (eine Art ,Tante Emma-Laden‘) zu einem Bier ein. Was kümmerte es sie, was die Nachbarn dachten! Worüber ich mich aber sehr freute, war die Höflichkeit und der direkte und sehr freundlich lächelnde Blick der jungen Leute. Immer wieder dachte ich mir, diese Generation lässt einen hoffen, dass sie einmal frei sein werden von den verständlichen Vorbehalten der Polen gegenüber den Deutschen.

Am 17. Februar morgens nahm ich dann Abschied von der Heimat meiner Mutter und meiner Großeltern. Meine gute Gastgeberin begleitete mich. Die Trennung fiel uns beiden nicht leicht. Sie weinte, und mir war auch danach zumute. Ich stand an der Straße Neidenburg-Willenberg und wartete auf den Bus. Ich wandte mich den Häusern zu und ließ meinen Blick lange auf dem Dorf ruhen. Wie friedlich lag es in seinem weißen Winterkleid vor mir. Die Morgensonne strahlte auf die Dächer herab. Es war unglaublich still. Und als ich so stand und alles noch ein letztes Mal auf mich einwirken ließ, formten sich aus der Erfahrung der letzten vier Wochen in mir die Worte: „Du masurisches Dorf meiner Ahnen! Vor siebzig Jahren warst du voller Leben! Die sehr frommen Menschen darin von einem starken, gerechten und stolzen Charakter durch Arbeit, Gebet und Verzicht! Was ist nur aus dir geworden!“

Plötzlich erklangen zwei aufeinanderfolgende, unterschiedliche Geräusche, die ich so noch nie gehört hatte. Zuerst ein metallisches Krächzen und dann ein nachfolgendes Plätschern. „Ehiiiiiiiijjjjjjjjjj“, „Schschschschschsch“. Mein Blick suchte die Umgebung ab. Da sah ich, wie die lange Stange des Ziehbrunnens am ersten Haus des Dorfes sich auf und nieder bewegte. Senkte die vordere Hälfte der Stange mit dem leeren Behälter sich in die Tiefe des Brunnens hinab, war kein Laut zu hören. Hatte aber der leere Behälter Wasser geschöpft und hob sich wieder, hörte man das metallische Knirschen der Stange im Lager. Unmittelbar darauf erklang das Rauschen des Wassers, als der große Eimer seinen Inhalt in den Wassertrog für die Tiere ausleerte. Ich war ganz fasziniert von der stillen Bewegung des langen Schwenkarmes und den sich immer wiederholenden, gleichförmigen Geräuschen des Knirschens und Wasserergießens. Welch ein Bild; auch aus längst vergangenen friedlichen Zeiten, das mich tief ergriff! Sollte dies mein letzter Eindruck zum Abschied sein? Ich schloss die Augen und nahm, was wie Stöhnen und Weinen klang, in mir auf. Einige Minuten blieben mir noch, bis der Bus kam. Und in diesen Minuten war es mir, als hörte ich die Seele des Dorfes ein Klagelied zu mir sprechen:

„Höre, wie ich klage! Höre, wie ich weine! Höre meinen Schmerz! Wo sind die Menschen, welches mein Dorf einmal Heimat nannten?“

Auf meiner weiteren Reise klang diese Klage noch lange in mir nach.

3 Alexander Wassiljewitsch Samsonow, russischer General und Oberbefehlshaber der 2. Narew-Armee im 1. Weltkrieg, erschoss sich wegen der aussichtslosen Lage am 30.8.1914 im Wald bei Willenberg. (Wikipedia)

TAGEBUCH MASUREN

16.01.2009 bis 17.02.2009

Masuren! Wie wunderbar geheimnisvoll doch schon allein dieses Wort klingt. Masuren, das Land der dunklen Seen und der Flüsse, die malerisch durch Äcker, Wiesen und lichte Wälder ziehen. Masuren, das sind riesige majestätische Wälder – Heimat edler Hirsche – in denen Stille und Einsamkeit das Herz berühren. Masuren, ein Reich vieler anderer Tiere, die noch artgerecht leben können. Masuren, das ist der Flug der Kraniche, Störche und Gänse, auf ihren jährlichen Zügen. Masuren, das sind sanfte Hügel; auch dicht aneinander geschmiegte oder eigenartig zueinanderstehende Buckel, deren komisches Aussehen ein Lächeln bei den Menschen hervorzaubert. Masuren, das sind lang gestreckte ocker- bis dunkelfarbene Felder, die wie Wellen im Meer auf- und abwiegen. Masuren! Kein anderer Fleck auf dieser Erde gleicht ihm.

16.01.2009

Um 14.30 Uhr, eine Stunde früher als geplant, komme ich mit dem polnischen Linienbus in Olsztyn/Allenstein an. Ich stehe, wie schon im Herbst 2008, am Bahnhof und warte auf Mariusz. Ich habe vor, in dem Dorf meiner Vorfahren, Przeżdzięk Wielki, vorerst einmal bis Mitte April 2009 zu bleiben, um einen Eindruck vom früheren Leben meiner Mutter und meiner Großeltern zu bekommen, um Masuren näher zu erkunden, die polnischen Sitten zu erfahren, und die Sprache zu lernen. Nach kurzem Warten kommt ein Mann auf mich zu, und ich erkenne in ihm sofort Mariusz. Er begrüßt mich herzlich. Mariusz ist seit über zwanzig Jahren Fremdenführer und betreut die ,Heimwehtouristen‘, die meist im Bus anreisen. Er betreut aber auch einzelne Reisende, welche sich für das Land interessieren. Mit seinem Auto bringt er mich zu seiner Mutter Rosemarie, die mich freudig empfängt.

17.01.2009

Momentan wohne ich bei Rosemarie. Gestern Abend hat sie es fertiggebracht, mich in meinem Vorhaben zu verunsichern. „Du wirst es dort in der Wildnis nicht aushalten“, sagte sie ein ums andermal. Müde von der zwanzigstündigen Busfahrt, fragte ich mich zu guter Letzt selbst: „Was will ich eigentlich hier?“ All meine Träume und Wunschvorstellungen hatten sich plötzlich in der Erschöpfung aufgelöst. Außerdem kostet mich mein Vorhaben finanziell auch Einiges, was ich gerne in meinen Gedanken ausblende. So ging ich gestern Abend mit einem zwiespältigen Gefühl zu Bett. Doch heute Morgen wachte ich auf mit der mir eigenen Lust auf Abenteuer, und alles sieht plötzlich wieder anders aus.

Basia, eine Freundin von Rosemarie, und ihr Sohn kommen kurz zu Besuch. Er sucht auf der Landkarte den Ort, in dem ich die nächsten drei Monate verbringen will. „Was, in diesem Loch wollen Sie es aushalten?“ Ich lache und sage: „Wie nennen Sie diesen Ort? Loch? So hießen meine Großeltern mit Nachnamen.“ Der junge Mann muss jetzt ebenfalls lachen. Er erzählt, dass dies die einsamste Gegend weit und breit sei, und die Autodiebe ihre gestohlenen Fahrzeuge dort abstellen, weil niemand in diese Gegend komme. Momentan wäre zwar etwas Ruhe eingekehrt, weil viele Diebe im Gefängnis säßen. Die Gegend sei aber auch bekannt für die vielen Einbrüche in die Häuser und Geschäfte. Deswegen seien auch fast an jedem Haus die Fenster und Türen vergittert. Mein erster Gedanke ist: „Gott stehe mir bei, dort fahre ich hin! Erbarmung!“

18.01.2009

Mariusz fährt mich nach Przeżdzięk Wielki, das früher Groß Dankheim hieß. Rosemarie und ihr Enkel Xaver sind mit von der Partie. Die ersten vierzig Kilometer in Ermland, Richtung Wielbark (früher Willenberg), sind die Straßen noch einigermaßen eisfrei. Ab Pasym (früher Passenheim), muss Mariusz wegen der Schneeglätte den Wagen mit äußerster Konzentration lenken. Wir fahren durch winterlichen Wald bis Jedwabno (früher Gedwangen), dann weiter bis Wielbark. Tatsächlich sehe ich viele vergitterte Fenster