Wer dem Tode geweiht - Elizabeth George - E-Book

Wer dem Tode geweiht E-Book

Elizabeth George

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Nach Wochen der Einsamkeit fernab von London kehrt Thomas Lynley in die City zurück. Als Isabelle Ardery, eine Kollegin aus vergangenen Tagen, ihn um Unterstützung bei einem komplizierten Mordfall bittet, zögert er kurz – und tut ihr dann den Gefallen. Während Ardery im Laufe der Ermittlungen zusehends ins Kreuzfeuer der Kritik gerät, besinnt Lynley sich seiner früheren Stärken. Und seiner genialen Ermittlungspartnerin Detective Sergeant Barbara Havers …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 1188

Veröffentlichungsjahr: 2024

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Die Stelle des Detective Superintendent bei New Scotland Yard ist nach vielen Monaten noch immer nicht besetzt. Eigentlich gebührte sie Thomas Lynley, doch der quittierte nach dem tragischen Tod seiner Ehefrau und seines ungeborenen Kindes den Dienst.

Nun bewirbt sich mit Isabelle Ardery eine Frau für den Posten, die es im Konkurrenzkampf mit einigen bewährten und eng verschworenen Mitarbeitern aus Lynleys alter Truppe nicht leicht haben wird. Zudem hat die Beamtin aus Kent auch noch ein privates Handicap … Ardery zieht den einzigen Trumpf, der ihr zur Verfügung steht: ihre Bekanntschaft mit Thomas Lynley. Sie sucht ihn in seinem Haus in Kensington auf, bittet ihn um seine vorübergehende Rückkehr zu New Scotland Yard und um Unterstützung bei ihrer Bewährungsprobe im Team. Nach kurzem Zögern beschließt Lynley, ihr den Gefallen zu tun.

Als dann eine Tote im Abney Park gefunden wird und die Polizei keine raschen Ermittlungserfolge vorweisen kann, gerät Ardery zunehmend ins Kreuzfeuer der Kritik. Um ihr jetzt beizustehen, muss Lynley sich seiner früheren Stärken besinnen – und seiner genialen Ermittlungspartnerin Detective Sergeant Barbara Havers …

Elizabeth George

Wer dem Tode geweiht

Ein Inspector-Lynley-Roman

Deutsch von Charlotte Breuer und Norbert Möllemann

Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel »This Body of Death« bei HarperCollins Publisher, Inc., New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Taschenbuchausgabe April 2012

Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © der Originalausgabe 2010 by Susan Elizabeth George

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010 by Blanvalet Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München

Covermotiv: FinePic®, München

Gestaltung der Umschlaginnenseiten: UNO Werbeagentur, München

Motiv der Umschlaginnenseiten: FinePic®, München

KN · Herstellung: Str.

ISBN 978-3-641-33470-3V001

www.goldmann-verlag.de

Für Gaylynnie

 

Ich unglücklicher Mensch! Wer wird mich aus diesem dem Tod verfallenen Leib erretten?

RÖMER, 7:24

ANFÄNGE

 

Aus den Berichten der ermittelnden Polizisten, die Michael Spargo und seine Mutter vor der Anklageerhebung vernahmen, geht hervor, dass der Tag, an dem der Junge zehn Jahre alt wurde, für ihn bereits schlecht angefangen hatte. In Anbetracht des von Michael begangenen Verbrechens und der großen Antipathie, die ihm später vonseiten der Polizei und der Mitbürger entgegengebracht wurde, kann man derlei Darstellungen zwar als fragwürdig betrachten. Allerdings kommt auch der ausführliche Bericht der Sozialarbeiterin, die Michael sowohl während der Verhöre als auch während der späteren Gerichtsverhandlung zur Seite gestellt war, zu dem gleichen Ergebnis.

Manche Einzelheiten werden sich selbst demjenigen, der sich mit Kindesmissbrauch, Familiendysfunktion und der daraus resultierenden Psychopathologie beschäftigt, nie erschließen. Doch die wesentlichen Charakteristika sind unverkennbar und unweigerlich erfahrbar für jedermann, der mit den betroffenen Personen in Kontakt kommt, wenn diese – bewusst oder unbewusst – ihre mentalen, psychischen und emotionalen Störungen an den Tag legen.

Dies war auch bei Michael Spargo und seiner Familie der Fall.

Michael ist der sechste von neun Brüdern. Gegen zwei seiner Brüder (Richard und Pete, damals achtzehn und fünfzehn Jahre alt) sowie gegen seine Mutter Sue lagen wegen anhaltender Streitereien mit den Nachbarn, wegen Belästigung diverser Rentner, die in der Sozialsiedlung wohnten, wegen Trunkenheit in der Öffentlichkeit und Zerstörung privaten und städtischen Eigentums Anzeigen vor. In dem Haushalt gab es keinen Vater. Vier Jahre vor Michaels zehntem Geburtstag hatte Donovan Spargo Frau und Kinder verlassen und war mit einer fünfzehn Jahre älteren Witwe nach Portugal gezogen. Auf dem Küchentisch hatte er einen Abschiedsbrief und fünf Pfund in Münzen hinterlassen. Seitdem hatte man nie wieder von ihm gehört. Er erschien nicht zu Michaels Gerichtsverhandlung.

Sue Spargo, die weder über einen Schulabschluss noch über nennenswerte berufliche Qualifikation verfügt, gab freimütig zu, dass sie, nachdem ihr Mann sie sitzen gelassen hatte, »ein bisschen zu viel getrunken« habe und von da an kaum noch in der Lage gewesen sei, sich um ihre Söhne zu kümmern. Bis zu Donovan Spargos Verschwinden hatte die Familie zumindest nach außen hin einigermaßen stabil gewirkt, wie sich aus Schulzeugnissen und Berichten von Nachbarn und der örtlichen Polizei schließen lässt. Aber nachdem das Familienoberhaupt sich abgesetzt hatte, traten die Störungen innerhalb der Familie offen zutage.

Die Spargos wohnten in Buchanan Estate, einer trostlosen Ansammlung von grauen Stahlbetontürmen und schmucklosen Reihenhäusern in einem Stadtteil mit dem treffenden Namen »The Gallows« – »Galgen« –, der bekannt ist für Schlägereien, Straßenraub, Autodiebstahl und Einbruchdiebstähle. Morde geschahen dort nur selten, aber Gewalt war an der Tagesordnung. Die Spargos gehörten zu den Bewohnern, die etwas besser gestellt waren. Aufgrund der Größe der Familie lebten sie in einem Reihenhaus und nicht in einem der Wohntürme. Sie hatten einen Garten und einen kleinen Vorgarten, die sie allerdings nicht pflegten. Das Haus verfügte über ein Wohnzimmer, eine Küche, vier Schlafzimmer und ein Bad. Michael teilte sich ein Zimmer mit seinen drei jüngeren Brüdern. Sie schliefen in zwei Etagenbetten. Vier seiner älteren Brüder teilten sich das Nebenzimmer. Nur Richard, der Älteste, hatte ein eigenes Zimmer – ein Vorrecht, das offenbar seiner Neigung zuzuschreiben war, seine jüngeren Brüder zu schikanieren. Auch Sue Spargo bewohnte ein eigenes Zimmer. Interessanterweise betonte sie während der Vernehmungen mehrmals, dass, wenn einer der Jungen krank war, dieser bei ihr schlief und »nicht bei diesem Rüpel Richard«.

An Michaels zehntem Geburtstag wurde kurz nach sieben Uhr morgens die Polizei gerufen. Ein Familienstreit war so weit eskaliert, dass die Nachbarn sich veranlasst gesehen hatten einzugreifen. Später sagten sie aus, sie hätten lediglich wieder Ruhe herstellen wollen. Dagegen steht Sue Spargos Behauptung, die Nachbarn hätten ihre Söhne angegriffen. Aus den Protokollen der anschließend von der Polizei durchgeführten Vernehmungen geht jedoch hervor, dass im ersten Stock des Hauses der Familie Spargo ein Streit zwischen Richard und Pete entstanden war, nachdem Letzterer das Bad nicht schnell genug frei gemacht hatte. Richard, größer und kräftiger als sein fünfzehnjähriger Bruder, ging daraufhin brutal auf diesen los. Der sechzehnjährige Doug eilte Pete zu Hilfe, woraufhin Pete und Richard sich verbündeten und sich gemeinsam gegen Doug wendeten. Bis Sue schließlich eingriff, hatte die Schlägerei sich bereits ins Untergeschoss verlagert. Als es so aussah, als würde Sue unter Richards und Petes Fäuste geraten, versuchte der zwölfjährige David, sie mit einem Fleischmesser aus der Küche zu verteidigen, wo er angeblich dabei gewesen war, sich sein Frühstück zu machen.

An diesem Punkt hatten die Nachbarn eingegriffen, die den Lärm durch die schlecht isolierten Wände gehört hatten. Unglücklicherweise waren sie – insgesamt drei Personen – bewaffnet mit einem Kricketschläger, einem Wagenheber und einem Hammer erschienen, und laut Richard Spargos Aussage war es ebendieser Anblick, der ihn hatte rotsehen lassen. »Die hatten’s auf unsere Familie abgesehen«, lautete sein spontaner Kommentar – die Worte eines Jungen, der sich als neues Familienoberhaupt betrachtete und sich verpflichtet fühlte, seine Mutter und seine Geschwister zu verteidigen.

Mitten in diesem Durcheinander wachte Michael auf. »Richard und Pete hatten Zoff mit Mum«, gab er später zu Protokoll. »Wir konnten sie hören, ich und die Kleinen, aber wir wollten damit nichts zu tun haben.« Er behauptete, keine Angst gehabt zu haben. Aber im Lauf der Vernehmung stellte sich heraus, dass Michael stets einen großen Bogen um seine älteren Brüder machte, »um sich keine einzufangen, wenn die glauben, man guckt sie schief an«. Dass es ihm nicht immer gelungen war, seinen Brüdern aus dem Weg zu gehen, geht aus den Aussagen dreier seiner Lehrer hervor, die den Sozialarbeiterinnen von blauen Flecken, Kratzspuren, Verbrennungen und mindestens einem blauen Auge berichteten, die sie bei Michael festgestellt hatten. Bis auf einen einzigen Hausbesuch hatten diese Aussagen jedoch keine weiteren Konsequenzen. Offenbar war das System überlastet.

Verschiedene Hinweise lassen darauf schließen, dass Michael seine Wut über die Misshandlungen seinerseits an den jüngeren Brüdern ausließ. Aus Berichten, die entstanden, nachdem vier der Kinder in Pflegefamilien untergebracht worden waren, geht hervor, dass Michael den Auftrag hatte, dafür zu sorgen, dass sein Bruder Stevie »nicht ins Bett macht«. Da er nicht wusste, wie er dies bewerkstelligen sollte, verabreichte er dem Siebenjährigen offenbar regelmäßig eine Tracht Prügel, woraufhin Stevie seine Wut wiederum an den jüngeren Brüdern ausließ.

Ob Michael an jenem Morgen die kleineren Jungen attackierte, ist nicht bekannt. Er sagte lediglich aus, er sei aufgestanden, nachdem die Polizei eingetroffen war, habe sich seine Schuluniform angezogen und sei nach unten in die Küche gegangen, um zu frühstücken. Obwohl es sein Geburtstag war, rechnete er nicht damit, dass darum irgendein Aufhebens gemacht werden würde. »War mir egal«, sagte er später gegenüber der Polizei.

Das Frühstück bestand aus Cornflakes und Marmeladenbrötchen. Milch gab es nicht, was Michael bei seinen ersten Vernehmungen zwei Mal betonte. Daher aß er die Cornflakes trocken. Die meisten Brötchen ließ er für seine jüngeren Brüder übrig. Ein Brötchen steckte er sich in die Tasche seines senfgelben Anoraks (sowohl dem Brötchen als auch dem Anorak sollte im Verlauf der Ereignisse eine entscheidende Bedeutung zukommen), und er verließ das Haus durch den Garten.

Er sagte aus, er habe vorgehabt, auf direktem Weg zur Schule zu gehen, und bei seiner ersten Vernehmung durch die Polizei behauptete er überdies, dort angekommen zu sein. Bei dieser Version blieb er, bis man ihm die Aussage seines Lehrers vorlas, der erklärt hatte, Michael habe an dem Tag die Schule geschwänzt, woraufhin Michael seine Geschichte änderte und nunmehr behauptete, er habe die Kleingartenkolonie aufgesucht, die zum Buchanan Estate gehörte und sich hinter der Siedlung befand, in der die Spargos wohnten.

»Da war so ’n Opa mit seinem Grünzeug zugange, kann sein, dassich den geärgert hab«, so Michael gegenüber der Polizei, »und kann sein, dass ich ’ne Schuppentür eingetreten hab oder so«. Aus diesem Schuppen habe er »vielleicht ’ne Heckenschere geklaut, aber ich hab sie nich behalten, das mach ich nie«. Der Rentner bestätigte, Michael um acht Uhr morgens gesehen zu haben. Allerdings ist zu bezweifeln, dass die kleinen Gemüsebeete den Jungen allzu lange interessierten. Eine Viertelstunde lang habe er laut Aussage des Zeugen »darin herumgetrampelt, bis ich ein ernstes Wort mit ihm geredet habe. Er hat geflucht wie ein Kesselflicker und sich verzogen.«

Offenbar ging Michael tatsächlich in Richtung Schule, aber auf dem Weg dorthin begegnete er Reggie Arnold.

Reggie Arnold war der vollkommene Gegensatz zu Michael Spargo. Während Michael für sein Alter groß war und spindeldürr, war Reggie eher klein und pummelig. Sein Haar wurde ihm regelmäßig extrem kurz geschoren, weswegen er in der Schule ständig gehänselt wurde. (Die Mitschüler nannten ihn »diesen Charlie-Brown-Wichser«.) Aber im Gegensatz zu Michael war er für gewöhnlich sauber und ordentlich gekleidet. Laut Aussage der Lehrer war Reggie »ein guter Junge, aber cholerisch«, und auf die Frage hin, worauf sein cholerisches Verhalten zurückzuführen sei, sprachen sie von »Problemen zwischen den Eltern und Problemen mit dem Bruder und der Schwester«. Aus diesen Informationen lässt sich mit großer Sicherheit schließen, dass Reggie sich aufgrund der kriselnden Ehe seiner Eltern in Verbindung mit der Behinderung des älteren Bruders und der geistigen Behinderung der jüngeren Schwester auf verlorenem Posten fühlte.

Man muss betonen, dass Rudy und Laura Arnold in der Tat kein leichtes Schicksal hatten. Ihr ältester Sohn ist aufgrund einer Kinderlähmung an den Rollstuhl gefesselt. Ihre Tochter war als ungeeignet für eine normale Schule eingestuft worden und besuchte eine Sonderschule. Dies führte dazu, dass die elterliche Fürsorge fast ausschließlich den beiden problematischen Kindern galt und die ohnehin schon brüchige Ehe, in deren Verlauf die Arnolds sich immer wieder getrennt hatten, zusätzlich belastet wurde, sodass Laura häufig auf sich allein gestellt war.

In dieser komplizierten familiären Situation wurde Reggie nur wenig Aufmerksamkeit zuteil. Laura gab bereitwillig zu, dass sie »den Jungen vernachlässigt« habe, während sein Vater behauptete: »Ich habe den Jungen fünf oder sechs Mal zu mir geholt«, womit er offenbar betonen wollte, dass er in den Zeiten der Trennung seinen elterlichen Pflichten nichtsdestotrotz nachgekommen sei. Wie man sich leicht vorstellen kann, führte Reggies ungestillte Sehnsucht nach Zuwendung dazu, dass er unablässig versuchte, die Aufmerksamkeit Erwachsener auf sich zu ziehen. Auf der Straße äußerte sich dies darin, dass er regelmäßig kleine Diebstähle beging und hin und wieder jüngere Kinder drangsalierte. In der Schule äußerte es sich in Aufsässigkeit. Diese Aufsässigkeit wurde von den Lehrern bedauerlicherweise als das oben erwähnte »cholerische Verhalten« gedeutet und nicht als der Hilferuf erkannt, der es in Wirklichkeit war. Wenn Reggie sich ungerecht behandelt fühlte, warf er sein Pult um, schlug seinen Kopf gegen Tisch und Wand und warf sich wutschreiend zu Boden.

Am Tag des Verbrechens begegneten sich Michael Spargo und Reggie Arnold Augenzeugen zufolge – und die Überwachungskameras bestätigen dies – vor dem Lebensmittelladen, der in der Nähe von Reggies Zuhause und auf dem Weg zu Michaels Schule lag. Die Jungen kannten sich und hatten schon einige Male miteinander gespielt, waren jedoch den jeweiligen Eltern unbekannt. Laura Arnold sagte aus, sie habe Reggie zum Laden geschickt, um Milch zu holen, und der Ladeninhaber bestätigte, dass Reggie einen halben Liter fettarme Milch gekauft habe. Außerdem stahl er zwei Marsriegel, »einfach so aus Spaß«, wie Michael sich ausdrückte.

Michael begleitete Reggie zurück nach Hause. Die Jungen machten sich einen Spaß daraus, die Milchtüte aufzureißen und den Inhalt in den Tank einer Harley-Davidson zu schütten – ein Streich, der jedoch vom Besitzer des Motorrads beobachtet wurde, der den beiden vergeblich hinterherlief. Später erinnerte er sich an den senfgelben Anorak, den Michael Spargo trug. Zwar kannte er keinen der beiden Jungen mit Namen, doch er identifizierte Reggie Arnold anhand verschiedener Fotos, die die Polizei ihm vorlegte.

Als Reggie ohne die Milch zu Hause eintraf, erzählte er seiner Mutter – indem er sich auf Michael als Zeugen berief –, er wäre unterwegs von zwei größeren Jungen angegriffen worden, die ihm das Geld für die Milch abgenommen hätten. »Er weinte und war drauf und dran, einen von seinen Anfällen zu kriegen«, sagte Laura Arnolds aus. »Ich habe ihm geglaubt. Was blieb mir denn übrig?« In der Tat eine berechtigte Frage, denn in Anbetracht der Tatsache, dass sie sich in Abwesenheit ihres Mannes allein um zwei behinderte Kinder kümmern musste, war eine fehlende Milchtüte, egal wie dringend sie an jenem Morgen benötigt wurde, ein geringes Problem. Allerdings wollte sie von ihrem Sohn wissen, wer Michael Spargo war. Reggie stellte ihn als »Schulkameraden« vor, und er nahm Michael mit, um die nächste Aufgabe zu erfüllen, die seine Mutter ihm stellte: nämlich seine Schwester aus dem Bett zu holen.

Inzwischen war es etwa 8:45 Uhr, und falls die beiden Jungen noch vorhatten, zur Schule zu gehen, würden sie zu spät kommen. Das war ihnen zweifellos klar, wie aus Michaels Vernehmung hervorgeht. Er gab an, dass Reggie sich mit seiner Mutter gestritten habe, weil er sich um seine Schwester kümmern sollte: »Reggie hat rumgemault, er würde zu spät zur Schule kommen, aber das war ihr egal. Sie hat gesagt, er soll machen, dass er nach oben kommt, und seine Schwester holen. Sie hat gesagt, er soll dem lieben Gott danken, dass er nich so ist wie seine beiden Geschwister«, womit sie sicherlich auf die Behinderungen der beiden anspielte. Bemerkungen wie diese von Laura Arnold scheinen in ihrem Haushalt durchaus üblich gewesen zu sein.

Trotz der Anweisung seiner Mutter holte Reggie seine Schwester nicht aus dem Bett. Stattdessen sagte er seiner Mutter, sie solle »sich selbst was Schlimmes tun« (so gab Michael es wieder; Reggie drückte sich wohl drastischer aus), und dann verließen die Jungen das Haus.

Draußen begegneten sie Rudy Arnold, der, während sie sich mit Laura in der Küche aufgehalten hatten, mit seinem Auto angekommen war und »sich draußen rumgedrückt hat, als würde er sich nich reintrauen«. Rudy und Reggie redeten kurz miteinander – ein Gespräch der eher unangenehmen Natur, zumindest aus Reggies Sicht. Michael behauptete, er habe hinterher gefragt, wer der Mann gewesen sei, in der Annahme, es handelte sich um den »Freund vonReggies Mum«, woraufhin Reggie antwortete, »der Vollidiot« sei sein Vater, und seine Worte bekräftigte, indem er sich den Kasten für die Milchflaschen schnappte, der vor der Nachbartür stand, ihn auf die Straße warf und zertrampelte.

Michael sagte aus, er habe sich an diesem Zerstörungsakt nicht beteiligt. Er erklärte, er habe zur Schule gehen wollen, aber Reggie habe verkündet, er werde »schwänzen« und wolle »endlich mal ein bisschen Spaß haben«. Es sei Reggies Idee gewesen, so Michael, Ian Barker mit einzubeziehen in all das, was nun folgen sollte.

Im Alter von elf Jahren galt Ian Barker bereits als geschädigt, schwierig, gestört, borderline, zornig und psychopathisch, je nachdem, wer ihn charakterisierte. Er war zu dem Zeitpunkt das einzige Kind einer vierundzwanzigjährigen Mutter (wer sein Vater ist, konnte nie geklärt werden), war jedoch in dem Glauben aufgewachsen, die junge Frau sei seine große Schwester. Anscheinend hing er sehr an seiner Großmutter, die er für seine Mutter hielt, während er die junge Frau, seine vermeintliche Schwester, verabscheute.

Mit neun Jahren hielt man ihn für alt genug, um die Wahrheit zu erfahren. Allerdings nahm er diese Wahrheit schlecht auf, vor allem da sie ihm verkündet wurde, kurz nachdem Tricia Barker aufgefordert worden war, das Haus ihrer Mutter zu verlassen und ihren Sohn mitzunehmen. Diese Entscheidung, so erklärte Ians Großmutter später, habe sie getroffen, um liebevolle Strenge walten zu lassen. »Ich war bereit, sie beide bei mir zu behalten – Tricia und auch den Jungen –, solange das Mädchen arbeitete. Aber sie hat jeden Job gleich wieder aufgegeben, weil sie lieber Partys feiern und sich die Nächte um die Ohren schlagen wollte, und ich dachte mir, wenn sie den Jungen allein großziehen müsste, würde sie vielleicht endlich zur Besinnung kommen.«

Doch sie kam nicht zur Besinnung. Tricia Barker bekam eine städtische Wohnung zur Verfügung gestellt, die allerdings so klein war, dass sie das Schlafzimmer mit ihrem Sohn teilen musste. In diesem Zimmer wurde Ian Zeuge, wie seine Mutter mit wechselnden Partnern und mindestens vier Mal mit mehr als nur mit einem einzigen MannGeschlechtsverkehr hatte. Auffällig ist, dass Ian während der Vernehmungen von Tricia nie als Mutter sprach, sondern sie als »Schlampe«, »Fotze«, »Flittchen«, »Nutte« und »Bettvorleger« bezeichnete. Von seiner Großmutter sprach er überhaupt nicht.

Michael und Reggie hatten offenbar kein Problem damit, Ian an jenem Morgen zu finden. Sie gingen nicht zu ihm nach Hause – »seine Mutter war meistens besoffen«, so Reggie, »und hat nur rumgebrüllt« –, sondern sie kamen dazu, als er gerade einen kleineren Jungen verdrosch, der auf dem Weg zur Schule gewesen war. Ian hatte gerade »den Ranzen von dem Jungen auf der Straße ausgeschüttet« und dessen Inhalt durchsucht, in erster Linie nach Geld. Als aber der Junge nichts bei sich hatte, was Ian brauchen konnte, »hat er ihn ganz gemein gegen eine Hauswand geschubst«, so Michael, »und ist auf ihn losgegangen«.

Weder Reggie noch Michael versuchten, Ian aufzuhalten. Reggie sagte: »Es war nur Spaß. Ich konnte sehen, dass er dem Jungen nichts tun wollte«, während Michael behauptete, er habe »nich richtig gesehen, was der vorhatte«, was man bezweifeln darf, da die Jungen dicht beieinanderstanden. Aber was auch immer Ian vorgehabt haben mag, er konnte seine Pläne nicht in die Tat umsetzen. Ein Autofahrer hielt an und verlangte zu wissen, was sie da trieben, worauf die Jungen Reißaus nahmen.

Es gibt Vermutungen, dass an jenem Morgen Ians Drang, irgendjemandem wehzutun, letztlich zu dem führte, was später geschah. Während der Vernehmungen war Reggie nur zu eifrig, mit dem Finger auf Ian zu zeigen. Aber auch wenn Ians Zorn ihn in der Vergangenheit zweifellos zu Taten getrieben hatte, die so niederträchtig waren, dass sich der ganze Abscheu auf ihn konzentrierte, sobald die Wahrheit ans Licht kam, zeigen die Beweise doch, dass er bei dem, was folgte,nicht mehr und nicht wenigerbeteiligt war als die anderen beiden Jungen [Hervorhebung von mir].

JUNI NEW FOREST HAMPSHIRE

 

Der pure Zufall hatte sie zu ihm geführt. Hätte er nicht ausgerechnet in dem Augenblick von seinem Gerüst hinabgeblickt, würde er sich später sagen, wäre er an jenem Nachmittag mit Tess auf direktem Weg nach Hause anstatt noch in den Wald gegangen, und sie wäre nie in sein Leben getreten. Dass er genau das hatte denken sollen, war eine Erkenntnis, die ihm erst kam, als es viel zu spät war.

Es war später Nachmittag, und es war heiß. Gewöhnlich wartete der Juni mit Regengüssen auf, die jeder Hoffnung auf einen Sommer Hohn sprachen. Aber in diesem Jahr hatte das Wetter sich etwas anderes vorgenommen. Sonnige Tage und wolkenloser Himmel versprachen für Juli und August eine anhaltende Hitze, die den Boden austrocknen, die weiten Grasflächen verdorren lassen und die New-Forest-Ponys auf ihrer Futtersuche immer tiefer in die Wälder treiben würde.

Er befand sich ganz oben auf dem Gerüst und wollte gerade aufs Dach klettern, wo er angefangen hatte, das Stroh anzubringen. Weil Stroh viel biegsamer war als Reet, eignete es sich hervorragend für den First. Viele hielten die kunstvoll geflochtenen Strohbunde am First für Zierrat. Er kannte indes den eigentlichen Zweck: die oberste Reetschicht gegen Schäden durch Wetter und Vögel zu schützen.

Er ging auf dem Zahnfleisch. Er war gereizt. Seit drei Monaten arbeitete er schon an diesem Riesenprojekt, und er hatte fest zugesagt, in zwei Wochen das nächste anzufangen; doch immer noch mussten abschließende Arbeiten erledigt werden, und die konnte er nicht seinem Lehrling überlassen. Cliff Coward war noch nicht so weit, dass er mit dem Klopfbrett umgehen konnte. Diese Arbeit war entscheidend für den Gesamteindruck des Dachs, und sie erforderte sowohl Geschick als auch ein erfahrenes Auge. Cliff konnte man solche komplizierten Arbeiten nicht anvertrauen. Er bekam ja nicht einmal die simpelsten Aufgaben auf die Reihe – zum Beispiel ihm jetzt zwei Bunde Stroh aufs Dach zu reichen. Wieso brachte dieser Kerl es nicht fertig, einen so banalen Auftrag auszuführen?

Die Suche nach der Antwort auf diese Frage sollte Gordon Jossies Leben ändern.

Er wandte sich vom First ab und rief ungehalten: »Cliff! Wo zum Teufel steckst du?« Eigentlich hätte sein Lehrling unten bei den Strohbunden auf die Anweisungen des Meisters warten sollen. Doch stattdessen war er zu Gordons verstaubtem Pickup gegangen, der in einigen Metern Entfernung stand. Dort hockte Tess in Habachtstellung und wedelte mit dem Schwanz, während eine Frau ihr den Kopf tätschelte – eine Fremde, wahrscheinlich eine Touristin, nach ihrer Kleidung und der Landkarte zu urteilen, die sie in der Hand hielt.

»Hey, Cliff!«, rief Gordon. Der Lehrling und die Frau blickten zu ihm hoch.

Gordon konnte das Gesicht der Frau nicht erkennen; sie hatte einen breitkrempigen Strohhut auf mit einem fuchsiafarbenen Schal als Hutband. Die gleiche Farbe fand sich in ihrem Kleid, einem Sommerkleid, das ihre gebräunten Arme und Beine betonte. Sie trug einen goldenen Armreif und Sandalen, und unter ihrem Arm klemmte eine aus Stroh geflochtene Handtasche, deren Riemen lose über ihrer Schulter lag.

»Sorry! Ich wollte der Lady nur helfen…«, antwortete Cliff, während die Frau gleichzeitig lachend rief: »Ich habe mich total verirrt! Es tut mir furchtbar leid. Er hat mir angeboten…« Sie wedelte mit der Landkarte, wie um das Offensichtliche zu erklären: Irgendwie war sie vom Park zum Verwaltungsgebäude spaziert, dessen Dach Gordon gerade neu deckte. »Ich habe noch nie gesehen, wie ein Reetdach gedeckt wird«, fügte sie hinzu, vielleicht um etwas Nettes zu sagen.

Aber Gordon stand der Sinn nicht nach Nettigkeiten. Er war voller Zorn, den er irgendwie loswerden musste. Er hatte keine Zeit für Touristen.

»Sie will zum Monet’s Pond«, rief Cliff.

»Und ich will den verdammten First hier fertig kriegen«, lautete Gordons Antwort, allerdings mit einem eindeutigen Unterton. »Am Brunnen drüben geht ein Weg ab. Der Brunnen mit den Nymphen und Faunen. Da muss man links abbiegen. Sie sind rechts abgebogen.«

»Wirklich?«, rief die Frau. »Tja… typisch für mich.« Sie blieb stehen, als erwartete sie, dass das Gespräch weiterging. Sie trug eine dunkle Sonnenbrille, und sie wirkte auf Gordon wie ein Filmstar vom Typ Marilyn Monroe, denn sie war üppig gebaut, genau wie Marilyn, nicht so spindeldürr wie die Stars und Sternchen, die man inzwischen überwiegend zu sehen bekam. Auf den ersten Blick hatte er sie tatsächlich für eine Berühmtheit gehalten. Entsprechend gekleidet war sie jedenfalls, und die Selbstverständlichkeit, mit der sie erwartete, dass ein Mann seine Arbeit unterbrach, nur um mit ihr zu plaudern, legte den gleichen Schluss nahe. »Jetzt müssten Sie den Weg ganz leicht finden«, beschied er der Frau knapp.

»Schön wär’s«, sagte sie, und dann fragte sie, was er ziemlich lächerlich fand: »Da sind doch keine… äh, Pferde, oder?«

Gordon dachte schon, was zum Teufel, als die Frau hinzufügte: »Es ist nur, weil… Na ja, ich fürchte mich vor Pferden.«

»Die Ponys tun nichts«, sagte er. »Die bleiben für sich, solange Sie nicht versuchen, sie zu füttern.«

»Gott, das würde ich nie im Leben tun!« Sie schwieg, als erwartete sie, dass er darauf etwas erwidern wollte, was jedoch nicht seine Absicht war. Schließlich sagte sie: »Also dann… Vielen Dank.« Damit war der Plausch beendet.

Sie machte sich auf den Weg, den Gordon ihr genannt hatte, nahm ihren Hut ab und ließ ihn an den Fingerspitzen schwingen. Ihr Haar war blond und zu einem Pagenkopf geschnitten, und wenn sie es schüttelte, fiel es sofort wieder in Form und schimmerte im Licht, so als wüsste es genau, was es zu tun hatte. Gordon war Frauen gegenüber nicht immun, und ihm fiel auf, dass sie einen anmutigen Gang hatte. Aber es regte sich nichts in ihm, weder im Herzen noch im Schritt, und darüber war er froh. Er hielt sich lieber fern von Frauen.

Cliff kam mit zwei Bunden Stroh auf dem Rücken auf das Gerüst geklettert. »Tess gefiel sie«, sagte er, als wollte er irgendetwas erklären oder die Frau in Schutz nehmen. »Vielleicht deine Chance für einen neuen Versuch, Kumpel.«

Gordon sah der Frau nach. Nicht etwa, weil er von ihr fasziniert gewesen wäre oder weil er sie attraktiv gefunden hätte, sondern um zu sehen, ob sie am Nymphenbrunnen richtig abbog. Sie tat es nicht. Er schüttelte den Kopf. Hoffnungsloser Fall, dachte er. Sie würde auf der Kuhweide landen, ehe sie wusste, wie ihr geschah, doch dann sagte er sich, dass sie dort mit Leichtigkeit jemanden finden würde, der ihr weiterhalf.

Cliff wollte nach Feierabend noch einen heben, Gordon nicht. Er trank überhaupt keinen Alkohol, und er hatte noch nie etwas davon gehalten, sich mit seinen Lehrlingen anzufreunden. Außerdem war Cliff erst achtzehn und Gordon dreizehn Jahre älter, sodass er sich meistens vorkam wie dessen Vater. Vielleicht hatte er aber auch nur Empfindungen, wie ein Vater sie haben könnte, dachte er. Schließlich hatte er keine Kinder und wollte auch keine.

»Tess braucht ein bisschen Auslauf«, erklärte er. »Sie findet heute Abend keine Ruhe, wenn sie keine Gelegenheit kriegt, ihre Energie loszuwerden.«

»Bist du dir sicher, Kumpel?«

»Ich kenne meinen Hund«, antwortete Gordon. Er wusste, dass Cliff nicht von Tess gesprochen hatte, aber mit dieser Bemerkung nahm er ihm den Wind aus den Segeln. Cliff redete einfach zu viel.

Gordon nahm ihn mit bis zum Pub in Minstead, einem in einem kleinen Tal gelegenen Dorf, das aus einer Kirche, einem Friedhof, einem Laden, einem Pub und ein paar alten Häusern bestand, die sich um einen winzigen Dorfplatz duckten. In der Mitte stand eine uralte Eiche, und in deren Nähe graste ein geschecktes Pony, dessen gestutzter Schwanz seit dem Zusammentrieb im vergangenen Herbst, als die Tiere markiert worden waren, ordentlich nachgewachsen war.

Das Pony blickte nicht einmal auf, als der Pick-up knapp hinter seinen Flanken geräuschvoll zum Stehen kam. Als langjähriger Bewohner des New Forest wusste das Tier wahrscheinlich ganz genau, dass sein Recht, an jedem beliebigen Ort zu grasen, wesentlich älter war als das Recht des Pick-ups, über die Straßen von Hampshire zu fahren.

»Also dann, bis morgen«, sagte Cliff und ging zum Pub, um sich dort zu seinen Freunden zu gesellen. Gordon sah ihm nach und wartete ohne besonderen Grund, bis die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte. Erst dann legte er den Gang ein.

Wie immer fuhr er nach Longslade Bottom. Mit der Zeit hatte er gelernt, dass es Sicherheit mit sich brachte, wenn man ein Gewohnheitstier war. Am Wochenende fuhr er oft woandershin, um Tess Auslauf zu geben, aber nach Feierabend unter der Woche zog er einen Ort vor, der näher an seinem Haus lag. Außerdem gefiel ihm das offene Gelände, das Longslade Bottom bot – und wenn er nicht gesehen werden wollte, konnte er sich in den Wald von Hinchelsea zurückziehen, der sich den Hügel hinaufzog.

Gordon rumpelte über den mit Schlaglöchern übersäten Parkplatz auf die Wiese zu, während Tess auf dem Rücksitz in Erwartung des Spaziergangs freudig kläffte. An schönen Tagen wie diesem war Gordons Pick-up nicht das einzige Fahrzeug auf dem Parkplatz: Wie nuckelnde Kätzchen drückten sechs Fahrzeuge ihre Schnauzen an den Rand der großen Wiese, auf der weiter draußen Ponys grasten, unter ihnen fünf Fohlen. Die Ponys, an die Anwesenheit von Menschen und anderen Tieren gewöhnt, ließen sich von den bellenden Hunden, die um sie herumtollten, nicht stören, aber Gordon wusste sofort, dass er seiner Hündin heute keinen freien Auslauf gestatten durfte. Tess war ganz versessen auf die wilden Ponys des New Forest, und obwohl sie schon getreten und gebissen worden war und obwohl Gordon sie immer wieder ausgeschimpft hatte, begriff sie einfach nicht, dass sie nicht auf der Welt war, um Ponys zu jagen. Es reizte sie ungemein, und sie winselte und leckte sich das Maul in Vorfreude auf das Abenteuer. Gordon konnte beinahe ihre Hundegedanken lesen: Und sogar Fohlen! Super! Was für ein Spaß!

»Kommt nicht infrage«, sagte er laut, nahm die Leine von der Ladefläche, hakte sie am Halsband ein und ließ Tess aus dem Wagen. Hoffnungsvoll machte sie einen Riesensatz. Als er sie kurz nahm, legte Tess unter Husten und Würgen eine filmreife Show hin. Typisch, dachte Gordon resigniert. »Wo hast du das Hirn gelassen, das der liebe Gott dir gegeben hat?«, fragte er sie.

Tess sah zu ihm auf, wedelte mit dem Schwanz und schenkte ihm ihr strahlendstes Hundelächeln. »Das mag früher mal funktioniert haben«, sagte er, »aber die Zeiten sind vorbei.« Entschlossen führte er den Golden Retriever weg von den Ponys und den Fohlen. Tess ging mit, zeigte sich jedoch widerspenstig und sah sich immer wieder winselnd um, offenbar in der Hoffnung, ihn umstimmen zu können. Es gelang ihr nicht.

Longslade Bottom umfasste drei Gebiete: die Wiese, auf der die Ponys grasten, im Nordwesten eine Heidelandschaft, wo Glockenheide und Pfeifengras blühten, und dazwischen ein Moor mit unförmigen, vollgesogenen Torfmooskissen und weißrosafarbenen Bitterkleedolden, die in flachen Teichen aus Rhizomen wuchsen. Auf einem Pfad, der vom Parkplatz abging und zu dessen beiden Seiten sich flauschige weiße Wollgrasbüschel wie Wattebäusche in der warmen Brise wiegten, konnte man das Moor sicher durchqueren.

Gordon entschloss sich, diesen Pfad zu nehmen, denn an seinem Ende gelangte man in den Hinchelsea Wood, wo er die Hündin frei laufen lassen konnte. Von dort aus waren die Ponys nicht zu sehen, und für Tess galt: aus den Augen, aus dem Sinn. Sie besaß die bewundernswerte Gabe, ganz im Hier und Jetzt zu leben.

So kurz vor der Sommersonnenwende stand die Sonne trotz der späten Stunde noch hoch am Himmel, und ihr Licht brach sich in den bunt schillernden Körpern der Libellen und dem hellen Gefieder der Kiebitze, die aufflogen, sobald Gordon und seine Hündin sich näherten. In der leichten Brise lag der Geruch nach Torf und der sich zersetzenden Vegetation, die ihn entstehen ließ. Die Luft war erfüllt von Geräuschen, angefangen mit den heiseren Schreien der großen Brachvögel bis hin zu den Stimmen der Leute, die auf der Wiese nach ihren Hunden riefen.

Gordon hielt Tess weiter an der kurzen Leine. Auf dem Weg zum Hinchelsea Wood ließen sie Wiese und Moor hinter sich. Wenn er es sich recht überlegte, erschien ihm der Wald ohnehin geeigneter für einen Nachmittagsspaziergang. Die Buchen und Eichen standen in vollem Sommerlaub, ebenso die Birken und Kastanien, und unter dem Blätterdach würde es angenehm kühl sein. Nachdem er den ganzen Tag auf dem Dach geschuftet und Reet und Stroh geschleppt hatte, war Gordon froh, der Sonne für eine Weile zu entkommen.

Als sie die beiden Zypressen erreichten, die den offiziellen Eingang zum Wald flankierten, ließ er Tess von der Leine und schaute ihr nach, bis sie zwischen den Bäumen verschwunden war. Irgendwann würde sie von allein zurückkommen. Es war nicht mehr lange bis zum Abendessen, und Tess verpasste nie freiwillig eine Mahlzeit.

Beim Spazierengehen suchte er sich immer etwas, auf das er sich konzentrieren konnte. Hier im Wald sagte er in Gedanken die Namen der Bäume auf. Er erforschte den New Forest, seit er nach Hampshire gezogen war, und inzwischen, nach zehn Jahren, kannte er seine Entstehungsgeschichte und seinen Charakter besser als die meisten Einheimischen. In der Nähe einiger Stechpalmensträucher setzte er sich auf den Stamm einer umgestürzten Erle. Das Sonnenlicht brach durch die Kronen und besprenkelte den von jahrelanger natürlicher Kompostierung schwammig weichen Boden.

Nachdem Gordon die Namen der Bäume in seiner Umgebung aufgesagt hatte, ging er zu den anderen Pflanzen über. Allerdings gab es davon nicht allzu viele. Der Wald gehörte zum Weideland, und Ponys, Esel und Damhirsche ästen hier. Im April und Mai hatten sie sich an den frischen Farnwedeln gütlich getan, später dann Wildblumen, Erlensprösslinge und junge Brombeertriebe gefressen. Zwar formten sie auf diese Weise das Gelände so, dass man gemütlich darin spazieren gehen konnte und sich nicht mühsam durchs Unterholz kämpfen musste. Doch sie verdarben ihm damit den Spaß an seinem Denksport.

Er hörte seine Hündin bellen und richtete sich auf. Er machte sich keine Sorgen, denn er kannte den unterschiedlichen Klang von Tess’ Lauten. Dies hier war ein freudiges Kläffen, das sie immer anschlug, wenn sie einen Freund begrüßte oder wenn man ein Stöckchen für sie in den Weiher warf. Trotzdem stand er auf und sah in die Richtung, aus der das Gebell zu hören war. Es kam näher, und nach einer Weile hörte er eine menschliche Stimme, die es begleitete, eine weibliche Stimme.

Und gleich darauf sah er sie.

Er erkannte sie nicht gleich, denn sie hatte sich umgezogen. Statt Sommerkleid, Sonnenhut und Sandalen trug sie jetzt eine Kakihose und eine kurzärmelige Bluse. Die Sonnenbrille hatte sie immer noch auf – er ebenfalls, denn es war noch immer sehr hell –, und ihr Schuhwerk war auch diesmal ziemlich ungeeignet für ihre Erkundungen. Sie hatte ihre Sandalen gegen Gummistiefel eingetauscht, eine äußerst merkwürdige Wahl für einen Sommerspaziergang, es sei denn, sie hatte vor, durchs Moor zu waten.

Sie ergriff als Erste das Wort: »Dacht ich’s mir doch, dass es derselbe Hund ist. Er ist wirklich lieb.«

Er hätte schwören können, dass sie ihm nach Longslade Bottom und in den Hinchelsea Wood gefolgt war – außer dass sie offenbar vor ihm da gewesen war. Sie war auf dem Weg aus dem Wald hinaus, er ging in den Wald hinein. Er war Menschen gegenüber misstrauisch, aber er wollte nicht paranoid wirken.

»Sie waren doch auf der Suche nach dem Monet’s Pond.«

»Und ich habe ihn auch gefunden«, erwiderte sie. »Allerdings erst, nachdem ich auf einer Kuhweide gelandet war.«

»Ja«, sagte er knapp.

Sie legte den Kopf schief. Ihr Haar schimmerte im Sonnenlicht, genau wie zuvor in Boldre Gardens. Aus irgendeinem idiotischen Grund fragte er sich, ob sie sich Glitzer hineinsprühte. Derart glänzendes Haar hatte er noch nie gesehen.

»Ja?«, wiederholte sie.

»Äh, ja«, stotterte er. »Ich meine, ja, ich weiß. Ich habe gesehen, wo Sie abgebogen sind.«

»Ach so. Sie haben mich vom Dach aus beobachtet, was? Ich hoffe, Sie haben mich nicht ausgelacht. Das wäre mir wirklich peinlich.«

»Nein«, sagte er.

»Tja, im Kartenlesen bin ich wirklich eine komplette Niete, und im Befolgen von Wegbeschreibungen bin ich leider auch nicht besser. Es ist also kein Wunder, dass ich mich gleich wieder verlaufen habe. Aber wenigstens bin ich keinen Pferden begegnet.«

Er sah sich um. »Dann ist das hier wohl nicht der richtige Ort für Sie, oder? Wenn Sie weder Karten lesen noch Beschreibungen befolgen können.«

»Der Wald, meinen Sie? Ich habe mir einen Orientierungspunkt gemerkt.« Sie zeigte nach Süden auf einen Hügel jenseits des Waldes, auf dem eine riesige Eiche stand. »Ich habe mich nach diesem Baum gerichtet und mich auf dem Weg in den Wald immer rechts davon gehalten, und da er sich jetzt links von mir befindet, bin ich mir ziemlich sicher, dass es hier entlang zum Parkplatz zurückgeht. Sie sehen also: Auch wenn ich erst auf einer Baustelle und dann auf einer Kuhweide gelandet bin, bin ich kein hoffnungsloser Fall.«

»Das ist Nelsons«, sagte er.

»Wie bitte? Meinen Sie den Baum? Gehört er jemandem? Steht er auf Privatgelände?«

»Nein, das Land gehört der Krone. Das dort ist Nelsons Eiche. Angeblich hat er sie gepflanzt. Lord Nelson, meine ich.«

»Ah, verstehe.«

Er musterte sie. Sie biss sich auf die Lippen, und er hatte das Gefühl, dass sie keinen Schimmer hatte, wer Lord Nelson war. Heutzutage kam das vor. Um ihr aus der Verlegenheit zu helfen, sagte er: »Admiral Nelson hat seine Schiffe drüben in Buckler’s Hard bauen lassen. Das liegt hinter Beaulieu. Kennen Sie das? An der Flussmündung? Bei dem enormen Holzverbrauch mussten sie irgendwann anfangen, neue Bäume zu pflanzen. Wahrscheinlich hat Nelson nie eigenhändig einen Baum gepflanzt, aber diese Eiche dort wird ihm trotzdem zugeschrieben.«

»Ich bin nicht von hier«, sagte sie. »Aber das ist Ihnen bestimmt nicht entgangen.« Sie streckte eine Hand aus. »Gina Dickens. Weder verwandt noch verschwägert. Und ich weiß, dass sie Tess heißt.« Sie nickte in Richtung der Hündin, die sich zufrieden neben ihr niedergelassen hatte. »Aber Ihren Namen kenne ich nicht.«

»Gordon Jossie«, sagte er und schüttelte ihr die Hand. Ihre weiche Haut machte ihm bewusst, wie rau seine eigene Hand sich anfühlen musste. Und wie verdreckt er nach einem ganzen Tag auf dem Dach war. »Das dachte ich mir.«

»Was?«

»Dass Sie nicht von hier sind.«

»Hm, ja. Die Einheimischen verlaufen sich wahrscheinlich nicht so leicht wie ich.«

»Nicht das. Ihre Schuhe.«

Sie blickte nach unten. »Was stimmt denn nicht mit meinen Schuhen?«

»Erst die Sandalen, die Sie in Boldre Gardens anhatten, und jetzt die da«, sagte er. »Wieso tragen Sie Gummistiefel? Wollen Sie etwa ins Moor?«

Wieder biss sie sich auf die Lippen. Er fragte sich, ob sie sich ein Lachen verkniff. »Sie werden mich für albern halten«, sagte sie. »Es ist wegen der Schlangen. Ich habe gelesen, dass es hier im New Forest Kreuzottern gibt, und ich will nicht gebissen werden. Jetzt lachen Sie mich bestimmt aus.«

Er musste tatsächlich grinsen. »Sie rechnen also im Wald mit Schlangen?« Er wartete nicht auf eine Antwort. »Die sind draußen auf der Heide. Da kriegen sie mehr Sonne ab. Könnte sein, dass Sie auf dem Weg durchs Moor auf eine stoßen, ist aber ziemlich unwahrscheinlich.«

»Ich sehe schon, ich hätte Sie um Rat bitten sollen, bevor ich mich umgezogen habe. Leben Sie schon immer hier?«

»Seit zehn Jahren. Ich bin aus Winchester hierher gezogen.«

»Ich auch!« Sie warf einen Blick in die Richtung, aus der sie gekommen war, und sagte: »Wollen wir ein Stück gemeinsam gehen, Gordon Jossie? Ich kenne hier sonst niemanden, und ich hätte Lust, noch ein bisschen zu plaudern. Da Sie ziemlich harmlos wirken und noch dazu diesen bezaubernden Hund bei sich haben…«

Er zuckte die Achseln. »Wie Sie wollen. Aber ich bin nur wegen Tess hier. Wir brauchen nicht spazieren zu gehen. Tess rennt im Wald rum und kommt irgendwann von allein zurück. Ich meine, falls Sie lieber ein bisschen hier sitzen möchten, anstatt zu laufen.«

»Ja, gute Idee. Ich habe nämlich schon einen ordentlichen Marsch hinter mir.«

Er machte eine Kopfbewegung zu dem Baumstamm hin, auf dem er gesessen hatte, bis sie gekommen war. Sie nahmen in gehörigem Abstand voneinander Platz, aber Tess blieb zu Gordons Verwunderung bei ihnen. Sie machte es sich neben Gina bequem und legte leise seufzend den Kopf auf die Vorderpfoten.

»Sie mag Sie«, bemerkte Gordon. »Jeder sehnt sich nach Zuwendung.«

»Wie wahr«, sagte Gina.

Sie klang wehmütig, und er ging darauf ein. Es sei ungewöhnlich, dass jemand in ihrem Alter aufs Land ziehe. Junge Erwachsene ziehe es für gewöhnlich eher in die entgegengesetzte Richtung.

»Hm, ja. Sie haben sicher recht«, antwortete sie. »Es war eine Beziehung, die ein sehr unangenehmes Ende genommen hat.« Ein Lächeln. »Und so bin ich hier gestrandet. Ich will hier mit schwangeren Jugendlichen arbeiten. Das habe ich bereits in Winchester gemacht.«

»Wirklich?«

»Das scheint Sie zu überraschen. Wieso?«

»Sie wirken selbst kaum älter als eine Jugendliche.«

Sie schob sich die Sonnenbrille auf die Nasenspitze und sah ihn über die Gläser hinweg an. »Flirten Sie etwa mit mir, Mr. Jossie?«, fragte sie.

Er spürte, wie seine Wangen zu glühen begannen. »Entschuldigung, das war nicht meine Absicht.«

»Schade. Ich dachte schon…« Sie schob sich die Sonnenbrille auf den Kopf und sah ihn geradeheraus an. Ihre Augen waren weder blau noch grün, sondern irgendetwas dazwischen, undefinierbar und interessant.

»Sie erröten ja! Ich habe noch nie einen Mann zum Erröten gebracht. Wie nett! Passiert Ihnen das öfter?«

Ihm wurde noch heißer. Normalerweise führte er keine solchen Gespräche mit Frauen. Er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte – weder mit den Frauen noch mit den Gesprächen.

»Ich bringe Sie in Verlegenheit, das tut mir leid. Das wollte ich nicht! Ich ziehe die Leute gern ein bisschen auf – eine schlechte Angewohnheit. Vielleicht können Sie mir ja dabei helfen, es mir abzugewöhnen.«

»Jemanden aufzuziehen, ist in Ordnung«, sagte er. »Ich bin eher… Ich bin ein bisschen durcheinander. Hauptsächlich… Na ja, ich decke Dächer.«

»Jeden Tag?«

»So sieht’s aus.«

»Und zum Vergnügen? Zur Entspannung? Zur Abwechslung? Was machen Sie da?«

Er deutete mit dem Kinn auf Tess. »Dafür hab ich sie.«

»Hm. Verstehe.« Sie beugte sich vor und kraulte Tess hinter den Ohren, da, wo sie es am liebsten hatte. Wenn Hunde schnurren könnten, hätte sie es getan. Gina schien einen Entschluss gefasst zu haben, denn als sie wieder aufblickte, wirkte sie nachdenklich. »Hätten Sie Lust, mit mir irgendwo auf ein Gläschen einzukehren? Wie gesagt, ich kenne hier niemanden, und da Sie mir nach wie vor harmlos erscheinen und ich auf jeden Fall harmlos bin und da Sie so einen netten Hund haben… Wie wär’s?«

»Ich trinke eigentlich nicht.«

Sie hob die Brauen. »Sie nehmen überhaupt keine Flüssigkeit zu sich? Das kann ich mir nicht vorstellen.«

Er musste unwillkürlich lächeln, sagte jedoch nichts darauf.

»Ich wollte mir eine Limonade bestellen«, sagte sie. »Ich trinke auch nicht. Mein Vater… Er war Alkoholiker, deswegen lasse ich die Finger von dem Zeug. Es hat mich in der Schule zu einer Außenseiterin gemacht, aber eher im positiven Sinne. Ich war schon immer gern anders als die anderen.« Sie stand auf und klopfte sich die Hose ab. Auch Tess sprang schwanzwedelnd auf. Es war offensichtlich, dass die Hündin Ginas spontane Einladung bereits akzeptiert hatte, und Gordon blieb nichts anderes übrig, als es ihr nachzutun.

Dennoch zögerte er. Er hielt lieber Abstand von Frauen. Aber sie wollte schließlich nicht mit ihm anbandeln, oder? Und sie wirkte tatsächlich harmlos. Ihr Blick war offen und freundlich.

»In Sway gibt es ein Hotel«, sagte er, doch erst als sie ihn verblüfft ansah, wurde ihm klar, wie diese Bemerkung geklungen haben musste. Mit glühenden Ohren fügte er hastig hinzu: »Ich meine, Sway ist das nächste Dorf von hier, aber dort gibt es keinen Pub. Deswegen gehen alle in die Hotelbar. Dorthin könnten wir gehen. Dort können wir eine Limonade trinken.«

Ihr Gesicht entspannte sich. »Sie sind wirklich ein unglaublich netter Kerl.«

»Wenn Sie sich da mal nicht täuschen.«

»Ich glaube nicht.«

Sie machten sich auf den Weg. Tess lief voraus, und dann, wundersamerweise, blieb sie am Waldrand stehen, wo der Weg abwärts zum Moor führt, ein Anblick, den Gordon nicht so schnell vergessen würde. Wartete sie darauf, dass er die Leine an ihrem Halsband einhakte? Das war noch nie passiert! Er neigte nicht dazu, nach Zeichen Ausschau zu halten, und doch schien das ein Hinweis darauf zu sein, was er als Nächstes zu tun hatte.

Als sie bei der Hündin ankamen, befestigte er die Leine und reichte sie Gina. »Was meinten Sie eigentlich mit ›weder verwandt noch verschwägert‹?«, fragte er, und als sie die Brauen zusammenzog, fügte er hinzu: »Das haben Sie gesagt, als Sie mir Ihren Namen genannt haben.«

Schon wieder dieser Gesichtsausdruck. Es lag etwas Zärtliches darin und noch mehr, und es machte ihn misstrauisch, sosehr es ihn gleichzeitig anzog.

»Charles Dickens«, sagte sie. »Der Schriftsteller. Ich bin nicht mit ihm verwandt.«

»Ach so«, sagte er. »Ich… Ich lese nicht viel.«

»Nein?« Sie machten sich auf den Weg den Hügel hinunter. Sie hakte sich bei ihm ein, während sie sich von Tess ziehen ließ. »Das werden wir aber ändern müssen.«

JULI

 1 

Als Meredith Powell aufwachte und das Datum auf ihrem Digitalwecker sah, registrierte sie innerhalb weniger Sekunden vier Dinge: Es war ihr sechsundzwanzigster Geburtstag, sie hatte sich einen Tag freigenommen, es war der Tag, für den ihre Mutter der einzigen Enkelin ein Abenteuer in Aussicht gestellt hatte, und somit war dieser Tag die perfekte Gelegenheit, sich bei ihrer besten und ältesten Freundin zu entschuldigen für einen Streit, der dazu geführt hatte, dass sie seit fast einem Jahr keinen Kontakt mehr hatten. Die letzte Erkenntnis war der Tatsache geschuldet, dass diese beste und älteste Freundin am selben Tag Geburtstag hatte wie Meredith selbst. Seit sie sechs Jahre alt gewesen waren, waren sie beide unzertrennlich gewesen, und seit ihrem achten Lebensjahr hatten sie jeden Geburtstag gemeinsam gefeiert. Meredith wusste, wenn sie sich heute nicht mit Jemima versöhnte, würde sie es wahrscheinlich nie tun, und dann würde eine Tradition, die ihr immer am Herzen gelegen hatte, für immer verloren sein. Das wollte sie nicht. Gute Freundinnen fand man nicht alle Tage.

Wie genau diese Versöhnung aussehen sollte, war eine andere Frage, über die Meredith beim Duschen nachdachte. Sie entschied sich für einen Geburtstagskuchen, und zwar einen selbst gebackenen. Sie würde nach Ringwood fahren und Jemima den Kuchen überreichen, sich entschuldigen und eingestehen, dass sie ihrer Freundin unrecht getan hatte. Allerdings würde sie mit keinem Wort Jemimas Lebensgefährten erwähnen, der Auslöser für den Streit gewesen war. Meredith war davon überzeugt, dass dies ohnehin zwecklos wäre. Sie musste sich einfach damit abfinden, dass Jemima in Bezug auf Männer eine unverbesserliche Romantikerin war, wohingegen sie, Meredith, aus Erfahrung wusste, dass Männer im Prinzip nur Tiere in Menschengestalt waren. Sie brauchten Frauen als Sexobjekte, Muttertiere und Haushälterinnen. Wenn sie das wenigstens offen zugäben, statt so zu tun, als sehnten sie sich nach etwas anderem, dann könnten Frauen sich wenigstens entscheiden, wie sie ihr Leben gestalten wollten, anstatt sich einzubilden, es ginge um Liebe.

Für das Konzept »Liebe« hatte Meredith nur Verachtung übrig. Sie hatte es ausprobiert und hinter sich gelassen, und das Ergebnis war Cammie Powell: fünf Jahre alt, der Augenstern ihrer Mutter und vaterlos – woran sich voraussichtlich auch nichts mehr ändern würde.

Cammie trommelte gerade mit den Fäusten gegen die Badezimmertür und schrie: »Mummy! Mummy! Oma sagt, wir gehen heute zu den Ottern, und wir essen Eis und Hamburger. Kommst du auch mit? Da gibt’s nämlich auch Eulen. Sie sagt, irgendwann gehen wir mal zur Igelklinik, aber da muss man übernachten, und sie sagt, dafür bin ich noch zu klein. Sie denkt, ich würde dich vermissen, das hat sie gesagt, aber du könntest doch einfach mitkommen, oder? Oder, Mummy? Mummy!«

Meredith lachte in sich hinein. Cammie redete immerzu wie ein Wasserfall und hörte meistens erst auf, wenn Schlafenszeit war. Während sie sich abtrocknete, rief sie durch die Badezimmertür: »Hast du schon gefrühstückt, mein Schatz?«

»Nein, hab ich vergessen.« Meredith hörte, wie ihre Tochter mit den Pantoffeln auf dem Fußboden scharrte. »Oma sagt, die haben Junge. Klitzekleine Otter. Sie sagt, wenn die Mutter stirbt oder wenn sie gefressen wird, dann brauchen die Jungen jemanden, der sich um sie kümmert, und das machen die da in dem Park. Im Otterpark. Was für Tiere fressen Otter, Mummy?«

»Keine Ahnung, Cammie.«

»Es muss aber Tiere geben, die Otter fressen. Alle Tiere werden gefressen. Mummy? Mummy?«

Meredith schlüpfte in ihren Morgenmantel und öffnete die Tür. Cammie sah genauso aus, wie ihre Mutter in dem Alter ausgesehen hatte. Sie war zu groß für ihre fünf Jahre und, ebenso wie Meredith, viel zu dünn. Ein Segen, dachte Meredith, dass Cammie ihrem nichtsnutzigen Vater nicht im Geringsten ähnlich sah. Mehr noch als ein Segen, denn er hatte geschworen, Meredith nie wieder eines Blickes zu würdigen, falls sie so stur sein und die Schwangerschaft durchziehen sollte. »Ich bin verheiratet, Herrgott noch mal, du dummes Luder!«, hatte er sie angebrüllt. »Ich habe bereits zwei Kinder, und das hast du die ganze Zeit gewusst!«

»Gib mir einen Gutenmorgenkuss, Cammie«, sagte Meredith. »Geh schon mal in die Küche. Ich muss einen Kuchen backen. Möchtest du mir helfen?«

»Aber Oma macht gerade Frühstück in der Küche.«

»Es ist bestimmt genug Platz für drei Bäckerinnen.«

Die Küche war sehr geräumig. Während Merediths Mutter am Herd stand und Spiegeleier und Speck briet, machte Meredith sich daran, Kuchen zu backen. Sie hatte zu einer Backmischung gegriffen, was ihrer Mutter eine frotzelnde Bemerkung entlockte, während Meredith den Beutelinhalt in eine Schüssel schüttete.

»Der ist für Jemima«, erklärte Meredith.

»Das ist ja wie Eulen nach Athen tragen«, stichelte Janet Powell.

Das wusste Meredith selber, aber daran ließ sich nun mal nichts ändern. Außerdem kam es nicht auf den Kuchen selbst an, sondern auf die gute Absicht. Und abgesehen davon wäre Meredith, selbst wenn ihr irgendeine Küchenfee die Zutaten verraten hätte, niemals in der Lage gewesen, etwas zustande zu bringen, das dem, was Jemima aus Mehl, Eiern und all den restlichen Zutaten zurechtzauberte, auch nur im Entferntesten geglichen hätte. Warum also sollte sie es überhaupt versuchen? Schließlich ging es nicht um einen Backwettbewerb, sondern um die Rettung einer Freundschaft.

Als Meredith den Kuchen aus dem Ofen zog, waren Oma und Enkelin bereits zu ihrem Otterabenteuer aufgebrochen, und Opa war zur Arbeit gefahren. Meredith hatte sich für einen Schokoladenkuchen mit Schokoglasur entschieden, und auch wenn er ein bisschen schief geraten und in der Mitte ein klein wenig eingesunken war – dafür hatte man ja schließlich die Glasur. Man brauchte nur reichlich davon auf dem Kuchen zu verteilen, und schon sah er einigermaßen passabel aus.

Von der Ofenhitze war es in der Küche so heiß geworden, dass Meredith noch einmal unter die Dusche steigen musste, ehe sie nach Ringwood aufbrach. Dann verhüllte sie ihren mageren Körper wie üblich mit einem knöchellangen Kaftan und trug den Schokoladenkuchen zu ihrem Auto. Vorsichtig stellte sie ihn auf den Beifahrersitz.

Gott, was für eine Hitze, dachte sie. Dabei war es noch nicht einmal zehn Uhr. Sie hatte die Ofenhitze dafür verantwortlich gemacht, dass sie so schwitzte, aber da hatte sie sich offenbar getäuscht. Sie kurbelte die Fenster ihres Wagens herunter und fuhr los. Sie musste sich beeilen, wenn sie nicht wollte, dass von dem Kuchen nur noch eine Schokopfütze übrig blieb.

Bis nach Ringwood war es nicht allzu weit, nur ein kurzes Stück über die A31 bei offenen Fenstern, den Fahrtwind um die Ohren, während ihr Affirmationsband in voller Lautstärke aus dem Kassettenrekorder dröhnte. »Ich will! Ich kann! Ich schaffe es!«, sagte die Stimme, und Meredith konzentrierte sich auf das Mantra. Eigentlich glaubte sie nicht daran, dass so etwas wirklich funktionierte, aber sie war entschlossen, nichts unversucht zu lassen, um voranzukommen.

Ein Stau vor der Ausfahrt nach Ringwood erinnerte sie daran, dass heute Markttag war. Die Innenstadt würde total überfüllt sein, und jede Menge Leute würden in Richtung Marktplatz strömen, wo einmal pro Woche vor der spätnormannischen Kirche St. Peter und Paul farbenfrohe Verkaufsstände aufgebaut wurden. Und nicht nur Einheimische, sondern auch jede Menge Urlauber würden sich durch die Stadt drängeln, denn um diese Jahreszeit fielen die Touristen wie Heuschrecken in den New Forest ein: Camper, Wanderer, Radfahrer, Amateurfotografen und sonstige Naturbegeisterte.

Meredith warf einen Blick auf ihren Schokoladenkuchen. Es war ein Fehler gewesen, ihn auf den Beifahrersitz zu stellen statt auf den Boden. Die Sonne brannte gnadenlos darauf, was der Glasur nicht eben zum Wohl gereichte.

Meredith musste zugeben, dass ihre Mutter recht gehabt hatte: Was in aller Welt hatte sie sich dabei gedacht, Jemima ausgerechnet einen Kuchen schenken zu wollen? Tja, jetzt war es zu spät, sich etwas anderes zu überlegen. Vielleicht konnten sie gemeinsam darüber lachen, wenn sie es endlich mit dem Kuchen zu Jemimas Laden geschafft hatte, der sich Cupcake Queen nannte und in der Hightown Road lag. Tatsächlich hatte Meredith wesentlich dazu beigetragen, dass Jemima das Ladenlokal gefunden hatte.

Die Häuser in der Hightown Road bildeten eine bunte Mischung, was die gewundene Straße zu einer perfekten Adresse für die Cupcake Queen gemacht hatte. Auf der einen Straßenseite standen hübsche Reihenhäuser aus rotem Backstein mit Rundbogentüren, Erkerfenstern und Dachgauben, deren Giebel mit weißem Holzschnitzwerk verziert waren. Am Ende der Straße befand sich das Railway Hotel, ein altes Gasthaus mit farbenprächtig blühenden Hängepflanzen in den Blumenkästen unter den Fenstern. Auf der gegenüberliegenden Seite gab es diverse Kfz-Betriebe und ein Autohaus, wo Fahrzeuge mit Allradantrieb angeboten wurden, außerdem einen Friseurladen und einen Waschsalon. Als Meredith damals gleich nebenan im Fenster eines leeren Ladenlokals das verstaubte »Zu vermieten«-Schild entdeckt hatte, hatte sie sofort an Jemima gedacht, deren selbst gebackene Törtchen den gesamten Freundeskreis zu Jubelrufen hinrissen. »Jem, das wird großartig laufen«, hatte Meredith zu ihr gesagt. »Dann kann ich in der Mittagspause immer zu dir rüberkommen, und wir können zusammen ein Sandwich essen.« Außerdem sei die Zeit reif, hatte sie ihrer Freundin erklärt. Wollte sie ihre Törtchen für immer in der Küche ihres kleinen Häuschens backen oder endlich den Sprung ins kalte Wasser wagen? »Du schaffst das, Jem! Ich glaube an dich.« Zumindest in Bezug auf ihren geschäftlichen Erfolg, dachte sie bei sich. In persönlichen Dingen traute sie Jemima wesentlich weniger zu.

Sie hatte ihre Freundin nicht lange überreden müssen, und Jemimas Bruder hatte ihr einen Teil des nötigen Kapitals zur Verfügung gestellt, ganz wie Meredith es erwartet hatte. Doch kurz nachdem Jemima den Mietvertrag unterschrieben hatte, war ihre Freundschaft aufgrund eines heftigen und dummen Streits über das, was Meredith als Jemimas blinde Bedürftigkeit nach einem Mann bezeichnete, abrupt abgekühlt. »Du nimmst doch jeden, der dir schöne Augen macht«, hatte Meredith Jemima entgegengeschleudert und deutlich ihre Meinung über Jemimas derzeitigen Partner geäußert, einen von vielen, die in Jemimas Leben getreten und wieder gegangen waren. »Komm schon, Jem! Jeder, der Augen im Kopf hat, sieht doch, dass mit dem Kerl etwas nicht stimmt.« Nicht gerade die feine Art, einen Mann zu beurteilen, den die beste Freundin zu heiraten beabsichtigte. Schlimm genug, dass sie mit ihm zusammenlebte, fand Meredith. Aber sich für ewig an ihn binden zu wollen, war etwas ganz anderes.

Sie hatte also nicht nur Jemima beleidigt, sondern auch den Mann, den Jemima zu lieben vorgab. Und so hatte Meredith nie die Früchte von Jemimas Plackerei gesehen, nachdem die Cupcake Queen eröffnet wurde.

Bedauerlicherweise konnte sie die Ergebnisse dieser Bemühungen auch jetzt nicht bewundern. Denn als Meredith mit dem Schokoladenkuchen – der inzwischen so aussah, als würde die Schokolade tatsächlich schwitzen, was kein gutes Zeichen sein konnte – aus ihrem Auto stieg und ihr Versöhnungsgeschenk über die Straße trug, fand sie die Ladentür verriegelt und die Fenstersimse verdreckt vor. Und das, was sie durch die Fenster erkennen konnte, sah ganz nach einem Geschäft aus, das pleitegegangen war. An einer Wand stand ein leeres Regal, davor eine verstaubte Verkaufstheke und eine altmodische Etagere, auf der weder Küchengeräte noch Backwaren lagen. Wie lange war es her, dass Jemima den Laden eröffnet hatte? Zehn Monate? Sechs? Acht? Meredith konnte sich nicht genau erinnern, aber was sie vor sich sah, gefiel ihr überhaupt nicht. Es fiel ihr schwer zu glauben, dass Jemimas Geschäft so schnell den Bach runtergegangen war. Selbst als sie noch in der heimischen Küche gebacken hatte, hatte Jemima bereits eine Menge Stammkunden gehabt, die bei ihr bestellt hatten, und die wären ihr doch sicherlich nach Ringwood gefolgt. Was also war passiert?

Meredith beschloss, die Person aufzusuchen, die ihr das alles am ehesten würde erklären können. Sie hatte ihre eigene Theorie zu dem Thema, aber sie wollte gewappnet sein, wenn sie Jemima gegenübertrat.

Meredith fand Lexie Streener im Friseurladen Jean Michel’s in der High Street. Zuerst war sie zu der jungen Frau nach Hause gegangen. Lexies Mutter hatte ihre Arbeit unterbrochen – sie war gerade dabei gewesen, eine Abhandlung über die dritte Seligpreisung zu tippen –, und sie hatte sich lang und breit darüber ausgelassen, was es bedeutete, zu den Sanftmütigen zu gehören. Als Meredith nicht locker gelassen hatte, hatte sie ihr schließlich verraten, dass Lexie zurzeit im Jean Michel’s den Kundinnen die Haare wusch. »Es gibt gar keine Jean Michel«, sagte sie streng. »Das ist eine glatte Lüge, und das verstößt gegen Gottes Gebote.«

Im Friseurladen bearbeitete Lexie gerade mit Inbrunst den Kopf einer dicken Frau, die bereits mehr als genug Sommersonne getankt hatte und definitiv zu viel Fleisch zeigte, um diese besorgniserregende Tatsache zur Schau zu stellen. Während Meredith wartete, fragte sie sich, ob Lexie vorhatte, eine Friseurlehre zu machen. Sie konnte nur hoffen, dass dies nicht der Fall war, denn wenn die Frisur des Mädchens irgendetwas über ihr Talent auf diesem Gebiet verriet, dann würde niemand, der bei Sinnen war, sie auch nur in die Nähe seines Kopfs lassen – zumindest nicht, solange sie mit Schere oder Haarfärbemittel bewaffnet war. Ihre Haare waren pink, blond und blau und entweder raspelkurz geschnitten – unwillkürlich drängte sich die Assoziation mit Kopfläusen auf – oder einfach abgebrochen nach all der Misshandlung durch Bleichmittel und Farbe.

»Sie hat mich irgendwann angerufen«, sagte Lexie, als Meredith sie endlich für sich allein hatte. Sie hatte warten müssen, bis Lexie Pause machte, und es hatte sie eine Cola gekostet, aber das war in Ordnung, sofern diese minimale Investition ihr maximale Information einbrachte. »Ich dachte, ich wär fleißig gewesen und alles, aber dann ruft sie mich auf einmal an und sagt, ich brauch am nächsten Tag nich mehr zur Arbeit zu kommen. Ich hab sie gefragt, ob ich was falsch gemacht hätte, vielleicht zu nah an der Tür ’ne Kippe geraucht oder so, aber sie sagt nur… na ja… ›Nein, es hat nichts mit dir zu tun.‹ Also nehm ich an, es hat was mit meinen Eltern zu tun, mit diesem ganzen Bibelgetue, wissen Sie, und diesem Zeug, was meine Mum dauernd schreibt. Vielleicht hat sie ihr mal so ’nen Zettel unter den Scheibenwischer geklemmt. Aber sie sagt nur: ›Es hat mit mir zu tun, nicht mit dir. Und auch nicht mit deinen Eltern. Es hat sich alles geändert.‹ Ich hab gefragt, was denn, aber das wollte sie mir nich sagen. Sie hat gesagt, es tut ihr leid, und ich soll sie nich weiter fragen.«

»Ist das Geschäft schlecht gelaufen?«, wollte Meredith wissen.

»Nee, ich glaub nich. Es waren immer Leute da, die was gekauft haben. Wenn Sie mich fragen, ich fand es total komisch, dass sie dichtmachen wollte, is doch klar. Also hab ich sie ’ne Woche drauf noch mal angerufen. Oder vielleicht später, weiß ich nich mehr genau. Ich hab sie auf ihrem Handy angerufen, aber da is nur die Mailbox angesprungen. Ich hab ihr Nachrichten hinterlassen, mindestens zwei. Aber sie hat mich nicht ein einziges Mal zurückgerufen, und als ich’s dann noch mal versucht hab, da war… überhaupt kein Ton. Als hätte sie ihr Handy verloren oder so.«

»Hast du auch bei ihr zu Hause angerufen?«

Lexie schüttelte den Kopf. Sie knibbelte an einer verschorften Wunde an ihrem Arm. Sie fügte sich selbst Schnittwunden zu, das wusste Meredith, denn Lexies Tante gehörte die Firma für Grafikdesign, bei der Meredith so lange arbeiten wollte, bis sie in die Branche einsteigen konnte, die sie wirklich interessierte, nämlich Stoffdesign, und da Meredith Lexies Tante sehr bewunderte und da Lexies Tante sich ständig Sorgen um Lexie machte und über sie redete und sich fragte, ob es nicht irgendeine Möglichkeit gebe, Lexie dazu zu verhelfen, dass sie wenigstens ein paar Stunden täglich aus dem Haus kam und weg von ihren halb durchgedrehten Eltern, hatte Meredith Lexie irgendwann ihrer Freundin Jemima empfohlen, als die eine Mitarbeiterin suchte. Geplant war, dass Lexie Jemima erst bei der Einrichtung des Ladens und dann hinter der Theke helfen sollte. Jemima konnte nicht alles allein bewältigen, Lexie brauchte den Job, und Meredith wollte bei ihrer Chefin punkten. Es schien das perfekte Arrangement zu sein.

Aber irgendetwas war offenbar schiefgelaufen. Meredith fragte: »Du hast also nicht mit… ihm gesprochen? Sie hat nichts von zu Hause erzählt? Und du hast sie auch nicht dort angerufen?«