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An einem regnerischen Abend wird eine Frau in London überfahren. Es handelt sich ganz klar um Mord. Inspector Lynley und Barbara Havers sehen sich bald schon einem düsteren Familiendrama gegenüber, in dem überzogener Ehrgeiz, falsch verstandene Liebe und verzweifelte Lügen bereits vor zwanzig Jahren tödliche Konsequenzen hatten. Und sie erleben verblüfft, dass man sie von höchster Stelle aus in ihren Ermittlungen zu behindern sucht. Doch Lynley und Havers lassen sich davon nicht beirren ...
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Seitenzahl: 1494
Buch
In einer regnerischen Nacht wird Eugenie Davies in London von einem Autofahrer getötet. Ein Unfall ist definitiv auszuschließen: Die Frau wurde frontal angefahren und danach mehrmals absichtlich mit dem Wagen überrollt. Doch was hatte Eugenie Davies so spät am Abend überhaupt in der Stadt zu suchen? Und warum trug sie einen Zettel mit dem Namen genau des Mannes bei sich, der später ihre Leiche findet?
Für Inspector Thomas Lynley, in dessen Privatleben sich zur selben Zeit dramatische Veränderungen ankündigen, sind diese Fragen nur der Auftakt zu Ermittlungen, in deren Verlauf er auf einem gefährlich schmalen Grat zwischen persönlicher Loyalität und beruflicher Ehre wandert. Denn schon bald stellen Lynley und Sergeant Barbara Havers betroffen fest, dass ihr Chef Superintendent Webberly, der mehr über Eugenie Davies zu wissen scheint, als er preisgibt, versucht, sie bei der Auswertung von Erkenntnissen zu behindern. Für Lynley und Havers steht ihre berufliche Laufbahn auf dem Spiel, doch sie sind schon viel zu tief in den Fall eingedrungen, um sich noch zurückziehen zu können. Denn die Familie Davies nährt einen tödlichen Kreislauf aus Versagen, Wut und Gewalt, der immer weitere Opfer fordert …
Autorin
Psychologische Raffinesse, präziser Spannungsaufbau und ein unfehlbarer Sinn für Dramatik charakterisieren die Kriminalromane der Amerikanerin Elizabeth George. Die Autorin, die den Anthony Award, den Agatha Award und den Grand Prix de Litérature Policière gewonnen hat, lebt in Huntington Beach, Kalifornien.
Mehr Informationen zur Autorin unter www.ElizabethGeorgeOnline.com
Für das andere Jones-Mädchen, wo immer sie ist.
Mein Sohn Absalom! Mein Sohn, mein Sohn Absalom! Wollte Gott, ich wäre für dich gestorben.
ZWEITES BUCH SAMUEL, KAP. 19,1
Dicke sind toll. Dicke sind toll. Dicke sind toll, toll, toll.
Katie Waddington begleitete ihren schwerfälligen Schritt mit dem gewohnten Mantra, während sie den Bürgersteig entlang zu ihrem Wagen ging. Sie sprach die Worte nicht laut, sondern sagte sie sich in Gedanken vor, weniger deshalb, weil sie allein war und fürchtete, für verrückt gehalten zu werden, sondern vor allem, weil lautes Sprechen ihre strapazierte Lunge zusätzlich angestrengt hätte. Und die hatte schon Mühe genug, durchzuhalten. Genau wie ihr Herz, das, ihrem stets dozierenden Hausarzt zufolge, nicht dazu geschaffen war, Blut durch Arterien zu pumpen, die durch Fettablagerungen stetig enger wurden.
Wenn er sie betrachtete, sah er Fettwülste; Brüste, die wie Säcke von ihren Schultern herabhingen; statt eines Bauchs schlaff wabbelnde Massen, die ihre Scham verdeckten; von Cellulite gewellte Haut. Sie schleppte so viel Fett mit sich herum, dass sie ein ganzes Jahr von ihren Reserven hätte zehren können, ohne einen Bissen zu essen, und wenn dem Arzt zu glauben war, begann das Fett, die lebenswichtigen Organe anzugreifen. Wenn sie nicht bald anfinge, sich bei Tisch zu bremsen, erklärte er bei jedem ihrer Besuche, würde sie nicht mehr lange leben.
»Herzversagen oder ein Schlaganfall, Kathleen«, pflegte er kopfschüttelnd zu sagen. »Sie können es sich aussuchen. Bei Ihrem Zustand müssen Sie unbedingt etwas tun, und dazu gehört vor allem, dass Sie sich nicht ständig Essen in den Mund schieben, das sich sofort in Fettgewebe verwandelt. Verstehen Sie?«
Natürlich, wie sollte sie nicht verstehen? Es war schließlich ihr Körper, über den sie hier sprachen, und man konnte nicht aussehen wie ein Nilpferd im Schneiderkostüm, ohne das gelegentlich zu bemerken, wenn man an einem Spiegel vorüberkam.
Tatsache war jedoch, dass der Arzt der Einzige in Katies Bekannten- und Familienkreis war, dem es schwer fiel, sie als die Dicke zu akzeptieren, die sie schon seit ihrer Kindheit war. Und da die Menschen, die für sie zählten, sie so nahmen, wie sie war, trieb nichts sie an, den vom Arzt immer wieder empfohlenen Kampf gegen die achtzig Kilo Übergewicht aufzunehmen.
Wenn je Zweifel sie plagten, ob sie in einer Gesellschaft, in der die Körper immer glatter, straffer und durchtrainierter wurden, einen Platz hatte, so wurden diese gewöhnlich von ihren Eros-Action- Gruppen, die montags, mittwochs und freitags von neunzehn bis zweiundzwanzig Uhr zusammenzukommen pflegten, umgehend beseitigt. In diesen Gruppen versammelte sich die sexuell gestörte Bevölkerung Groß-Londons auf der Suche nach Trost und Problemlösungen. Unter der Leitung von Katie Waddington – die sich das Studium der menschlichen Sexualität zur Leidenschaft gemacht hatte – wurde die Libido der Gruppenteilnehmer unter die Lupe genommen; Erotomanie und -phobie wurden seziert; Frigidität, Nymphomanie, Satyriasis, Transvestismus und Fetischismus gebeichtet; erotische Fantasien gefördert; die sinnliche Vorstellungskraft stimuliert.
Ihre Klienten überschütteten sie mit Dankbarkeit. »Du hast unsere Ehe gerettet«, hieß es häufig, oder: »mein Leben«, »meinen Verstand«, »meine Karriere«.
Sex ist Kommerz, lautete Katies Motto, und zum Beweis der Richtigkeit ihrer These konnte sie beinahe zwanzig Jahre Erfahrung mit etwa sechstausend zufriedenen Klienten und eine lange Warteliste vorweisen.
Kein Wunder, dass sie an diesem Abend nach der Gruppe recht beschwingt zu ihrem Wagen ging, nicht gerade ekstatisch, aber doch sehr zufrieden mit sich. Sie selbst hatte zwar noch nie einen Orgasmus gehabt, aber das brauchte ja niemand zu wissen; Hauptsache, es gelang ihr, anderen zu diesem Glückserlebnis zu verhelfen. Denn die Leute wollten doch alle das Gleiche: sexuelle Befriedigung auf Kommando und ohne Schuldgefühle.
Und wer zeigte ihnen den Weg dorthin? Eine Dicke.
Wer befreite sie von der Scham über ihre Lust? Eine Dicke.
Wer zeigte ihnen die Tricks von der Stimulation der erogenen Zonen bis zum Simulieren von Leidenschaft, um Leidenschaft neu anzufachen? Eine unförmige Dicke aus Canterbury.
Das war wichtiger, als Kalorien zu zählen. Wenn Katie Waddington dazu bestimmt war, als Dicke zu sterben, dann würde sie eben als Dicke sterben.
Es war ein kühler Abend, genauso, wie sie es mochte. Nach einem glühenden Sommer war endlich der Herbst in die Stadt eingezogen, und während sie sich mit ihrem watschelnden Gang durch die Dunkelheit bewegte, dachte sie wie stets an diesen Abenden an die Glanzpunkte der vergangenen Gruppensitzung zurück.
Tränen, ja, Tränen gab es immer, ebenso Händeringen, schamhaftes Erröten, Stottern und Schwitzen. Aber es gab auch jedes Mal einen besonderen Moment, einen Moment des Durchbruchs, der es wert war, sich stundenlang immer wieder dieselben alten Geschichten anzuhören.
Heute Abend hatten ihr Felix und Dolores (Nachnamen taten nichts zur Sache) diesen Moment beschert. Sie waren in die Gruppe gekommen, weil sie, wie sie es ausgedrückt hatten, »den Zauber« in ihrer Ehe wieder finden wollten, nachdem jeder von ihnen zwei Jahre – und zwanzigtausend Pfund – darauf verwendet hatte, seine ganz persönlichen sexuellen Bedürfnisse zu erforschen. Felix hatte längst eingestanden, dass er die Befriedigung außerhalb der Ehe suchte, und Dolores hatte bekannt, dass sie ihren Vibrator und ein Bild Laurence Oliviers als Heathcliff weit erregender fand als die Umarmungen ihres Ehemanns. An diesem Abend jedoch waren Felix’ laute Überlegungen darüber, warum der Anblick von Dolores’ nacktem Gesäß Gedanken an seine alte Mutter weckte, drei älteren Frauen in der Gruppe zu viel geworden. Sie hatten ihn so heftig angegriffen, dass Dolores selbst leidenschaftlich für ihn in die Bresche gesprungen war und mit ihren selbstlosen Tränen allem Anschein nach seine Aversion gegen ihren Hintern fortgespült hatte. Die beiden waren sich in die Arme gesunken und hatten nicht mehr voneinander gelassen bis zum Ende der Sitzung, als sie in schöner Einmütigkeit gejubelt hatten: »Du hast unsere Ehe gerettet!«
Katie war sich bewusst, dass sie nicht mehr getan hatte, als ihnen ein Forum zu bieten. Aber es gab eben genügend Leute, die gar nicht mehr wollten als eine Gelegenheit, sich selbst oder ihren Partner in der Öffentlichkeit zu demütigen und so eine Situation zu schaffen, die es dem Partner letztlich ermöglichte, zu retten oder gerettet zu werden.
Das Geschäft mit den sexuellen Nöten der Briten war eine echte Goldgrube. Katie fand es ausgesprochen clever von sich, dass sie auf diese Marktlücke gestoßen war.
Sie gähnte herzhaft und bemerkte dabei das laute Knurren ihres Magens. Nach einem Tag und einem Abend harter Arbeit hatte sie ein üppiges Mahl und danach ein paar Stunden Faulenzen vor dem Fernsehgerät als Belohnung redlich verdient. Die alten Filme mit ihrer romantischen Schönfärberei waren ihr die liebsten. Eine Abblende im entscheidenden Moment wirkte auf sie weit erregender als Nahaufnahmen gewisser Körperteile und ein Soundtrack, der nur aus Keuchen und Stöhnen bestand. Heute Abend würde sie sich Es geschah in einer Nacht gönnen: Clark und Claudette und die prickelnde Spannung zwischen den beiden.
Das ist genau das, was in den meisten Beziehungen fehlt, dachte sie bestimmt zum tausendsten Mal in diesem Monat. Die erotische Spannung. Zwischen Männern und Frauen bleibt nichts mehr der Fantasie überlassen. Wir leben in einer Welt, die alles weiß, alles sagt und alles fotografiert; in der es keine Erwartungsfreude und keine Geheimnisse mehr gibt.
Aber darüber durfte sie sich am allerwenigsten beklagen. An diesem Zustand der Welt verdiente sie; und mochte sie noch so dick sein, die Leute dachten nicht daran, sich über sie lustig zu machen, wenn sie sahen, in welchem Haus sie lebte, welche Kleider sie trug, welchen Schmuck sie sich kaufte, welches Auto sie fuhr.
Das besagte Auto stand gleich drüben auf der anderen Straßenseite, auf einem Privatparkplatz um die Ecke der Klinik, in der sie ihre Tage verbrachte. Sie war sich, als sie am Bordstein stehen blieb, bewusst, dass sie schwerer atmete als gewöhnlich. Mit einer Hand stützte sie sich an einen Laternenpfahl, während ihr Herz sich pflichtschuldig abrackerte.
Vielleicht sollte sie doch einmal über die Diät nachdenken, die der Arzt ihr vorgeschlagen hatte. Aber sogleich verwarf sie den Gedanken wieder. Was blieb denn noch vom Leben, wenn man sich jeden Genuss versagte?
Ein leichter Wind kam auf. Er blies ihr das Haar aus dem Gesicht und kühlte ihren Nacken. Nur einen Moment verschnaufen. Sobald sie wieder zu Atem gekommen war, würde sie topfit sein wie immer.
Sie horchte in die Stille, die sie umgab. Das Viertel hier war teils Wohn-, teils Gewerbegebiet, die meisten Geschäfte waren längst geschlossen, und vor den Fenstern der Wohnungen in den Mietshäusern waren die Jalousien heruntergelassen.
Merkwürdig, dachte sie. Ihr war nie aufgefallen, wie still und leer die Straßen hier nach Einbruch der Dunkelheit waren. Sie sah sich um. In so einer Gegend konnte alles geschehen – Gutes oder Böses –, und Zeugen gäbe es hier sicher nur zufällig.
Sie fröstelte. Besser nicht hier herumstehen.
Sie trat vom Bürgersteig auf die Fahrbahn und schickte sich an, sie zu überqueren.
Das Auto am Ende der Straße nahm sie erst wahr, als seine Scheinwerfer aufflammten und sie blendeten. Donnernd wie ein galoppierender Stier raste es auf sie zu.
Sie wollte laufen, aber der Wagen war schon da. Sie war zu dick, um ihm auszuweichen.
16. August
Zunächst einmal möchte ich ausdrücklich sagen, dass ich dieses Unternehmen für reine Zeitverschwendung halte, und gerade Zeit habe ich, wie ich Ihnen gestern zu erklären versuchte, überhaupt keine übrig. Wenn Sie von mir Vertrauen in diese Prozedur erwarten, hätten Sie mir vielleicht kurz erläutern sollen, auf welche Grundlagen und Erfahrungswerte Sie sich bei Ihrer so genannten »Behandlung« stützen. Wieso spielt es eine Rolle, welches Papier ich benutze? Oder welches Heft. Welchen Füller oder Stift. Und wieso ist es von Bedeutung, wo ich dieser unsinnigen Schreiberei nachgehe, die Sie mir aufgebürdet haben? Genügt Ihnen nicht die schlichte Tatsache, dass ich dem Experiment zugestimmt habe?
Nein, lassen Sie nur. Sie brauchen nicht zu antworten. Ich weiß bereits, wie Ihre Antwort ausfallen würde: Woher kommt diese Wut, Gideon? Was verbirgt sich darunter? Woran erinnern Sie sich?
An nichts. Verstehen Sie denn nicht? Ich erinnere mich an gar nichts. Darum bin ich ja hier.
An nichts?, sagen Sie. An gar nichts? Ist das wirklich wahr? Immerhin erinnern Sie sich Ihres Namens. Und ganz offensichtlich kennen Sie auch Ihren Vater und wissen, wo Sie wohnen und womit Sie sich Ihren Lebensunterhalt verdienen. Und Sie kennen Ihre nächsten Bezugspersonen. Wenn Sie also »nichts« antworten, so wollen Sie mir damit wohl sagen, dass Sie sich –
– dass ich mich an nichts erinnere, was mir wichtig ist. Gut. Ich spreche es aus. Ich erinnere mich an nichts, was für mich von Bedeutung ist. Wollen Sie das hören? Und wollen wir beide uns nun mit dem hässlichen kleinen Charakterzug beschäftigen, den ich mit dieser Erklärung offenbare?
Aber anstatt mir diese beiden Fragen zu beantworten, erklären Sie mir, dass wir zunächst einmal alles aufschreiben werden, woran wir uns erinnern – ob es nun von Bedeutung ist oder nicht. Nur – wenn Sie »wir« sagen, meinen Sie in Wirklichkeit, dass ich zunächst einmal schreiben werde; und ich werde natürlich schreiben, woran ich mich erinnere. Denn, wie Sie es in Ihrem neutralen und unangreifbaren Psychiaterton so kurz und prägnant ausdrückten: »Unsere Erinnerungen sind häufig der Schlüssel zu dem, was wir einmal vorzogen zu vergessen.«
Ich denke, das Wort »vorziehen« haben Sie ganz bewusst gebraucht. Sie wollten mich zu einer Reaktion herausfordern. Ich sollte mir wohl denken, na, der werde ich’s zeigen. Dieser Person werde ich zeigen, woran ich mich erinnern kann.
Wie alt sind Sie überhaupt, Dr. Rose? Sie sagen dreißig, aber das glaube ich Ihnen nicht. Sie sind nicht einmal so alt wie ich, vermute ich, und was schlimmer ist, Sie sehen aus wie eine Zwölfjährige. Wie soll ich zu Ihnen Vertrauen haben? Glauben Sie im Ernst, Sie könnten Ihren Vater ersetzen? Denn zu ihm wollte ich eigentlich. Sagte ich Ihnen das bei unserem ersten Zusammentreffen? Wohl eher nicht. Ich hatte zu viel Mitleid mit Ihnen. Der einzige Grund übrigens, warum ich zu bleiben beschloss, als ich in die Praxis kam und Sie an seiner Stelle sah: Sie wirkten so rührend, wie Sie da saßen, ganz in Schwarz, als meinten Sie, dadurch könnten Sie den Eindruck erwecken, kompetent genug zu sein, um mit den seelischen Krisen anderer Menschen umzugehen.
Seelisch? Sie jagen diesem Wort hinterher, als wäre es ein anfahrender Zug. Sie haben also beschlossen, den Befund des Neurologen zu akzeptieren? Sie sind damit zufrieden? Sie brauchen keine weiteren Untersuchungen, um sich überzeugen zu lassen?
Das ist sehr gut, Gideon. Das ist ein großer Schritt vorwärts. Es wird unsere Zusammenarbeit erleichtern, wenn Sie – so schwer es auch fällt – zu akzeptieren bereit sind, dass es für das, was Sie gegenwärtig durchmachen, keine physiologische Erklärung gibt.
Es ist angenehm, Ihnen zuzuhören, Dr. Rose. Eine Stimme wie Samt. Ich hätte gleich, als Sie das erste Mal den Mund aufmachten, kehrtmachen und wieder gehen sollen. Ich tat es nicht, weil Sie mich mit diesem Quatsch, dieser Bemerkung: »Ich trage Schwarz, weil mein Mann vor kurzem gestorben ist«, sehr geschickt manipulierten und zu bleiben bewogen. Sie legten es darauf an, mein Mitgefühl zu wecken, nicht wahr? Stellen Sie eine Verbindung zu dem Patienten her, hat man Sie gelehrt. Gewinnen Sie sein Vertrauen, damit er beeinflussbar ist.
Wo ist Dr. Rose?, frage ich beim Eintritt in das Sprechzimmer.
Sie sagen: Ich bin Dr. Rose. Dr. Alison Rose. Vielleicht haben Sie meinen Vater erwartet? Er hat vor acht Monaten einen Schlaganfall erlitten und befindet sich jetzt in der Rekonvaleszenz, aber es wird noch eine Weile dauern, bevor er wieder hergestellt ist, darum kann er im Moment keine Patienten sehen. Ich habe seine Praxis übernommen.
Und Sie plaudern munter drauflos: Wie es zu Ihrer Rückkehr nach London kam; wie sehr Sie Boston vermissen; dass es dennoch so das Beste sei, weil die Erinnerungen dort zu schmerzlich gewesen seien. Die Erinnerungen an ihn, Ihren Ehemann. Sie gehen sogar so weit, seinen Namen zu nennen: Tim Freeman. Und seine Krankheit: Darmkrebs. Und Sie sagen mir, welches Alter er hatte, als er starb: siebenunddreißig Jahre. Sie berichten, dass Sie den Gedanken an Kinder zunächst auf Eis gelegt hatten, weil Sie bei Ihrer Heirat noch studierten, und dass später, als es Zeit wurde, an Nachwuchs zu denken, für ein Kind kein Platz mehr war, da Sie beide, er und Sie, um sein Leben kämpften.
Sie taten mir Leid, Dr. Rose, und darum blieb ich. Das Resultat ist, dass ich jetzt hier an meinem Fenster mit Blick auf den Chalcot Square sitze und schreibe. Ich schreibe, wie Sie mir geraten haben, mit Kugelschreiber, damit ich nicht radieren kann. Ich schreibe in ein Ringbuch, damit ich jederzeit Ergänzungen einschieben kann, sollte mir wunderbarerweise irgendwann später etwas Entscheidendes einfallen. Nur das, was ich tun sollte, was die ganze Welt von mir erwartet, das tue ich nicht: nämlich Seite an Seite mit Raphael Robson dieses infernalische, allgegenwärtige Nichts zwischen den Tönen aufheben.
Raphael Robson?, höre ich Sie fragen. Erzählen Sie mir von Raphael Robson.
Ich habe heute Morgen meinen Kaffee mit Milch getrunken, und dafür bezahle ich jetzt, Dr. Rose. Mein Magen brennt wie Feuer, und die Flammen kriechen in meine Eingeweide. Eigentlich steigt Feuer ja auf, aber nicht das Feuer in meinem Inneren. Da geschieht genau das Gegenteil, und die Schmerzen sind immer die gleichen. Gemeine Blähungen, teilt mir mein Arzt in einem Ton mit, als gäbe er mir den medizinischen Segen. Dieser Scharlatan! Ein viertklassiger Kurpfuscher ist er. In meinen Eingeweiden wuchert etwas Böses, das mich von innen auffrisst, und er spricht von Winden.
Erzählen Sie mir etwas von Raphael Robson, wiederholen Sie.
Warum?, frage ich. Warum soll ich von Raphael erzählen?
Weil er ein Anfang ist. Ihr Unterbewusstsein liefert Ihnen einen Anfang, Gideon. So läuft dieser Prozess.
Aber Raphael ist nicht der Anfang, widerspreche ich. Der Anfang liegt fünfundzwanzig Jahre zurück in einem Peabody-Haus, einem Seniorenstift, am Kensington Square.
17. August
Dort lebte ich damals. Nicht in einem der Peabody-Häuser, sondern im Haus meiner Großeltern auf der Südseite des Platzes. Die Peabody-Häuser sind schon lange verschwunden. Bei meinem letzten Besuch in der Gegend fand ich an ihrer Stelle zwei Restaurants und eine Boutique. Aber ich erinnere mich gut an diese Häuser, und ich erinnere mich auch, wie geschickt mein Vater sie einflocht, als er die Gideon-Legende spann.
So ist mein Vater, immer bereit, alles, was auf dem Weg liegt, zu nutzen, wenn er sich einen Vorteil davon verspricht. Er war damals ein rastloser Mensch voller Ideen. Heute ist mir klar, dass die meisten seiner Ideen Versuche waren, die Befürchtungen meines Großvaters in Bezug auf seine Person zu beschwichtigen. Denn in den Augen meines Großvaters war das Scheitern meines Vaters beim Militär ein eindeutiges Zeichen dafür, dass er auch auf allen anderen Gebieten scheitern würde. Und ich denke, mein Vater wusste das, denn mein Großvater hielt mit seinen Ansichten nie hinter dem Berg.
Mein Großvater war seit dem Krieg nicht mehr gesund. Ich nehme an, das war der Grund, weshalb wir bei ihm und Großmutter lebten. Er war zwei Jahre lang in Burma in japanischer Gefangenschaft gewesen und hatte sich davon nie ganz erholt. Ich glaube, die Gefangenschaft hat bei ihm etwas hervorgerufen, was sonst verborgen geblieben wäre. Wie dem auch sei, mir jedenfalls wurde immer nur gesagt, Großvater habe »Episoden«, die es hin und wieder notwendig machten, ihn zur Erholung »aufs Land« zu verfrachten. An Einzelheiten dieser Episoden kann ich mich nicht erinnern; ich war erst zehn Jahre alt, als mein Großvater starb. Aber ich weiß, dass sie stets nach dem gleichen Muster abliefen: Zuerst gab es ein entsetzliches Gepolter und Gezeter, dann begann meine Großmutter zu weinen, und am Ende, wenn sie ihn wegbrachten, schrie mein Großvater meinen Vater an, er wäre nicht sein Sohn.
Wer sind sie ?, fragen Sie.
Ich nannte sie die Unterirdischen. Sie sahen aus wie ganz normale Menschen, aber sie waren Seelenräuber. Stets ließ mein Vater sie ins Haus. Stets kam Großmutter ihnen weinend auf der Treppe entgegen. Und stets gingen sie ohne ein Wort an ihr vorbei, weil alles, was sie zu sagen hatten, schon mehr als einmal gesagt worden war. Sie kamen nämlich schon seit Jahren regelmäßig, um Großvater abzuholen. Das hatte bereits lange vor meiner Geburt begonnen, lange bevor ich wie eine kleine Kröte hinter dem Treppengeländer hockte und sie voller Angst beobachtete.
Ja. Sie brauchen gar nicht zu fragen, ich erinnere mich an diese Angst. Und ich erinnere mich auch noch an etwas anderes. Ich weiß, dass irgendjemand mich vom Treppengeländer wegzog, meine Finger einen nach dem anderen öffnete und mich wegführte.
Raphael Robson?, fragen Sie. Ist das der Moment seines Auftritts?
Nein. Das war Jahre vor Raphael Robson. Raphael kam erst nach dem Peabody-Haus.
Wir sind also beim Peabody-Haus, sagen Sie.
Ja. Beim Peabody-Haus und der Gideon-Legende.
19. August
Erinnere ich mich wirklich an das Peabody-Haus? Oder habe ich die Einzelheiten erfunden, um einen Rahmen zu füllen, den mein Vater mir vorgegeben hatte? Könnte ich mich nicht genau daran erinnern, wie es im Inneren des Hauses roch, so würde ich sagen, dass ich lediglich die Geschichten meines Vaters wiederhole, wenn ich, so wie jetzt, im Stande bin, mir das Peabody-Haus aus dem Hirn zu zupfen. Aber ein Geruch nach Bleiche kann mich auch heute noch in Sekundenschnelle in das Peabody-Haus zurückversetzen, und daher weiß ich, dass zumindest der Kern der Geschichte wahr ist, ganz gleich, wie weit sie im Lauf der Jahre von meinem Vater, meiner PR-Agentin und den Journalisten, die mit den beiden gesprochen haben, ausgeschmückt wurde. Ich selbst beantworte schon lange keine Fragen mehr über das Peabody-Haus. Ich sage: »Das sind doch alte Geschichten. Gibt es keine aktuelleren Themen?«
Aber Journalisten haben immer gern einen Aufhänger für ihre Story, und was könnte sich für die Leute, die sich, dem strikten Befehl meines Vaters gemäß, bei ihren Interviews mit mir auf Fragen nach meiner Karriere zu beschränken haben, besser als Aufhänger eignen als die kleine Anekdote, die mein Vater aus einem schlichten Spaziergang in den Grünanlagen am Kensington Square fabriziert hat:
Ich bin drei Jahre alt und in Begleitung meines Großvaters. Ich strample auf meinem Dreirad auf dem Weg rund um die Anlagen herum, während Großvater in diesem kleinen tempelähnlichen Bauwerk beim schmiedeeisernen Zaun sitzt, wo man notfalls vor Regen geschützt ist. Er hat sich eine Zeitung mitgenommen, aber er liest nicht darin. Er lauscht vielmehr einer Musik, die aus einem der Häuser hinter ihm erklingt.
»Das nennt man ein Konzert, Gideon«, erklärt er mir mit ehrfürchtig gedämpfter Stimme. »Das ist Paganinis D-Dur-Konzert. Horch!« Er winkt mich näher zu sich. Er sitzt ganz am Ende der Bank. Ich stelle mich neben ihn, er legt mir den Arm um die Schultern, und ich horche.
Ich brauche nur einen Moment, um zu wissen, dass dies meine Bestimmung ist. Mich, den Dreijährigen, trifft eine Erkenntnis, die mich seither nie mehr verlassen hat: Wenn ich zuhöre, dann bin ich; wenn ich spiele, dann lebe ich.
Ich dränge Großvater, sofort zu gehen. Mit seinen arthritischen Händen hat er Mühe, das Tor zu öffnen. Ich treibe ihn an, bitte ihn, sich zu beeilen, »bevor es zu spät ist«.
»Zu spät, wofür?«, fragt er nachsichtig.
Ich nehme ihn bei der Hand und zeige es ihm.
Ich ziehe ihn zu dem Peabody-Haus, denn von dort erklingt die Musik. Wir treten ein. Von dem frisch geschrubbten Linoleumboden steigt ein so durchdringender Geruch nach Bleiche auf, dass es uns in den Augen brennt.
Oben, im ersten Stock, stoßen wir auf die Quelle der Musik. In einem der Einzimmerappartements des Stifts lebt Miss Rosemary Orr, ehemals Geigerin bei den Londoner Philharmonikern, aber nun schon lange im Ruhestand. Sie steht vor einem großen Wandspiegel, eine Geige am Kinn, einen Bogen in der Hand. Aber sie spielt nicht. Sie lauscht mit geschlossenen Augen, die Hand mit dem Bogen gesenkt, dem Paganini-Konzert, und dabei tropfen die Tränen, die ihr über das Gesicht rinnen, auf ihr Instrument hinab.
»Sie macht es kaputt, Großpapa«, erkläre ich meinem Großvater. Miss Orr erwacht mit einem Ruck aus ihrer Trance und fragt sich wahrscheinlich, wie dieser arthritische alte Mann und der Dreikäsehoch in ihr Zimmer gekommen sind.
Aber ihre Verwunderung zu äußern, bleibt ihr keine Zeit, denn ich gehe schnurstracks zu ihr und nehme ihr das Instrument aus den Händen. Und dann beginne ich zu spielen.
Nicht gut, natürlich. Niemand würde glauben, dass ein ungeschulter Dreijähriger, ganz gleich, wie begabt er ist, einfach eine Geige ergreifen und das D-Dur-Violinkonzert von Paganini spielen kann, das er nie zuvor gehört hat. Aber die Rohmaterialien sind vorhanden – das Ohr, die natürliche Balance, die Leidenschaft –, und Miss Orr erkennt das und besteht darauf, das frühreife Kind zu unterrichten.
Sie wird also meine erste Geigenlehrerin. Bei ihr bleibe ich anderthalb Jahre. Dann, ich bin mittlerweile viereinhalb, wird entschieden, dass zur Förderung meiner Begabung eine weniger konventionelle Art des Unterrichts notwendig ist.
Das, Dr. Rose, ist die Gideon-Legende. Sind Sie mit der Kunst des Geigenspiels vertraut genug, um zu erkennen, an welcher Stelle sie in die Fantasie abgleitet?
Es ist uns gelungen, die Legende zu verkaufen, indem wir sie als Legende bezeichnen und stets mit einem nachsichtigen Lachen abtun. Alles Unsinn, sagen wir, jedoch mit einem viel sagenden Lächeln. Miss Orr ist schon lange tot, sie kann keinen Widerspruch erheben. Und nach Miss Orr kam Raphael Robson, dessen Interesse an der Wahrheit begrenzt ist.
Aber Sie sollen die Wahrheit erfahren, Dr. Rose. Mögen Sie über mich und meine Reaktion auf dieses Unternehmen hier denken, was Sie wollen, ich möchte Ihnen die Wahrheit sagen.
Ich befinde mich an diesem Tag mit einer Sommerspielgruppe, die für ein geringes Entgelt von einem Kloster in der Nähe für die Kinder der Umgebung initiiert wurde, in den Gartenanlagen am Kensington Square. Beaufsichtigt wird die Gruppe von drei Studentinnen, die in einem Heim hinter dem Kloster wohnen. Wir Kinder werden täglich von zu Hause abgeholt und marschieren dann, von einer der Studentinnen angeführt, in Zweierreihen zu unserem Spielplatz. Dort sollen wir im gemeinschaftlichen Spiel grundlegende soziale Fertigkeiten erlernen, die uns später in der Schule von Nutzen sein werden.
Unter der Anleitung der jungen Frauen machen wir Spiele, wir malen und basteln, wir turnen. Und sobald wir beschäftigt und in unser Tun vertieft sind, ziehen sich die Studentinnen – ohne Wissen unserer Eltern natürlich – in diesen kleinen Bau zurück, der einem griechischen Tempelchen gleicht, um miteinander zu schwatzen und Zigaretten zu rauchen.
An diesem besonderen Tag sind wir Kinder alle mit unseren Dreirädern unterwegs. Und während ich auf meinem fahrbaren Untersatz mit der kleinen Meute zusammen um die Grünanlagen herumkurve, hält einer der Jungen an, ein Junge wie ich, lässt seine Hose herunter und pinkelt ganz offen auf den gepflegten Rasen. Es gibt einen Riesenwirbel, und der Missetäter wird zur Strafe schnurstracks nach Hause gebracht.
Das ist der Moment, wo die Musik einsetzt. Die beiden Studentinnen, die noch da sind, haben keine Ahnung, was wir hören, aber ich möchte den Klängen nachgehen und dränge mit einer für mich so ungewöhnlichen Hartnäckigkeit, dass eine der Studentinnen – eine Italienerin, glaube ich, ihr Englisch ist nicht gut, auch wenn sie ein großes Herz hat – sich bereit erklärt, mit mir zusammen die Musik zu suchen. Und so gelangen wir in das Peabody-Haus, wo wir auf Miss Orr treffen.
Miss Orr spielt nicht, tut auch nicht so, als spielte sie, und weint auch nicht, als die Studentin und ich in ihr Wohnzimmer treten. Sie hat gerade eine Musikstunde gegeben und beendet sie, wie das – so erfahre ich später – ihrer Gewohnheit entspricht, indem sie ihrem Schüler auf ihrer Stereoanlage ein Musikstück vorspielt. Diesmal ist es das Violinkonzert von Brahms.
Ob ich Musik mag, möchte sie wissen.
Ich weiß darauf keine Antwort. Ich weiß nicht, ob ich Musik mag. Ich weiß nur, ich möchte auch solche Musik machen können. Aber ich bin schüchtern und sage nichts, sondern verstecke mich hinter der Italienerin, die mich schließlich an der Hand nimmt, sich in ihrem etwas schwerfälligen Englisch entschuldigt und mich wieder nach draußen führt.
So war es wirklich.
Natürlich möchten Sie jetzt wissen, wie dieser wenig verheißungsvolle Beginn meines Lebens als Musiker sich in die Gideon-Legende verwandelte. Wie, um es anders auszudrücken, aus der weggeworfenen Waffe, die in einer Höhle hundert Jahre Kalk ansetzte, Excalibur wurde, das Schwert im Stein. Ich kann nur Mutmaßungen anstellen, da die Legende das Machwerk meines Vaters ist, nicht meines.
Am Ende des Tages, wenn die Kinder der Spielgruppe nach Hause gebracht wurden, erhielten die Eltern in der Regel einen kurzen Bericht über Entwicklung und Verhalten ihres Sprösslings. Das war es ja wohl, was sie sich von der Investition erhofften: tägliche Hinweise darauf, dass die soziale Reife ihres Kindes Fortschritte machte.
Weiß der Himmel, was die Eltern des kleinen Pinkelhelden an diesem Nachmittag zu hören bekamen. Meine Eltern jedenfalls hörten von meiner Begegnung mit Rosemary Orr.
Ich vermute, die Berichterstattung spielte sich bei uns zu Hause im Wohnzimmer ab, wo Großmutter den Tee kredenzte, den sie Großpapa jeden Nachmittag auftischte, um ihn in eine Atmosphäre alltäglicher Normalität einzubetten und vor einem Überfall durch eine »Episode« zu schützen. Vielleicht war mein Vater auch da, vielleicht gesellte sich auch James, der Untermieter, dazu, der eines der leer stehenden Zimmer im dritten Stockwerk des Hauses gemietet hatte und so dazu beitrug, dass wir finanziell über die Runden kamen.
Die italienische Studentin – ich muss allerdings sagen, dass sie genauso gut Griechin, Spanierin oder Portugiesin gewesen sein kann – wurde zweifellos aufgefordert, eine Tasse Tee mit uns zu trinken, und hatte somit hinreichend Gelegenheit, die Geschichte unserer Begegnung mit Rosemary Orr zu erzählen.
»Der Kleine«, sagte die Italienerin, »wollte die Musik suchen gehen, der wir gelauscht haben, und da sind wir ihr nachgespurt –«
»Sie meint wahrscheinlich ›gehört‹ und ›nachgegangen‹«, wirft der Untermieter ein, der, wie ich schon erwähnte, James heißt. Des Öfteren habe ich meinen Großvater empört trompeten hören, sein Englisch sei »zu perfekt, um wahr zu sein«, und er könne nur ein Spion sein. Ich höre ihm trotzdem gern zu. Die Worte rollen James, dem Untermieter, von den Lippen wie goldene Orangen, saftig und rund. Er selbst allerdings ist alles andere als saftig und rund, nur seine Wangen, die sind rund und rot und röten sich noch mehr, wenn er merkt, dass er im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht.
»Erzählen Sie weiter«, sagt er zu der italienisch-spanisch-griechisch-portugiesischen Studentin. »Achten Sie nicht auf mich.«
Sie lächelt. Der Untermieter gefällt ihr. Ich vermute, sie hätte nichts dagegen, wenn er ihr helfen würde, ihr Englisch zu verbessern. Sie wäre gern gut Freund mit ihm.
Ich selbst habe keine Freunde – trotz der Spielgruppe –, aber ich habe nicht das Gefühl, dass mir etwas fehlt. Ich habe ja meine Familie, in deren Liebe ich eingebunden bin. Mein Leben spielt sich ganz anders ab als das der meisten Kinder meines Alters, die von der Erwachsenenwelt isoliert im Kinderzimmer hausen, von irgendeiner Kinderfrau betreut ihre Mahlzeiten allein einnehmen und, abgesehen von periodischen Auftritten im Kreis der Familie, nur eine eng begrenzte Welt kennen lernen, bis sie endlich eines Tages ins Internat verfrachtet werden. Nein, ich habe Anteil an der Welt der Erwachsenen, mit denen ich zusammenlebe. Ich bekomme sehr viel von dem mit, was in meinem Zuhause geschieht, und wenn ich mich vielleicht auch nicht an die Ereignisse selbst erinnere, so sind mir doch die Eindrücke gegenwärtig, die sie hervorgerufen haben.
Ich entsinne mich also dessen: Wie die Geschichte von der Geigenmusik erzählt wird und Großvater mit einer ausführlichen Erörterung von Paganinis Musik mitten hineinplatzt. Großmama setzt seit Jahren Musik ein, um ihn zu beruhigen, wenn eine »Episode« droht und noch Hoffnung besteht, sie abzuwenden, und nun lässt er sich mit einer Bestimmtheit, die sich wie Autorität anhört, aber, wie ich heute weiß, nichts als Größenwahn ist, über Triller und Strich, über Vibrato und Glissandi aus. Er schwadroniert mit dröhnender Stimme, ein ganzes Orchester für sich allein, und keiner unterbricht ihn oder widerspricht ihm, als er im Tonfall Gottes, der Licht befiehlt, der Runde verkündet: »Dieser Junge wird spielen!« Und damit meint er mich.
Mein Vater hört das, entnimmt den Worten eine Bedeutung, die niemand mit ihm teilt, und leitet unverzüglich die erforderlichen Schritte ein.
So kommt es, dass ich schon bald bei Miss Rosemary Orr die ersten Geigenstunden erhalte. Und aus diesen Unterrichtsstunden und diesem Bericht nach der Spielgruppe konstruierte mein Vater die Gideon-Legende, die ich seither mitschleppe wie einen Klotz am Bein.
Aber warum hat er Ihren Großvater zu einer Hauptperson der Legende gemacht? Das möchten Sie doch jetzt gern wissen, nicht wahr? Warum hat er den Kern nicht einfach gelassen und nur die Details hier und dort ein wenig ausgeschmückt? Fürchtete er denn nicht, es würde irgendwann jemand auftauchen, um der Legende zu widersprechen und die wahre Geschichte zu erzählen?
Darauf kann ich Ihnen nur eine Antwort geben, Dr. Rose: Fragen Sie meinen Vater.
21. August
Ich entsinne mich der ersten Stunden bei Rosemary Orr. Ich entsinne mich vor allem meiner Ungeduld, die ständig mit ihrer pingeligen Genauigkeit im Streit lag.
»Spüre deinen Körper, Gideon, mein Kind. Spüre deinen Körper«, sagt sie. Und die Sechzehntelgeige zwischen Kinn und Schulter geklemmt – das kleinste Instrument, das damals zu haben war –, erdulde ich Miss Orrs fortwährende korrigierende Eingriffe in meine Körperhaltung. Sie krümmt meine Finger, sodass sie halbrund über dem Griffbrett stehen; sie dreht mir den Unterarm unter das Griffbrett; sie zieht meine Schulter zurück, damit diese nicht die Bogenführung stört; sie drückt mir den Rücken durch und schlägt mir mit einem Lineal leicht auf die Innenseiten der Beine, um mich zu veranlassen, die Fußspitzen nach außen zu drehen. Und wenn ich spiele – wenn ich endlich einmal spielen darf –, übertönt ihre Stimme die Tonleitern und Arpeggios, die meine ersten Übungen sind: »Oberkörper aufrecht, Gideon, Kind, und die Schulter locker«, »Daumen an der Einbuchtung des Bogens und nicht zu weit oben«, »Beim Aufstrich führt der ganze Arm den Bogen«, »Die Striche sind kräftig und voneinander getrennt«, »Nein, nein! Du spielst mit den Ballen der Finger, mein Kind.« Immer wieder muss ich einen Ton spielen und zum nächsten ansetzen. Immer wieder machen wir diese Übung, bis alle Körperteile, die als Verlängerung der rechten Hand gelten können – das heißt das Handgelenk, der Ellbogen, der Arm und das Schulterblatt –, zu ihrer Zufriedenheit funktionieren und mit dem Bogen zusammenwirken wie die Achse mit dem Rad.
Ich lerne, dass meine Finger unabhängig voneinander arbeiten müssen. Ich lerne, genau die Stelle auf dem Griffbrett zu finden, von wo aus meine Finger später wie von Luft getragen von einem Punkt auf den Saiten zum nächsten gleiten können. Ich lerne, mein Instrument zum Klingen zu bringen. Ich lerne den Aufstrich und den Abstrich, staccato und legato, détaché und spiccato.
Kurz, ich lerne Technik, Theorie und Prinzip, nur das, was ich unbedingt lernen möchte, lerne ich nicht: Wie man den Geist sprengt, um den Klang hervorzubringen.
Achtzehn Monate harre ich bei Miss Rosemary Orr aus, aber bald werde ich der seelenlosen Übungen müde, die meine Zeit auffressen. Was ich damals auf dem Platz hörte, war nicht das Produkt seelenloser Übungen, und ich bäume mich heftig dagegen auf, ihnen unterworfen zu werden.
Ich höre, wie Miss Orr dies meinem Vater gegenüber entschuldigt: »Er ist ja doch noch sehr klein. Es war eigentlich zu erwarten, dass in diesem Alter das Interesse nicht allzu lange anhalten würde.« Aber mein Vater – der sich zu dieser Zeit bereits einen zweiten Arbeitsplatz gesucht hatte, um der Familie das Zuhause am Kensington Square erhalten zu können – hat den Unterrichtsstunden, die dreimal wöchentlich stattfinden, nie beigewohnt und daher auch nie Gelegenheit gehabt, zu erleben, wie diese Art des Unterrichts der Musik, die ich liebe, alles Leben entzieht.
Dafür ist mein Großvater, der in diesen anderthalb Jahren nicht einen seiner »Episoden« genannten Anfälle hat, die ganze Zeit dabei. Er bringt mich regelmäßig zu den Stunden und hört, in einer Ecke des Zimmer sitzend, den Übungen zu. Mit scharfem Blick und einer Seele, die nach Paganini dürstet, registriert er Form und Inhalt des Unterrichts und gelangt zu der Überzeugung, dass die wunderbare Begabung seines Enkels von der wohlmeinenden Rosemary Orr niedergehalten, aber nicht gefördert wird.
»Er möchte Musik machen, verdammt noch mal!«, brüllt Großvater meinen Vater an, als sie die Situation besprechen. »Der Junge ist ein Künstler, Dick! Wenn du nicht fähig bist, das zu erkennen, dann besitzt du noch weniger Verstand, als ich bisher glaubte. Würdest du ein Rassepferd aus dem Schweinetrog füttern? Wohl kaum, Richard!«
Vielleicht gibt mein Vater aus Furcht klein bei, aus Furcht davor, dass die nächste »Episode« ins Haus steht, wenn er sich dem Plan, den Großvater ihm ohne viel Federlesens unterbreitet, nicht beugt. Es ist ein ganz einfacher Plan: Wir leben in Kensington, nicht weit vom Royal College of Music entfernt, und dort wird sich ganz gewiss ein geeigneter Geigenlehrer für seinen Enkel Gideon finden.
So wird mein Großvater zum Retter und Verwalter meiner unausgesprochenen Träume. Und so tritt Raphael Robson in mein Leben.
22. August
Ich bin zu diesem Zeitpunkt vier Jahre und sechs Monate alt. Natürlich weiß ich heute, dass Raphael damals erst Anfang Dreißig war, aber für mich ist er von unserer ersten Begegnung an eine erhabene und Ehrfurcht gebietende Gestalt, die mir absoluten Gehorsam abfordert.
Rein äußerlich hat er nichts Gefälliges. Er schwitzt übermäßig. Durch das feine Haar schimmert die blassrosa Kopfhaut. Seine Haut ist weiß wie ein Fischbauch und schuppt sich an vielen Stellen infolge übertriebener Sonnenbestrahlung. Aber sobald Raphael zu seiner Geige greift und mir vorspielt – so machen wir uns miteinander bekannt –, verliert sein Aussehen alle Bedeutung, und er wird mir zum großen Vorbild. Er wählt das Violinkonzert in E-Moll von Mendelssohn und gibt sich mit seinem ganzen Körper der Musik hin.
Er spielt nicht einzelne Töne, er lebt in Klängen. Das Allegro-Feuerwerk, das er auf seinem Instrument entzündet, fasziniert mich. Innerhalb eines Augenblicks hat er sich verwandelt. Er ist nicht mehr der schwitzende, schuppige, profillose Schulmeister, sondern Merlin, und ich möchte seine Zauberkraft für mich gewinnen.
Raphael, entdecke ich, hält nichts von Methodenlehre. Im Gespräch mit meinem Großvater sagt er klar und deutlich: »Es ist Aufgabe des Geigers, seine eigene Methode zu entwickeln.« Er lässt mich aus dem Stegreif Übungen machen. Er führt, und ich folge. »Versuche, an der Situation zu wachsen«, sagt er zu mir, während er spielt und mein Spiel beobachtet. »Verstärke dieses Vibrato. Fürchte dich nicht vor portamenti, Gideon. Du musst gleiten. Lass es fließen. Gleite.«
Das ist der Moment, wo mein wahres Leben als Geiger beginnt, Dr. Rose, die Stunden bei Miss Orr waren nur Vorspiel. Anfangs habe ich dreimal die Woche Unterricht, dann vier-, dann fünfmal. Jede Unterrichtseinheit dauert drei Stunden. In den ersten Wochen finden meine Stunden in Raphaels Arbeitszimmer im Royal College of Music statt, und Großvater und ich fahren von der Kensington High Street aus mit dem Bus dorthin. Aber das lange Warten bis zum Ende meines Unterrichts tut Großvaters Nerven nicht gut, und zu Hause fürchten alle, dass es früher oder später zu einer »Episode« kommen und dann meine Großmutter nicht zur Stelle sein wird, um sich um ihren Mann zu kümmern. Es bleibt schließlich nichts anderes übrig, als mit Raphael Robson zu vereinbaren, dass er mich in Zukunft zu Hause unterrichtet.
Das kostet natürlich Unsummen. Von einem Geiger von Raphael Robsons Kaliber kann man die nahezu ausschließliche Beschäftigung mit einem einzigen kleinen Schüler nicht verlangen, ohne ihn für Fahrzeiten, ausgefallene Stunden und selbstverständlich für die Zeit, die er mir widmet, zu vergüten. Der Mensch lebt schließlich nicht von der Liebe zur Musik allein. Zwar hat Raphael keine Familie zu ernähren, aber er muss doch für sich selbst sorgen, seine Miete und andere Kosten bezahlen, und darum muss irgendwie das Geld aufgebracht werden, das ihm erlaubt, seinen Lebensstandard aufrechtzuerhalten, ohne die Zahl meiner Stunden zu reduzieren, um anderweitig etwas dazuzuverdienen.
Mein Vater hat, wie gesagt, bereits zwei Arbeitsstellen. Großvater erhält eine kleine staatliche Pension, gewissermaßen als Dank dafür, dass er dem Vaterland im Krieg seine geistige Gesundheit geopfert hat. Um diese geistige Gesundheit nicht noch mehr zu gefährden, haben meine Großeltern in den Nachkriegsjahren nie einen Umzug in eine andere Gegend in Betracht gezogen, wo das Wohnen vielleicht preiswerter, dafür aber für die Nerven strapaziöser gewesen wäre. Sie haben äußerst sparsam gelebt, jeden Penny zweimal umgedreht, haben vermietet und sich Kosten und Arbeit, die ein großes Haus mit sich bringt, mit meinem Vater geteilt. Aber mit einem Wunderkind – wie mein Großvater mich zu nennen pflegt – in der Familie hat niemand gerechnet und ebenso wenig mit den Kosten, die anfallen, um das Talent dieses Wunderkinds zur Reife zu bringen.
Und ich mache es ihnen nicht leicht. Wann immer Raphael hier oder da eine zusätzliche Unterrichtseinheit empfiehlt, ein, zwei oder drei zusätzliche Stunden mit dem Instrument, erhebe ich leidenschaftlich Anspruch auf diese Zeit. Sie sehen, wie ich unter Raphaels Führung gedeihe: Er tritt ins Haus, und ich warte schon auf ihn, die Geige in der einen Hand, den Bogen in der anderen.
Es muss also eine finanzielle Möglichkeit zur Fortsetzung meines Unterrichts geschaffen werden, und meine Mutter schafft sie.
Die Erinnerung an eine Berührung trieb Ted Wiley in die Nacht hinaus. Er hatte sie von seinem Fenster aus beobachtet, obwohl er eigentlich gar nicht hatte spionieren wollen. Die Zeit: kurz nach ein Uhr nachts. Der Ort: die Friday Street in Henley-on-Thames, sechzig Meter vom Fluss entfernt, direkt vor ihrem Haus, aus dem die beiden erst Augenblicke zuvor auf die Straße hinausgetreten waren, die Köpfe eingezogen, um sich nicht an dem Türsturz zu stoßen, der aus einer Zeit stammte, als Männer und Frauen kleiner und ihre Rollen klarer definiert waren.
Ted Wiley hatte nichts gegen eine klare Rollenverteilung alten Stils. Aber sie hatte etwas dagegen. Und wenn er bisher nicht begriffen hatte, dass Eugenie sich nicht einfach und bequem als »seine« Frau würde einordnen lassen, so hatte er das spätestens in dem Moment erkennen müssen, als er die beiden – Eugenie und den groß gewachsenen, hageren Fremden – draußen auf dem Bürgersteig in inniger Umarmung sah.
Deutlicher geht’s nicht, hatte er gedacht. Sie will, dass ich das sehe. Sie will, dass ich sehe, wie sie ihn umarmt und dann ihre Hand an seine Wange legt, als sie sich von ihm löst. Zum Teufel mit dieser Frau! Sie will, dass ich sie sehe.
Natürlich war das nur seine Interpretation. Hätten sich Umarmung und Berührung zu einer unverfänglicheren Zeit zugetragen, so hätte sich Ted die bedrohlichen Gedanken, die in seinem Kopf Gestalt anzunehmen begannen, sofort ausgeredet. Es kann überhaupt nichts zu bedeuten haben, da sie es auf offener Straße tut, hätte er sich gesagt; am helllichten Tag, in der Öffentlichkeit, im Herbstsonnenschein vor sämtlichen Nachbarn und vor mir… Nein, diese Berührung kann nichts zu bedeuten haben, da sie doch weiß, wie leicht ich sie dabei beobachten kann … Aber stattdessen dachte Ted an alles, was es bedeuten kann, wenn ein Mann nachts um ein Uhr das Haus einer Frau verlässt, und diese Gedanken breiteten sich aus wie ein giftiges Gas, das in den folgenden sieben Tagen immer mehr Raum gewann, während er – voll ängstlicher Nervosität jede ihrer Gesten und Bemerkungen interpretierend – auf ein Wort wartete. Etwa: »Ach Ted, habe ich dir übrigens erzählt, dass mein Bruder« – oder mein Vetter, mein Vater, mein Onkel, der homosexuelle Architekt, der den Anbau am Haus machen will – »mich neulich abends besucht hat? Er ist bis nach Mitternacht geblieben, ich dachte schon, er würde überhaupt nicht mehr gehen. Vielleicht hast du uns draußen vor meinem Haus gesehen, wenn du hinter deiner Jalousie gelauert hast, wie du das ja in letzter Zeit zu tun pflegst.« Nur wusste Ted nichts von einem Bruder, Vetter, Onkel oder Vater, und wenn es einen homosexuellen Architekten gab, so hatte Eugenie ihn bisher mit keinem Wort erwähnt.
Sie hatte allerdings erklärt, sie habe ihm etwas Wichtiges zu sagen. Als er gefragt hatte, worum es gehe, und sich dabei gedacht hatte, es wäre ihm lieber, sie würde es ihm rundheraus sagen, falls es der tödliche Schlag sein sollte, hatte sie erwidert: Bald, so ganz bin ich noch nicht bereit, meine Sünden zu beichten. Dabei hatte sie ihm leicht die Hand an die Wange gelegt. Ja. Ja, genau. Die gleiche Berührung!
Und darum legte Ted Wiley nun an einem regnerischen Abend Mitte November gegen neun Uhr seinem Hund, einer alten Golden-Retriever-Hündin, die Leine an, um ihn auszuführen. Sie würden, erklärte er der Hündin, die, von Arthritis und einer Aversion gegen Regen geplagt, nicht gerade ein Ausbund an Temperament war, bis zum Ende der Friday Street und danach noch die paar Meter bis zur Albert Road marschieren, wo sie vielleicht ganz zufällig Eugenie treffen würden, die jetzt noch im Sixty Plus Club saß und mit den anderen Mitgliedern des Festausschusses um den Speiseplan für das große Silvestermenü rang. Vielleicht würde sie genau in dem Moment aus dem Haus des Altenklubs treten, wenn sie – Herr und Hund – dort vorbeikamen … Ja, wirklich, es wäre ein rein zufälliges Zusammentreffen und eine günstige Gelegenheit für einen Schwatz. Denn jeder Hund brauchte schließlich seinen Abendspaziergang. Von Planung konnte da keine Rede sein.
Die Hündin – von Teds verstorbener Frau auf den bei aller Liebe ziemlich albernen Namen Precious Baby getauft und von Ted kurz PB genannt – verharrte unschlüssig an der Tür und starrte zur Straße hinaus, wo es eintönig rauschend regnete. Dann setzte sie sich hin und wäre zweifellos sitzen geblieben, hätte nicht Ted, grimmig entschlossen, seine Pläne nicht durchkreuzen zu lassen, sie auf die Straße hinausgezerrt.
»Los, komm jetzt, PB«, herrschte er das Tier an und riss an der Leine, dass sich das Würgehalsband um den Hundehals zusammenzog. PB sah ein, dass Widerstand sinnlos war. Mit einem tiefen Seufzer trottete sie verdrossen in den Regen hinaus.
Das Wetter war ein Elend, aber das ließ sich nicht ändern. PB brauchte Auslauf. Sie war in den vergangenen fünf Jahren seit dem Tod ihrer Herrin faul geworden, und Ted hatte nicht viel getan, um sie auf Trab zu halten. Aber das würde sich jetzt ändern. Er hatte Connie versprochen, sich um den Hund zu kümmern, und das wollte er auch tun, von heute Abend an mit neuer Konsequenz. »Schluss mit den kleinen Schnupperrunden im Garten«, teilte er PB mit. »Ab heute wird jeden Abend stramm gelaufen.«
Er vergewisserte sich noch einmal, dass die Tür der Buchhandlung sicher abgeschlossen war, und klappte den Kragen seiner alten Wachsjacke hoch. Ich hätte einen Schirm mitnehmen sollen, dachte er, als er aus dem Schutz der Türnische trat und die ersten Regentropfen klatschend seinen Nacken trafen. Eine Schirmmütze reichte als Schutz nicht aus, auch wenn sie ihn noch so gut kleidete. Aber was machte er sich überhaupt Gedanken darüber, was ihn kleidete? Hölle und Teufel, wenn einer ihm in den Kopf sehen könnte, würde er nichts als Spinnweben und Hirngespinste darin finden.
Er räusperte sich einmal kräftig, spie den Schleim auf die Straße, und während er mit dem Hund an der Royal Marine Reserve vorbeistapfte, wo aus einem großen Loch in der Dachrinne das Regenwasser in Kaskaden herabstürzte, begann er, sich Mut zuzusprechen. Ich bin eine gute Partie, sagte er sich. Ted Wiley, Major a. D. und Witwer nach zweiundvierzig Jahren glücklicher Ehe, wäre für jede Frau ein ausgesprochen guter Fang. Ungebundene Männer waren in Henley-on-Thames so rar wie ungeschliffene Diamanten. Ungebundene Männer, die sich weder hässlicher Nasen- und Ohrenhaare noch wild wuchernder Augenbrauen zu schämen brauchten, waren noch seltener. Und Männer, die auf Sauberkeit und Ordnung hielten, im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte und bei bester Gesundheit waren, die in der Küche nicht gerade zwei linke Hände hatten und die eheliche Treue hochhielten, waren in dieser Stadt eine solche Rarität, dass sich die Frauen wie Vampire auf sie stürzten, sobald sie sich auf irgendeiner gesellschaftlichen Veranstaltung sehen ließen. Und er gehörte zu diesen Männern. Das wussten alle.
Einschließlich Eugenie!
Mehr als einmal hatte sie zu ihm gesagt, Ted, du bist ein großartiger Mann! Sie hatte seine Gesellschaft in den vergangenen drei Jahren gern und mit Vergnügen genossen, das wusste er. Und er erinnerte sich, wie sie errötend gelächelt und dann hastig weggesehen hatte, als seine Mutter, die sie gemeinsam im Pflegeheim besucht hatten, in der für sie typischen, irritierenden und gebieterischen Art gesagt hatte: Ich möchte vor meinem Tod noch eine Hochzeit erleben, ihr beiden!
Das alles bedeutete doch ungleich mehr als diese eine flüchtige Berührung, mit der sie eines Nachts ihre Hand an die Wange eines Fremden gelegt hatte. Warum haftete dieser Moment wie eingebrannt in seinem Gedächtnis, obwohl er nichts weiter war als eine unerfreuliche Erinnerung, die er nicht einmal ertragen müsste, wenn er es sich nicht angewöhnt hätte, ständig zu beobachten und zu spekulieren, zu lauern und auf der Hut zu sein, die Schotten dicht zu machen, als wäre sein Leben ein schlingerndes Schiff, das Gefahr lief, seine Fracht zu verlieren, wenn er nicht jeden Moment Acht gab?
Eugenie war schuld daran. Eugenie, deren zerbrechlich dünner Körper danach verlangte, in den Arm genommen und gehalten zu werden; deren ordentlich frisiertes, grau gesprenkeltes Haar danach verlangte, von Nadeln und Spangen befreit zu werden; deren blaugrüne Augen nie ohne Vorsicht waren; deren unauffällige und dennoch aufregende Weiblichkeit bei Ted Gefühle und Empfindungen weckte, die er seit Connies Tod nicht mehr gekannt hatte. Ja. Eugenie war schuld daran.
Und er war der Mann für Eugenie, der Mann, der sie beschützen und ihr das Leben wieder schenken konnte. Sie hatte sich, wer weiß wie lange schon, den ganz gewöhnlichen Umgang mit anderen Menschen so radikal verwehrt, dass es ihm, obwohl sie es nie angesprochen hatte, sofort aufgefallen war, als er sie das erste Mal zu einem Glas Sherry im Catherine Wheel eingeladen hatte.
Ach Gott, hatte er angesichts ihrer Verwirrung bei seiner Einladung gedacht, sie ist wohl schon seit Jahren nicht mehr mit einem Mann ausgegangen. Und er hatte sich gefragt, warum das so war.
Möglich, dass er jetzt die Antwort erhielt. Sie hatte Geheimnisse vor ihm. Ich muss dir etwas Wichtiges sagen, Ted. Sünden habe sie zu beichten, hatte sie erklärt.
Nun, dann sollte sie ihm jetzt sagen, was sie zu sagen hatte.
Am Ende der Friday Street hielt Ted mit der vor Kälte zitternden PB an seiner Seite vor der Ampel an, um auf Grün zu warten. Tag und Nacht donnerte der Verkehr durch die Duke Street, die Hauptdurchgangsstraße nach Reading und Marlow. Selbst an einem regnerischen Abend wie diesem ließ er kaum nach, was kein Wunder war, da sich die Leute in deprimierender Weise ja immer stärker auf das Auto verließen und in immer größerer Zahl ein Pendlerleben nach dem Motto »arbeiten in der Stadt und wohnen auf dem Land« führten. Sogar um neun Uhr abends brausten Personenautos und Lastwagen in beinahe unverminderter Zahl über die nasse Straße und erleuchteten mit ihren Scheinwerfern, deren Licht sich in Fensterglas und Pfützen spiegelte, die Nacht.
Zu viele Menschen, die ständig kreuz und quer unterwegs sind, dachte Ted trübsinnig. Zu viele Menschen, die keine Ahnung haben, warum sie wie gejagt durch das Leben hetzen.
Die Ampel schaltete um. Ted überquerte die Fahrbahn und legte das kurze Stück in die Greys Road im Laufschritt zurück. Die alte Hündin japste jämmerlich, obwohl sie höchstens fünfhundert Meter gegangen war, und Ted trat in die Türnische von Mirabelles Antiques, dem kleinen Antiquitätengeschäft, um dem armen Tier eine Verschnaufpause zu gönnen. »Gleich sind wir da«, sagte er tröstend. »Das kurze Stück bis zur Albert Road schaffst du schon noch.«
Dort war, mit einem großen Parkplatz vor dem Haus, der Sixty Plus Club, eine Organisation, die sich der sozialen Bedürfnisse der wachsenden Gemeinde von Rentnern und Pensionären in Henley annahm. Dort war Eugenie in der Organisationsleitung tätig. Und dort hatte Ted sie kennen gelernt, nachdem er von Maidstone, wo die Erinnerungen an das lange Sterben seiner Frau ihm unerträglich geworden waren, nach Henley umgezogen war.
»Major Wiley, das ist ja nett! Sie wohnen in der Friday Street«, hatte Eugenie zu ihm gesagt, als sie sein Mitgliedschaftsformular durchgesehen hatte. »Da sind wir Nachbarn. Ich wohne in Nummer 65. Das rosarote Haus, kennen Sie es? Doll Cottage. Ich lebe seit Jahren dort. Und Sie?«
»Mir gehört die Buchhandlung«, hatte er geantwortet. »Gleich gegenüber. Die Wohnung ist darüber. Aber ich hatte keine Ahnung … Ich meine, ich habe Sie nie gesehen.«
»Ach, ich gehe immer in aller Frühe aus dem Haus und komme meist erst spät zurück. Ich kenne Ihre Buchhandlung. Ich habe oft dort eingekauft. Jedenfalls, als Ihre Mutter sie noch führte. Vor dem Schlaganfall, meine ich. Und es geht ihr zum Glück immer noch gut. Sie ist deutlich auf dem Weg der Besserung, nicht wahr?«
Erst glaubte er, Eugenie wolle sich erkundigen; als ihm klar wurde, dass das nicht der Fall war, dass sie vielmehr nur bekräftigte, was sie bereits wusste, fiel ihm auch ein, wo er sie früher schon gesehen hatte: im Quiet Pines-Pflegeheim, wo er dreimal wöchentlich seine Mutter besuchte. Eugenie half dort morgens ehrenamtlich aus und wurde von den Patienten nur »unser Engel« genannt. So jedenfalls hatte Teds Mutter es ihrem Sohn einmal erzählt, als sie beide zufällig beobachteten, wie Eugenie mit einer Erwachsenenwindel über dem Arm ein Zimmer betreten hatte. »Sie hat keinen Angehörigen hier, Ted, und das Heim zahlt ihr keinen Penny.«
Warum sie diese Arbeit dann übernommen habe, hatte Ted damals wissen wollen.
Geheimnisse, dachte er jetzt. Stille Wasser und Geheimnisse.
Er sah zu PB hinunter, die sich gegen sein Bein hatte sinken lassen und hier, vom Regen geschützt, ein Nickerchen hielt. »Komm, gehen wir«, sagte er. »Es ist nicht mehr weit.« Er blickte zwischen den kahlen Ästen der Bäume hindurch zur anderen Straßenseite und sah, dass auch nicht mehr viel Zeit war.
Eben traten die Mitglieder des Festausschusses aus dem Haus, in dem der Sixty Plus Club seine Räume hatte. Mit aufgespannten Schirmen über Pfützen springend, riefen sie einander Gutenachtwünsche zu, und dem vergnügten Klang ihrer Stimmen war zu entnehmen, dass sie endlich eine Einigung über die Zusammenstellung des Silvestermenüs erzielt hatten. Eugenie würde erfreut sein. Und erfreut würde sie gewiss aufgeschlossener Stimmung und bereit sein, mit ihm zu sprechen.
Die widerspenstige Hündin im Schlepptau, eilte Ted über die Straße, um Eugenie nicht zu verpassen. Er erreichte das niedrige Mäuerchen zwischen Bürgersteig und Parkplatz, als die letzten Ausschussmitglieder davonfuhren. Im Sixty Plus Club gingen die Lichter aus, die Haustür unter dem Vordach versank im Schatten. Einen Augenblick später trat, mit einem schwarzen Schirm ausgerüstet, Eugenie in das dunstige Halbdunkel zwischen Haus und Parkplatz. Ted hob den Arm, um ihr zu winken, öffnete den Mund, um ihr zu rufen und anzubieten, sie nach Hause zu begleiten. An einem solchen Abend sollte eine hübsche Frau nicht allein unterwegs sein. Gestattest du, dass ein heißer Verehrer dich nach Hause bringt? Leider mit Hund. PB und ich machen gerade unseren Abendspaziergang.
All dies hätte er sagen können und wollte in der Tat schon zum Sprechen ansetzen, als er plötzlich eine Männerstimme Eugenies Namen rufen hörte. Eugenie wandte sich ruckartig nach links, und Teds Blick flog an ihr vorbei zu einer schattenhaften Gestalt, die soeben einer dunklen Limousine entstieg. Es war nicht viel zu erkennen, da keine der auf dem Parkplatz verteilten Straßenlampen die Gestalt direkt beleuchtete, aber an der Kopfform und der gebogenen Nase, die wie ein Möwenschnabel hervorsprang, sah Ted, dass Eugenies nächtlicher Besucher von neulich wieder da war.
Der Fremde ging ihr entgegen. Sie blieb, wo sie war. In der veränderten Beleuchtung konnte Ted etwas mehr erkennen: ein älterer Mann – vielleicht in seinem eigenen Alter – mit vollem weißen Haar, das er glatt aus der Stirn gestrichen und so lang trug, dass es an den hochgeschlagenen Kragen seines Burberry stieß.
Sie begannen miteinander zu sprechen. Er nahm ihr den Schirm ab und hielt ihn über beide, während er drängend auf sie einredete. Er war gut zwanzig Zentimeter größer als Eugenie und stand daher leicht gebeugt, während sie mit erhobenem Kopf zu ihm hinaufsah. Ted versuchte zu hören, worum es bei dem Gespräch ging, aber er fing nur einige Wortfetzen auf: »Du musst …« und »… auf die Knie fallen, Eugenie?« und schließlich, laut und heftig: »Warum willst du nicht einsehen –« An dieser Stelle unterbrach Eugenie den Fremden mit einem Schwall gedämpft gesprochener Worte und legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm. »Das sagst du mir?«, war das Letzte, was Ted hörte, bevor der Mann Eugenies Hand abschüttelte, ihr zornig den Schirm zurückgab und zu seinem Wagen lief. Ted sandte einen Stoßseufzer der Erleichterung zum Abendhimmel.
ENDE DER LESEPROBE
Die Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel »A Traitor to Memory« bei Bantam Books, Random House Inc., New York.
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1. Auflage
Taschenbuchausgabe November 2003
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