Beautiful Redemption - Jamie McGuire - E-Book

Beautiful Redemption E-Book

Jamie McGuire

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Beschreibung

Liis Lindy ist eine ehrgeizige und knallharte FBI-Agentin. In einer Bar lernt sie den Sonderermittler Thomas Maddox kennen. Sein Auftrag lautet, die härtesten Kriminellen hinter Gitter zu bringen – und dabei macht ihm keiner etwas vor. Er gilt als arrogant und unnahbar. Doch dann gelingt es ausgerechnet der sturen und unverbesserlichen Liis, Thomas’ harte Schale zu knacken, und sie merkt: Liebe kennt keine Kompromisse – schon gar nicht für Thomas Maddox!

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Übersetzung aus dem Amerikanischen von Henriette Zeltner

ISBN 978-3-492-97151-5Januar 2016© Jamie McGuire 2015Published by Arrangement with Jamie McGuire LLCTitel der amerikanischen Originalausgabe:»Beautiful Redemption«, CreateSpace IndependentPublishing PlatformDeutschsprachige Ausgabe:© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015Covergestaltung: Mona Kashani-FarCovermotiv: suns07butterfly/Shutterstock (Schmetterling); ayzek/Shutterstock (Kugel); arigato, slava17/Shutterstock (Hintergrund)Datenkonvertierung: Uhl + Massopust, Aalen

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Für Autumn Hull.Deine Freundschaft ist unschätzbar.Und für Kelli Spear.Ich bin so dankbar, dich an meiner Seite zu haben.

Kapitel 1

Kontrolle war alles. Schon in jungen Jahren hatte ich gelernt, dass Planung, Berechnung und Beobachtung einem helfen konnten, die unangenehmsten Dinge zu vermeiden – unnötige Risiken, Enttäuschung und vor allem Liebeskummer.

So zu planen, dass Unerfreuliches sich vermeiden ließ, war jedoch nicht immer einfach. Diese Tatsache war insbesondere im schummrigen Licht des Cutter’s Pub unübersehbar.

Das gute Dutzend Neonschilder, die an der Wand hingen, und die schwache Deckenbeleuchtung, um die Flaschen mit Alkoholika hinter der Bar hervorzuheben, verbreiteten auch kein besonders tröstliches Licht. Alles andere unterstrich nur, wie weit fort von zu Hause ich war.

Die Wände waren aus dem Holz ehemaliger Scheunen und das helle Kiefernholz hatte man extra mit schwarzen Flecken versehen, damit diese Kneipe in Midtown aussehen sollte wie ein Rattenloch von einer Bar, doch es war einfach zu sauber. Kein Rauch von hundert Jahren hatte die Farbe gesättigt. Und die Wände flüsterten nichts über Al Capone oder John Dillinger.

Ich saß jetzt seit zwei Stunden auf demselben Barhocker, nachdem ich genug davon hatte, die Kisten in meiner neuen Eigentumswohnung auszupacken. Vorher hatte ich, so lange, wie ich es eben aushielt, die Sachen verräumt, die meine Persönlichkeit ausmachten. Die neue Nachbarschaft zu erkunden, war natürlich verlockender, vor allem an einem für den letzten Februartag so erstaunlich milden Abend. Ich erlebte meine neue Unabhängigkeit und dazu die Freiheit, niemand zu haben, dem ich bei meiner Heimkehr Rechenschaft darüber ablegen musste, wo ich gewesen war.

Das Sitzpolster, das ich warm hielt, war mit orangefarbenem Kunstleder überzogen. Und nachdem ich einen beachtlichen Prozentsatz meiner Umzugsprämie, die mir das Federal Bureau of Investigation heute Nachmittag so großzügig auf mein Konto überwiesen hatte, vertrunken hatte, hatte ich genug damit zu tun, nicht runterzufallen.

Der letzte Schluck meines fünften Manhattan an diesem Abend floss aus dem schicken Glas in meinen Mund und prickelte meine Kehle hinunter. Bourbon und süßer Wermut schmeckten nach Einsamkeit. Das zumindest erinnerte mich an zu Hause. Mein echtes zuhause war Tausende Meilen entfernt, und es fühlte sich sogar noch ferner an, je länger ich auf einem der zwölf Hocker an der geschwungenen Theke saß.

Dabei war ich nicht verloren. Ich war ein Ausreißer. Stapel von Kisten standen in meinem neuen Apartment im fünften Stock. Kisten, die ich voller Enthusiasmus gepackt hatte, während mein ehemaliger Verlobter Jackson in einer Ecke unserer winzigen gemeinsamen Wohnung in Chicago stand und schmollte.

Mobilität, das war ein Schlüssel zum Aufstieg in den Reihen des FBI, und ich war schon nach ziemlich kurzer Zeit sehr gut darin. Jackson hatte gefasst reagiert, als ich ihm erstmals von meiner Versetzung nach San Diego erzählte. Sogar noch am Flughafen, unmittelbar vor meinem Abflug, hatte er versprochen, dass wir es hinkriegen könnten. Jackson ist nicht gut im Loslassen. Er hatte gedroht, mich für immer zu lieben.

Mit einem erwartungsvollen Lächeln ließ ich das Cocktailglas vor mir zwischen meinen Fingern hin und her wackeln. Der Barkeeper nahm es mir ab, setzte es behutsam auf das Holz und schenkte mir nach. Die Orangenschale und die Kirsche tanzten irgendwo zwischen der Oberfläche und dem Boden des Glases – wie ich.

»Das ist dein Letzter, Honey«, sagte er und wischte links und rechts von mir über die Theke.

»Mach dir nicht so viel Mühe. So groß ist mein Trinkgeld nicht.«

»Das ist es bei euch Typen vom FBI nie«, sagte er lässig.

»Ist das so offensichtlich?«, sagte ich.

»In dieser Gegend wohnen einige von euch. Ihr erzählt alle das Gleiche und betrinkt euch am ersten Abend, den ihr von zu Hause weg seid. Keine Sorge. Dein Auftreten schreit nicht FBI.«

»Gott sei Dank«, sagte ich und hob mein Glas. Dabei meinte ich es gar nicht so. Ich liebte das FBI und alles, was damit zusammenhing. Ich hatte sogar Jackson geliebt, der auch ein Agent war.

»Von wo haben sie dich hierher versetzt?«, fragte er. Sein zu enges schwarzes Shirt mit V-Ausschnitt, seine manikürten Fingernägel und die perfekt gegelte Coiffure straften sein Flirtlächeln Lügen.

»Chicago«, sagte ich.

Er wich zurück und verzog die Lippen, bis sie aussahen wie ein Fischmaul, dazu riss er die Augen auf. »Das solltest du feiern.«

»Ich schätze, ich muss nicht traurig sein, solange es noch Orte gibt, an die ich fliehen kann.« Ich nahm einen Schluck und leckte mir das rauchige Bourbon-Aroma von den Lippen.

»Oh. Untertauchen vor dem Ex?«

»Bei unserem Arbeitsverhältnis kann man nie richtig untertauchen.«

»Oh, Mist. Er ist auch beim FBI? Du darfst doch nicht da hinpinkeln, wo du schläfst, Süße.«

Ich strich mit einem Finger über den Rand des Glases. »Das kommt in der Ausbildung nicht wirklich vor.«

»Ich weiß. Passiert oft genug. Kriege ich andauernd mit«, sagte er und schüttelte den Kopf, während er irgendwas in dem Spülbecken hinter der Bar abwusch. »Wohnst du in der Nähe?«

Ich musterte ihn kritisch, auf der Hut vor jedem, der einen Agenten ausspäht und zu viele Fragen stellt.

»Wirst du öfter hier sein?«, drückte er sich genauer aus.

Nachdem ich verstanden hatte, worauf er hinauswollte, nickte ich. »Wahrscheinlich.«

»Mach dir mal wegen dem Trinkgeld keine Gedanken. Umziehen ist teuer. Und trinken, um zu vergessen, was man zurückgelassen hat, auch. Du kannst es später mal wiedergutmachen.«

Seine Worte ließen mich meine Lippen in eine Richtung verziehen, die sie wahrscheinlich schon seit Monaten nicht mehr eingeschlagen hatten. Allerdings bemerkte das niemand außer mir.

»Wie heißt du?«, fragte ich.

»Anthony.«

»Wirst du auch Tony genannt?«

»Nicht von Leuten, die hier was zu trinken kriegen wollen.«

»Schon notiert.«

Anthony bediente den einzigen weiteren Gast in der Bar an diesem späten Montagabend – oder frühen Dienstagmorgen, je nachdem, wie man es betrachtete. Die füllige Frau mittleren Alters mit geschwollenen und geröteten Augen trug ein schwarzes Kleid. Im gleichen Augenblick schwang die Tür auf und ein Typ ungefähr in meinem Alter spazierte herein und setzte sich zwei Hocker von mir entfernt an die Bar.

In der Tasche meines Blazers summte das Handy und ich holte es heraus, um aufs Display zu schauen. Noch eine Nachricht von Jackson. Neben seinem Namen steckte eine kleine Sechs zwischen zwei Klammern, die die Anzahl seiner bereits gesendeten Nachrichten angab. Diese so gefangene Zahl erinnerte mich daran, wie er mich zum letzten Mal berührt hatte – in einer Umarmung, aus der ich mich hatte befreien müssen.

Jetzt war ich zweitausendeinhundert Meilen von Jackson entfernt und er konnte mir immer noch ein schlechtes Gewissen machen. Allerdings kein zu großes.

Ich klickte auf den Knopf an der Seite meines Handys, sodass das Display schwarz wurde, ohne auf Jacksons Nachrichten zu antworten. Dann hob ich einen Zeigefinger in Richtung Barkeeper, während ich mein sechstes Glas austrank.

Den Cutter’s Pub hatte ich direkt um die Ecke meiner neuen Eigentumswohnung in Midtown gefunden, einer Gegend zwischen dem Internationalen Flughafen und dem Zoo von San Diego. Meine Kollegen in Chicago mochten noch die FBI-typischen Parkas über ihren kugelsicheren Westen tragen, während ich das selbst für San Diego ungewöhnlich warme Wetter in einem Bustier und Blazer zu einer Skinny Jeans genoss. Ich kam mir ein wenig overdressed und eine Spur verschwitzt vor, doch das konnte natürlich auch an der Alkoholmenge in meinem Organismus liegen.

»Sie sind schrecklich klein für einen Ort wie diesen«, sagte der Mann zwei Hocker weiter.

»Was für einen Ort denn?«, fragte Anthony, hob eine Augenbraue und fuhr derweil mit der ganzen Faust in einen Tumbler. Der Mann ignorierte ihn.

»Ich bin nicht klein«, sagte ich, bevor ich einen Schluck von meinem nächsten Drink nahm. »Ich bin zierlich.«

»Ist das nicht dasselbe?«

»Ich habe aber auch einen Elektroschocker in meiner Handtasche und einen fiesen linken Haken drauf, also nehmen Sie den Mund lieber nicht zu voll.«

»Ihr Kung Fu ist bestimmt beeindruckend.«

Ich würdigte den Typen keines Blickes, sondern schaute stur geradeaus. »War das eine rassistische Bemerkung?«

»Absolut nicht. Sie kommen mir nur ein wenig gewaltbereit vor.«

»Ich bin nicht gewaltbereit«, sagte ich, obwohl das sicher besser war, als als leichte Beute zu erscheinen.

»Ach, wirklich?« Eigentlich fragte er nicht, sondern stichelte nur. »Ich habe kürzlich von asiatischen Friedensaktivistinnen gelesen, die ausgezeichnet wurden. Ich schätze, zu denen gehören Sie nicht.«

»Ich habe auch irische Wurzeln«, brummte ich.

Er lachte kurz auf. Da war irgendwas in seiner Stimme – nicht nur Ego und auch mehr als Selbstbewusstsein. Etwas, das in mir den Wunsch auslöste, mich umzudrehen und ihn mir genau anzusehen, aber ich hielt die Augen starr auf die Flaschen hinter der Bar gerichtet.

Nachdem dem Mann klar geworden war, dass er von mir so keine bessere Antwort bekäme, rutschte er auf den leeren Hocker neben mir. Ich seufzte.

»Was trinken Sie?«, fragte er.

Ich verdrehte die Augen und beschloss, ihn anzuschauen. Er war so attraktiv wie das Wetter in Südkalifornien und hätte nicht weniger wie Jackson aussehen können. Obwohl er saß, konnte ich erkennen, dass er groß war – mindestens einen Meter fünfundachtzig. Seine haselnussbraunen, grün gesprenkelten Augen hoben sich geradezu schimmernd von seiner sonnengebräunten Haut ab. Auf einen Durchschnittsmann mochte er einschüchternd wirken, aber mir kam er nicht gefährlich vor – zumindest nicht für mich –, obwohl er fast doppelt so breit war wie ich.

»Was immer ich mir selbst bestelle«, sagte ich und zeigte ihm mein schönstes Flirtlächeln.

Meine Wachsamkeit mal für eine Stunde einem attraktiven Fremden gegenüber aufzugeben, das war schon in Ordnung. Vor allem nach meinem sechsten Drink. Wir würden ein bisschen flirten, ich würde mein verbleibendes schlechtes Gewissen los und danach würde ich nach Hause gehen. Wahrscheinlich würde sogar ein spendierter Drink dabei rausspringen. Das war ein ordentlicher Plan.

Er grinste mich an. »Anthony«, rief er und streckte einen Finger in die Höhe.

»Das Übliche?«, fragte Anthony vom anderen Ende der Theke.

Der Mann nickte. Er war ein Stammgast. Musste in der Nähe wohnen oder arbeiten.

Ich runzelte die Stirn, als Anthony mein Glas wegnahm, anstatt es nachzufüllen.

Er zuckte mit den Achseln und in seinem Blick war keinerlei Bedauern. »Hab dir doch gesagt, das war dein Letzter.«

In einem halben Dutzend Zügen kippte der Fremde so viel billiges Bier, dass er meinem Alkoholpegel zumindest nahe kam. Zum Glück. Dann musste ich nicht so tun, als wäre ich nüchtern, und die Wahl seines Getränks verriet, dass er weder etepetete war noch versuchte, mich zu beeindrucken. Oder vielleicht war er auch nur pleite.

»Wolltest du dir keinen Drink von mir spendieren lassen, weil Anthony dir den Hahn zugedreht hat oder weil du mich nicht lassen willst?«, fragte er und war wie selbstverständlich zum Du übergegangen.

»Weil ich mir meine Drinks selbst kaufen kann«, sagte ich, wenn auch schon leicht undeutlich.

»Wohnst du hier in der Nähe?«, fragte er.

Ich schielte zu ihm rüber. »Deine kümmerlichen Konversationsversuche sind wirklich enttäuschend.«

Er lachte laut und warf dabei den Kopf in den Nacken. »Mein Gott, Frau. Wo kommst du bloß her? Von hier jedenfalls nicht.«

»Chicago. Frisch eingetroffen. In meinem Wohnzimmer stapeln sich noch die Kartons.«

»Das kann ich nachempfinden«, sagte er nickend und hielt seinen Drink respektvoll in die Höhe. »Ich bin in den letzten drei Jahren zwei Mal quer durchs Land umgezogen.«

»Wohin?«

»Hierher. Dann nach Washington DC und wieder hierher zurück.«

»Bist du Politiker oder Lobbyist?«, fragte ich grinsend.

»Weder noch«, sagte er, verzog angewidert das Gesicht und nahm einen Schluck von seinem Bier. »Wie heißt du?«, fragte er.

»Uninteressant.«

»Das ist ja ein schrecklicher Name.«

Ich schnitt eine Grimasse.

Er legte nach: »Das erklärt den Umzug. Du bist auf der Flucht vor einem Typen.«

Ich funkelte ihn böse an. Er war attraktiv, aber auch anmaßend – selbst wenn er recht hatte. »Und nicht auf der Suche nach einem neuen. Nicht nach einem One-Night-Stand, nicht nach einem Rache-Fick, nach gar nichts. Also vergeude deine Zeit und dein Geld nicht. Ich bin mir sicher, du findest ein nettes West-Coast-Girl, das überglücklich wäre, sich von dir einen Drink spendieren zu lassen.«

»Was für einen Spaß soll das denn machen?«, sagte er und lehnte sich zu mir.

Mein Gott, selbst wenn ich nüchtern wäre, würde ich ihn berauschend finden.

Ich sah zu, wie seine Lippen den Rand seiner Bierflasche berührten, und spürte ein Ziehen zwischen meinen Schenkeln. Ich log und er wusste es.

»Hab ich dich geärgert?«, fragte er mit dem charmantesten Lächeln, das ich je gesehen hatte.

Sauber rasiert und mit kurzem hellbraunem Haar hatten der Mann und sein Lächeln sicher schon weitaus beängstigendere Herausforderungen als mich gemeistert.

»Versuchst du denn, mich zu ärgern?«, fragte ich.

»Vielleicht. Die Art und Weise, wie du den Mund verziehst, wenn du wütend bist, ist … verdammt hübsch. Vielleicht benehme ich mich die ganze Nacht wie ein Mistkerl, damit ich deine Lippen so sehen kann.«

Ich schluckte.

Mein Spielchen war zu Ende. Er hatte gewonnen und wusste es.

»Möchtest du gehen?«, fragte er.

Ich winkte Anthony, aber der Fremde schüttelte den Kopf und legte einen großen Schein auf die Theke. Gratisdrink – wenigstens dieser Teil meines Plans war aufgegangen. Der Mann ging zur Tür und winkte mir, vorauszugehen.

»Ich setze die Trinkgelder einer ganzen Woche darauf, dass er das nicht hinkriegt«, sagte Anthony so laut, dass der attraktive Fremde es hören musste.

»Zur Hölle damit«, sagte ich und trat schnell durch die aufgehaltene Tür.

An meinem neuen Freund vorbei trat ich auf den Bürgersteig, während die Tür sich langsam wieder schloss. Er griff nach meiner Hand, lässig, aber bestimmt, und zog mich an sich.

»Anthony scheint zu glauben, du würdest einen Rückzieher machen«, sagte ich und schaute zu ihm hoch.

Er war so viel größer als ich. Ich kam mir vor wie in der ersten Reihe im Kino. Um ihm in die Augen zu schauen, musste ich das Kinn anheben und mich ein bisschen nach hinten lehnen.

Ich lehnte mich an ihn und riskierte damit, dass er mich küsste.

Er zögerte und ließ seine Augen über mein Gesicht wandern. Dann wurde sein Blick weich. »Irgendwas sagt mir, heute nicht.«

Er beugte sich herab, und was als fast versuchsweiser behutsamer Kuss begann, wurde lustvoll und romantisch. Seine Lippen bewegten sich auf meinen, als würden sie sich erinnern oder hätten ihre Textur sogar vermisst. Anders als alles, was ich je erlebt hatte, durchzuckte mich eine seltsame elektrische Spannung und brachte meine Vorbehalte zum Schmelzen. Wir hatten das hier schon so oft getan – in einer Fantasie oder vielleicht im Traum. Es war das beste Déjà-vu aller Zeiten.

Nachdem er sich von mir gelöst hatte, hielt er seine Augen noch kurz geschlossen, als wolle er den Moment festhalten. Kopfschüttelnd sah er mich an. »Definitiv kein Rückzieher.«

Wir bogen um die Ecke, überquerten rasch die Straße und gingen die Treppe zu meinem Apartmenthaus hinauf. Ich fischte die Schlüssel aus meiner Handtasche, wir traten ein und blieben vor dem Aufzug stehen. Seine Finger strichen über meine, und nachdem sie sich verschränkt hatten, zog er mich wieder mit einem Ruck an sich. Die Aufzugtür öffnete sich und wir taumelten hinein.

Er presste meine Hüften an sich, während meine Fingerspitzen nach dem richtigen Knopf des Lifts tasteten. Mit seinen seidigen Lippen berührte er meinen Hals und unter meiner Haut begannen die Nerven zu funken und zu tanzen. Die winzigen Küsse, mit denen er mein Kinn und die Strecke zwischen meinem Ohr und dem Schlüsselbein bedeckte, waren zielbewusst und erfahren. Seine Hände zogen mich mit jeder Berührung geradezu bittend näher an ihn heran, als habe er schon sein ganzes Leben lang auf mich gewartet. Ich hatte zwar das gleiche irrationale Gefühl, wusste jedoch, dass das alles Teil der Anziehung, Teil des Tricks war. Wie er sich merklich zurückhielt, um nicht zu sehr an meinen Kleidern zu zerren, das erzeugte kleine Schockwellen, die meinen Körper durchzuckten.

Als wir den fünften Stock erreichten, hatte er mein Haar zur Seite gestrichen und eine meiner Schultern entblößt. Seine Lippen strichen über meine Haut.

»Du bist so weich«, flüsterte er.

Ironischerweise bewirkten seine Worte, dass ich am ganzen Körper Gänsehaut bekam.

Meine Schlüssel klapperten, während ich mit dem Schloss kämpfte. Der Mann drehte den Türknauf und wir fielen fast nach drinnen. Er lehnte sich kurz von mir weg, stieß mit dem Rücken die Tür zu und zog mich an meinen Händen wieder an sich. Er roch nach Bier und einer Spur Safran und Holz von seinem Rasierwasser, aber sein Mund schmeckte immer noch nach Pfefferminz-Zahnpasta. Als unsere Münder sich wieder trafen, ließ ich seine Zunge bereitwillig ein und verschränkte die Finger in seinem Nacken.

Er schob mir den Blazer von den Schultern, sodass er auf den Boden fiel. Dann lockerte er seine Krawatte und zog sie sich über den Kopf. Während er sein Hemd aufknöpfte, schlüpfte ich aus meinem Bustier. Meine nackten Brüste waren nur einen Augenblick lang zu sehen, bevor meine langen schwarzen Haare wieder darüberfielen.

Nachdem der Fremde sein Hemd ausgezogen hatte, konnte ich die Kombination aus eindrucksvollen Genen und mehreren Jahren intensivem täglichem Training bewundern, die solche Perfektion hervorgebracht hatten. Ich schleuderte meine High Heels weg und auch er streifte seine Schuhe ab. Mit den Fingern strich ich über seine hervortretenden Muskeln und sein Sixpack. Schließlich legte ich eine Hand über den Knopf seiner Hose, die andere packte die kräftige Härte darunter.

Allmächtiger.

Das Geräusch seines Reißverschlusses brachte die Stelle zwischen meinen Schenkeln zum Pochen. Sie flehte geradezu um zärtliche Berührung. Ich grub meine Finger in die Rückseiten seiner Oberarme, während seine Küsse von meinem Hals zu den Schultern und schließlich zur Brust abwärts wanderten. Dabei zog er mir langsam die Jeans herunter.

Ein paar Sekunden lang hielt er reglos inne und schien zu genießen, dass ich nun vollkommen nackt vor ihm stand. Außerdem schien er ein wenig erstaunt. »Kein Slip?«

Ich zuckte mit den Achseln. »Niemals.«

»Nie?«, fragte er und sein Blick flehte um ein Nein.

Ich liebte das, wie er mich ansah – verwundert, amüsiert und vor allem erregt. Meine Freundinnen in Chicago hatten stets die Vorzüge von zu nichts verpflichtenden One-Night-Stands gepriesen. Dieser Typ schien wie die perfekte Gelegenheit, um das auszuprobieren.

Ich hob eine Augenbraue und genoss, wie sexy ich mich in der Gegenwart dieses völlig Fremden fühlte. »Ich besitze keinen einzigen.«

Er hob mich hoch und ich verschränkte die Fußknöchel hinter seinem Rücken. Das einzige Stück Stoff, das sich jetzt noch zwischen uns befand, waren seine dunkelgrauen Boxershorts.

Er küsste mich, während er mich zur Couch trug und sanft auf die Kissen legte. »Bequem?«, fragte er und atmete das Wort praktisch nur.

Als ich nickte, küsste er mich erneut und ging dann rasch ein quadratisches Päckchen aus seiner Brieftasche holen. Zurückgekehrt riss er es mit den Zähnen auf. Ich war froh, dass er eins mitgebracht hatte, denn selbst wenn ich daran gedacht hätte, Kondome zu kaufen, wäre ich nicht so hellsichtig oder optimistisch gewesen, welche in seiner Größe zu erstehen.

Er zog sich den dünnen Latex rasch über und berührte mit der Spitze seines Penis die zarteste rosige Stelle zwischen meinen Beinen. Er beugte sich vor, als wolle er mir etwas ins Ohr flüstern, keuchte aber nur stockend.

Ich legte die Hände auf seinen knackigen Po, grub die Finger in seine Haut und lenkte ihn, während er in mich eindrang. Jetzt war es an mir, tief zu seufzen.

Er stöhnte auf und verschloss meinen Mund wieder mit seinem.

Nach zehn Minuten auf der Couch, schwitzend und mit geröteten Gesichtern, sah der Fremde mich mit einem frustrierten und entschuldigenden Lächeln an. »Wo ist dein Schlafzimmer?«

Ich deutete zum Flur. »Zweite Tür rechts.«

Er hob mich hoch, legte die Hände unter meine Schenkel und ich schlang die Beine um seine Taille. So tappte er barfuß über den Flur, vorbei an Kartons und Plastiktüten, Stapeln aus Geschirr und Wäsche. Keine Ahnung, wie er das schaffte, im Halbdunkel einer fremden Wohnung nicht zu stolpern, noch dazu wo seine Lippen die ganze Zeit über auf meinen lagen.

Während er ging und dabei die ganze Zeit in mir war, konnte ich nicht anders, als den einzigen Namen rufen, der mir zur Verfügung stand: »Jesus Christus!«

Er lächelte an meinem Mund und stieß die Tür auf. Dann ließ er mich auf meine Matratze sinken.

Er wandte den Blick nicht von mir, während er sich über mir in Stellung brachte. Seine Knie waren jetzt ein wenig weiter gespreizt als auf der Couch, sodass er tiefer in mich eindringen und seine Hüften so bewegen konnte, dass er eine Stelle in mir berührte, die meine Knie bei jedem Stoß erzittern ließ. Sein Mund lag wieder auf meinem, als hätte die kurze Trennung ihn schier umgebracht. Hätte ich ihn nicht erst seit einer halben Stunde gekannt, hätte ich die Art, wie er mich berührte, küsste und sich auf mir bewegte, für Liebe halten können.

Er legte seine Wange an meine und hielt den Atem an, während er sich konzentrierte, um zum Ende zu kommen. Gleichzeitig schien er aber auch zu versuchen, diese besinnungslose, verrückte, unverantwortliche, aber umwerfende Raserei, die wir uns hier erlaubten, zu verlängern. Mit einer Hand drückte er mich gegen die Matratze und presste mit der anderen mein Knie an seine Schulter.

Ich krallte die Hände in die Bettdecke, bis meine Knöchel weiß hervortraten, während er wieder und wieder in mich hineinstieß. Jackson war, was die Größe anging, auch nicht schlecht ausgestattet gewesen, aber zweifellos füllte dieser Fremde mich voll und ganz aus. Jedes Mal, wenn er in mich eintauchte, ging eine Welle fantastischen Schmerzes durch meinen ganzen Körper, und jedes Mal, wenn er sich zurückzog, erfasste mich beinah Panik und ich hoffte, dass es noch nicht vorbei war.

Arme und Beine um ihn geschlungen, schrie ich wohl schon zum zehnten Mal auf, seit er angefangen hatte. Seine Zunge bewegte sich so kraftvoll und bestimmend in meinem Mund, dass klar war, er hatte das schon viele, viele Male getan. Das machte es einfacher. Ihm ging das alles bestimmt nicht so nahe, dass er mich hinterher verurteilen würde, also brauchte auch ich es mir nicht zu Herzen zu nehmen. Nachdem ich entdeckt hatte, was für ein Körper sich unter dem Button-down-Oxfordhemd verbarg, konnte ich nicht einmal mir selbst Vorhaltungen machen. Und ich hätte es, sogar wenn ich nüchtern gewesen wäre, nicht getan.

Er stieß erneut in mich hinein. Sein Schweiß vermischte sich mit meinem, sodass unsere Haut sich anfühlte, als würden wir verschmelzen. Meine Augen drehten sich fast bis in den Hinterkopf, weil bei jeder Bewegung eine so umwerfende Mischung aus Schmerz und Lust meinen Leib erfasste.

Sein Mund fand meinen wieder und ich verlor mich in Gedanken darüber, wie gierig, aber zugleich geschmeidig seine Lippen doch waren. Jede Berührung seiner Zunge war kalkuliert, geübt und schien allein der Steigerung meiner Lust zu dienen. Jackson war kein besonders guter Küsser gewesen, und obwohl ich den Mann, der auf mir lag, doch gerade erst kennengelernt hatte, würde ich diese sehnsüchtigen Küsse vermissen, sobald er sich in den frühen Morgenstunden aus meiner Wohnung davongestohlen hätte. – Falls er sich überhaupt so lange Zeit ließ.

Während er mich auf so wunderbare und erbarmungslose Weise vögelte, packte er einen meiner Oberschenkel mit einer Hand, spreizte meine Beine noch etwas weiter und rieb mit seinem Daumen in zärtlichen kleinen Kreisen über meine geschwollene empfindlichste Stelle.

Ein paar Sekunden später schrie ich auf, reckte ihm meine Hüften entgegen und umklammerte seine Taille mit meinen zitternden Knien. Er beugte sich herab und verschloss meinen stöhnenden Mund mit seinem. Ich konnte spüren, wie er die Lippen zu einem Lächeln verzog.

Nach ein paar langsamen Bewegungen und zärtlichen Küssen war es mit seiner Zurückhaltung vorbei. Er spannte seine Muskeln an, während er mit aller Kraft in mich eindrang. Bei jedem Stoß noch ein bisschen heftiger. Nachdem ich meinen Höhepunkt offensichtlich erreicht hatte, konzentrierte er sich ganz auf sich und stieß heftiger und rücksichtsloser zu.

Sein Stöhnen klang gedämpft in meinem Mund. Als er seinen Orgasmus ritt wie eine Welle, presste er seine Wange gegen meine. Nach und nach bewegte er sich langsamer, bis er ganz still auf mir lag. Er wartete, bis er wieder zu Atem gekommen war, küsste mich auf die Wange und ließ seine Lippen dort liegen.

Unsere Begegnung hatte sich in weniger als einer Minute von einem spontanen Abenteuer in eine schmerzliche Peinlichkeit verwandelt.

Unser Schweigen und die Stille im Raum brachten den Alkohol zum Verschwinden und die Realität dessen, was wir gerade getan hatten, traf mich mit voller Wucht. Ich fühlte mich nicht mehr sexy und begehrt, sondern auf peinliche Weise wie eine bedürftige, billige Eroberung.

Der Fremde senkte den Kopf, um mich zu küssen, doch ich wich zurück, was sich lächerlich anfühlte, weil wir körperlich noch verbunden waren.

»Ich«, fing ich an, »muss morgen früh zur Arbeit.«

Er küsste mich trotzdem und ignorierte meine beschämte Miene. Seine Zunge tanzte um meine herum, streichelte sie, als wolle er sie sich gut einprägen. Er holte tief durch die Nase Luft, schien keine Eile zu haben, und löste sich dann lächelnd von mir.

Verdammt. Ich würde diesen Mund vermissen und fühlte mich deshalb auf einmal erbärmlich. Ich war mir nicht sicher, ob ich jemals wieder jemand begegnen würde, der so küssen konnte.

»Ich auch. Ich bin … übrigens Thomas«, sagte er leise. Er rollte sich zur Seite und streckte sich entspannt neben mir aus. Dann stützte er den Kopf in eine Hand. Anstatt sich anzuziehen, schien er bereit für ein wenig Konversation.

Mit jeder Sekunde, die dieser Fremde mehr für mich wurde, entglitt mir meine Unabhängigkeit. Wie Fernsehsender beim Durchzappen kamen mir die Gedanken daran, wie ich Jackson über jede meiner Aktionen Rechenschaft hatte ablegen müssen. Ich war definitiv nicht Tausende von Meilen weggezogen, um mich an die nächste Beziehung zu ketten.

Ich presste die Lippen aufeinander. »Ich bin …« – Tu es. Tu es, oder du wirst dir hinterher in den Arsch beißen! – »… emotional nicht frei.«

Thomas nickte, stand auf und ging ins Wohnzimmer, um sich schweigend anzuziehen. Mit den Schuhen in der einen und seinen Schlüsseln in der anderen Hand stand er in der Tür zu meinem Schlafzimmer. Die Krawatte hing ihm lose um den Hals. Ich versuchte, ihn nicht anzustarren, machte es aber trotzdem. Ich wollte jeden Zentimeter von ihm studieren, damit ich mich erinnern und für den Rest meines Lebens von ihm träumen konnte.

Er sah auf mich herab und lachte leise, aber noch immer lag keinerlei Verurteilung in seiner Miene. »Danke für das tolle und unerwartete Ende eines beschissenen Montags.« Damit wandte er sich ab.

Ich zog mir die Decke vor die Brust und setzte mich auf. »Es hat nichts mit dir zu tun. Du warst großartig.«

Er drehte sich noch mal um und grinste. »Mach dir um mich keine Gedanken. Ich gehe nicht mit Selbstzweifeln hier raus. Du hattest mich deutlich genug gewarnt. Also habe ich auch nicht mehr erwartet.«

»Wenn du eine Sekunde wartest, bringe ich dich noch zur Tür.«

»Ich kenne den Weg. Das ist mein Apartmentgebäude. Ich bin mir sicher, dass wir uns zufällig wieder begegnen.«

Mir wurde schwindelig. »Du wohnst in diesem Gebäude?«

Er wandte den Blick zur Decke. »Direkt über dir.«

Ich zeigte nach oben. »Du meinst, im Stockwerk über mir?«

»Ja, aber«, erklärte er mit einem verlegenen Grinsen, »meine Wohnung liegt exakt über deiner. Ich bin allerdings selten zu Hause.«

Ich schluckte entsetzt. So viel zum Thema zu nichts verpflichtender One-Night-Stand. Ich begann, an meinem Daumennagel zu knabbern, und überlegte, was ich als Nächstes sagen sollte. »Okay … also, dann gute Nacht, oder?«

Thomas warf mir ein arrogantes, verführerisches Lächeln zu. »Nacht.«

Kapitel 2

Es erwies sich als nicht besonders intelligent, dass ich versucht hatte, meine Schuldgefühle gegenüber Jackson am Abend vor meinem ersten Arbeitstag in der Außenstelle San Diego mit Alkohol zu bekämpfen.

Ich traf dort nur mit meiner kugelsicheren Weste ausgerüstet ein und erhielt eine Dienstwaffe, Ausweis und ein Handy, sobald ich mich anwesend gemeldet hatte. Ich wurde Team Fünf zugeteilt und suchte mir den einzigen freien Schreibtisch, den der letzte Agent verlassen hatte, der mit dem berüchtigten Assistant Special Agent in Charge, den wir nur ASAC nannten, nicht klargekommen war. Ich hatte bis nach Chicago von ihm gehört, aber es bedurfte schon mehr als schlechter Laune eines Vorgesetzten, um mich von einer Chance auf Beförderung abzuschrecken.

Auf dem Schreibtisch waren nur manche Stellen nicht von einer dünnen Staubschicht überzogen. Wahrscheinlich weil dort der Computer und die persönlichen Sachen meiner Vorgängerin oder meines Vorgängers gestanden hatten. Die Schachtel mit meinem Headset lag neben meinem Laptop, und da ich weder gerahmte Bilder noch irgendwelchen Krimskrams zur Dekoration hatte, sah das im Vergleich zu den anderen Schreibtischen des Teams ziemlich erbärmlich aus.

»Das ist ja erbärmlich«, sagte eine Frauenstimme und ich fragte mich, ob ich vielleicht laut gedacht hatte.

Eine junge, aber ein wenig einschüchternde Frau stand mit verschränkten Armen auf die einen mal einen Meter fünfzig große stoffbespannte Trennwand gestützt, die meine Arbeitsnische von der nächsten trennte. Ihre glänzenden, aber ansonsten eher langweiligen braunen Haare waren zu einem Knoten tief im Nacken frisiert.

»Dem kann ich mich nur anschließen«, sagte ich und wischte den Staub mit einem Papiertuch weg.

Meine Weste hatte ich schon in den Spind gehängt. Sie war das Einzige, was ich aus dem Büro in Chicago mitgebracht hatte. Schließlich war ich nach San Diego gekommen, um neu anzufangen, da hätte es nicht viel Sinn ergeben, mein altes Leben auszustellen.

»Ich meine nicht den Staub«, sagte sie und betrachtete mich mit ihren grünen Augen unter schweren Lidern. Sie war ein bisschen pausbäckig, aber das verriet nur ihre Jugend. Ansonsten war sie bestimmt durchtrainiert.

»Ich weiß.«

»Ich bin Val Taber. Aber nenn mich nicht Agent Taber, sonst können wir keine Freundinnen sein.«

»Dann soll ich dich Val nennen?«

Sie schnitt eine Grimasse. »Wie denn sonst?«

»Agent Taber«, sagte ein großer, schlaksiger Typ im Vorbeigehen. Er grinste, als wüsste er, was gleich kommen würde.

»Leck mich«, sagte sie und nahm ihm eine Akte aus der Hand. »Du bist die Analystin, oder? Lisa Lindy?«

»Liis«, sagte ich zusammenzuckend. Daran, die Leute korrigieren zu müssen, hatte ich mich noch immer nicht gewöhnt. »Wie Fleece, nur ohne F.«

»Liis. Sorry. Habe gehört, du bist im Schnellverfahren genommen worden.« In ihrer Stimme lag ein sarkastischer Unterton. »Ich nenne das Bullshit, aber es geht mich eigentlich ja auch nichts an.«

Da hatte sie recht. Eine Bundesbeamtin zu sein, die sich auf Sprachen spezialisiert hatte, das hatte nicht gerade dafür gesorgt, dass man mir bei der Versetzung den roten Teppich ausgerollt hatte. Aber ich hatte Anweisung, meine Spezialisierung ohne Zustimmung meines Vorgesetzten keinem gegenüber zu erwähnen.

Ich warf einen Blick zum Büro meines Vorgesetzten. Das war sogar noch kahler als mein Schreibtisch. Zustimmung zu irgendetwas aus einem leeren Büro zu bekommen, würde schwierig sein.

»Das ist richtig«, sagte ich bewusst vage.

Es war pures Glück gewesen, dass Team Fünf in dem Moment eine Sprachspezialistin gebraucht hatte, als ich beschloss, Chicago zu verlassen. Die besondere Geheimhaltung bedeutete, dass es wahrscheinlich ein Problem innerhalb der Dienststelle des FBI gab, aber Spekulationen wären meiner Versetzung nicht zuträglich gewesen, also hatte ich einfach die entsprechenden Formulare ausgefüllt und meine Zelte abgebrochen.

»Toll.« Sie gab mir die Akte. »Du sollst Title Three transkribieren. Maddox will auch ein FD-302. Die erste E-Mail in deinem Postfach sollten Coupons von Welcome Wagon sein und die zweite schon ein Audio-File von Maddox. Ich habe dir schon mal Kopien der diversen FD-302s und eine CD besorgt, bis du dich an unser System gewöhnt hast. Er möchte, dass du sofort anfängst.«

»Danke.«

Title Threes, die die Öffentlichkeit dank Hollywood Telefonüberwachungen nannte, machten den Großteil meiner Aufgaben beim Bureau aus. Man fertigte Mitschnitte an, die ich mir anhörte, übersetzte und schließlich in einem Bericht bewertete. Sie waren es auch, die sich hinter der berühmt-berüchtigten Abkürzung FD-302 verbargen. Allerdings waren die Sachen, die ich üblicherweise bekam, auf Italienisch, Spanisch oder in meiner Muttersprache Japanisch. Handelte es sich um englische Aufnahmen, transkribierte die OST – Sekretärin des Teams – sie.

Irgendwas sagte mir, dass Val es suspekt fand, dass eine Analystin einen Title Three transkribierte, denn in ihren Augen blitzte Neugier – oder Misstrauen – auf. Aber sie fragte nicht und ich sagte nichts dazu. Soweit ich wusste, war Maddox der einzige Agent, der über meine eigentliche Aufgabe in San Diego Bescheid wusste.

»Dann mal los«, sagte ich.

Sie blinzelte mir lächelnd zu. »Möchtest du, dass ich dich nachher noch mal rumführe? Dir was zeige, das du auf dem offiziellen Rundgang nicht gesehen hast?«

Ich überlegte eine halbe Sekunde. »Den Fitnessraum?«

»Kenne ich. Da gehe ich nach der Arbeit regelmäßig hin – bevor ich regelmäßig die Bar aufsuche«, sagte sie.

»Agent Taber«, sagt eine Frau mit strengem Haarknoten im Vorbeigehen.

»Leck mich«, sagte sie wieder.

Ich zog eine Augenbraue hoch.

Sie zuckte mit den Achseln. »Eine Reaktion dieser Art muss ihnen gefallen, sonst würden sie mich nicht ansprechen.«

Ich verzog den Mund und verbiss mir das Lachen. Val Taber war irgendwie erfrischend.

»Morgens haben wir immer als Erstes eine Teambesprechung.« Sie überlegte kurz. »Ich zeige dir den Fitnessraum nach dem Mittagessen. Er ist zwischen elf und zwölf quasi gesperrt. Der Boss konzentriert sich gern«, sagte sie und flüsterte den letzten Satz demonstrativ hinter vorgehaltener Hand.

»Zwölf Uhr dreißig«, sagte ich nickend.

»Mein Schreibtisch«, sagte Val und zeigte auf die Arbeitsnische neben mir. »Wir sind Nachbarn.«

»Was hat’s mit dem Plüschhasen auf sich?«, fragte ich und zeigte auf das schlanke weiße Stoffhäschen mit den aufgestickten Xen als Augen, das auf einer Ecke ihres Schreibtischs saß.

Sie rümpfte das kleine Dreieck, das ihre Nase bildete. »Ich hatte letzte Woche Geburtstag.« Als ich darauf nichts erwiderte, verzog sie das Gesicht. »Leck mich.« Langsam breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus und sie zwinkerte mir noch mal zu. Sie setzte sich mit dem Rücken zu mir an ihren Schreibtisch und öffnete die E-Mails auf ihrem Laptop.

Ich schüttelte den Kopf, zog den Reißverschluss der Verpackung auf und setzte mir meine Kopfhörer auf die Ohren. Nachdem ich die Kopfhörer in meinen Laptop eingestöpselt hatte, öffnete ich die unbeschriftete weiße Mappe und zog eine CD aus einer durchsichtigen Hülle, die ich ins Laufwerk schob.

Während die CD hochgeladen wurde, klickte ich auf NEUES DOKUMENT. Mein Puls beschleunigte sich und meine Finger schwebten einsatzbereit über der Tastatur. Ein neues Projekt, eine leere Seite, das verschaffte mir immer eine ganz besondere unvergleichliche Freude.

In der Akte stand, dass sich zwei Stimmen unterhielten, etwas über ihren Hintergrund und warum wir überhaupt einen Title Three über sie haben wollten. Das Team Fünf San Diego war ziemlich stark mit organisiertem Verbrechen beschäftigt, und obwohl das nicht mein bevorzugter Bereich von Gewaltverbrechen war, kam es ihm schon relativ nahe. Wenn man unbedingt wegwollte, war einem sowieso jede Tür recht.

Zwei verschiedene tiefe Stimmen sprachen Italienisch. Ich ließ die Lautstärke eher leise. Ironischerweise waren innerhalb dieser Regierungsbehörde, die man zur Aufdeckung von Geheimnissen gegründet hatte, diese Großraumbüros mit ihren Zellen nicht gerade zielführend, um diese auch zu wahren.

Ich begann zu tippen. Das Gespräch zu übersetzen und mitzuschreiben, stellte nur die ersten Schritte dar. Dann kam mein liebster Arbeitsschritt. Für den war ich bekannt geworden und der würde mich auch nach Virginia bringen: die Analyse. Gewaltverbrechen waren meine Lieblingsbeschäftigung und ich wollte ans National Center for the Analysis of Violent Crime in Quantico, Virginia – auch bekannt unter der Abkürzung NCAVC.

Zuerst schmeichelten die beiden Männer in dieser Aufnahme ihrem Ego, indem sie damit prahlten, wie vielen Mösen sie es übers Wochenende besorgt hätten, aber die Unterhaltung wurde rasch ernst, als sie auf einen Typen zu sprechen kamen, der anscheinend ihr Boss war – Benny.

Ich schaute, während ich schrieb, flüchtig in die Akte, die Val mir gegeben hatte, und konnte sehen, was für ein Strafregister Benny als bescheidener Player in Las Vegas im Mafiageschäft zusammengesammelt hatte. Ich fragte mich, wie San Diego auf diesen Fall gekommen war und wer wohl die Basisarbeit in Nevada leistete. Chicago hatte nie viel Glück, wenn wir diese Dienststelle anrufen mussten. Ob mit Glücksspiel, Kriminalität oder Rechtsbeugung hielt Vegas jeden in Atem.

Sieben Seiten später juckte es mich in den Fingern, endlich mit meinem Bericht anzufangen, aber ich hörte mir die Aufnahme noch mal an, um die Details zu checken. Das hier war schließlich mein erster Auftrag für San Diego. Außerdem lastete der Druck auf mir, dass ich den Ruf einer auf diesem Gebiet besonders fähigen Agentin hatte. Der Bericht musste also eindrucksvoll werden – zumindest gemäß meinen Vorstellungen.

Mein Zeitgefühl hatte ich verloren, daher kam es mir vor, als sei erst eine halbe Stunde vergangen, als Val mich über den Raumteiler zwischen unseren Arbeitsplätzen hinweg ansah und mit den Fingernägeln auf dessen Rahmen tippte.

Ihr Mund formte Worte, die ich nicht hörte. Ich nahm die Kopfhörer ab.

»Du erweist dich ja nicht gerade als sehr gute Freundin. Verspätung bei unserer ersten Verabredung zum Lunch«, sagte sie.

Ich konnte nicht erkennen, ob sie das als Spaß meinte.

»Ich habe einfach … die Zeit vergessen. Tut mir leid.«

»Davon kommt auch kein fettiger Cheeseburger in meinen Magen. Also lass uns gehen.«

Ich ging mit ihr zum Aufzug, wo Val die Taste fürs Kellergeschoss drückte. In der Tiefgarage folgte ich ihr zu einem zweitürigen schwarzen Lexus und stieg ein, während sie schon den Knopf für die Zündung drückte. Sitz und Lenkrad stellten sich individuell für sie ein.

»Hübsch«, sagte ich. »Du musst ja eine Menge mehr verdienen als ich.«

»Der ist gebraucht. Hab ich meinem Bruder abgekauft. Ist Kardiologe, der Arsch.«

Ich kicherte, während sie über das Gelände kurvte. Nachdem sie das Gebäude neben dem Eingangstor passiert und dem Wachmann zugewunken hatte, steuerte sie das nächste Burgerlokal an.

»Gibt’s in der Kantine etwa keine Burger?«

Sie verzog angewidert das Gesicht. »Schon, aber Fuzzy’s Burgers sind die besten.«

»Fuzzy wie in Fuzzylogik? Das klingt ja nicht besonders appetitlich.«

»Nicht fuzzy Burger, sondern Fuzzy’s Burger. Vertrau mir«, sagte sie und bog rechts ab.

Dann fuhr sie nach links und riss das Steuer scharf herum, auf den Parkplatz einer altmodischen Burger-Braterei mit dem Schild »Hausgemacht«.

»Val!«, rief ein Mann hinter der Theke, kaum dass wir den Imbiss betreten hatten. »Val ist da!«, schrie er noch lauter.

»Val ist da!«, echote eine Frau.

Wir hatten kaum die Theke erreicht, als der Mann der Frau, die mit blütenweißer Schürze hinter der Kasse stand, schon ein rundes, in weißes Papier gewickeltes Objekt zugeworfen hatte.

»Ein Bacon-Lettuce-Tomato mit Käse, Senf und Mayo«, sagte die Frau mit einem wissenden Lächeln.

Val drehte sich zu mir um. »Schrecklich, was?«

»Ich nehme das Gleiche«, sagte ich.

Wir trugen unsere Tabletts zu einem freien Tisch in der Ecke, nahe am Fenster.

Ich schloss kurz die Augen und genoss den Sonnenschein. »Seltsam, dass das Wetter schon so schön ist, obwohl wir gerade erst März haben.«

»Das ist nicht seltsam, sondern prächtig. Die Temperaturen sind höher als im Durchschnitt um diese Jahreszeit, aber selbst wenn sie das nicht sind, ist es perfekt. Alle wären glücklicher, wenn die ganze Welt das Wetter von San Diego hätte.« Val tauchte ihre goldfarbene gewellte Fritte in ein kleines Töpfchen Ketchup. »Probier die Pommes frites. Lieber Gott, probier die. Sie sind so gut. Manchmal sehne ich mich nachts nach ihnen. Wenn ich allein bin, was häufiger vorkommt, als du denkst.«

»Ich denke gar nichts«, sagte ich und tauchte eine Fritte in mein eigenes Becherchen. Ich steckte sie in meinen Mund und musste ihr recht geben. Rasch griff ich nach der nächsten.

»Apropos: Hast du einen Typen? Oder ein Mädchen? Ich frage bloß.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Hattest du? Oder noch nie?«

»Ob ich schon mal ein Mädchen geküsst habe?«

Val lachte dreckig. »Nein! Ob du schon mal eine Beziehung hattest.«

»Warum fragst du?«

»Oh. Es ist kompliziert. Hab ich dich erwischt.«

»Eigentlich ist es überhaupt nicht kompliziert.«

»Hör mal«, sagte Val und kaute auf dem ersten Bissen von ihrem Burger. »Ich bin eine klasse Freundin, aber du musst dich schon ein bisschen mehr öffnen. Mit Fremden will ich auch nicht abhängen.«

»Zuerst ist jeder ein Fremder«, sagte ich und musste an meinen Fremden denken.

»Nein, im Bureau nicht.«

»Warum schaust du nicht einfach in meine Akte?«

»Das macht doch keinen Spaß! Ach, komm schon. Nur die Basics. Hast du dich versetzen lassen, um befördert zu werden oder nur um wegzukommen?«

»Beides.«

»Perfekt. Erzähl weiter. Sind deine Eltern schlimm?« Sie schlug eine Hand vor den Mund. »Ach, du meine Fresse, sie sind doch nicht etwa tot, oder?«

Ich rutschte unbehaglich auf meinem Stuhl herum. »Äh … nein. Ich hatte auch eine normale Kindheit. Meine Eltern lieben sich und mich. Ich bin Einzelkind.«

Val seufzte. »Gütiger Gott. Da könnte ich ja gleich die nächste heikle Frage stellen.«

»Nein. Ich wurde nicht adoptiert«, stöhnte ich. »Lindy ist Irisch. Meine Mutter ist Japanerin.«

»Ist dein Dad ein Rotschopf?« Sie grinste.

Ich funkelte sie böse an. »Am ersten Tag darfst du genau zwei indiskrete Fragen stellen.«

»Erzähl weiter.«

»Ich habe mein Studium mit Auszeichnung abgeschlossen. Ich war mit einem Typen zusammen. Es hat nicht funktioniert«, sagte ich und fühlte mich von meiner eigenen Geschichte ermüdet. »Kein Drama. Unsere Trennung war genauso langweilig wie unsere Beziehung.«

»Wie lange?«

»Wie lang ich mit Jackson zusammen war? Sieben Jahre.«

»Sieben Jahre. Und kein Ring?«

»So ungefähr«, sagte ich und verzog das Gesicht.

»Ah. Du bist mit deinem Job verheiratet. Betty Bureau.«

»War er auch.«

Val lachte prustend. »Du warst mit einem Agenten zusammen?«

»Ja. Er war beim Sondereinsatzkommando SWAT.«

»Noch schlimmer. Wie konntest du so lange mit ihm zusammenleben? Wie kam er so lange damit zurecht, die zweite Geige zu spielen?«

Ich zuckte mit den Achseln. »Weil er mich liebte.«

»Aber du hast den Ring zurückgegeben. Hast du ihn nicht geliebt?«

Ich zuckte mit den Schultern und biss in meinen Burger. »Irgendwas über die Dienststelle, das ich wissen sollte?«, fragte ich.

Val grinste. »Themawechsel. Der Klassiker. Hmm … was du über die Dienststelle wissen solltest. Leg dich nicht mit Maddox an. Er ist der Assistant Special Agent in Charge.«

»Hab ich schon gehört«, sagte ich und rieb meine Finger aneinander, um das Salz abzustreifen.

»Bis nach Chicago?«

Ich nickte.

»Das ist berechtigter Klatsch. Er ist ein RIESEN-Arschloch. Wirst du morgen früh in der Besprechung sehen.«

»Daran nimmt er teil?«, fragte ich.

Sie nickte. »Er wird dir erzählen, dass du als Agent wertlos bist, selbst wenn du die Beste der Besten bist. Nur um sich deine Performance anzusehen, wenn dein Selbstvertrauen im Eimer ist.«

»Damit kann ich umgehen. Was sonst noch?«

»Agent Sawyer ist ein übler Weiberheld. Halt dich von ihm fern. Und Agent Davies eine Schlampe. Halt dich von ihr fern.«

»Oh«, machte ich und dachte kurz über ihre Äußerung nach. »Nach dem Debakel mit Jackson sehe ich mich sowieso nicht in irgendwelchen Beziehungen am Arbeitsplatz.«

Val lächelte. »Ich verfüge über Erfahrungen aus erster Hand mit beiden … also solltest du dich von mir auch fernhalten.«

Ich runzelte die Stirn. »Kann man mit überhaupt irgendjemand hier gefahrlos abhängen?«

»Maddox«, sagte sie. »Er hat da irgendeine problematische Vorgeschichte mit seiner Mama und sich vor einer Weile übel die Finger verbrannt. Der würde deine Titten noch nicht mal eines Blickes würdigen, wenn du sie ihm nackt unter die Nase hältst.«

»Dann hasst er Frauen also.«

»Nein«, sagte sie und schaute gedankenverloren. »Er hat ihnen nur abgeschworen. Will sich nicht noch mal wehtun lassen, denke ich.«

»Mir ist egal, was mit ihm nicht stimmt. Wenn das wahr ist, was du sagst, will ich definitiv nicht mit ihm abhängen.«

»Du wirst prima klarkommen. Mach einfach deinen Job und leb ansonsten dein Leben weiter.«

»Der Job ist mein Leben«, sagte ich.

Val reckte das Kinn und versuchte nicht mal zu verbergen, dass sie von meiner Antwort beeindruckt war. »Du bist bereits eine von uns. Maddox ist ein harter Knochen, aber er wird das auch erkennen.«

»Wie geht seine Geschichte?«, fragte ich.

Sie nahm einen Schluck Wasser. »Er war sehr fokussiert, aber erträglich, als er vor gut einem Jahr nach San Diego kam. Wie ich schon sagte, hat er sich an einem Mädchen aus seiner Heimatstadt die Finger verbrannt. – Camille«, sie sprach den Namen aus, als wäre er Gift in ihrem Mund. »Ich kenne die Details nicht. Keiner redet darüber.«

»Seltsam.«

»Wird dir später nach einem oder fünf Drinks zumute sein?«, fragte sie und schien das Interesse an der Unterhaltung zu verlieren, da es nicht mehr um mein Privatleben ging. »Es gibt da so einen coolen kleinen Pub in Midtown.«

»Ich wohne in Midtown«, sagte ich und fragte mich, ob ich dort wieder meinem Nachbar begegnen würde.

Sie grinste. »Ich auch. Viele von uns. Dann können wir deinen Kummer gemeinsam ertränken.«

»Ich habe keinen Kummer. Nur Erinnerungen. Die verblassen von allein.«

Vals Augen leuchteten wieder interessiert auf, aber mir machte dieses Verhör keinen Spaß. So scharf war ich nicht auf Freundschaften. Oder vielleicht schon, aber das hatte seine Grenzen.

»Und was ist mit dir?«, fragte ich.

»Das ist ein Freitagabend-Thema, zu harten Drinks und lauter Musik. Du bist also hier, um Männern abzuschwören? Um dich selbst zu finden?«, fragte sie ohne eine Spur Ernsthaftigkeit in ihrer Stimme.

Selbst wenn meine Antwort Ja gelautet hätte, würde ich das niemals zugeben. Sie hoffte ganz offensichtlich, sich über mich lustig machen zu können.

»Wenn es so wäre, hätte ich schon total versagt«, sagte ich und dachte an letzte Nacht.

Val beugte sich vor. »Dein Ernst? Du bist doch gerade erst angekommen. Jemand, den du kennst? Alter Highschool-Klassenkamerad?«

Ich schüttelte den Kopf und merkte, wie ich rot wurde. Die Erinnerungen kamen rasch, aber als Momentaufnahmen – Thomas’ braun-grüne Augen, mit denen er mich in der Bar von seinem Platz aus gemustert hatte, das Geräusch meiner Wohnungstür, als er sie mit seinem Rücken zugeschoben hatte, die Leichtigkeit, mit der er in mich eingedrungen war, und meine Füße hoch in der Luft, die bei jedem seiner unglaublichen Stöße erzitterten. Ich presste meine Knie fest zusammen.

Ein Grinsen breitete sich über Vals ganzes Gesicht aus. »One-Night-Stand?«

»Nicht dass es dich irgendwas anginge, aber ja.«

»Mit einem Wildfremden?«

Ich nickte. »Sozusagen. Er wohnt in meinem Apartmenthaus, aber das wusste ich vorher nicht.«

Val schnappte nach Luft und lehnte sich dann auf ihrem Holzstuhl zurück. »Ich wusste es«, sagte sie.

»Du wusstest was?«

Sie beugte sich vor, verschränkte die Arme und stützte sie auf den Tisch. »Dass wir großartige Freundinnen sein werden.«

Kapitel 3

»Wer zur Hölle ist Lisa?« Eine laute Stimme hallte von den Wänden des Teamraums wider. »Lisa Lindy.«

Schon an meinem zweiten Tag in der Dienststelle San Diego war ich eine von Dutzenden Agenten, die auf den Beginn der frühmorgendlichen Besprechung warteten. Vor diesem Ausbruch hatten alle nervös gewirkt, doch nun schienen sie sich zu entspannen.

Ich schaute hoch und in die Augen des jungen Assistant Special Agent in Charge und hätte fast meine eigene Zunge verschluckt. Das war er – mein One-Night-Stand, dessen Lippen ich vermisste. Mein Nachbar.

Panik und Magensäure stiegen in mir auf, aber ich schluckte beides wieder runter.

»Sie heißt Liis«, sagte Val. »Wie blies, aber ohne B, Sir.«

Das Herz hämmerte mir in der Brust. Er wartete, dass jemand sich meldete. Der Neubeginn würde kompliziert in drei, zwei –

»Ich bin Liis Lindy, Sir. Gibt es ein Problem?«

Als unsere Blicke sich trafen, hielt er inne und Entsetzen packte mich in Wellen. Erkenntnis war auch in seinem Gesicht zu erkennen und er wurde einen Augenblick lang blass. Der unverbindliche One-Night-Stand war jetzt eine so üble Verstrickung, dass ich mich am liebsten aufgehängt hätte.