Bediuzzaman Said Nursi - Alexander Imker - E-Book

Bediuzzaman Said Nursi E-Book

Alexander Imker

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Beschreibung

Bediuzzaman Said Nursi (1876–1960), Autor des Risale-i Nur (Botschaft des Lichts), musste eine schwere Last schultern. Anfang des 20. Jahrhunderts waren alte Denkweisen von einem neuen Leben hinweggefegt worden. Die Vergangenheit würde nie mehr wiederkehren, und die Zukunft würde sich völlig von ihr unterscheiden. Der Glaube musste künftig in einer ganz neuen Sprache vermittelt werden. Bediuzzamans Leben lässt sich in drei Phasen unterteilen. In jeder dieser Phasen setzte er sich mit aller Kraft für den Glauben ein. Er wurde Zeitzeuge des größten Wandels, der die islamische Welt jemals erfasst hat, und erlebte ihre freimütige Imitation einer fremden Zivilisation ebenso mit wie ihre Bemühungen um eine Erneuerung der Religion. Mit seinem Leben hinterließ er ein Vorbild, an dem sich die Menschen fortan orientieren konnten, und er zeigte ihnen einen Weg aus jener Krise. Bediuzzamans Biographie ist ohne jeden Zweifel eine genauere Betrachtung wert. Mit dem Risale-i Nur, der Frucht seines Lebenswerks, legte er den Grundstein für eine koranische Aufklärung im Zeitalter der Moderne.

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Lehrmeister der koranischen Aufklärung

Bediuzzaman Said Nursi

Alexander Imker

Lehrmeister der koranischen Aufklärung Bediuzzaman Said Nursi

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DİJİTAL ISBN-

Blue Dome, Inc335 Clifton Avenue Clifton, NJ 07011 EIN: 47-2354726 (taxID)

Tel:646-415-9331 Fax: 646-827-6228

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Einleitung

Bediuzzaman Said Nursi – ein Mensch sui generis

Vielleicht ergeht es ja jedem so, der einleitende Worte zu einem Werk schreiben möchte, dessen Verfasser eine Persönlichkeit war, die ihre eigene Lebenszeit weit überstrahlt hat. Ich persönlich jedenfalls empfinde diese Aufgabe als eine sehr schwierige Herausforderung. Über die Person, das Leben und die Visionen von Bediuzzaman Said Nursi wurden bereits mehrere dicke Bände verfasst. Da diese aber bisher nur zu einem geringen Teil in unsere Sprache übertragen wurden und das vorliegende Werk definitiv einer Einleitung würdig ist, möchte ich im Folgenden zumindest einige wenige Gedanken zur Person und zum Werk dieses Lehrmeisters zu Papier zu bringen.

Said Nursi war ein Universalgelehrter, der in den 83 Jahren seines Lebens viele ganz unterschiedliche Rollen einnahm und sich in keine Schublade stecken ließ. Er war ein ungewöhnlicher, einzigartiger Mensch, weshalb ihm seine verblüfften Lehrer schon im Alter von 14 Jahren aufgrund seines Genies und seines starken Gedächtnisses den Beinamen Bediuzzaman (der Einzigartige des Zeitalters) verliehen. Bediuzzaman war eine Persönlichkeit sui generis im klassischen Sinne, höchst facettenreich und kaum zu kategorisieren. Um Ihnen in dieser kurzen Einleitung dennoch einen ersten Eindruck von seinem Wirken zu vermitteln, möchte ich mich ihm auf zwei Ebenen nähern: in seiner Eigenschaft als Mensch und in seiner Eigenschaft als Verfasser und Autor des Werkes Risale-i Nur. Zwangsläufig überlappen sich diese beiden Ebenen in vielen Punkten, trotzdem werde ich den Versuch unternehmen, ein wenig zu differenzieren.

Der Mensch Said Nursi

Bediuzzaman Said Nursi wurde im Jahr 1876 oder 1877 in dem kleinen Dorf Nurs in der Provinz Bitlis geboren, einer Kurdenregion des Osmanischen Reichs, und er starb 1960 in der türkischen Stadt Urfa. Fast jede Szene seines Lebens spiegelt den Sinngehalt seines Beinamens Bediuzzaman wider. Diese Einzigartigkeit, die ihn von der Kindheit bis zum Tod auszeichnete, bot genügend Substanz für einen Roman von fünf Bänden, und verfilmt wurde sein Leben mittlerweile auch bereits mehrfach. Wer die frühen Werke des Alten Said studiert (Alter Said nannte er selbst die erste Phase seines Wirkens), wird feststellen, dass er sich zunächst als ziviler Bürger unermüdlich engagierte. Er beschäftigte sich intensiv mit Politik und Gesellschaft des Osmanischen Reichs sowie auch beispielsweise mit den Medien. Und gerade aus heutiger Sicht ist es erstaunlich, wie differenziert und aufrichtig er mit den Turbulenzen seiner Zeit umzugehen pflegte. Kein Zorn ließ ihn den Verstand verlieren, keine Grausamkeit verleitete ihn zu unmenschlichem Handeln. Nursis aufopferungsvoller Einsatz bei der Rettung armenischer Kinder und seine freimütige Kritik an den politischen Umständen weisen ihn als zutiefst ehrlichen, uneigennützigen Menschen aus.

Die Literaten unseres Lichterlandes Europa sind zumeist geneigt, die historischen Personen politisch zu kategorisieren. Daher gehört es dazu, einige Zeilen über die politische Haltung des Lehrmeisters zu diskutieren.

Schon lange bevor das Osmanische Reich zusammenbrach, wurde Said Nursi mehrmals aufgrund seines Eintretens für eine parlamentarische Monarchie bzw. später wegen seines Republikanismus verhaftet. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass er den Sozialismus als weniger schädlich für Glauben und Religion befand als den Kapitalismus, der mit seinen Ungerechtigkeiten und seiner Konsumorientiertheit die Menschen davon abhalte, über den Sinn ihres Lebens nachzudenken und ihren religiösen Pflichten nachzukommen. Über 50 Jahre lang stand er immer ausdrücklich auf Seiten der Demokraten in der Türkei, was ihn nicht daran hinderte, wenn nötig auch Stellung gegen explizit islamische Parteien zu beziehen. Er übte scharfe Kritik an all jenen, die den Islam zu propagandistischen, parteipolitischen Zwecken missbrauchen, wofür er von zeitgenössischen Gelehrten wie Seyyid Qutb oder Scheych ul-Islam Mustafa Sabri Efendi scharf kritisiert wurde. Seine Prinzipientreue bewahrte ihn immer wieder davor, sich von bestimmten Gruppen vereinnahmen und ausnutzen zu lassen. Folglich verbietet es sich auch, ihn als ausschließlich konservativ-liberal oder sozialistisch-konservativ zu definieren.

Der Autor und sein Werk, das Risale-i Nur

Das Risale-i Nur (Botschaft des Lichtes) liegt uns deshalb so am Herzen, weil es die islamischen Wissens- und Glaubensinhalte so einfach und gleichzeitig so tiefgründig und originell auf den Punkt bringt, wie kein anderes Werk in der islamischen Literatur es je vermocht hat. Die Glaubensinhalte des Islams finden heute sowohl in der Minderheits- als auch in der Mehrheitsgesellschaft kaum mehr Beachtung, da sich Medien und Öffentlichkeit auf Debatten um Terror, Kopftuch oder Schwimmunterricht fokussieren. Es ist verwunderlich, dass selbst in unserem Land, dessen Abend doch von Renaissance und Aufklärung erhellt wurde, fast ausschließlich über die sichtbaren Ausdrucksformen oder die geographischen Erscheinungsformen dieser Religion und der Religion allgemein diskutiert wird.

Noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stand der Kerngehalt der Religionen, Weltanschauungen und Credos ganz oben auf der Agenda. Die großen Theorien beherrschten die Gedankenwelt, sie trugen zur Eskalation der politischen Debatte bei und entfesselten schreckliche Kriege. Angespornt von den Ausführungen dialektischer Materialisten wie Karl Marx und Friedrich Engels gewann das Proletariat in einigen Ländern die Oberhand über die Kapitalbesitzer, und damit verbunden streckte sich eine aggressiv-atheistische Ideologie nach der Weltherrschaft. Zwar können die Kriege jener Zeit nicht als Konfessionskriege bezeichnet werden, aber der Kerngehalt des Glaubens stand aufgrund des aggressiven Atheismus stets auf der Agenda. Glaube und Religion wurden vom Materialismus kategorisch abgelehnt. Und alle Glaubensrichtungen – Judentum und Christentum ebenso wie Buddhismus oder Islam – waren von dieser Bedrohung betroffen.

Auf der politischen Ebene brachen große Monarchien wie das Kaiserreich, die K.-u.-k.-Monarchie und das Osmanische Reich zusammen, und während in Europa die Nationalstaaten auf der politischen Landkarte auftauchten, waren es auf der Landkarte des ehemaligen Osmanischen Reichs eher ‚fiktive‘ Nationen. Und Letztere sollten noch lange unter dem Joch des kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Kolonialismus ächzen. Eine bipolare Welt zwischen Kapitalismus und Kommunismus war entstanden.

Parallel zu dieser Entwicklung beschäftigte sich Said Nursi in seinem Opus magnum Risale-i Nur intensiv mit den Kerninhalten des Glaubens, dem Sinn des Lebens, der Quelle der Ethik und einer Erneuerung des Islams. Ganz im Gegensatz übrigens zu den zeitgenössischen Islamgelehrten, deren ganze Konzentration nach der Abschaffung des osmanischen Kalifats den politischen Auseinandersetzungen und Verwicklungen galt.

Eine Erwähnung wert ist außerdem, dass Said Nursi prinzipiell jede Art von Extremismus mied und fast immer den Mittelweg, den Weg der Vernunft lehrte. Zudem verzichtete er generell auf Pauschalisierungen und differenzierte überall dort, wo es ihm geboten schien; in Bezug auf Europa zwischen dem Europa der Aufklärung und der christlichen Werte und dem Europa des Kolonialismus, des Atheismus und der Weltkriege.

Daneben fördert er mit seinem Lebenswerk, dem Risale-i Nur bei seinen Leserinnen und Lesern einen dialogischen Ansatz, indem er sie dazu ermuntert, in vielen Bereichen des Lebens zusammenzukommen und miteinander zu reden. Said Nursi selbst scheute nie davor zurück, selbst die provozierendsten Fragen geduldig zu diskutieren. Das sollte auch jungen Musliminnen und Muslimen den Mut geben, aufgeschlossen für andere Standpunkte zu bleiben.

Maximilian Friedler Berlin, 13.03.2017

Teil 1

Der Alte Said (1877–1925) Das Leben Said Nursis vor seiner Wandlung zum Neuen Said

Familiärer Hintergrund

Said Nursi wurde in eine Zeit hineingeboren, in der sich allerorten, insbesondere aber in der islamischen Welt, große Veränderungen ankündigten. Er kam in Ostanatolien zur Welt, in dem Dorf Nurs, unweit der historischen Stadt Bitlis, stammt jedoch nicht aus einer der alteingesessenen Familien des Dorfes. Überlieferungen, die sich in das Umland dieser Orte zurückverfolgen lassen, besagen, dass einige Zeit vor seiner Geburt in der nahe gelegenen Stadt Cizre ein berühmter Mann lebte, der zwei bedeutende Gelehrte entsandte, um die Menschen in Nurs und Bitlis zu unterweisen und auszubilden. Die beiden Brüder bauten in dem Dorf eine Moschee und eine Medresse [religiöse Schule], in der sie die Kinder und Jugendlichen der Region unterrichteten. So hielten damals Wissen und Weisheit Einzug in Nurs. Mit diesen beiden Gelehrten war Said angeblich durch eine gemeinsame Abstammungslinie – Mirza Reşan, Mirza Halid, Hızır, Ali und Sofi Mirza Said – verbunden.

Saids Großvater hatte fünf Kinder: Hacı, Mahme, Kulis, Fatma und Mirza.1 Die genauen Geburts- und Todesdaten von Saids Eltern sind unbekannt. Seine Mutter Nuriye Hanım, die Nure genannt wurde, war die Tochter von Molla Tahir aus dem Dorf Bilkan, etwa drei Stunden nördlich von Nurs gelegen. Sie starb in den ersten Tagen des Ersten Weltkriegs. Über ihre Familie liegen sonst keine Informationen vor. Saids Vater Sofi Mirza starb 1920. Er wurde Sofi Mirzo oder Sofi Mirze genannt, so steht es auch auf seinem Grabstein.2 Den beiden wurde im Jahr 1877 Said geboren.

Kindheit

Said verbrachte seine Kindheit bei seiner Familie. Schon damals begann die Saat seines gewaltigen Potenzials aufzugehen, und schon bald war es nicht mehr zu übersehen.

Saids Vater Sofi Mirza war Anhänger von Sıbgatullah Efendi, der in Bitlis als Ghawth (spiritueller Erretter) von Hizan bekannt war. Eines Tages machte sich Sofi Mirza auf, den Meister zu besuchen. Dort angekommen, wollte man ihn zunächst nicht zu dem Ghawth vorlassen, weil dieser gerade in eine Diskussion mit seinen Studenten vertieft war. Sofi Mirza ließ sich jedoch nicht abwimmeln und durfte schließlich eintreten. Der Ghawth behandelte seinen unangemeldeten Gast so ehrerbietig, dass die Studenten überrascht waren. Nachdem sich Sofi Mirza wieder verabschiedet hatte, fragten sie ihren Meister, warum er einem gewöhnlichen Menschen derart großen Respekt erwiesen hatte. Da antwortete ihnen der Ghawth: „Aus der Abstammungslinie dieses Mannes wird ein so bedeutender Mann hervorgehen, dass hundert Gottesfreunde seinen spirituellen Rang nicht aufwiegen können!“

Einer zweiten Überlieferung zum gleichen Thema zufolge lebte in der Stadt Isparta in der Westtürkei, die Said Nursi ca. 48 Jahre später besuchen sollte, ein hoch angesehener Gelehrter namens Osman Halidi aus Beskaza. Kurz vor seinem Tod – in demselben Jahr, in dem Said geboren wurde – sprach dieser Mann zu seinen Kindern und zu allen, die damals bei ihm waren:

„Ein Mudscheddid (Erneuerer des Glaubens) wird kommen. Er wurde in diesem Jahr geboren.“ Dann fügte er hinzu: „Einer meiner vier Söhne wird diesen künftigen Meister treffen und ihm die Hand küssen (als Zeichen des Respekts).“ Es vergingen viele Jahre, und als Bediuzzaman schließlich nach Isparta kam, traf Osman Halidis letzter noch lebender Sohn Ahmet, mit ihm zusammen, erzählte ihm von der Prophezeiung seines Vaters und küsste ihm respektvoll die Hand. Osman Halidis frohe Kunde, sein Vermächtnis an seine Kinder, war schriftlich festgehalten worden; daher wussten viele Menschen in Isparta, was dies zu bedeuten hatte.3

Said Nursi kommentierte dies so:

Was meinen Geburtsort Nurs betrifft, so wissen sowohl meine älteren Studenten als auch die Bewohner von Nurs, dass unser Dorf gern prahlte; weil es nach außen hin mutig und besonders erscheinen wollte, führte es sich auf wie ein Held, der eine große Stadt erobert hat. Andererseits ist es ja aber tatsächlich so, dass diese einfallsreichen Leute nun mit dem strahlend hellen Licht des Risale-i Nur (Die Botschaft des Lichts) beehrt werden; und um das Dorf Nurs, das ja in einer gänzlich unbekannten Gemeinde in einer gänzlich unbekannten Provinz liegt, als einen Ort von Bedeutung bekannt zu machen (um ihm zu Berühmtheit zu verhelfen), erkannten sie diese Gunst Gottes, noch bevor das Risale-i-Nur verfasst wurde, und brachten so auf ihre ureigene lobenswerte, großherzige Weise ihre Dankbarkeit zum Ausdruck.

Der einwandfreie Charakter des jungen Said und seiner Geschwister blieb nicht lange unbemerkt. Scheich Seyyid Hüseyin Arvasi, den die Eltern des Jungen sehr schätzten, fragte Saids Mutter Nuriye einmal: „Was zeichnet Ihre Erziehung und Bildung aus, dass aus Ihren Kindern so gescheite Menschen werden?“ Die ehrenwerte Frau antwortete ihm: „Mein ganzes Leben lang habe ich, mit Ausnahme der Zeiten (im Monat), wenn Frauen entschuldigt sind, nie meine Teheddschud-Gebete (freiwilligen Nachtgebete) versäumt, und nie habe ich meine Kinder gestillt, ohne zuvor die Waschungen verrichtet zu haben.“4

Said Nursi selbst versicherte, während der gesamten 80 Jahre seines Lebens von der Unterweisung durch seine Mutter profitiert zu haben:

Die erste kompetente Lehrerin und Einflussperson des Menschen ist seine Mutter. Dass dies absolut wahr ist, habe ich in meinem eigenen Leben immer gespürt, und ich möchte es hier noch einmal wiederholen:

In den 80 Jahren meines Lebens habe ich unter 80.000 Gelehrten studiert, aber ich bin mir ganz sicher: Die grundlegendsten und beständigsten Lektionen – diejenigen, die immer wieder frisch zu mir zurückkehren – waren die ebenso praktischen wie inspirierenden Lektionen, die ich von meiner Mutter gelernt habe. Diese Lektionen wurden mir zu jener Zeit, als sie meine Autorität schlechthin war, wie Samenkörner eingepflanzt, und sie sind mir zu einem Teil meines Wesens, ja in gewisser Weise sogar zu einem Teil meines physischen Körpers geworden. Genauso sicher bin ich mir, dass sie das Fundament waren, auf dem meine ganze weitere Ausbildung aufbaute. Ohne den Schatten eines Zweifels darf ich behaupten, dass ich von den vier Ecksteinen meines Werdegangs und meiner Berufung den wichtigsten, nämlich das Mitgefühl - das Empfinden von Mitleid und Bedauern (schefqat), wie es in der bedeutendsten Wahrheit des Risale-i-Nur formuliert ist, dem mitfühlenden Handeln, Vorbild und Unterricht meiner Mutter verdanke.5

Schon in jungen Jahren begann Said Gefühle zu entwickeln, die ihn von seiner Familie und seinem Umfeld unterschieden:

Als ich acht oder neun Jahre alt war, riefen sie in ihren Bittgebeten, wie es Brauch war, das Oberhaupt des Naqschibendi-Ordens unserer Region an, einen Mann, der als Ghawth von Hizan bekannt und für sein Fasten berühmt war. Entgegen allen Erwartungen meiner Verwandten bat ich jedoch nicht den Ghawth von Hizan um Hilfe, sondern den großen Ghawth, Abdulqādir el-Dschīlānī. Aufgrund meiner kindlichen Naivität wandte ich mich an ihn, selbst wenn es nur eine Walnuss war, die ich verloren hatte: „O Scheich! Ich schenke deiner Seele eine Fātiha (Eröffnungssure des Korans), veranlasse es, dass ich finde, was ich verloren habe.“ Es mag absonderlich klingen, aber ich könnte darauf schwören, dass mir die seelische Unterstützung (himmet) und die Bittgebete (du‘ā) des ehrwürdigen Scheichs tausendmal zu Hilfe gekommen sind.6

Ausbildungsjahre

a) Die erste Schulbildung

In den Jahren, in denen Said zu Hause bei seinen Eltern lebte, ging sein älterer Bruder Molla Abdullah bereits zur Schule. Dem jungen Said entging nicht, wie positiv sich sein Bruder dadurch entwickelte. Deshalb fasste er den Beschluss, ebenfalls eine Schule zu besuchen, und seine Wahl fiel auf die des Gelehrten Molla Mehmet Emin in dem Dorf Tağ, in der Nähe von Isparit in Bitlis. Allerdings verließ er diese Schule recht bald wieder und kehrte in sein Dorf Nurs zurück, weil er es nicht ertragen konnte, wenn jemand im Befehlston irgendetwas zu ihm sagte. Verärgert darüber, dass er in Nurs keine andere Schule finden konnte, ließ er sich von seinem älteren Bruder unterrichten, der einmal in der Woche nach Hause kam. Einige Zeit später brach er auf in die Region Pirmis, zum Hochplateau von Scheich Hizan. Aber auch dort machte ihm seine strikte Weigerung, Unrecht zu tolerieren, das Leben schwer. Vier Mitschüler legten sich mit ihm an und verbündeten sich gegen ihn, um ihm eine Tracht Prügel zu verabreichen. Daraufhin wandte er sich an Scheich Seyyid Nur Muhammed. Um nicht in seinen Augen als Schwächling dazustehen, vermied er es, sich direkt über sie zu beklagen, indem er sagte:

„Mein Scheich, bitte richten Sie ihnen aus, dass ich gern gegen zwei von ihnen kämpfe, es aber nicht mit allen vier auf einmal aufnehmen kann.“

Seyyid Nur Muhammed zeigte sich erfreut über die Tapferkeit des jungen Said und entgegnete: „Du bist mein Schüler, ich werde niemandem gestatten, dir etwas zuleide zu tun.“

Danach gab man ihm dort den Beinamen ‚Schüler des Scheichs‘. Er blieb eine Weile, bis er seinem Bruder Molla Abdullah in das Dorf Nurşin folgte.

Schulen in Ostanatolien wurden damals folgendermaßen gegründet: Ein Gelehrter, der seine Ausbildung erfolgreich abgeschlossen hatte, ging in ein Dorf und eröffnete dort, um Gott zu erfreuen, eine Schule. Wenn die Schüler bedürftig waren, kamen entweder der Gelehrte selbst oder die Bewohner des Ortes für ihre Erfordernisse auf, und der Gelehrte unterrichtete sie, ohne Geld von ihnen dafür zu nehmen. Said aber lehnte es schon zu seinen Schulzeiten ab, sich finanziell unterstützen zu lassen. Er weigerte sich, Almosen, Stipendien, Geschenke oder Ähnliches anzunehmen. Als seine Mitschüler-Freunde einmal loszogen, um Geld zu sammeln, blieb er in der Schule. Die Dorfbewohner waren von seiner Genügsamkeit beeindruckt und beschlossen, ihm trotzdem etwas Geld zukommen zu lassen. Als sie es ihm überreichen wollten, wies Said es mit Worten der Dankbarkeit zurück. Da wandten sich die Dorfbewohner an seinen Bruder Abdullah und bedrängten ihn, er solle Said dazu überreden, das Geld anzunehmen. Er gab sich alle Mühe, und dabei kam es zu folgendem scherzhaften Disput. Said sagte: „Bruder, kauf mir mit dem Geld ein Gewehr!“ Abdullah antwortete: „Mit Sicherheit nicht.“ „Dann kauf mir eine Pistole!“ „Auf keinen Fall.“ Nun lächelte Said und bat: „Dann kauf mir eben ein Messer.“ Der ältere Bruder erwiderte sein Lächeln: „Nein, aber ich werde dir ein paar Trauben kaufen, damit wir das Thema zu einem süßen Abschluss bringen können.“ 7

Nachdem er eine Zeitlang in Nurşin gelebt hatte, ließ Said den Schulalltag hinter sich und kehrte an die Seite seines Vaters zurück. Er verbrachte die Zeit bis zum Frühling zu Hause, und während dieser Zeit hatte er einen Traum:

Der Jüngste Tag war angebrochen, und alle Geschöpfe des Universums waren wiederauferweckt worden. Said fragte sich, wie er wohl den Propheten Muhammed, Friede und Segen seien mit ihm, finden könnte. Da fiel ihm die Brücke Sirat ein.8 Er wusste, dass jeder Mensch diese Brücke überqueren musste, und so stellte er sich davor und wartete. All die großen Propheten schritten, einer nach dem anderen, an ihm vorüber. Und als schließlich der Prophet Muhammed kam, bat Said ihn, er möge ihn mit Wissen segnen. Der Gesandte Gottes überbrachte Said die frohe Kunde, dass ihm die Weisheit des Korans gewährt werde, jedoch unter einer Bedingung: Er dürfe der muslimischen Gemeinschaft (Umma) keine Fragen stellen. An dieser Stelle erwachte Said völlig aufgewühlt aus dem Schlaf.

Vom Glücksgefühl dieses Traums beseelt, entwickelte der junge Said einen unbändigen Wissensdrang. Mit der Erlaubnis seines Vaters reiste er nach Arvas in Van, um seine Ausbildung dort bei dem berühmten Lehrmeister Molla Mehmet Emin fortzusetzen. Dieser nahm sich selbst jedoch ein wenig zu ernst und hielt es nicht für nötig, seine Studenten selbst zu unterrichten. Stattdessen übertrug er diese Aufgabe jeweils einem seiner Studenten. Eines Tages sagte dieser angesehene Lehrer bei einer Predigt in der Moschee etwas offensichtlich Falsches. Da unterbrach Said ihn:

„Herr Lehrer, Sie irren!“ Er erinnerte Molla Mehmet Emin außerdem daran, dass er seine Unterrichtspflicht vernachlässigt habe, und verließ die Moschee. Nach diesem Vorfall brach er zur Medresse des geschätzten Mir Hasan Veli in der Region Bahçesaray, unweit von Van, auf. Allerdings erfuhr er schon bald, dass dort keine unteren Klassen unterrichtet und somit keine jungen Schüler aufgenommen wurden. Also zog er zunächst nach Vestan (in das heutige Gevaş) weiter, und von dort aus nach Bayezid in Erzurum.

Hier nun begann Saids eigentliche Ausbildung. Zwar hatte er sich bereits zuvor mit Sarf und Nahw (Grammatik und Syntax) der arabischen Sprache vertraut gemacht, war aber nur bis zu dem Buch Izhar vorgedrungen. In Bayezid absolvierte er unter der Anleitung von Scheich Muhammed Celali ein dreimonatiges außergewöhnliches Intensivstudium: Angefangen mit Molla Dschami, las er sich in sämtliche Bücher ein, die auf dem Lehrplan der traditionellen Medressen (religiöse Bildungseinrichtungen) standen. Bei jedem einzelnen konzentrierte er sich auf die wichtigsten ein oder zwei, höchstens aber auf zehn Lektionen. Seinem Lehrer Muhammed Celali gegenüber begründete Said diese Vorgehensweise folgendermaßen:

Ich bin nicht in der Lage, all diese vielen Bücher zu lesen und zu verstehen. Nichtsdestotrotz sind diese Bücher wie eine Schatztruhe, zu der Sie den Schlüssel besitzen. Bitte zeigen Sie mir, was sich in ihnen verbirgt. Ich möchte zunächst begreifen, warum diese Bücher so wichtig sind, um später dann zu denen, die ich benötige, zurückkehren zu können.

Schon hier traten sein Erfindungsreichtum und seine Fähigkeit, neue Wege zu beschreiten, deutlich zu Tage. Er lehnte es ab, die gängigen, traditionellen Kommentare und Interpretationen, die in der Medressen-Ausbildung gelehrt wurden, zu akzeptieren. Indem er seine eigenen Vorstellungen umsetzte, schaffte er es, sich innerhalb von nur drei Monaten das gesamte religiöse und wissenschaftliche Wissen anzueignen, für das die Studenten sonst 20 Jahre benötigten. Als sein Lehrer ihn einmal nach seiner Lieblingsdisziplin fragte, antwortete er: „Ich kann diese Wissensgebiete nicht voneinander trennen. Entweder ich beherrsche sie alle, oder ich beherrsche keines von ihnen.“

Er begann sich selbst zu unterrichten und zog sich dafür völlig aus dem Alltagsleben zurück. Um jeweils 200 Seiten aus Werken wie dem Dschem‘ el-Dschewāmi῾ oder aus Seyyid Scherīf el-Dschurdschānis Scherh el-Mawāqif oder von Ibn el-Hadschar zu lesen und zu durchdringen, genügten ihm 24 Stunden. Diese Beschäftigung mit der spirituellen Ebene des Seins setzte er so lange fort, bis er schließlich in der Lage war, jede Frage zu jedem Wissensgebiet aus dem Stegreif korrekt zu beantworten.9

Said blieb einen Winter lang in der Schule von Scheich Muhammed Celali und vervollständigte dort seine Arabischkenntnisse. Dann streifte er sich das schlichte Gewand eines armen Derwischs über und ging erneut auf Wanderschaft.

Er verlor das Interesse an Wissen und Bildung nicht, schlug aber neue Wege ein. Der philosophischen Schule der Ischraqiyyun (Erleuchtungsphilosophie von Schihābuddīn Suhrewerdi el-Maqtūl) folgend, standen für ihn fortan die mit der Ewigkeit verknüpften Themen im Vordergrund. Er aß nur noch das Nötigste und beschäftigte sich kaum noch mit weltlichen Dingen. Die Ischraqiyyun fasteten nach einem bestimmten System, das den Körper Schritt für Schritt daran gewöhnen sollte, mit immer weniger Nahrung auszukommen. Said gab sich damit jedoch nicht zufrieden; er stürzte sich geradezu in die Askese. Schnell wurde er immer dünner, weil er nur alle drei Tage einen Laib Brot verspeiste. Er verließ sich ganz auf das Grundprinzip der Ischraqiyyun – Enthaltsamkeit dient der Erweiterung der geistigen Fähigkeiten – und versuchte, sich ihre Praktiken anzueignen.

Er befolgte die Regel: „Halte dich fern von zweifelhaften Dingen!“, die der große Imam El-Ghazali in seinem Buch Die Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften formuliert hatte, verzichtete eine Zeitlang sogar auf Brot und ernährte sich ausschließlich von Wildkräutern. Außerdem sprach er nur wenig. Er verbrachte viele Nächte am Grab von Ahmet Hani Molla, das andere selbst bei Tage nicht aufzusuchen wagten. Und so sagten die Leute über ihn: „Er ist von Ahmed Hanis Spiritualität inspiriert.“ Zu jener Zeit war er erst 13 oder 14 Jahre alt.

Dann entschied er sich, nach Bagdad zu gehen, wo er einige namhafte Islamgelehrte zu treffen hoffte. Auf dem Weg dorthin machte er zwei Tage Station in Bitlis, wo er den Unterricht von Molla Mehmet Emin besuchte. Der Scheich empfahl ihm, das Derwischgewand abzulegen und es gegen eine Lehrerrobe einzutauschen. Said aber antwortete ihm: „Ich bin noch nicht einmal volljährig. Wie könnte ich mir da anmaßen, mich wie ein anerkannter Lehrer zu kleiden?“ Er war der Überzeugung, dass er in seinem Alter noch kein Lehrer sein konnte, also nahm er den Rat nicht an.

Danach führte ihn sein Weg nach Şirvan, in den Ort, in dem sein Bruder Abdullah lebte. Auf der Schulter trug er ein Fell und unter dem Arm das Gebetbuch Delā’il el-Khayrāt.

Sein Bruder war älter als er und genoss dort bereits hohes Ansehen. Das verleitete ihn dazu, Said zu unterschätzen. Er fragte ihn: „Seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, habe ich Qazwinis Scharh el-Schemsi gelesen. Was liest du gerade?“ Ich habe 80 Bücher gelesen.“ „Wie meinst du das?“ „Ich habe alle Bücher studiert, die in der Medressen-Ausbildung gelehrt werden, und viele andere mehr.“ Abdullah stutzte: „Was du nicht sagst! Darf ich dich auf die Probe stellen?“ Said antwortete: „Nur zu, ich bin bereit!“

Abdullah befragte seinen Bruder und konnte kaum glauben, welch gewaltigen Wissensschatz Said in der Zwischenzeit angehäuft hatte. Acht Monate zuvor war Said noch sein Schüler gewesen; nun nahm er ihn sich selbst zum Lehrer. Allerdings ließ er sich heimlich von ihm unterrichten, um sich vor seinen eigenen Studenten keine Blöße zu geben. Als seine Studenten irgendwann durchs Schlüsselloch schauten und Abdullah mit Said studieren sahen, wunderten sie sich. Abdullah aber wiegelte ab und sagte: „Ich erteile Said Privatunterricht, um den bösen Blick von ihm abzuwenden.“

Doch es vergingen nur wenige Tage, bis Said unter den Menschen im Ort eine gewisse Berühmtheit erlangt hatte. Wohin er auch kam, sagten sie: „Der gesegnete Khidr weilt unter uns; dieser Jugendliche ist ein heiliger Mann.“ Um sich ihren Schwärmereien zu entziehen, kleidete er sich bewusst traditionell: Er trug eine Jacke und Stiefel mit langem Schaft, dazu einen Dolch und eine Pistole.

Said Nursi erinnert sich an eine weitere Begebenheit aus diesen Tagen:

Mein älterer Bruder Abdullah war Schüler von Scheich Ziyaeddin aus Nurşin, einem frommen Menschen. In der Tradition der Sufis war es nichts Ungewöhnliches, wenn Studenten ihren Lehrer allzu sehr verehrten und eine allzu positive Meinung von ihnen hatten. Folglich sagte mein verstorbener Bruder: „Scheich Ziyaeddin ist auf allen Gebieten bewandert. Er weiß alles, was vor sich geht.“ Er schwärmte mir vor, wie bedeutsam und erhaben dieser Mann doch sei, weil er mich dazu bewegen wollte, dass ich mich ihnen anschließe. Ich entgegnete ihm: „Du übertreibst. Als ich ihn traf und mit ihm diskutierte, fehlten ihm an vielen Stellen die Argumente. Die Wahrheit ist, dass du ihn auf eine andere Art und Weise liebst, als ich ihn liebe. Du liebst den Ziyaeddin, den du dir zusammenfantasierst, der angeblich auf allen Wissensgebieten des Universums beheimatet ist. Du liebst und respektierst den Status, den du ihm zuweist. Wenn aber der Schleier, der diese Welt verhüllt, zerrisse und das Verborgene zum Vorschein käme, würde deine Liebe zu ihm sich in Luft auflösen oder zumindest auf einen Bruchteil zusammenschrumpfen. Ich hingegen liebe und schätze diesen frommen Menschen, weil er zum Kreise der Anhänger des Propheten zählt und weil er ein respektabler, erfolgreicher und glaubwürdiger Lehrer im Dienste der Wahrheit Gottes und der Menschen des Glaubens ist.“

b) Wie Said Nursi den Titel ‚Bediuzzaman‘ – Wunder des Zeitalters – erhielt

Said blieb eine Weile bei seinem Bruder Abdullah, dann stellte er sich in der Schule des Gelehrten Molla Fethullah Efendi in Siirt vor. Dieser sagte scherzhaft zu ihm: „Letztes Jahr hast du Suyutis Buch gelesen, dieses Jahr also das von Molla Dschami?“ „Ja“, antwortete Said, „aber ich habe es bereits ausgelesen.“ Da fragte ihn Molla Fethullah nach weiteren Büchern, aber bei jedem gab ihm Said dieselbe Antwort: „Das habe ich bereits ausgelesen.“ Molla Fethullah war verdutzt: „Offenbar hast du letztes Jahr wie besessen gearbeitet, bist du dieses Jahr noch genauso besessen?“ Said erwiderte: „Um seine eigene Haut zu retten, darf ein Mensch notfalls die Wahrheit vor anderen Menschen verbergen. Aber auf keinen Fall darf er einen Lehrmeister belügen, den er sogar mehr schätzt als einen Vater. Wenn Sie wünschen, werde ich Ihnen gern Fragen zu den Büchern beantworten, die Sie erwähnt haben.“ Molla Fethullah unterzog Said einer Prüfung, aber zu welchem Buch er ihn auch befragte, stets wusste Said die richtige Antwort. Da sagte Molla Fethullah: „Gut, du verfügst zweifellos über ein ausgezeichnetes Verständnis, aber bist du im Auswendiglernen genauso gut? Schaffst du es, mehrere Zeilen aus dem Maqamat el-Hariri aus dem Gedächtnis zu wiederholen, nachdem du sie zweimal so schnell durchgelesen hast?“ Er hielt ihm das Buch hin. Said nahm es, schlug eine Seite auf, überflog sie kurz und sagte sie dann Wort für Wort aus dem Gedächtnis auf. Molla Fethullah war geradezu überwältigt und räumte ein: „Ein Mensch mit einem so scharfen Verstand verfügt nur höchst selten auch über ein so gutes Gedächtnis!“ Als Molla Ali-i Suran, der ehemalige Lehrer von Molla Fethullah, von diesem Gespräch erfuhr, begann er selbst Unterricht bei Said zu nehmen.

Während seines Aufenthalts in der Medresse von Molla Fethullah lernte Said innerhalb von einer Woche das ganze Dschem‘ el-Dschewāmi῾ von Tadschuddines-Subki auswendig, und benötigte dafür lediglich ein bis zwei Stunden pro Tag. Molla Fethullah bestätigte dies auf dem Umschlag des Buches. Dort schrieb er: „Er (Said) lernte dieses ganze Buch binnen einer Woche auswendig.“ Diese Leistung sprach sich in Siirt herum, und Molla Fethullah benachrichtigte nun auch die anderen Gelehrten: „Zu mir in die Schule ist ein Student gekommen, der mir noch sehr jung erscheint. Er konnte alle meine Fragen, ohne zu zögern, beantworten. Ich staune, welch Weisheit und Wissen er bereits in diesem Alter besitzt!“10

Den Ehrentitel Bediuzzaman – Wunder des Zeitalters – verliehen ihm die Gelehrten von Siirt, als er erfolgreich eine Prüfung vor ihnen ablegte. 50 Jahre später schrieb er in einem Brief:

Mein wissbegieriger Bruder Refet fragt mich nach Amt und Werk von Bediuzzaman el-Hemedani aus dem 10. Jahrhundert. Ich weiß nur, dass dieser Mann einen makellosen Verstand und ein hervorragendes Gedächtnis besaß. Den gleichen Namen gab mir Molla Fethullah vor 50 Jahren, weil er mich mit jenem bedeutenden Mann verglich.

Fethullah Efendi aus Siirt war also der Erste, der Said Bediuzzaman nannte. Und damit endete Bediuzzamans dreimonatiges Studium in Bayezid.

c) Textbücher

Schon im Alter von 13 oder 14 Jahren hatte der junge Said eine der wichtigsten Leistungen seines Lebens vollbracht, indem er sich in den drei Wintermonaten den gesamten Lehrstoff der Medresse aneignete: inklusive Kommentaren und Erläuterungen über 100 Bücher, die normalerweise Jahre des Studiums erfordert hätten.11 Üblicherweise wurde damals von den Studenten noch verlangt, all diese Bücher der Reihe nach durchzuarbeiten – eines nach dem anderen, Wort für Wort, von vorne bis hinten. So benötigten sie 15 bis 20 Jahre, um allein die Bereiche Grammatik und Methodik abzudecken. Diese Art von Ausbildung wurde den Anforderungen der islamischen Welt natürlich in keiner Weise gerecht, und so war sie sowohl in materieller als auch in spiritueller Hinsicht hinter den anderen Zivilisationen zurückgefallen. Said hingegen hatte von seinem Lehrer lediglich erwartet, dass er ihm in wenigen Unterrichtsstunden die ‚Schlüssel‘ zu diesen Büchern und ihre Hauptinhalte präsentierte; den Rest meisterte er dann durch eigene Anstrengung. Diese Methode beschleunigte das Lernen und ermunterte die Studenten, Selbstvertrauen zu entwickeln – ein Ziel, das ja auch unsere modernen Bildungssysteme von heute verfolgen. Said Nursis Beitrag zur Reformierung und Erneuerung des Schulsystems kann kaum hoch genug eingeschätzt werden, zumal er zu jener Zeit ja noch ein Kind war. Sein ganzes Leben lang war das Streben nach Erneuerung ein zentrales Motiv seines Handelns, und hier manifestierte es sich zum ersten Mal in aller Deutlichkeit. Sein Wirken sollte in der Zukunft umfangreiche Veränderungen anstoßen, und diese eindrucksvolle Episode gab einen ersten Vorgeschmack darauf. Es war ihm bestimmt, den Weg in ein neues, leuchtendes Zeitalter zu ebnen.

In Siirt traten Said Nursis Talente und Leistungen also erstmals deutlich zu Tage. Doch gerade weil er damals noch so jung war, neideten ihm manche Gelehrte und Studenten sein Wissen, das ihres überstrahlte. Einige junge, unerfahrene Studenten waren von ihrer intellektuellen Unterlegenheit so frustriert, dass sie beschlossen, mit Gewalt gegen ihn vorzugehen. Als die Bewohner des Ortes davon hörten, liefen sie schnell zur Schule, befreiten ihn aus ihren Fängen und brachten ihn in einen Klassenraum. Said aber war alles andere als erfreut über ihre Einmischung. Er eilte unverzüglich wieder nach draußen und ermahnte sie, dies sei „eine Angelegenheit unter Gelehrten, die Unwissende selbst dann nichts angeht, wenn seine Gegner ihn töten sollten“.

Um dem Kampf ein Ende zu bereiten, forderte er einen seiner Widersacher auf: „Töte mich, aber bewahre dir zumindest die Würde des Wissens!“ Dann hielt er ihm die Wange hin. Diese Aufrichtigkeit und sein Respekt vor dem Wissen zeigten Wirkung: Die Gruppe trat den Rückzug an und ließ ihn in Ruhe.

Als der Gouverneur von Siirt später sogar Militärpolizisten entsandte, um Said zu schützen, und drohte, er werde alle Studenten, die an dieser Sache beteiligt waren, aus dem Ort ausweisen, schickte Said sie wieder zurück und glättete die Wogen mit folgenden Worten: „Wir sind Studenten. Manchmal streiten wir uns, aber dann vertragen wir uns wieder. Da sollte sich niemand von außen einmischen.“ Er versicherte den Polizisten, gut auf ihren Beistand verzichten zu können, überhaupt sei all dies sein Fehler gewesen. Also zogen sie wieder ab.

Nachdem Said Siirt wieder verlassen hatte, begab er sich erneut nach Şirvan in der Nähe von Bitlis. Und auch dort hatte er unter den Lehrern und Studenten neben zahlreichen Bewunderern einige Neider, die ihm in Diskussionen nicht das Wasser reichen konnten und deshalb mit aller Macht versuchten, seinem Ansehen zu schaden. Einmal versäumte Said das Morgengebet, und schon begannen sie, im Ort Gerüchte über ihn zu streuen. Sie behaupteten, er habe das Beten aufgegeben. Als man ihn fragte, was es mit dieser Behauptung auf sich hatte, antwortete er:

Ein Gerücht ohne jeden Wahrheitsgehalt hätte sich unter den Gelehrten nicht so leicht verbreiten lassen. Der Fehler liegt bei mir. Letzte Nacht habe ich es nicht geschafft, meine üblichen Gebete zu Ende zu bringen; und dafür werde ich heute öffentlich bestraft. In dem, was die Leute da behaupten, steckt ein Körnchen Wahrheit. Allerdings verstehen sie die wahren Beweggründe nicht und liegen daher falsch.

Von Şirvan ging Bediuzzaman nach Tillo, zurück ins Umland von Siirt, wo er sich in einen berühmten kleinen Kuppelschrein zurückzog, um das Qamus el-Uqyanus, ein mehrbändiges Arabisch-Wörterbuch, bis zum 14. Buchstaben des Alphabets (Sin) auswendig zu lernen. Auf die Frage, was ihn denn dazu bewege, ausgerechnet ein Wörterbuch zu memorieren, sagte er: „Das Qamus schreibt, wie viele Bedeutungen jedes Wort hat; ich hingegen möchte ein Wörterbuch schreiben, das zeigt, wie viele Wörter es für jede Bedeutung gibt.“ Sein jüngerer Bruder Mehmet brachte ihm Essen zu dem Schrein, und Said verteilte die Überreste davon an die Ameisen. Seine Begründung lautete: „Ich möchte ihnen helfen, indem ich sie für ihr prorepublikanisches Verhalten belohne; denn wie ich sehe, sind sie ihrer Gemeinschaft gegenüber loyal, teilen sich die Arbeit und haben Pflichtbewusstsein.“

Jugend

a) Reise nach Mardin

Said ging zu erst nach Cizre und von dort aus zu Fuß weiter nach Mardin, um dort zwei Studenten zu treffen: einen Anhänger von Dschemaluddin Afghani und ein Mitglied des Sunusi-Sufiordens, von denen er sich in die Gedankenwelt Afghanis bzw. des Sunusi-Ordens einführen ließ. In Mardin hatte er außerdem die Gelegenheit, sich mit einigen Sympathisanten der Freiheitsbewegung (Bewegung der parlamentarischen Monarchie) aus der Umgebung auszutauschen. Der Gouverneur von Mardin, Nadir Bey, verübelte ihm sein forsches, beherztes Auftreten allerdings. Er verbannte ihn aus der Stadt, ließ ihm Handschellen anlegen und erteilte zwei Soldaten den Befehl, ihn nach Bitlis zu begleiten.

Unterwegs bat Said die Soldaten, ihm für das Gebet die Handschellen abzunehmen. Als sie ihm diese Bitte abschlugen, öffnete er die Handschellen kurzerhand selbst, ganz als wären sie überhaupt nicht verriegelt. Dies geschah direkt vor den Augen der Soldaten, die es kaum glauben konnten und derart beeindruckt waren, dass sie sich bei ihm entschuldigten und gelobten: „Bis jetzt waren wir deine Wachen, von nun an wollen wir deine Diener sein!“ Als man Said Nursi später an diesen Vorfall erinnerte, kommentierte er ihn so: „Ich weiß es selbst nicht genau, aber ich denke, dass mir dieser Segen um des Gebetes willen zuteilwurde.“

Während seiner Zeit in Bitlis erfuhr er, dass einige Regierungsbeamte mit dem Gouverneur Ömer Pascha Alkohol zu trinken pflegten. Also platzte er in die Trinkrunde und stellte den Gouverneur zur Rede: „Bei einem Mann wie Ihnen, der vorgibt, die fromme Stadt Bitlis zu repräsentieren, kann ich so etwas unmöglich akzeptieren!“ Er zitierte einen Hadith des Propheten über die Übel des Alkohols, und mit der Hand am dem Halfter seiner Pistole tadelte er die Versammelten in schroffem Ton. Der Gouverneur, ein außergewöhnlich reifer und patriotischer Mann, ließ ihn gewähren und schwieg zunächst zu den Vorwürfen. Als Said sich verabschiedete, sagte der Gehilfe des Gouverneurs zu ihm: