9,99 €
Inspector Lynley und Barbara Havers auf der Spur eines mysteriösen Giftmords ...
Barbara Havers folgt am liebsten ihrem Instinkt, Regeln und Vorschriften interessieren sie wenig. Nach ihren letzten Alleingängen hat sie aber keinen guten Stand bei ihrer Chefin Isabelle Ardery. Ein falscher Schritt und sie könnte strafversetzt werden. Mit Unterstützung von DI Thomas Lynley will sie ihrer Chefin beweisen, dass sie ein guter Detective ist. Da kommt es ihr gerade gelegen, dass sich in Cambridge ein mysteriöser Todesfall ereignet hat: Die Bestsellerautorin Clare Abbott wurde tot in ihrem Hotelzimmer aufgefunden. Aber war es überhaupt ein Mord? Clares Freundin und Lektorin Rory Statham glaubt jedenfalls nicht an einen natürlichen Tod. Auch Barbara hat das Gefühl, dass es im Verborgenen einen Gegenspieler gibt, der einem perfiden Plan folgt – ein Gefühl, das bestätigt wird, als sie Rory kurz darauf mit dem Tod ringend in ihrer Wohnung auffindet ...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 1012
Buch
Als Clare Abbott, eine berühmte Bestsellerautorin, tot in ihrem Hotelzimmer aufgefunden wird, glaubt die Polizei zunächst an ein natürliches Herzversagen. Wäre da nicht ihre Lektorin Rory Statham, dann hätte man den Fall schnell abgeschlossen. Rory will den Befund aber nicht einfach hinnehmen. Sie ist davon überzeugt, dass etwas anderes den Tod ihrer Autorin und Freundin verursacht hat. Da sie schon immer etwas skeptisch war, was die persönliche Assistentin von Clare angeht, hat sie auch schon eine Verdächtige. Jetzt sucht sie Hilfe bei Barbara Havers, deren Visitenkarte ihr zufällig bei einer Lesung in die Hände gefallen ist. Und Barbara horcht gleich auf, als sie von dem Fall erfährt. Dringend muss sie beweisen, dass sie ein guter Detective ist. Nach ihrem letzten Alleingang hat ihre Chefin Isabelle Ardery sie unter Beobachtung. Verstößt Barbara wieder gegen die Regeln, könnte sie strafversetzt werden. Dieser Fall kommt ihr daher ganz recht, obwohl es mehr als schwierig ist, überhaupt zu beweisen, dass es ein Mord war. Als Rory dann aber mit Verdacht auf Vergiftung ins Krankenhaus eingeliefert wird, weiß Barbara, in welche Richtung sie ermitteln muss. Und je genauer sie das Umfeld der Ermordeten kennenlernt und die verworrenen Verhältnisse durchschaut, wird ihr klar, wie schwierig die Ermittlungen sich gestalten werden. Wird sie den Fall lösen und damit ihre Karriere retten können?
Elizabeth George
Bedenke, was du tust
Ein Inspector-Lynley-Roman
Ins Deutsche übertragen von Charlotte Breuer undNorbert Möllemann
Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel»A Banquet of Consequences« bei Viking, a Penguin Random House Company, New York.
1. Auflage
Copyright © 2015 by Susan Elizabeth George
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: plainpicture/NaturePL
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-16589-5
www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz
In liebevoller Erinnerung an Jesse Vallera.Jeder Moment in seiner Gegenwartwar ein ausgesprochenes Privileg.
»… die Vergangenheit ist so schwer zu verändern.Sie begleitet uns wie eine Anstandsdameund steht zwischen uns und derNeuheit der Gegenwart – der neuen Chance.«
Jeannette WintersonWarum glücklich statt einfach nur normal?
»Früher oder später werden wir uns allean eine mit Konsequenzen gedeckte Tafel setzen.«
Nancy HoranUnder the Wide and Starry Sky
Drei Jahre und drei Monate zuvor
8. Dezember
___________________________
SPITALFIELDSLONDON
Da es nur ein Wochenendtrip nach Marrakesch war, würden ein Koffer und eine kleine Reisetasche ausreichen, dachte Lily Foster. Was würden sie schon groß brauchen? In London war es seit Mitte November eiskalt, grau und nass, aber in Nordafrika würde es ganz anders sein. Die meiste Zeit würden sie sich sowieso am Swimmingpool in der Sonne aalen. Oder sie würden auf ihrem Zimmer bleiben und sich lieben, und dafür brauchten sie dann auch keine Kleider.
Das Packen dauerte nicht einmal zehn Minuten. Sandalen, Sommerhosen, ein T-Shirt für William. Sandalen, ein hautenges Kleid und ein Halstuch für sie selbst. Badehose, Bikini, Sonnenmilch und Kosmetika, das war’s. Dann begann das Warten, das – nach einem Blick auf die Wanduhr über dem Herd – eigentlich keine halbe Stunde dauern dürfte. Aber es wurden mehr als zwei Stunden daraus, in deren Verlauf sie ihm mehrere SMS schrieb, auf die sie keine Antwort erhielt. Als sie seine Nummer wählte, meldete sich nur seine angenehme Stimme: »Will hier. Hinterlasst mir eine Nachricht, ich rufe zurück«, worauf sie antwortete: »Wo steckst du, William? Ich dachte, du hättest nur kurz in Shoreditch zu tun. Warum bist du immer noch dort, noch dazu bei dem Mistwetter? Ruf mich an, sobald du das abhörst, okay?«
Lily trat ans Fenster. Draußen regnete es in Strömen, am Himmel ballten sich düstere Wolken. Selbst bei schönem Wetter war diese Wohnsiedlung ziemlich trostlos: eine Handvoll heruntergekommener Backsteingebäude, deren Bewohner lieber über die braunen Rasenflächen stapften als über die unebenen Wege mit aufgeplatztem Asphalt. Bei solch einem Wetter wirkte das Ganze wie eine Todesfalle, wie ein Ort, an dem jede Hoffnung verloren ging. Sie beide gehörten nicht hierher, das stand fest. Diese Umgebung tat ihr nicht gut, und William noch weniger. Aber etwas Besseres konnten sie sich vorerst nicht leisten, und deswegen würden sie hierbleiben, bis Lily ihr Geschäft ausweiten konnte und Williams Unternehmen Fuß gefasst hatte.
Das war der schwierige Teil: Williams Unternehmen. Er legte sich ständig mit seinen Kunden an, und die hatten keine Lust, sich mit jemandem zu streiten, den sie für seine Arbeit bezahlten.
»Du musst auf die Wünsche der Leute eingehen«, sagte sie ihm immer wieder.
»Die Leute«, konterte er dann, »sollen mich in Ruhe lassen. Außerdem kann ich mich nicht konzentrieren, wenn sie mir die Ohren volljammern. Warum kapieren die das nicht? Schließlich sag ich es ihnen von vornherein.«
Genau, dachte Lily. Dass er den Leuten ins Gesicht sagte, was er dachte, war Teil des Problems. Er musste das sein lassen.
Lily blickte stirnrunzelnd auf die Straße hinunter. Kein Mensch war da unten zu sehen, erst recht kein William mit hochgeschlagenem Kragen, der aus dem Wagen stieg und zum Fahrstuhlturm ihres Hauses rannte. In dem Wohnblock schräg gegenüber entdeckte sie auf einem der Balkons eine Frau, die in einem leuchtend gelben, im Wind flatternden Sari Wäsche abnahm. Anderswo hingen schlaffe Wäschestücke auf den Leinen, waren Spielsachen, ein paar kümmerliche Pflanzen und die üblichen Satellitenschüsseln hilflos dem scheußlichen Wetter ausgesetzt.
Durch das Fenster hörte Lily den endlosen Lärm der Großstadt: das Reifenquietschen auf nassem Asphalt, als ein Auto zu schnell um die Ecke bog, das metallische Dröhnen von einer Baustelle, wo irgendwo wieder ein Wohnblock hochgezogen wurde, das Lalülala eines Notarztwagens auf dem Weg zum Krankenhaus, und irgendwo im Gebäude das viel zu laute Wummern von Bässen, die irgendjemandes musikalische Vorliebe untermalten.
Sie schrieb William die nächste SMS. Als nach zwei Minuten immer noch keine Antwort kam, rief sie ihn noch einmal an. Sie sagte: »William, du musst doch meine SMS kriegen! Gott, nein … du hast doch nicht etwa schon wieder dein Handy auf stumm gestellt? Du weißt genau, dass ich das nicht ausstehen kann! Es ist wichtig! Eigentlich wollte ich es dir nicht sagen, aber … ach, verflixt und zugenäht. Hör zu. Ich habe für unseren ersten Jahrestag eine Überraschung geplant. Okay, du sagst jetzt bestimmt, nach zehn Monaten kann man keinen Jahrestag haben, aber du weißt schon, was ich meine, also stell dich nicht so an. Jedenfalls müssen wir wegen dieser Überraschung zu einer bestimmten Uhrzeit irgendwo sein, also wenn du nur deswegen nicht antwortest, weil du mich aus irgendeinem Grund ärgern willst, dann hör auf damit und ruf mich zurück.«
Es blieb ihr nichts anderes übrig, als zu warten. Sie schaute zu, wie der Minutenzeiger vorrückte, und redete sich ein, dass sie noch genug Zeit hatten, um pünktlich in Stansted zu sein. William brauchte nur nach Hause zu kommen, beide Reisepässe steckten bereits in ihrer Handtasche, die Tickets waren ausgedruckt. Alles, was man für eine Reise ins Ausland bedenken musste, auch wenn es nur ein Wochenendausflug war, hatte sie organisiert.
Sie hätte es ihm sagen sollen, bevor er am Morgen zur Arbeit gefahren war, überlegte sie. Aber er war frustriert darüber gewesen, wie der Auftrag in Shoreditch lief, und sie hatte ihn nicht aus seinen Gedanken reißen wollen. Manchmal war es ganz schön anstrengend, die Leute von einem fantastischen Entwurf zu überzeugen, der genau zum Grundstück passte. Ständig mischten sie sich ein, obwohl sie einen Experten angeheuert hatten, was man mit Sicherheit von William Goldacre behaupten konnte. Er war Experte, Visionär, Künstler und Handwerker. Ließ man ihm freie Hand, verwandelte er jeden von Unkraut überwucherten Garten in ein Paradies.
Als sie seinen alten Fiesta endlich aus der Heneage Street um die Ecke biegen sah, waren vier Stunden vergangen, und Marrakesch konnte sie in den Wind schreiben. Das Geld war zum Teufel, sie saßen fest, und Lily brauchte einen Schuldigen.
Wo war er gewesen? Was hatte er getrieben? Wieso war er nicht an sein verdammtes Handy gegangen? Wenn er nur einen ihrer ersten Anrufe entgegengenommen hätte – was hätte es dich gekostet, William? –, hätte sie ihm von ihren Plänen erzählen und ihn bitten können, sie am Flughafen zu treffen. In diesem Augenblick könnten sie glücklich und zufrieden nebeneinander in diesem verdammten Flugzeug sitzen, das sie in die warme Sonne und zu einem vergnüglichen Wochenende bringen würde.
Lily steigerte sich in ihre Wut hinein, als sie ihn aus dem Auto steigen sah. Sie legte sich ihre Worte zurecht. Rücksichtslos und gedankenlos standen ganz oben auf der Liste. Doch dann sah sie sein Gesicht im Licht einer Straßenlaterne. Sie sah seine hängenden Schultern und seinen schweren Gang, als er näher kam. Er hatte den Kunden in Shoreditch verloren. Das war der zweite Kunde, den er innerhalb von nur drei Monaten verlor, wieder ein Projekt, das in Verbitterung, Wut und Vorwürfen enden würde. Zumindest auf Williams Seite. Der Kunde würde die Rückzahlung eines saftigen Vorschusses verlangen, obwohl das meiste von dem Geld bereits für Material ausgegeben worden war.
Lily beobachtete, wie William von Lichtinsel zu Lichtinsel ging und dann aus ihrem Blickfeld verschwand. Sie trug die Reisetasche ins Schlafzimmer und schob sie unters Bett. Als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte, hörte sie Williams Schlüssel im Schloss. Bis die Tür aufging, saß sie auf dem abgewetzten Sofa, in der Hand ihr Smartphone, und rief ihre Mails ab. »Gute Reise!«, schrieb ihre Mutter, was nicht gerade dazu beitrug, dass ihre Laune sich besserte.
William sah sie sofort, als er durch die Tür kam – was unvermeidlich war in der kleinen Wohnung –, und wandte sich ab. Als er sich zu ihr umdrehte, fiel sein Blick auf ihr Handy. »Sorry.«
Sie sagte: »Ich habe dir mehrere SMS geschrieben und dich mehrmals angerufen, William.«
»Ich weiß.«
»Warum hast du nicht geantwortet?«
»Ich hab mein Handy kaputt gemacht.«
Er hatte einen Rucksack dabei. Wie um ihr zu beweisen, dass er die Wahrheit sagte, öffnete er ihn und leerte den Inhalt auf den Boden aus. Sein Handy fiel heraus, und er gab es ihr. Es war ruiniert.
»Bist du mit dem Auto darübergefahren, oder was?«, fragte sie.
»Ich habe es mit einem Spaten zertrümmert.«
»Aber …«
»Du hast die ganze Zeit … Ich weiß nicht, Lily. Ich konnte dir nicht antworten, aber du hast einfach nicht aufgehört … Das dauernde Klingeln und Summen, während da alles drunter und drüber ging. Ich hatte das Gefühl, als würde mir gleich der Schädel explodieren, und ich wusste mir nicht anders zu helfen, als das Handy mit dem Spaten zu zertrümmern, damit das endlich aufhörte.«
»Was ist denn eigentlich los?«
William ließ den Inhalt seines Rucksacks auf dem Boden liegen und warf sich in einen Sessel. Jetzt konnte sie sein Gesicht deutlich sehen. Er blinzelte auf die ihm eigene Art, wie er es immer tat, wenn eine unangenehme Situation sich zuspitzte.
»Es ist zwecklos«, sagte er.
»Was?«
»Ich. Das hier. Alles. Ich bin ein Versager. Es hat alles keinen Zweck. Ende, aus.«
»Du hast den Kunden in Shoreditch also verloren?«
»Was glaubst du denn wohl? Ich verliere doch alles. Meine Autoschlüssel, meinen Laptop, meinen Rucksack, meine Kunden. Und dich auch, Lily, du brauchst es gar nicht abzustreiten. Ich bin dabei, dich zu verlieren. Und genau das – seien wir ehrlich – wolltest du mir doch sagen, oder? Du hast mich angerufen und mir SMS geschrieben, weil du unbedingt wolltest, dass ich dich zurückrufe, damit du genau das tun konntest, was alle mit mir machen. Weil du Schluss machen willst, stimmt’s?«
Er hörte gar nicht mehr auf zu blinzeln. Er musste sich beruhigen. Aus Erfahrung wusste Lily, dass es kaum noch etwas gab, das ihn beruhigen konnte, wenn er sich noch weiter in diesen Zustand hineinsteigerte, deshalb sagte sie: »Ich wollte eigentlich mit dir nach Marrakesch fliegen. Ich hatte ein Supersonderangebot gefunden für einen Wochenendtrip, mit Hotel, Swimmingpool und allem Drum und Dran. Ich wollte dich damit überraschen, und ich hätte es dir schon heute Morgen sagen sollen – wenigstens, dass ich eine Überraschung geplant hatte –, aber das hätte bedeutet … Ach, ich weiß nicht.« Entmutigt fügte sie hinzu: »Ich dachte, es würde uns Spaß machen.«
»Für so was haben wir kein Geld.«
»Meine Mutter hat es mir geliehen.«
»Dann wissen deine Eltern also jetzt, wie schlecht es uns geht, ja? Was ich für ein Versager bin. Was hast du ihnen erzählt?«
»Ich hab nur mit meiner Mutter gesprochen. Aber ich hab ihr nichts Konkretes erzählt. Und sie hat auch nicht gefragt. So ist sie nicht, William. Sie mischt sich nicht ein.« Nicht wie deine Mutter, dachte sie, behielt es jedoch für sich.
Aber er hatte es trotzdem kapiert, denn er bekam diesen säuerlichen Gesichtsausdruck so wie jedes Mal, wenn es um seine Mutter ging. Er sprang jedoch nicht darauf an, sondern sagte stattdessen: »Ich hätte von Anfang an merken müssen, dass diese Leute Idioten sind, aber ich habe es nicht geschnallt. Wieso kriege ich nie mit, wie die Leute drauf sind? Sie sagen, sie wollen was Besonderes, und ich kann ihnen was Besonderes bieten, und es würde ihnen bestimmt gefallen, wenn sie mich nur machen ließen. Aber nein, sie verlangen Zeichnungen und Entwürfe und Abnahmen und tägliche Abrechnungen. So kann ich nicht arbeiten.«
Er stand auf. Trat an das Fenster, an dem sie die ganze Zeit auf ihn gewartet hatte. Sie wusste nicht, was sie zu ihm sagen sollte, aber was sie ihm gern gesagt hätte, war: Wenn er nicht unter der Federführung von jemand anderem arbeiten konnte, wenn er nur allein arbeiten konnte, dann würde er lernen müssen, auf Menschen zuzugehen, denn wenn er das nicht lernte, würde er immer und immer wieder Fehlschläge erleben. Sie hätte ihm gern gesagt, dass es ein Unding war, wie er mit den Leuten umsprang, dass er nicht von ihnen erwarten konnte, dass sie ihm ihren Garten oder auch nur einen Teil ihres Gartens einfach überließen, damit er sich dort nach Herzenslust austoben konnte. Und wenn es ihnen nicht gefällt, was du dir ausgedacht hast?, hätte sie ihn gern gefragt. Aber sie hatte das alles schon oft genug gesagt und gefragt, und es endete jedes Mal so wie jetzt.
»Es liegt an London«, sagte er abrupt zur Fensterscheibe.
»Was ist mit London?«
»Das hier. Alles. Es liegt an London. Die Leute hier … sind anders. Sie verstehen mich nicht, und ich verstehe sie nicht. Ich muss hier weg. Es ist der einzige Ausweg, ich werde mich auf keinen Fall von dir aushalten lassen.«
Er fuhr zu ihr herum. Seine Miene war dieselbe, die er aufsetzte, wenn seine Kunden ihm Fragen stellten, die er für überflüssig hielt. Sie drückte aus, dass er nicht mit sich reden ließ. Als Nächstes, dachte sie, würde er ihr seinen Entschluss mitteilen.
Und das tat er. »Dorset.«
»Dorset?«
»Ich muss nach Hause.«
»Das hier ist dein Zuhause.«
»Du weißt, was ich meine. Ich habe den ganzen Tag gegrübelt, und das ist die Lösung. Ich gehe nach Dorset zurück. Ich fange noch mal ganz von vorne an.«
SPITALFIELDSLONDON
Sie bugsierte ihn aus dem Haus, Regen hin oder her. Sie schlug das Pride of Spitalfields vor. Das Pub lag ganz in der Nähe, es war vielleicht ein bisschen schickimicki mit seinem cremeweißen Außenanstrich und den dunkelblauen Markisen, von denen der Regen tropfte, aber dort bekam man immer noch einen guten Cidre und meistens waren noch ein oder zwei Tische in der Ecke frei. Er sträubte sich. »Das kann ich mir nicht leisten, Lily, und ich lasse nicht zu, dass du bezahlst.«
Sie erklärte ihm, es sei Geld von ihrer Mutter, das für Marokko vorgesehen gewesen war, und was spielte es überhaupt für eine Rolle, wer bezahlte, wo sie doch im selben Boot saßen.
»Das … das gehört sich einfach nicht«, entgegnete er. Seine Wortwahl ließ vermuten, dass seine Mutter hinter jeder Entscheidung stand, die er getroffen hatte, seit er sich mit seinen Kunden überworfen hatte, angefangen bei der Zertrümmerung seines Handys bis hin zu dem Entschluss, nach Dorset zurückzukehren.
Ohne innezuhalten und sich zur Geduld zu ermahnen fuhr sie ihn an: »Du hast es ihr erzählt, stimmt’s? Und zwar bevor du mit mir darüber gesprochen hast. Warum hast du das getan?«
»Das hat nichts mit meiner Mutter zu tun«, sagte er.
»O doch! Alles hat immer mit deiner Mutter zu tun!«, gab sie zurück.
Sie betrat das Pride of Spitalfields. Sie war so wütend, dass es ihr fast egal war, ob er mitkam. Doch er folgte ihr, und sie setzten sich an den einzigen freien Tisch, direkt neben der Damentoilette, aus der ihnen jedes Mal grelles Neonlicht ins Gesicht fiel, wenn die Tür aufging. Irgendwo lief Musik. Sie kam anscheinend aus einem iPod oder einem iPhone mit einer Radio-App, denn es war eine Mischung aus Country & Western-Oldies, hauptsächlich Johnny Cash und hin und wieder auch was von Willie Nelson, Patsy Cline, Garth Brooks, Randa Travis und den Judds.
Lily sagte: »Du hast mir immer noch keine Antwort gegeben, William.«
Er schaute sich im Pub um, ehe er sie ansah. »Das stimmt nicht. Ich habe dir gesagt, dass …«
»Du hast versucht, mich abzulenken, mehr nicht. Also noch mal: Du hast mit deiner Mutter gesprochen. Du hast ihr erzählt, was passiert ist, bevor du es mir gesagt hast.«
»Ich habe gesagt, das hat nichts mit meiner Mutter zu tun.«
»Lass mich raten. Sie hat gemeint, du sollst nach Dorset zurückkommen. Sie hat dir gesagt, dass du da noch mal ganz von vorne anfangen kannst. Sie hat dir ihre Unterstützung angeboten, und nicht nur ihre, sondern auch die deines Stiefvaters. Wann wirst du dich endlich von den beiden lösen?«
»Ich habe nicht vor, wieder zu meiner Mutter zu ziehen. Zumindest nicht auf Dauer. Nur, bis ich mir etwas aufgebaut habe. Es ist das Beste.«
»Gott, ich kann direkt ihre Stimme aus dir hören«, schäumte Lily.
»Ich hab an Sherborne gedacht«, sagte er. »Oder Yeovil. Wahrscheinlich eher Yeovil, das ist erschwinglicher, wobei Sherborne geschäftlich interessanter wäre. Da wohnen Leute mit Geld. Sogar Mum sagt …«
»Mich interessiert nicht, was ›Mum‹ sagt.«
»Es liegt an London, Lily. In London Geld zu verdienen ist schwer, egal womit.«
»Ich habe auch ein Geschäft hier. Und es läuft gut.«
»Tattoos, ja. Dafür ist London super. Aber in meiner Branche … In dem Metier, in dem ich wirklich gut bin … Hier in London lassen die Leute sich nicht so auf mich ein, wie ich das brauche. Du hast es selbst gesagt: London ist perfekt, wenn man anonym bleiben will, aber wenn man mehr will, kann man es vergessen. Genau das hast du selbst gesagt. Ich hab hier keine Chance. Nur dir zuliebe hab ich es hier so lange ausgehalten.«
Sie schaute zum Tresen hinüber. Sie dachte daran, wie hip Spitalfields neuerdings geworden war, während die scheußlichen Stahl- und Glastürme des Londoner Zentrums immer näher rückten. Selbst hier – gar nicht weit entfernt von Whitechapel, wo Jack the Ripper in den engen Gassen sein Unwesen getrieben hatte – flirteten junge Frauen in schicken, knapp sitzenden Kostümen mit jungen Männern in Anzügen und tranken Weißwein. Weißwein! Im East End! All das bewies einmal mehr, dass nichts blieb, wie es war, dass der Fortschritt unaufhaltsam war und dass »Fortschritte machen« sich nicht nur auf die Gesellschaft und die Wirtschaft und die Wissenschaft und alles andere bezog, sondern auch auf Menschen. Lily fand das schrecklich – allein die Vorstellung von permanenter Veränderung, an die man sich gewöhnen musste. Aber sie wusste auch, wann es zwecklos war, dagegen anzukämpfen.
Sie sagte: »Ich nehme an, das war’s dann wohl.«
»Was?«
»Das mit uns. Was sonst?«
Er langte über den Tisch und nahm ihre Hand. Seine Handfläche, die sich über ihre geballte Faust legte, fühlte sich feucht an. Er sagte: »Du kannst doch mit nach Dorset kommen. Du kannst da ein Tattoo-Studio aufmachen. Ich hab schon mit …«
»Mit deiner Mutter gesprochen. Alles klar. Und sie hat dir versichert, dass in Dorset ein großer Bedarf an Tattoos herrscht.«
»Na ja … also, das müsste sich zeigen. Aber du verstehst sie falsch, Lil. Sie wünscht sich ebenso sehr wie ich, dass du mitkommst.«
14. Dezember
____________________________
SPITALFIELDS
LONDON
Will hatte nicht damit gerechnet, dass Lily als Erste aus der Wohnung ausziehen würde. Er hatte sich mehr oder weniger darauf verlassen, dass sie noch bleiben würde – eine Konstante in seinem Leben –, bis er seine Sachen gepackt hatte und den Umzug in die Wege leitete. Aber zwei Tage später war sie gegangen, und so blieben ihm vier Tage, in denen er allein zurechtkommen musste, vier Tage, bis seine Mutter und sein Stiefvater mit dem Bäckereilieferwagen kamen, um alles nach Dorset zu transportieren, was nicht in seinen Fiesta passte.
Vier Tage allein, das bedeutete, dass er dazu verdammt war, vier Tage lang mit seinem Kopf allein zu sein. In seinem Kopf waren Stimmen zu hören. Sie sagten ihm Dinge, die er bereits wusste: Er konnte die Hoffnung auf ein gemeinsames Leben mit Lily aufgeben; er hatte einmal mehr bewiesen, was für ein Versager er war; er war seit dem Tag, an dem er das Licht der Welt erblickt hatte, ein verdammter Spinner, du brauchst nur in den Spiegel zu sehen, Will, dann weißt du Bescheid. Und genau das tat er. Er ging ins Bad und schaute in den Spiegel und sah alles, was er an sich verabscheute. Seine lächerliche Größe. Was bist du, ein Zwerg? Das deformierte rechte Ohr. Dein Vater ist Schönheitschirurg und war nicht bereit, dich zu operieren? Dichte Brauen, die sich über seinen Augen wölbten. Ist unter deinen Vorfahren ein Gorilla, du Affengesicht? Ein Schmollmund wie bei einer Puppe.
Du bist so hässlich wie die Nacht, mein Junge. Sie konnte dich nicht ansehen. Wer kann das schon? Du hast sie von der Leine gelassen, und sie ist natürlich abgehauen. Kann man es ihr verdenken? Wie lange wird sie wohl brauchen, bis sie für einen anderen die Beine breitmacht? Für einen, der weiß, was er tut. Keine Ausreden, keine Pillen, kein Gerammel, kein tut mir leid, aber du machst mich ganz heiß. Jetzt hat sie einen, der es ihr richtig gut besorgt, was du – seien wir ehrlich – nie gebracht hast.
Er rief seine Großmutter an. Um sich von dem abzulenken, was sich in seinem Kopf abspielte. Aber als er ihr erzählte, dass er nach Dorset zurückgehen würde, sagte sie mit ihrer rauen kolumbianischen Raucherstimme: »Sei nicht verrückt, Guillermo. Verrückte Idee. Du machst einen Fehler. Rede mit Carlos, sí? Er wird dir dasselbe sagen.«
Aber es hatte keinen Zweck, mit Charlie zu reden. Wills Bruder führte ein Traumleben, in jeder Hinsicht das krasse Gegenteil von Wills Mickerexistenz.
»Dorset?«, würde er sagen. »Scheiße, Will, was willst du in Dorset? Wie kannst du ausgerechnet sie als Lösung betrachten, wo sie seit fünfundzwanzig Jahren dein Problem ist?«
Charlie würde nicht glauben, was seine Großmutter und Lily auch nicht glaubten, nämlich, dass es nur eine Übergangslösung war. Denn Caroline Goldacre wollte ihren Sohn ebenso wenig für immer und ewig bei sich aufnehmen, wie er für immer und ewig bei ihr wohnen wollte. Sie selbst hatte gesagt: »Du kannst nur für kurze Zeit hier unterkommen, Will, das verstehst du doch?«, und sie hatte sich auf nichts eingelassen, ehe er ihr nicht eben dies versprochen hatte: ein paar Wochen, um sich einzuleben und einen neuen Kundenkreis aufzubauen. Sherborne, dachte er. Er würde sich in Sherborne umsehen müssen.
Sie hatte ihm erklärt, er müsse in London warten, bis sie und sein Stiefvater sich loseisen konnten. Da die Bäckerei sonntags geschlossen war, würden sie am Sonntag nach London rauffahren. Das sei doch kein Problem, oder? Überhaupt nicht, hatte er geantwortet. Aber dann war Lily fortgegangen.
Kurz darauf hatten die Stimmen in seinem Kopf sich gemeldet und wollten nicht mehr verstummen. Nach vierundzwanzig Stunden rief er seine Mutter an und fragte, ob er nicht schon vor Sonntag nach Dorset kommen könne. Er würde einen Teil seiner Sachen in seinem Fiesta transportieren, und am Sonntag könnten sie dann alle zusammen noch einmal nach London fahren, um den Rest abzuholen.
»Was soll der Unsinn?«, erwiderte seine Mutter liebevoll. »Bis Sonntag wirst du es doch wohl aushalten können, oder?« Dann fragte sie vorsichtig: »Will, du nimmst doch regelmäßig deine Medikamente, nicht wahr?«
Er bejahte ihre Frage. Er erzählte ihr nicht, dass Lily gegangen war. Er wollte nicht, dass sie das eine mit dem anderen in Verbindung brachte: Lily und seine Medikamente. Es hatte keinen Zweck.
Die vier Tage zogen sich hin wie eine Ewigkeit. Nichts konnte ihn davon ablenken, darüber nachzugrübeln, wer er war. Nach zwei Tagen begann er, in der Wohnung auf und ab zu gehen und sich gegen die Stirn zu schlagen. Am Sonntag stellte er sich ans Fenster und verbrachte die zähen Stunden des Wartens wie ein ausgesetzter Hund.
Und so sah er, wie der Lieferwagen in die Straße einbog. Er sah, wie seine Mutter ausstieg und wie immer seinen Stiefvater in die Parklücke einwies. Sie wedelte mit den Armen und trat ans Fahrerfenster, um ihm etwas zu sagen. Dann fuchtelte sie wieder mit den Armen, bis der arme Alastair es geschafft hatte, den Wagen zu parken, ohne ein anderes Fahrzeug zu rammen.
Will spürte, wie das Böse in ihm aufstieg, während er das alles beobachtete. Er versuchte, es zu unterdrücken. Aber er begann unwillkürlich zu blinzeln, und aus den Tiefen seines Inneren, über das er keine Kontrolle hatte, sprudelten die Worte hervor. »Hier kommt die schwanzlutschende Sturmtruppe.« Er schlug sich eine Hand vor den Mund, und seine Lider flatterten. »Ficker Ficker Ficker Drecksau Regen Eis.« Er wich vom Fenster zurück und versuchte, die Stimmen zu ersticken. Aber sie drangen heraus wie der faulige Gestank aus einem defekten Abwasserrohr. »Hure Schlampe Hurensohn Loddel.«
Es klingelte. Er stolperte zur Tür und drückte auf den Knopf, der den Aufzug freigab. Er schlug sich heftig, spürte jedoch keinen Schmerz. »Ficken poppen blasen wichsen alles Schweine.«
Er riss die Wohnungstür auf und zog sich dann ans hintere Ende des Zimmers zurück. Er hob die Hand und biss sich fest ins Handgelenk.
Er hörte ihre Stimmen näher kommen, die seiner Mutter klang weich, Alastairs rau. Er hörte seine Mutter sagen: »Es wird schon alles gut gehen.« Und dann kamen sie in seine Wohnung.
Sie ergriff als Erste das Wort. »Du solltest lieber nicht den Aufzug freigeben, ohne dich vorher zu erkundigen, wer geklingelt hat, Will«, sagte sie. »Das könnte doch sonst wer sein, gerade hier in der Gegend …« Ihre Worte drangen in die Stille ein, während sie ihn anschaute.
Er blinzelte heftig. Er hielt sich den Bauch, um zurückzuhalten, was herausdrang wie eine nur für sie bestimmte Geißel. »Heiße Fotze kalte Fotze Hundefutter Dreck.«
Sie sagte nur: »Ach du je.« Mit schnellen Schritten durchquerte sie das Zimmer. Sie nahm ihn in die Arme. Er klammerte sich an sie, aber die Worte sprudelten weiter aus ihm hervor, also löste er sich von ihr und drehte sich um. Er schlug mit dem Kopf gegen die Wand, aber es wollte nicht aufhören.
Er hörte seine Mutter sagen: »Das ist nur ein Anfall, mein Liebling. Es sind nur Wörter. Das ist nichts Schlimmes. Du solltest versuchen …«
Er lachte hysterisch. »Schlampe Schwanz Irrenhaus.«
»Keine schlechte Idee«, hörte er Alastair murmeln.
»Überlass das mir, Alastair«, sagte seine Mutter in scharfem Ton. »Vielleicht könntest du ja schon mal damit anfangen, seine Sachen einzusammeln und ins Auto runterzutragen.«
»Wo ist denn sein ganzer Krempel?«, fragte Alastair. »Hast du denn nicht gepackt, Will? Hast du vergessen, dass deine Mutter und ich heute kommen würden?«
»Offensichtlich war er nicht dazu in der Lage … Du musst wohl … Nein. Nein, wir packen jetzt nur die nötigsten Sachen zum Anziehen in einen Koffer, den Rest kann Lily später nachschicken. Ich werde ihr einen Zettel schreiben. Warum ist sie eigentlich nicht hier? Wo ist Lily, Will?«
»Lily Fotze Schwanz ficken der Troubadour singt.«
Die Wörter kamen jetzt lauter heraus. Er schlug mit der Faust gegen die Wand. Er spürte die Hand seiner Mutter an seinem Arm. Sie versuchte, ihn in die Mitte des Zimmers zu ziehen, aber er riss sich los und lief in die Küche, denn dort gab es Messer, damit konnte er sich die Zunge herausschneiden oder sich irgendeinen starken Schmerz zufügen, denn jetzt konnten nur noch intensive Schmerzen den Strom der Wörter stoppen.
»Lass das, William!«, rief seine Mutter. Er hörte, wie sie hinter ihm hergelaufen kam. Er spürte, wie ihre Arme sich um ihn legten. »Bitte.«
»Caro«, sagte Alastair aus dem Wohnzimmer. »Vielleicht will der Junge gar nicht mitkommen.«
»Er muss«, antwortete sie. »Sieh dir doch an, in welchem Zustand er ist. Will, hör mir zu. Soll ich einen Krankenwagen rufen? Möchtest du ins Krankenhaus? Oder woandershin? Ich glaube nicht, dass du das möchtest, also reiß dich bitte zusammen.«
»Ich könnte Lily auf ihrem Handy anrufen«, schlug Alastair vor, »und sie bitten herzukommen. Ist ihr Laden nicht ganz hier in der Nähe? Arbeitet sie heute?«
»Unsinn, heute ist Sonntag. Sieh dich doch mal um. Sie ist weg. Und Lily ist das Problem, nicht die Lösung. Du brauchst dir ihn doch nur anzuhören.«
»Aber die Wörter bedeuten doch nicht …«
»Sie bedeuten, was sie bedeuten.«
Will riss sich von seiner Mutter los und presste sich die Hände an den Schädel. »Gabeln Messer und Löffel und ihr zwei am Ficken wie die Ziegen damit ich ficken ficken ficken kann denn so hat sie’s gern wie Jesus und Maria es gemacht haben was soll er sonst gemacht haben bis er dreiunddreißig war.«
»Heiliger Strohsack«, entfuhr es Alastair.
»Es reicht, William.« Caroline drehte ihn zu sich, und er blinzelte wie verrückt und konnte sie kaum noch sehen. Sie sagte: »Hör sofort damit auf. Wenn du dich nicht in den Griff kriegst, rufe ich den Notarzt, und dann bringen sie dich Gott weiß wohin, und das willst du doch bestimmt nicht. Wo sind deine Medikamente? Hast du sie eingepackt? Antworte mir, Will.«
»Und als er vom Kreuz gestiegen ist, hat die verfickte Kuh den Balg fallen lassen.«
Caroline sagte: »Es hat keinen Zweck. Alastair, würdest du bitte unten warten?«
»Es gefällt mir nicht, dich mit ihm allein zu lassen, Liebes.«
»Ist schon in Ordnung. Du weißt, dass ich im Notfall mit ihm zurechtkomme. Er wird mir nichts tun. Er muss sich einfach nur beruhigen.«
»Wenn du meinst …«
»Ja.«
»Also gut. Ruf mich auf dem Handy an. Ich warte unten.« Alastair ging und zog die Tür hinter sich zu.
»So, Schluss jetzt!«, sagte Caroline mit Nachdruck. »Ich hab gesagt, du sollst aufhören. Hast du mich verstanden, Will? Du benimmst dich wie ein Zweijähriger, und das reicht mir jetzt. Wie hast du es geschafft, in so einen Zustand zu geraten, wo du doch ganz genau weißt, was du dagegen tun kannst. Himmel Herrgott, kann man dich nicht mal fünf Minuten allein lassen?«
»Fotze voll Kotze.«
Sie schüttelte ihn so heftig, dass seine Zähne klapperten. Sie stieß ihn in Richtung Wohnzimmer. »Geh mir aus den Augen!«, fauchte sie. »Krieg dich gefälligst in den Griff, und zwar ein bisschen plötzlich. Du weißt genau, was du zu tun hast, also tu’s. Und lass dir das nicht zweimal sagen!«
SPITALFIELDS LONDON
Alastair verließ das Haus und ging zum Lieferwagen. Die Begegnung mit Will hatte ihn erschüttert. In einem so schlimmen Zustand hatte er ihn noch nie erlebt.
Als Will nach London gezogen war, hatte er sich sehr viel davon versprochen. Er hatte eine Freundin gefunden – sie war ein bisschen schräg, hatte jede Menge Piercings und ziemlich schrille Tattoos, aber was spielte das schon für eine Rolle? –, und er hatte sich selbstständig gemacht, anfangs sogar mit passablem Erfolg. Außerdem hatte er Kontakt zu seiner Großmutter aufgenommen. Und dass er den Rat seiner Mutter, sich von seinem Vater und dessen blutjunger Freundin fernzuhalten, in den Wind geschlagen hatte, war eigentlich auch nicht so tragisch gewesen. Er stand endlich auf eigenen Füßen, und gelegentliche Irritationen würden ihn nicht zu Fall bringen. Das hatte Alastair zumindest geglaubt.
»Freu dich, dass er endlich flügge wird, Caro«, hatte er ihr geraten. »Du kannst ihn nicht ewig verhätscheln.«
Caroline war natürlich ganz und gar nicht der Meinung, dass sie Will verhätschelte. Sie tat eben, was sich für eine Mutter gehörte, und ihren Söhnen eine gute Mutter zu sein, war das Allerwichtigste in ihrem Leben, das hatte sie von dem Moment an deutlich gemacht, als Alastair – sehr zu seinem eigenen Kummer – sich eingestehen musste, dass er sich über beide Ohren in eine verheiratete Frau verliebt hatte.
Eine ganze Weile hatte er sich glücklich geschätzt, sie zu haben. Als er sie bei der Weihnachtsaufführung im Theater gesehen hatte, wo sie tugendhaft Apfelsinensaft getrunken und lächelnd die Familien im Sonntagsstaat beobachtet hatte, wollte er sie unbedingt kennenlernen. Er war mit fünf seiner Neffen und Nichten dort gewesen, und sie hatte dasselbe behauptet: Zwei ihrer Neffen liefen hier irgendwo herum und stellten zweifellos irgendwelchen Unsinn an. Dass es sich bei den beiden Neffen in Wirklichkeit um ihre Söhne handelte, hatte sie ihm erst viel später eröffnet.
»Ich wusste nicht, was du denken würdest«, hatte sie zu ihrer Entschuldigung gesagt.
Gemeint hatte sie, dass sie nicht hatte wissen können, was er davon halten würde, dass sie verheiratet war. Unglücklich verheiratet. Mit einem Mann, der so desinteressiert an Sex war, dass er höchstens zweimal im Jahr mit ihr schlief.
Er hätte überhaupt nichts gedacht, hatte er ihr geantwortet. Nur dass sie schlank war und schön und gesegnet mit herrlichem dunklem Haar und prächtigen Brüsten und großen dunklen Augen und vollen Lippen, und dass ihr Anblick ihm jedes Mal den Atem raubte. Und diese Atemlosigkeit war zum Teil der Tatsache geschuldet, dass sie sich tatsächlich auf ein Gespräch mit ihm einließ, einem Mann, der sich im Vergleich zu dieser Märchenprinzessin fühlte wie eine hässliche Kröte, klein und unscheinbar und mit schütterem Haar, ein Mann mit Brille, weit entfernt von dem, was er sich erträumt hatte zu sein: Mitglied des SAS, eine Tötungsmaschine, ein hochdekorierter Soldat. Das Schicksal hatte verhindert, dass er diese Laufbahn einschlug: Ein schlecht geschienter Beinbruch in seiner Kindheit hatte ihn zum Hinkebein mit orthopädischem Schuh gemacht und jede Hoffnung auf eine Karriere bei der Armee zerstört, die ihn zu dem Mann gemacht hätte, zu dem er sich zweifellos berufen fühlte.
An dem Abend bei der Weihnachtsaufführung hatten sie sich lange unterhalten – über die bevorstehenden Feiertage, wie wichtig es war, an Weihnachten mit der Familie zusammen zu sein, über seine Eltern in Schottland, ihre Mutter in London, sie hatten einander erzählt, was sie an den Feiertagen vorhatten und wen sie besuchen würden. Caroline hatte sehr wenig von sich preisgegeben, er dagegen sehr viel. Als die Glocke das Ende der Pause verkündete, hatte er ihr seine Visitenkarte zugesteckt und schüchtern gesagt, falls sie sich irgendwann mal mit ihm auf einen Kaffee oder einen Drink treffen wolle oder falls sie Lust habe, seinen Laden kennenzulernen …
»Was für einen Laden?«, hatte sie gefragt.
»Ich widme Dinge um und verkaufe sie.«
»Was bedeutet das?«
»Kommen Sie und sehen Sie selbst.«
Er hatte kaum damit gerechnet, dass ihrer Begegnung noch etwas folgen würde, aber nicht einmal zwei Wochen später stand sie in seinem Laden in der Whitecross Street. Dort verkaufte er, was er aus Dingen herstellte, die er auf Schrottplätzen, bei Entrümpelungsaktionen, in Trödelläden und auf Flohmärkten erstand. Aus riesigen Maschinen wurden Tische, aus Poloschlägern Lampen. Metallene rostige Gartenstühle wurden mit einer dicken Schutzschicht aus Farbe und Lack überzogen, alte Dachbalken wurden zu Sitzmöbeln umfunktioniert, und auf diese Weise wurde dem Trödel anderer Leute neues Leben eingehaucht.
Sie war ganz entzückt gewesen, denn er war richtig gut in seinem Handwerk, das musste sie schon sagen. Voller Staunen hatte sie ihn gefragt, woher er all die Ideen nehme. Ihre Bewunderung ging ihm herunter wie Butter. Es waren gerade Kunden im Laden, und die wollte er so schnell wie möglich loswerden, um Caro seine ganze Aufmerksamkeit widmen zu können. Er stotterte und errötete und bemühte sich vor ihr zu verbergen, was sein Gesichtsausdruck deutlich verriet: rasende Begierde, die nicht erfüllt werden konnte.
Sie war geblieben, bis er den Laden zugemacht hatte. Sie waren in ein Pub gegangen. Sie hatten drei Stunden lang über dies und das geredet, aber alles, was er von dem Abend in Erinnerung behalten hatte, war sein hämmerndes Herz und seine Geilheit, die ihm beinahe körperliche Schmerzen bereitete.
Als sie an ihrem Auto standen, hatte sie ihm gesagt, wie sympathisch sie ihn fand und wie sie es genoss, dass er ihr interessiert zuhörte, und wie aufgehoben sie sich bei ihm fühlte. »Was ziemlich seltsam ist, da ich Sie ja kaum kenne«, hatte sie hinzugefügt. »Aber ich fühle mich einfach sehr wohl in Ihrer Gegenwart …«
Er hatte sie geküsst, ohne zu überlegen. Ob es nun animalische Lust oder sonst was war, er musste sie einfach in seinen Armen spüren. Zu seiner Überraschung erwiderte sie den Kuss, drückte sich an ihn und protestierte auch nicht, als seine Hände von ihren Hüften zu ihren prächtigen Brüsten wanderten.
Er begehrte sie so sehr, dass er das Gefühl hatte, gleich ohnmächtig zu werden. Nur weil sie sich in der Öffentlichkeit befanden, gelang es ihm, sich zu beherrschen. Er ließ sie los, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, betrachtete dieses wunderbare Geschöpf und überlegte, wie er sich entschuldigen konnte, wie er sich erklären sollte, wie es mit ihr weitergehen könnte, denn nichts wünschte er sich so sehr.
Sie war es, die als Erste ihre Sprache wiederfand. »Das hätte ich nicht tun dürfen …«
»Nein, es war meine Schuld. Ich habe getrunken, und du sahst einfach so umwerfend aus, wie du da vor mir gestanden hast und …«
»Äh, ich bin übrigens verheiratet«, sagte sie. »Die Jungs, die ich im Theater bei mir hatte … Das waren meine Söhne. Und ich … Was ist nur los mit mir, dass ich dich unbedingt wiedersehen wollte, obwohl ich … das nicht darf. Und ich wollte, dass du mich jetzt küsst. Ich kann es dir nicht erklären, es ist einfach so, dass du so anders bist als … O Gott, ich muss los. Ich muss jetzt wirklich gehen.«
Sie hatte Mühe, die Autotür aufzuschließen, weil ihre Hände so sehr zitterten. Er nahm ihr die Schlüssel ab und öffnete die Tür für sie. Sie drehte sich zu ihm um, sagte: »Gott, ich wünschte …« Und dann war sie weg.
Er war gar nicht dazu gekommen, ihr zu sagen, dass es ihm schnurzegal war, ob sie ihn wegen ihrer Söhne angelogen hatte, oder ob sie ihm ihren Ehemann verschwiegen hatte, es wäre ihm sogar egal gewesen, wenn sie drei Beine und zwei Köpfe gehabt hätte. Er hatte nur mit ihr zusammen sein wollen. Er hatte sie geliebt, noch ehe er die Namen ihrer Söhne gekannt hatte.
Und jetzt, siebzehn Jahre später, liebte er sie immer noch. Er schaute an dem Gebäude hoch, zu den Fenstern, hinter denen Will seinen Anfall hatte, und er verschrieb sich ihr von Neuem, trotz aller Schwierigkeiten, die sie hin und wieder hatten. Und auch ihren Söhnen verschrieb er sich von Neuem, denn Will war ein zutiefst verstörter junger Mann.
Seinetwegen hatten sie schließlich London verlassen und waren nach Dorset gezogen, hatten alles verkauft und in ein Unternehmen investiert, von dem Alastair damals nicht die geringste Ahnung hatte. Backen, hatte er damals gedacht, das ist eine Frauendomäne, so war es jedenfalls früher in seiner Familie gewesen. Aber es hatte sich um eine richtige Bäckerei gehandelt, einen gut gehenden Betrieb mit einem Wohnhaus dazu, wo Caroline und die Jungs bleiben konnten. Also hatte er die Bäckerei gekauft, hatte den ehemaligen Besitzer angestellt, um von ihm alles über Mehl und Hefe und Salz und Zucker und alles andere zu lernen, was man brauchte, um Brot, Brötchen, Hörnchen, Kuchen und Torten zu backen. Inzwischen besaß er sieben Geschäfte im County. Das Leben eines Bäckers mit seinen unmöglichen Arbeitszeiten war zwar anstrengend, aber er hatte seine Familie damit ernähren können.
Caroline hatte immer alle Hände voll zu tun gehabt mit den Jungen, vor allem mit Will. Alastair konnte nur beten, dass sie da oben in der Wohnung, wo Will in einem so schlimmen Zustand war, wie er ihn noch nie bei ihm erlebt hatte, ein Wunder würde vollbringen können. Wenn ihr das nicht gelang, würden sie einen Arzt rufen oder ihn womöglich in ein Krankenhaus bringen müssen. Keine der beiden Möglichkeiten jedoch versprach, zu einer friedlichen Lösung zu führen.
Sein Handy klingelte. Er nahm es von der Konsole zwischen den Sitzen des Lieferwagens. »Geht es ihm besser, mein Liebling?«
Aber es war nicht Caroline, sondern eine andere Frauenstimme, die sagte: »Alastair, was ist los? Ich habe schon den ganzen Morgen das Gefühl, dass es dir nicht gut geht.«
Er schaute noch einmal an dem Gebäude hoch, zu den Fenstern, hinter denen Wills Wohnzimmer sich befand. Er spürte ein verräterisches Pochen in der Brust, das er schon seit Jahren nicht mehr erlebt hatte.
»Ich bin in London«, sagte er. »Aber ich bin froh, dass du anrufst.«
Zwei Jahre und elf Monate vorher
6. April
____________________
BROMLEY
LONDON
Eigentlich hatte Lily nicht vorgehabt, William wiederzusehen. Sie hatte vorgehabt, sich ohne einen Blick zurück um ihr eigenes Leben zu kümmern. Sie hatte das schon einmal durchgezogen, und sie wusste, dass sie es auch wieder tun konnte, denn das war gar nicht so schwer, wie die meisten Frauen in ihrem Alter es darstellten. Sie hatte einen Kochkurs besucht, wo sie sich schnell mit einigen Feinschmeckern angefreundet hatte, die ebenso wie sie überzeugt waren, dass man sich, wenn man sich preiswert ernähren wollte, nicht mit Hamburgern von amerikanischen Fastfoodketten vollstopfen, sondern die Wochenmärkte von Spitalfields bis Portobello abklappern musste, um die besten Lebensmittelstände zu finden. Sie hatte an einem Tanzkurs teilgenommen, und der argentinische Tanzlehrer hatte von Anfang an durchblicken lassen, dass er seinen Schlafzimmerblick und seinen Astralleib jeder Frau zur Verfügung stellen würde, die daran interessiert war. Sie hatte sich einer Gruppe Frauen angeschlossen, die sich fit hielten, indem sie jeden Samstagmorgen auf der Themse ruderten. Kurz gesagt, sie hatte das Leben wieder aufgenommen, das sie in den zehn Monaten, in denen sie mit William Goldacre zusammen gewesen war, sträflich vernachlässigt hatte, und sie hatte sich geschworen, sich nie wieder so vollkommen auf einen Mann einzulassen. Und dann rief er sie an.
Er klang richtig aufgeräumt, ganz wie der William, den sie anfangs kennengelernt hatte. Und es stellte sich heraus, dass er sogar Wort gehalten hatte, denn er wohnte nicht bei seiner Mutter. Er hatte sich wieder gefangen und wohnte in einem Dorf namens Yetminster. Ob Lily es kenne? Nicht weit von Sherborne?
Natürlich kannte sie das Dorf nicht, denn sie wusste überhaupt nichts über Dorset. Aber sie sagte ihm, das seien großartige Neuigkeiten, und er beschrieb ihr begeistert sein neues Heim.
»Ein kleines Cottage im Dorf, ganz in der Nähe der Hauptstraße. Na ja, hier ist eigentlich alles in der Nähe der Hauptstraße. Nichts Besonderes, zwei Zimmer unten, zwei oben, aber ein herrlicher Garten. Du musst dir unbedingt ansehen, was ich daraus gemacht habe, Lil. Und ich hab hier im Dorf schon meinen ersten Kunden. Ein Typ, der meinen Garten gesehen und mich gefragt hat, ob ich seinen auch so schön gestalten könnte. Als Überraschung für seine Frau, meinte er, die ist im Moment in Australien, zu Besuch bei ihrer Tochter und den Enkelkindern, und er möchte ihr was ganz Besonderes bieten, für den Fall, dass sie sich mit dem Gedanken trägt auszuwandern. Und das Beste daran ist – ich wusste einfach, dass das passieren würde, wenn ich aus London rauskäme –, dass er auf der ganzen Linie damit einverstanden ist, wie ich arbeite. Ich habe ihm erklärt, was ich vorhabe, nicht wie ich es mache und auch nicht, wie viel es am Ende kosten wird, denn das kann ich sowieso nicht genau einschätzen, wenn ich mit der Gestaltung anfange. Ich habe zu ihm gesagt, so arbeite ich nun mal, aber ich habe ihm auch versprochen, dass ich ihn über die Kosten ständig auf dem Laufenden halten werde, und er findet das in Ordnung so.«
»Das ist ja fantastisch.«
»Ich wusste, dass du das so sehen würdest. Kommst du her?«
Lily hatte mit der Frage gerechnet, seit sie den Hörer abgenommen und seine Stimme gehört hatte. Seit er angefangen hatte zu reden, versuchte sie, sich eine Antwort zurechtzulegen, doch jetzt hatte sie nichts weiter parat als ein zögerliches »Ich weiß nicht …«
Er sagte: »Ich möchte dir das Haus zeigen. Und den Garten. Und auch den Garten, an dem ich gerade arbeite. Es ist nicht viel, aber hier bin ich mein eigener Herr. Ich wusste einfach, dass es an London lag, Lily. Der Lärm, der Verkehr, die Menschenmassen. Ich komme nicht zurecht in großen Städten. Kommst du her? Hier gibt es übrigens kein einziges Tattoo-Studio weit und breit, ich hab mich erkundigt.«
»Würde mich auch wundern – in einem Dorf.«
»Nein, ich meine, auch nicht in Sherborne, Lil. Oder Yeovil oder Shaftesbury. Nicht mal in Dorchester oder Weymouth gibt es eins. Dir ist doch klar, was das bedeutet, oder?«
Natürlich wusste sie das. Sie könnte nach Dorset ziehen und dort ein Studio einrichten. Denn genau das wollte er. Aber sie war sich nicht sicher, ob sie das auch wollte. Es gab viel zu viele Faktoren, die sich nur schwer einschätzen ließen – wer auf dem Land würde sich schon ein Tattoo machen lassen? –, und einer davon war seine Mutter.
Sie sagte: »Deine Mutter freut sich bestimmt, dass es so gut für dich läuft.«
»Na klar, freut sie sich. Aber lass uns nicht über meine Mutter reden. Sie hat mir geholfen, wieder auf die Füße zu kommen, mehr nicht. Ich seh sie kaum. Allerdings hab ich ihren Garten auf Vordermann gebracht, als ich anfangs bei ihr und Alastair gewohnt habe. Sie zeigt ihn ganz stolz den Leuten, die in die Bäckerei kommen, um besondere Bestellungen aufzugeben, und einige haben sogar schon Interesse bekundet. Sie unterstützt mich, Lily, mehr nicht. Ich stehe jetzt auf eigenen Füßen, es geht mir gut, und mein Unternehmen floriert. Willst du nicht wenigstens herkommen und es dir mit eigenen Augen ansehen? Ich schwöre dir, wenn du hierbleibst, wirst du es nicht bereuen. Wir waren ein gutes Paar, wir beide. Ich weiß, dass wir wieder ein gutes Paar sein können. Also, was ich meine, ist: Würdest du es noch mal mit mir versuchen?«
Lily überlegte. Sie mochte William sehr, wenn es ihm gut ging. Seine Lebensfreude und seine Begeisterung zogen sie an. Aber er hatte auch eine dunkle Seite, wie sich herausgestellt hatte.
Sie sagte: »Ich glaube, es hätte keinen Zweck, William. Ich glaube nicht, dass ich in Dorset meinen Lebensunterhalt verdienen könnte, und selbst wenn doch, fürchte ich, dass wir uns am Ende nur gegenseitig wehtun würden.«
»Du hast also einen anderen?«, sagte er. »Ich würde es dir nicht übel nehmen. Nach allem, was ich dir zugemutet habe … Es war eine schlimme Zeit für mich. Aber jetzt geht es mir gut. Ich nehme jetzt ein anderes Medikament, und seitdem ist das mit den Wörtern vorbei. Kein einziger Anfall, seit ich hierhergekommen bin. Es war der Stress, verstehst du. Ich hätte wissen müssen, dass das in London passieren würde. Ich hätte mich nie dazu überreden lassen dürfen, es in London zu versuchen. Ich bin nicht wie mein Bruder. Ehrlich gesagt, kann ich mich nicht mal erinnern, warum ich überhaupt jemals nach London gezogen bin.«
Weil du von deiner Mutter wegwolltest, dachte Lily. Und dein Bruder wollte auch, dass du von ihr wegkamst. Aber das sagte sie nicht, denn er klang so optimistisch, und er hatte alles genauso gemacht, wie er es angekündigt hatte. Und sie mochte ihn. Daran würde sich nie etwas ändern.
Er schien in ihrem Zögern ein Einlenken in seine Richtung zu spüren, denn er sagte: »Es ist ganz einfach, Lily. Es gibt hier im Dorf einen Bahnhof. Ich muss winken, damit der Zug anhält – romantisch, oder? –, aber wenn du mir sagst, wann der Zug kommt, bin ich da. Und was hältst du davon: Nachdem ich dir das Haus und alles gezeigt habe, fahren wir nach Seatown. Da gibt es einen Campingplatz, von dem aus man den Strand sieht. Ich war mal eine Nacht allein da, und es war großartig. Man kann kilometerweit wandern, es gibt ein Pub und einen Laden im Dorf. Wir könnten zum Golden Cap rauflaufen. Die Aussicht von da oben, Lily! Und das Wetter ist schön … immer noch ein bisschen frisch, aber es regnet nicht ….«
»Campingplatz?«, fragte sie, denn sie wusste, was das bedeutete: ein enges Zelt, körperliche Nähe und die Aussicht auf eine Intimität, von der sie nicht sicher war, ob sie sie wollte.
»Wir machen es als Freunde«, sagte er hastig. »Was ich sagen will – ich erwarte nichts von dir. Wir planen nichts, das ist von vornherein abgemacht. Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen.«
Die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus, was einerseits ein bisschen beunruhigend war, andererseits hatte alles, was er sagte, Hand und Fuß. Es war nicht so wie bei seinen Anfällen. Es war ein ganz normales, ein bisschen aufgeregtes Gespräch.
Sie sagte: »Also gut. Aber nur als Freunde, William. Ich muss dir sowieso etwas gestehen.«
»Du hast also doch einen anderen.«
»Nein, nein. Ich bin mit ein paar Männern ausgegangen, aber im Moment gibt es niemanden. Es geht darum, dass ich nicht in Dorset wohnen möchte. Ich bin eine Stadtpflanze, und das weißt du. Wenn du die Einladung also jetzt zurücknehmen willst, habe ich Verständnis dafür.«
»Auf keinen Fall. Du wirst es dir schon noch überlegen, wenn du Dorset erst mal kennenlernst. Du warst noch nie hier, oder?«
»Ich steh nicht so auf Schafe.«
Darüber musste er lachen, sein jungenhaftes, herzerfrischendes Lachen, das sie in den letzten schrecklichen Wochen in London gar nicht mehr gehört hatte. »Wart’s ab«, sagte er. »Du wirst es dir noch überlegen.«
14. April
_________________________
SEATOWN
DORSET
Es stellte sich heraus, dass Dorset durchaus mehr als Schafe zu bieten hatte. Sanfte, jetzt im Frühjahr von zartem Grün überzogene Hügel, unterbrochen von kleinen Baumgruppen, an denen die ersten Blätter sprossen, und große Waldflächen aus Fichten, Kastanien, Birken und Eichen. Man hatte einen weiten Blick über das offene Land mit sanften Tälern, an deren Hängen schon im Mittelalter Terrassen angelegt worden waren, um dort Landwirtschaft betreiben zu können. Es war eine Landschaft mit Hecken zum Schutz von Koppeln und Feldern, mit Dörfern, in denen die Häuser aus Naturstein direkt bis an die Straße reichten, und mit so vielen Kirchen, als wüssten die Menschen in Dorset etwas über das Jenseits, wovon sonst niemand eine Ahnung hatte.
Wie versprochen holte William sie am Bahnhof Yetminster ab, wo er den Zug mit einem erhobenen Arm zum Halten aufforderte. Er umarmte sie stürmisch, trat einen Schritt zurück, um sie anzusehen. Er wirkte so lebhaft und glücklich, wie sie ihn in London selten erlebt hatte. Sie gingen durch Yetminster, ein von Feldern und Weiden umgebenes Dorf aus Sandstein, nicht weit entfernt von Sherborne mit seinen Schlössern und Türmen und dem berühmten Internat. Er zeigte ihr sein Cottage, als handelte es sich um ein architektonisches Meisterwerk. Er führte sie in seinen Garten, damit sie sein Werk bewundern konnte – und das tat sie tatsächlich: Er hatte einen Gärtnerschuppen gebaut, an dem die frisch gepflanzte Glyzinie hochranken konnte, ein mit Feldsteinen gepflasterter Weg wand sich durch den von Blumenrabatten gesäumten Rasen, und auf der kleinen zweistufigen Terrasse standen eine Sitzgruppe und mehrere Kübel mit sorgfältig ausgewählten Pflanzen, die in den kommenden Monaten ein Feuerwerk an Farbenpracht entfachen würden. »Einfach großartig«, sagte sie und meinte es ernst.
Er sagte, er habe gewusst, dass es ihr gefallen würde, und von Seatown würde sie ebenfalls begeistert sein. Und so brachen sie auf zu ihrem Campingausflug. Es wurde über nichts anderes gesprochen. Vor allem kein Wort über seine Mutter, und dafür war Lily ihm dankbar. Denn zweifellos hatte Caroline Goldacre – sie hatte den Familiennamen ihrer beiden Söhne behalten, anstatt den Namen ihres neuen Ehemannes Alastair MacKerron anzunehmen – ihrem Sohn goldene Brücken gebaut, was Lily widerstrebend zugeben musste.
Auf dem Weg nach Seatown, einem Dorf mit Blick auf Lyme Bay, fragte sich Lily, wie William auf die Idee gekommen war, mit ihr zum Zelten zu fahren. Es war nicht nur ungewöhnlich frisch für die Jahreszeit, sondern es fegte dazu auch noch ein ungewöhnlich eisiger Wind vom Ural über Europa, der alles erstarren ließ. Sie sprach William darauf an, doch der meinte nur: »Keine Sorge. Wir haben ja das Zelt, und ich hab außer den Schlafsäcken zwei Daunendecken eingepackt, und wenn wir zum Golden Cap raufwandern, wird uns schon warm werden. Du hast doch eine Mütze mit, oder? Und Handschuhe? Okay, dann sind wir ja perfekt ausgerüstet.«
Seatown war ein winziges Dorf, das ein Stück landeinwärts lag, wo es vor den Stürmen geschützt war, die vom Ärmelkanal herüberwehten. Es bestand hauptsächlich aus Wochenendhäusern, wie man sie in vielen Orten an der Küste sah: Fensterbänke und Vorgärten gespickt mit nautischem Firlefanz, umgedrehte Boote, die auf einen frischen Anstrich warteten, Reusen und Bojen und Netze, die einen intensiven Fischgeruch verströmten.
Der Campingplatz lag gleich hinter dem Dorf und bot einen fantastischen Blick auf das Meer. Die schmale Straße führte am Zeltplatz vorbei einen Hang hinunter und endete abrupt an einem Kiesstrand, in den ein kleiner Bach sein sprudelndes Wasser ergoss, das im Kies versickerte und sich in einiger Entfernung mit dem Salzwasser mischte. Die Landschaft war genauso beeindruckend, wie William es ihr versprochen hatte. Über dem Strand erhoben sich riesige Steilklippen, darunter Golden Cap, die höchste Klippe der ganzen Grafschaft. Sie ragte zweihundert Meter hoch über Lyme Bay auf und bot einen fantastischen Ausblick nicht nur auf das Wasser und die Stadt Lyme Regis im Westen, sondern auch nach Norden auf ganz Dorset. Sobald sie ihr Zelt aufgebaut hätten, sagte William, würden sie eine ausgedehnte Wanderung machen und sich aufwärmen. Außerdem gab es in Strandnähe das Anchor Inn, wo sie einkehren und im Anschluss an die Wanderung ein kräftiges Abendessen zu sich nehmen würden.
Der Campingplatz war in zwei Bereiche aufgeteilt, einen für Wohnmobile und einen für Zelte. Trotz der kalten Witterung stand etwa ein Dutzend Zelte wie bunte Pilze auf dem Rasen verteilt.
»Typisch Engländer«, sagte Lily kopfschüttelnd.
William lachte, er wusste genau, was sie meinte. Nichts konnte einen Engländer aufhalten, wenn er einmal beschlossen hatte, in die Ferien zu fahren. William bog auf den Campingplatz ein, parkte den Wagen und betrat den kleinen Laden, um für ein handtuchgroßes Stück Land zu bezahlen, auf dem sie ihr Zelt aufschlagen konnten. In weniger als fünf Minuten kam er wieder heraus, und sie machten sich auf den Weg. Eine halbe Stunde später stand das Zelt, die Schlafsäcke und die Daunendecken waren ausgebreitet, und sie konnten ihre anstrengende Wanderung auf die Klippen antreten, um die Aussicht zu genießen.
Ein Schild wies ihnen den Weg. William ging voraus, den Rucksack geschultert und offensichtlich von Selbstbewusstsein erfüllt. Sie hatten keine Eile. Sie blieben stehen, um Fotos zu machen. Sie legten eine Pause ein, um zu picknicken – zu ihrer Überraschung zauberte er Schokoriegel, Nüsse, Obst und sogar eine Flasche Rotwein und zwei Gläser aus seinem Rucksack hervor. Sie lehnten sich gegen einen Felsbrocken und ließen den Blick über das idyllische Marshwood Vale wandern. In der Ferne erhob sich eine alte Burg mit Namen Pilsdon Pen, wie William ihr erklärte. In einem Monat würde auf dem Golden Cap der Ginster blühen, sagte er, und die ganze Klippe würde in leuchtendem Gelb erstrahlen.
Als sie endlich oben standen, war es genau so, wie William es versprochen hatte. Es wehte ein scharfer Wind, und sie blieben nicht lange. Aber die Aussicht war atemberaubend: Im Westen schimmerte Lyme Regis in der Nachmittagssonne, und im Osten erstreckte sich vor der Juraküste von Dorset Chesil Beach, eine zweihundert Meter breite Küstenformation aus Felsen, Steinbrocken, Kieselsteinen und Sand auf einer Länge von sage und schreibe neunundzwanzig Kilometern, in deren Rücken zum Land hin das glitzernde Wasser einer riesigen Lagune lag, die sich »The Fleet« nannte, wie William ihr begeistert erklärte.
Das Meer war grau an dem Tag, aber der Himmel war strahlend blau. Wolken rasten dahin, als würden sie von der Sonne gejagt, allerdings waren nirgendwo Vögel zu sehen, was Lily wunderte. Sie hatte Möwen erwartet, konnte jedoch weit und breit keinen einzigen Vogel entdecken. Nur das Rauschen des unbarmherzigen Winds war zu hören.
»Du musst vollkommen verrückt sein«, sagte sie zu William, »mit mir hier raufzukommen. Nicht mal die Vögel halten es hier aus.«
Er sagte nur grinsend: »Wollen wir nach Frankreich schwimmen? Das könnte mir gefallen.« Dann, mit einem beinahe jungenhaft schüchternen Lächeln, das sie anziehend fand, fragte er: »Lily, darf ich dich küssen?«
»Komische Frage von einem, mit dem ich Tisch und Bett geteilt habe.«
»Heißt das ja?«
»Glaub schon.«
Er beugte sich zu ihr und küsste sie; es war ein zärtlicher Kuss ohne Erwartungen. Auch das fand sie anziehend. Sie erwiderte seinen Kuss und spürte dasselbe Kribbeln wie damals, als sie ihn kennengelernt hatte.
SEATOWN DORSET
Auf dem Weg zurück zum Campingplatz küsste er sie noch einmal. Diesmal fragte er nicht vorher um Erlaubnis. Er blieb einfach stehen, und an seinem Gesichtsausdruck konnte sie ablesen, was folgen würde. Sie hatte nichts dagegen, aber sie wusste zugleich, dass es gefährlich war.
»Hör zu, William«, sagte sie. »Ich habe wieder Fuß gefasst in meinem Leben, und das möchte ich nicht verlieren.«
»Über dieses Thema reden wir nicht«, sagte er. »Noch nicht. Ich will nicht sagen, nie, weil sich auch für mich vieles geändert hat. Ich bin auch einen Schritt weitergekommen.«
»Was meinst du damit? Hast du eine andere …?«
»Ich hätte dich nicht hierher eingeladen, wenn ich eine andere hätte, und ich will hoffen, dass du nicht gekommen wärst, wenn du einen anderen hättest.«
»Ich hab dir doch gesagt, dass ich keinen anderen habe.«
»Aber hast du was mit Männern gehabt? In den letzten Monaten. Ich habe nämlich nichts mit irgendeiner Frau …«
»William …«, sagte sie tadelnd.
»Vergiss es«, sagte er. »Geht mich nichts an.«
An dem Abend schliefen sie miteinander. Lily hätte nicht sagen können, warum William das wollte – abgesehen von dem triebhaften Verlangen, das sich einstellt, wenn ein Mann und eine Frau nach einem schönen Tag auf engem Raum die Nacht verbringen –, aber bei ihr war es zweierlei. Einerseits Begierde, wenn sie ehrlich war, und andererseits Neugier, wenn sie noch ehrlicher war. Denn früher waren sie blindwütig übereinander hergefallen, und er hatte fast augenblicklich ejakuliert, woraufhin er sich jedes Mal kniefällig entschuldigt und ihr versprochen hatte, es »beim nächsten Mal anders« zu machen. Es war immer dasselbe gewesen, doch sie hatte die Hoffnung nie aufgegeben. Jetzt war sie in erster Linie neugierig.
Also sträubte sie sich nicht gegen die Zeichen, die seine Absichten ankündigten: der flehende Blick, die warme Hand in ihrem Nacken, als sie vom Pub zum Campingplatz gingen, die Finger, die ihr zärtlich die Haare aus dem Gesicht strichen. Und als er sie ohne das typische Zögern einfach fragte: »Willst du mit mir schlafen, Lily?«, bewunderte sie den neuen Mut in ihm, der es ihm erlaubte, seinen Wunsch auszusprechen, anstatt sich wortlos über sie herzumachen, als gehörte der Beischlaf zum Programm. Und das brachte sie dazu, sich zu fragen, ob vielleicht ihre hemmungslose Geilheit die Ursache für sein Problem gewesen war. Also hielt sie sich diesmal zurück und ließ sich von ihm führen. Nachher lagen sie nebeneinander auf der Seite, die Hände auf ihrer Hüfte verschränkt.
»Ich liebe dich«, sagte er. »Ich habe dich immer geliebt und werde es immer tun.«
Sie lächelte, doch sie sprach nicht die Worte aus, die er hören wollte. Sie rechnete damit, dass er sie bedrängen würde, so wie er es früher immer getan hatte, aber das tat er nicht. Er erwiderte nur ihr Lächeln und fragte: »Wie war es für dich?«
»Du weißt genau, wie es für mich war, William. Aber …« Sie wartete darauf, dass er sich gegen die unweigerliche Kränkung wappnete, doch er sah sie nur liebevoll an. Trotzdem sagte sie: »Es ändert nichts. Es ist wunderschön hier, das muss ich gestehen. Aber ich möchte nicht aus London weggehen.«
»Noch nicht«, sagte er. »Das wolltest du doch eigentlich sagen. Gib’s zu.«
»Nein, das weiß ich nicht.«
»Noch nicht«, wiederholte er.
Sie verstand den Kompromiss, den er ihr anbot, und so spielte sie mit. »Ich weiß es noch nicht«, sagte sie.
Er streichelte sie. Seine Finger berührten ganz zart ihre Brüste. Ihr Körper reagierte so, wie er es beabsichtigte, und ihr wurde bewusst, wie schnell sie für ihn bereit war.