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Jack Ryans schwerste Stunde
Bei einem Flugzeugangriff auf das Kapitol kommt der amerikanische Präsident ums Leben. Spezialagent Jack Ryan, vor Kurzem zum Vizepräsidenten ernannt, muss von einem Tag auf den anderen die Amtsgeschäfte übernehmen. Derweil nutzen Amerikas Feinde ihre Chance: China und Taiwan stehen kurz vor einem Krieg, und der Iran plant, amerikanische Großstädte mit einem tödlichen Virus zu verseuchen …
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Seitenzahl: 2065
TOM CLANCY
BEFEHL VON OBEN
Thriller
Aus dem Amerikanischenvon Ulli Benedikt, Götz Burghardt und »The Doc«
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
DAS BUCH
Die Vereinigten Staaten von Amerika sind von einer politischen Katastrophe ungeahnten Ausmaßes getroffen worden: Eine japanische Boeing 747 hat das Weiße Haus zerstört. Alles, was in der amerikanischen Politik Rang und Namen hatte, ist tot: der Präsident und die First Lady, die Mitglieder des Obersten Gerichtshofes und fast alle Senatoren und Abgeordneten.
Der Sicherheitsmann Jack Ryan, der kurz zuvor zum Vizepräsidenten befördert wurde, steht vor einer prekären politischen Situation. Sein Vorgänger, der über einen Sexskandal gestolpert ist, und die Presse greifen ihn an. Außenpolitisch ist die Lage von allerhöchster Brisanz. China und Taiwan sind in eine militärische Auseinandersetzung verwickelt. Der Iran will, nachdem die USA offenbar schwer angeschlagen sind, die Weltherrschaft übernehmen. Dazu ist ihm jedes Mittel recht. Der Ayatollah Daryaei plant einige der bedeutendsten amerikanischen Städte dadurch zu vernichten, dass er ihre Bevölkerung mit dem durch die Luft übertragbaren Ebola-Virus infiziert. Jack Ryan muss seine ganze Erfahrung und Klugheit einsetzen, um der Lage Herr zu werden.
DER AUTOR
Tom Clancy, geboren 1947, hatte mit seinem ersten Thriller Jagd auf Roter Oktober auf Anhieb internationalen Erfolg. Clancy gilt als Begründer des modernen Techno-Thrillers und zählt neben John Grisham zu den erfolgreichsten amerikanischen Spannungsautoren. Aufgrund seiner gut recherchierten, überaus realistischen Szenarien wurde der Autor nach den Anschlägen vom 11. September von der amerikanischen Regierung als spezieller Berater hinzugezogen. Bei Heyne erscheinen Tom Clancys große Thriller aus dem Universum um den Spezialagenten Jack Ryan.
Am Ende des Buches finden Sie ein ausführliches Werkverzeichnis aller im Wilhelm Heyne Verlag lieferbaren Tom-Clancy-Thriller.
Die OriginalausgabeEXECUTIVE ORDERS
erschien bei G.P.Putnam’s Sons, New York
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Copyright © 1996 der Originalausgabe by Jack Ryan Ltd. Partnership Copyright © 1997 der deutschsprachigen Ausgabe by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg Copyright © dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Covergestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von © Shutterstock/Roufus
ISBN 978-3-641-08906-1 V009
Für Ronald Wilson Reagan, vierzigster Präsident der Vereinigten Staaten: der Mann, der den Krieg gewann
In der Originalausgabe von »Without Remorse« (deutsch: Gnadenlos) zitierte ich ein Gedicht, auf das ich zufällig gestoßen war, dessen Titel und Verfasser ich aber nicht ermitteln konnte. In ihm war mir das perfekte Andenken an meinen »kleinen Kumpel« Kyle Haydock begegnet, der im Alter von acht Jahren und sechsundzwanzig Tagen an Krebs gestorben ist. – Für mich wird er nie wirklich fortgegangen sein.
Später erfuhr ich, daß dieses Gedicht »Ascension« (deutsch: Himmelfahrt) heißt und die Verfasserin der prächtigen Worte Colleen Hitchcock, eine selten talentierte Dichterin, die in Minnesota lebt. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, ihr Werk allen anzuempfehlen, die sich mit Lyrik befassen. So wie ihre Worte meine Aufmerksamkeit in Bann geschlagen und mich aufgewühlt haben, hoffe ich, daß sie bei anderen die gleiche Wirkung erzielen.
Himmelfahrt
Und sollt ich gehn,solange du noch hier …So wisse, daß ich weiterlebe,nur tanz ich dann zu einer andren Weise– und hinter einem Schleier, der mich dir verbirgt.Sehen wirst du mich nicht,jedoch, hab nur Vertraun.Ich warte auf die Zeit, da wir gemeinsam neue Höhn erklimmen– einer des anderen wahrhaftig.Bis dorthin leere du den Becher deines Lebensbis zur Neige, und wenn du mich einst brauchst,laß nur dein Herz mich leise rufen … ich werde da sein.
© 1989 Colleen Corah Hitchcock Spirit Art International, Inc. P.O. Box 39082 Edina, Minnesota 55439 USA
Ich bete zum Himmel, daß er den besten aller Segen herabsenden möge auf dieses Haus und auf alle, die es fürderhin bewohnen. Mögen stets nur ehrliche und weise Männer unter diesem Dach regieren.
John Adams, zweiter Präsident der Vereinigten Staaten, Brief an Abigail, 2. November 1800 anläßlich seines Einzuges ins White House
Danksagung
Wieder habe ich viel Hilfe benötigt: Peggy, für manche wertvolle Einsicht; Mike, Dave, John, Janet, Curt und Pat vom Johns Hopkins Hospital; Fred und seinen Kameraden vom USSS; Pat, Darrell und Bill, allesamt Wiederholungstäter beim FBI; Fred und Sam, Männer, die der Uniform mit ihrem Dienst Ehre erwiesen; H. R., Joe, Dan und Doug, die es noch tun. Amerika gibt es durch Leute wie sie.
Es lag wohl am momentanen Schock, dachte Ryan. Er kam sich vor wie zwei Personen zugleich. Ein Teil von ihm sah aus dem Kantinenfenster des Washingtoner CNN-Büros aufs Fanal, das aus den Trümmern des Capitol emporwuchs – aus orangefarbenem Glühen sprangen gelbe Punkte hervor: wie eine Art grausames Blumenarrangement. Über tausend Leben verkörperten sie, ausgelöscht vor kaum einer Stunde. Benommenheit hielt die Trauer zurück, doch er wußte, sie würde kommen, wie dem Schlag ins Gesicht stets der Schmerz folgt. Wieder einmal hatte der Tod die Hand nach ihm ausgestreckt. Er hatte ihn kommen, innehalten und sich wieder zurückziehen sehen; und das einzig Gute daran war, daß seine Kinder nicht ahnten, wie nah sie einem vorzeitigen Ende gewesen waren. Für sie war das Ganze einfach ein Unglück gewesen, das sie nicht begriffen. Jetzt waren sie bei ihrer Mutter und fühlten sich in deren Obhut sicher, während ihr Vater hier war. Das war leider eine Situation, in die sowohl sie als auch er sich längst hatten fügen müssen. Und so starrte John Patrick Ryan auf die Hinterlassenschaft des Todes, und der eine Teil von ihm fühlte noch immer nichts.
Der andere Teil von ihm sah dasselbe und wußte, daß er etwas tun mußte, und wenn er sich auch die größte Mühe gab, logisch zu denken, gewann Logik nicht die Oberhand, denn sie wußte nicht, was zu tun war oder wo man anfangen sollte.
»Mr. President.« Die Stimme von Special Agent Andrea Price.
»Ja?« erwiderte Ryan, ohne sich vom Fenster abzuwenden. Hinter ihm – er konnte ihre Spiegelung in der Fensterscheibe sehen – standen sechs weitere Agenten vom Secret Service mit den Waffen in der Hand, um andere fernzuhalten. Bestimmt zwanzig CNN-Angestellte waren vor der Tür versammelt, teils aus beruflichem – immerhin waren sie Journalisten – Interesse, hauptsächlich aber aus rein menschlicher Neugier angesichts eines historischen Augenblicks. Sie fragten sich, wie es wäre, hier zu stehen, und erkannten nicht, daß solche Ereignisse für jeden dasselbe sind. Ob mit einem Autounfall konfrontiert oder mit einer plötzlichen schlimmen Krankheit: Unvorbereitet setzt der menschliche Verstand einfach aus und versucht, dem Sinnlosen einen Sinn abzuringen – und je ernster die Prüfung, desto schwieriger die Erholungsphase. Aber Leute, die für Krisensituationen trainiert hatten, hatten wenigstens eingeübte Vorgangsweisen als Rückhalt.
»Sir, wir müssen Sie dahin bringen, wo Sie in …«
»Wohin? In Sicherheit? Wo wäre denn das?« fuhr Jack dazwischen. Dann warf er sich im stillen die Grobheit seiner Frage vor. Mindestens zwanzig Agenten waren Teil des Scheiterhaufens eine Meile vor ihnen, allesamt Freunde der Männer und Frauen, die hier in der CNN-Kantine bei ihrem neuen Präsidenten standen. Er hatte nicht das Recht, sein Unbehagen auf sie zu übertragen. »Meine Familie?« erkundigte er sich nach einer Weile.
»In der Marines-Kaserne, Ecke Eighth und First Street, wie Sie befohlen haben, Sir.«
Ja, für sie war es gut, berichten zu können, daß sie Befehle ausgeführt hatten, gestand sich Ryan langsam nickend ein. Und für ihn war es auch gut zu wissen, daß seine Anweisungen ausgeführt wurden. Eine Sache hatte er nun schon mal richtig gemacht. War das etwas, auf dem man aufbauen konnte?
»Sir, wenn das Teil eines organisierten …«
»War es nicht. Das ist es nie, Andrea, nicht wahr?« fragte Präsident Ryan. Es überraschte ihn, wie müde seine Stimme klang, und er erinnerte sich, daß Schock und Streß einen mehr auslaugten als größte körperliche Anstrengung. Es schien ihm sogar die Energie zu fehlen, den Kopf zu schütteln und dadurch wieder klar zu bekommen.
»Es könnte aber sein«, gab Special Agent Price zu bedenken.
Ja, vermutlich hat sie recht. »Also, wie ist hier zu verfahren?«
»Kneecap«, erwiderte Price und meinte damit NEACP, die fliegende Kommandozentrale für den nationalen Notstand, eine umgebaute 747, die auf Andrews Air Force Base stationiert war. Einen Augenblick dachte Jack über den Vorschlag nach und runzelte dann die Stirn.
»Nein, ich kann nicht weglaufen. Ich glaube, ich muß dorthin zurück.« Präsident Ryan zeigte zur Glut. Ja, dort gehöre ich hin, nicht wahr?
»Nein, Sir, das wäre zu gefährlich.«
»Dort ist mein Platz, Andrea!«
Er denkt auch schon wie ein Politiker, dachte Price enttäuscht.
Ryan sah ihren Ausdruck und wußte, daß er dies erläutern mußte. Er hatte einmal etwas gelernt, vielleicht das einzig Passende in diesem Moment, und es kam ihm jetzt so klar in den Sinn wie eine blinkende Warntafel an der Autobahn. »Es ist die Führungsrolle. Das hat man mir in Quantico beigebracht. Die Truppe muß sehen, daß man seinen Job tut. Sie müssen Gewißheit haben, daß man für sie da ist.« Und ich muß mich vergewissern, daß das alles Wirklichkeit ist, daß ich tatsächlich der Präsident bin.
War er es?
Der Secret Service hielt ihn dafür. Ryan hatte den Amtseid geleistet, die Worte gesprochen, Gott angerufen, seine Mühen zu segnen; doch war all das zu bald und zu schnell geschehen. Nicht zum erstenmal in seinem Leben schloß John Patrick Ryan die Augen und wollte sich zwingen, aus einem Traum zu erwachen, der zu unwahrscheinlich war, um wahr zu sein; und doch, als er die Augen wieder öffnete, war das orangefarbene Glühen noch da und die auflodernden gelben Flammen. Er wußte, er hatte die Eidesformel gesprochen – sogar eine kleine Ansprache hatte er gehalten. Doch an kein einziges Wort konnte er sich jetzt noch erinnern.
Machen wir uns an die Arbeit, hatte er eine Minute zuvor gesagt. Daran erinnerte er sich doch noch. Eine automatische Äußerung – ob sie überhaupt etwas bedeutete?
Jack Ryan schüttelte den Kopf – allein das bedurfte gewaltiger Anstrengung dann wandte er sich vom Fenster ab und sah die Agenten im Raum direkt an.
»Okay. Was ist noch übrig?«
»Die Minister für Handel und für Inneres«, antwortete Special Agent Price, die gerade über Funk den neuesten Stand erfahren hatte. »Handel ist in San Francisco. Inneres in New Mexico. Sie sind bereits benachrichtigt worden; die Air Force wird sie herbringen. Alle anderen Minister haben wir verloren, Direktor Shaw, alle neun Richter vom Supreme Court, die Vereinigten Stabschefs. Wir wissen nicht genau, wie viele Kongreßmitglieder abwesend waren, als es geschah.«
»Mrs. Durling?«
Price schüttelte den Kopf. »Sie hat’s nicht geschafft, Sir. Die Kinder sind im White House.«
Jack nickte nur und preßte die Lippen zusammen beim Gedanken an etwas, das er höchstpersönlich erledigen mußte. Für die Kinder von Roger und Anne Durling war es kein öffentliches Ereignis. Für sie war die Sache unmittelbar und auf tragische Art einfach: Mom und Dad waren tot, und sie waren jetzt Waisen. Jack war ihnen begegnet, hatte mit ihnen gesprochen – zwar nicht mehr als das übliche Lächeln und ein »Hallo«, aber sie waren echte Kinder mit Gesichtern und Namen –, nur, daß jetzt ihr Familienname alles war, was ihnen blieb, und ihre Gesichter würden vor Schock und Unglauben verzerrt sein. Wie Jack würden sie versuchen, den nicht verscheuchbaren Alptraum wegzublinzeln, und für sie würden Jugend und Verletzlichkeit alles schlimmer machen. »Wissen sie es?«
»Ja, Mr. President«, sagte Andrea. »Sie schauten gerade fern, und die Agenten mußten es ihnen sagen. Sie haben noch Großeltern und andere Verwandte. Die lassen wir ebenfalls herbringen.« Sie fügte nicht hinzu, daß der Drill hierfür klar war, daß es in der Leitzentrale des Secret Service, nur ein paar Blocks westlich vom White House, einen ganz speziellen Aktentresor mit verschlossenen Umschlägen gab, in denen sich Operativpläne für alle möglichen Eventualitäten und obszönen Krisen befanden; das hier war nur eine davon.
Doch es waren jetzt Hunderte, nein, Tausende von Kindern ihrer Eltern beraubt. Jack mußte die Gedanken an die Durling-Kinder zurückstellen. So schwer ihm das fiel, war es auch erleichternd, sich dieser Aufgabe zu entziehen – für den Augenblick. Wiederum sah er Agent Price an.
»Sie sagen, daß ich gegenwärtig die gesamte Regierung darstelle?«
»Genau den Anschein hat es, Mr. President. Deshalb müssen wir …«
»Deshalb muß ich die Dinge tun, die ich zu tun habe!« Jack wandte sich zur Tür, schreckte damit die Secret-Service-Agenten auf und versetzte sie in Aktion. Auf dem Flur gab es Kameras. An denen schritt Ryan einfach vorüber, hinter der Vorhut aus zwei Agenten, die einen Weg durch die Herde bahnten – Nachrichtenleute, die so geschockt waren, daß sie gerade mal ihre Kameras in Gang setzen konnten. Keine einzige Frage. Das, dachte Jack ohne Lächeln, war wohl einzigartig. Ihm kam gar nicht in den Sinn, wie wohl sein Gesicht aussehen mochte. Ein Fahrstuhl stand bereit, und dreißig Sekunden später tauchte er in der geräumigen Vorhalle auf. Sie war von Menschen geräumt worden, außer natürlich von Agenten, von denen die Hälfte Maschinenpistolen trug, die Läufe zur Decke gerichtet. Dann erblickte er die Marines, die draußen standen, die meisten in unvollständiger Uniform. Einige bibberten in ihren roten T-Shirts über tarnfarbenen ›Mehrzweck‹-Hosen.
»Wir wollten zusätzliche Sicherheit«, erklärte Price. »Ich habe die Kaserne um Unterstützung gebeten.«
»Yeah.« Ryan nickte. Niemand würde es unziemlich finden, daß der Präsident der Vereinigten Staaten in einer solchen Zeit von Marineinfanteristen umgeben war. Sie waren fast Kinder, die meisten von ihnen. Ihre glatten, jungen Gesichter ließen nicht die geringste Regung erkennen – ein gefährlicher Zustand für bewaffnete Leute. Wie Wachhunde hatten sie den Parkplatz ständig im Blick, und ihre Gewehre hielten sie fest umklammert. Als Ryan hinaustrat, nahmen sie Haltung an und salutierten. Also halten auch sie es für wirklich. Den Gruß erwidernd, nickte Ryan und winkte dann den nächststehenden Wagen heran, einen HMMWV.
»Capitol Hill«, befahl Präsident John Patrick Ryan knapp.
Die Fahrt ging schneller, als er erwartet hatte. Die Polizei hatte alle Hauptstraßen gesperrt, und die Feuerwehrautos waren bereits da. Vermutlich war allgemeiner Alarm ausgegeben worden, was auch immer das brachte. Der Suburban des Secret Service – die Kreuzung von einem Kombi mit einem Kleinlaster – fuhr mit Blaulicht und heulender Sirene voraus, während die Schutztruppe schwitzte und vermutlich heimlich fluchte ob der Dummheit von ihrem neuen »Boß« – interne Bezeichnung für den Präsidenten.
Das Heck der 747 war noch bemerkenswert intakt – zumindest das Seitenruder war noch als solches zu erkennen, wie die Befiederung eines Pfeiles, der tief in der Seite eines getöteten Tieres steckte. Das überraschende für Ryan war, daß das Feuer immer noch brannte. Das Capitol war ein Gebäude aus Stein gewesen, doch innen gab es Schreibtische aus Holz, Unmengen von Papier, und Gott allein wußte, was sonst noch, das der Hitze und dem Sauerstoff anheimfiel. In der Luft kreisten Militärhubschrauber, umschwirrten die Szene wie Motten; ihre Rotoren reflektierten das orangefarbene Licht zum Boden zurück. Rotweiße Fahrzeuge der Feuerwehr waren überall, ihre Lichter blinkten auch rot und weiß und verliehen dem aufsteigenden Qualm und Dampf zusätzliche Farbe. Feuerwehrleute hetzten umher, und auf dem Boden schlängelte sich zu jedem Hydranten der Umgebung ein Gewirr aus Schläuchen, die den Pumpfahrzeugen Wasser zuführten. Viele Schlauchkupplungen waren nicht ganz dicht, so daß Wasser herausspritzte und schnell in der kalten Nachtluft gefror.
Der Südflügel des Capitol war verwüstet. Die Stufen waren noch erkennbar, aber Säulen und Dach waren weg, und der Plenarsaal selbst war ein Krater, verborgen hinter dem rechteckigen Rand aus Steinen, deren weiße Farbe verbrannt und rußgeschwärzt war. Im Norden war die Kuppel eingefallen; sie war während des Bürgerkrieges aus Schmiedeeisen errichtet worden, und einige der tortenstückähnlichen Abschnitte hatten sich irgendwie ihre Form bewahrt. Die Feuerbekämpfungsmaßnahmen richteten sich vor allem hierhin, wo das Zentrum des Gebäudes gewesen war. Aus zahllosen Wasserkanonen, manche am Boden, andere auf Schiebeleitern oder Hebebühnen, wurde Wasser gespritzt, in der Hoffnung, ein weiteres Ausbreiten des Feuers zu verhindern.
Doch das wirkliche Drama der Szenerie brachten die zahlreichen Krankenwagen zum Ausdruck, die Rettungsmannschaften zu bitterer Untätigkeit verdammt. Bei leeren Tragbahren standen sie da und konnten nichts tun, als auf die weiße Seitenflosse zu starren mit dem von Feuer geschwärzten, aber noch deutlich erkennbaren roten Kranich. Japan Air Lines. Der Krieg mit Japan war doch beendet, glaubte jeder. War das hier ein einzelner, letzter Akt von Widerstand oder Rache? Oder nur ein abscheulich ironischer Unfall? Auf Jack wirkte die Szenerie wie ein Autounfall, wenn auch in viel, viel größeren Dimensionen, und für die Männer und Frauen der Notdienste war es dieselbe Geschichte wie so oft – sie kamen zu spät. Zu spät, um das Feuer rechtzeitig zu löschen. Zu spät, um Leben zu retten, wie sie es geschworen hatten. Zu spät, um überhaupt etwas ausrichten zu können.
Der HMMWV fuhr dicht an die südöstliche Ecke des Gebäudes heran und hielt unmittelbar vor den vielen Feuerwehrautos, und noch ehe Ryan überhaupt aussteigen konnte, war er wieder von einem Trupp Marines umgeben. Einer von ihnen, der Captain, öffnete dem neuen Präsidenten die Tür.
»Also, wer hat hier das Kommando?« fragte Jack Agent Price. Zum erstenmal bemerkte er jetzt, wie bitter kalt die Nachtluft war.
»Ich nehme an, einer von den Feuerwehrleuten.«
»Suchen wir ihn.« Jack ging auf die Löschfahrzeuge zu. In seinem leichten Anzug fing er bereits an zu frösteln. Die Kommandeure waren gewiß die mit den weißen Helmen, richtig? Und mit normalen Wagen, fiel ihm aus seiner Jugend ein. Kommandeure fuhren nicht auf Löschfahrzeugen mit. Er erspähte drei rotlackierte Pkws und machte sich auf den Weg dorthin.
»Verdammt, Mr. President!« Andrea Price schrie ihn fast an. Andere Agenten rannten, um ihn zu überholen, und die Marines waren sich nicht einig, ob sie die Gruppe anführen oder ihr folgen sollten. Für einen solchen Fall stand nichts in den Handbüchern, und was für Vorschriften der Secret Service auch hatte – ihr Boß hob gerade deren Gültigkeit auf. Dann hatte einer von ihnen eine Idee, sprintete zum nächststehenden Drehleiterfahrzeug und kam mit einem wasserfesten Schutzmantel zurück.
»Das wird Sie warm halten, Sir«, versprach Special Agent Raman, half Ryan hinein und verwandelte ihn damit zu einem von Hunderten umherlaufender Feuerwehrleute. Special Agent Price nickte ihm billigend zu. Dies war der erste fast witzige Augenblick, seitdem die 747 zum Capitol gelangt war. Um so besser, wenn Präsident Ryan den wahren Grund für die schwere Montur nicht mitbekam, dachte sie. Dieser Moment würde der Leibwache in Erinnerung bleiben als Beginn des Wettkampfs um Weisungsbefugnis: Spielstand jetzt Secret Service 1, Präsident der Vereinigten Staaten o; allgemein ein Wettrennen zwischen Ego und Fingerspitzengefühl.
Der erste Kommandeur, den Ryan fand, sprach gerade ins Sprechfunkgerät, im Bemühen seine Leute dichter an die Flammen heranzudirigieren. Unmittelbar neben ihm hielt jemand in Zivil einen großen Bogen Papier auf einer Motorhaube ausgerollt. Vermutlich ein Gebäudeplan, dachte sich Jack. Ein paar Schritte entfernt, wartete er, während die beiden mit den Händen über die Pläne fuhren und der Kommandeur im Staccato Instruktionen ins Funkgerät sprach.
»Und gebt mir um Gottes willen auf all die losen Steine acht!« schloß Chief Paul Magill sein letztes Kommando. Dann drehte er sich um und rieb sich die Augen. »Wer zum Teufel sind denn Sie?«
»Das ist der Präsident«, setzte ihn Price in Kenntnis.
Magill blinzelte, warf einen Blick auf die Schar Bewaffneter und sah dann wieder Ryan an. »Dies hier ist verflucht schlimm«, sagte er schließlich.
»Hat es irgend jemand herausgeschafft?«
Magill schüttelte den Kopf. »Nicht auf dieser Seite. Drei auf der anderen Seite, alle drei übel zugerichtet. Wir vermuten, daß sie im Vorzimmer des Speaker oder da in der Nähe waren und daß die Explosion sie durchs Fenster gepustet hat. Zwei Pagen und ein Mann vom Secret Service, schlimme Verbrennungen und Knochenbrüche. Wir suchen schon, das heißt, wir versuchen’s. Aber bisher – wer nicht gebraten wurde, dem hat’s den Sauerstoff weggesaugt, und an Asphyxie stirbt man genauso.« Paul Magill war von Ryans Größe, aber schwarz und ein ziemlicher Schrank. Auf seinen Händen zeugten große, blasse Flächen von einem recht intimen Kampf mit dem Feuer, irgendwann in seiner beruflichen Vergangenheit. Jetzt ließ sein markantes Gesicht nur Traurigkeit erkennen, denn Feuer war kein Feind des Menschen, nur etwas Unbeseeltes, das die Glücklicheren fürs Leben zeichnete und die übrigen umbrachte. »Vielleicht haben wir noch Glück. Leute in kleinen Zimmern, Türen verschlossen und so, Sir. Verdammt, da gibt’s ’ne Million Zimmer da drin nach diesen Plänen hier. Wenigstens ein paar Leute müßten wir da doch lebend herausholen können. Ich hab’ so was schon mal erlebt. Aber die meisten von ihnen …« Magill schüttelte kurz den Kopf. »Im Moment haben wir’s Feuer unter Kontrolle, es wird sich wohl nicht mehr ausbreiten.«
»Niemand aus dem Plenarsaal?« fragte Agent Raman. In Wirklichkeit hätte er gerne den Namen des Agenten erfahren, den es nach draußen geschleudert hatte, doch es wäre unprofessionell gewesen, direkt danach zu fragen. Magill verneinte ohnehin.
»Nein«, sagte er, in das nachlassende Glühen starrend, und fügte hinzu: »Es muß wirklich schnell gegangen sein.« Dann schüttelte Magill noch einmal den Kopf.
»Ich will es sehen«, verlangte Jack spontan.
»Nein«, lehnte Magill auf der Stelle ab. »Ist zu gefährlich. Sir, dies ist mein Feuer und mein Kommando, okay?«
»Ich muß es mir ansehen«, wiederholte Ryan, nun ruhiger. Ihre Blicke begegneten sich, und die beiden Augenpaare tauschten sich aus. Magill war es noch immer nicht recht. Dann fiel sein Blick wieder auf die Bewaffneten, und er kam zum irrigen Schluß, daß sie diesen neuen Präsidenten unterstützen würden, wenn er das tatsächlich war. Magill hatte nicht ferngesehen, als der Alarm einging.
»Hübsch wird’s nicht sein, Sir.«
Auf Hawaii war die Sonne gerade untergegangen. Konteradmiral Robert Jackson landete auf dem Marineflugplatz Barber’s Point. Aus dem Augenwinkel nahm er am südöstlichen Strand der Insel Oahu die hellerleuchteten Hotels wahr; da ging ihm die Frage durch den Kopf, was es wohl jetzt kosten würde, in einem von ihnen abzusteigen. Das hatte er nicht mehr getan, seit er Anfang Zwanzig gewesen war, als er mit drei anderen Marinefliegern zusammenhauste, um Geld zu sparen und damit lieber in den Bars auf den Putz zu hauen oder die einheimischen Frauen zu beeindrucken. Seine Tomcat setzte sanft auf, trotz des langen Fluges und des dreimaligen Auftankens in der Luft, denn Robby hielt sich immer noch für einen Jagdflieger und somit für eine Art Künstler. Auf der Landebahn bremste er sauber sein Flugzeug und bog nach rechts auf die Rollbahn ab.
»Tomcat fünf-null-null, rollen Sie langsam bis zum Ende …«
»Ich bin schon mal hiergewesen, Miß«, erwiderte Jackson mit einem Lächeln und gegen die Vorschriften. Immerhin war er Admiral. Jagdflieger und Admiral. Wer scherte sich da um Vorschriften?
»Fünf-null-null, auf Sie wartet ein Wagen.«
»Danke!« Robby konnte ihn sehen, dort beim hintersten Hangar.
»Nicht schlecht für einen alten Knacker«, sagte sein Hintermann, während er die Karten und die anderen unnötigen, doch äußerst wichtigen Papiere zusammenfaltete.
»Ihre Anerkennung wird registriert.« Ich bin noch nie so steif gewesen, gestand Jackson sich ein. Er stemmte sich ein wenig vom Sitz hoch. Sein Hintern war völlig taub. Wie konnte nur alles Gefühl weg sein, der Schmerz aber immer noch da? fragte er sich mit einem reuigen Lächeln. Zu alt, waren die Worte, mit denen sein Verstand die Frage beantwortete. Dann meldete sich sein Bein wieder. Arthritis, verdammt noch mal! Er hatte befehlen müssen, daß ihm Sanchez den Jäger überließ. Es wäre viel zu weit gewesen, ihn per COD von der USS John C. Stennis nach Pearl zurückzuholen, und seine Order war ja klar und deutlich genug gewesen: unverzügliche Rückkehr. Aufgrund dessen hatte er sich eine Tom ausgeliehen, deren Feuerleitsystem nicht funktionierte und die darum ohnehin nicht zum Einsatz kam. Die Air Force hatte die Tankflugzeuge zur Verfügung gestellt. Und so war er in sieben Stunden gesegneter Stille mit einem Jagdflugzeug über den halben Pazifik geflogen – zweifellos zum letztenmal. Jackson hob sich noch mal vom Sitz hoch, als er den Jäger zum Stellplatz lenkte, und wurde mit einem Rückenkrampf belohnt.
»Ist das CINCPAC?« fragte Jackson, als er die weißgekleidete Gestalt am blauen Navy-Wagen erblickte.
Admiral David Seaton war es, und er stand nicht aufrecht, sondern lehnte am Auto und blätterte Meldungen durch, während Robby die Triebwerke abschaltete und die Kuppel öffnete. Ein Matrose rollte eine Trittleiter heran, um Robby den Ausstieg zu erleichtern. Ein anderer Soldat – genauer, eine Soldatin – zog die Tasche des ankommenden Admirals aus dem Gepäckfach unter der Kanzel. Jemand hatte es eilig.
»Gibt Ärger«, sagte Seaton in dem Augenblick, in dem Robby beide Füße auf dem Boden hatte.
»Ich dachte, wir hätten gewonnen«, erwiderte Jackson und blieb auf der Stelle stehen, auf dem heißen Beton. Auch sein Hirn war müde. Es würde schon ein paar Minuten dauern, bis sein Denken wieder im gewohnten Tempo ablief, doch sein Instinkt sagte ihm bereits, daß etwas Ungewöhnliches im Gange sein mußte.
»Der Präsident ist tot – und wir haben einen neuen.« Seaton übergab das Klemmbrett. »Freund von dir. Augenblicklich haben wir wieder DEF-CON III.«
»Was zum Teufel …«, sagte Admiral Jackson, als er die erste Seite der Berichte las. Dann sah er auf. »Jack ist der neue …?«
»Hast du denn nicht gewußt, daß er Vize geworden war?«
Jackson schüttelte den Kopf. »Ich war mit anderen Dingen sehr beschäftigt, bevor ich heute morgen gestartet bin. Gott im Himmel!« schloß Robby mit einem weiteren Kopfschütteln.
Seaton nickte. Ed Kealty war wegen dieses Sexskandals zurückgetreten, der Präsident überredete Ryan, die Vizepräsidentschaft zu übernehmen, bis zu den Wahlen im nächsten Jahr, der Kongreß bestätigte ihn, doch bevor er zur Annahmezeremonie eintreten konnte – man sieht ja, was passiert ist. Ein Flugzeug, mitten hinein. »Die ganzen JCS sind hin. Die Stellvertreter rücken nach. Mickey Moore« – Army General Michael Moore, stellvertretender Chef des Generalstabs – »hat alle Oberkommandierenden aufgefordert, nach Washington zu kommen, und zwar so schnell wie möglich. Eine KC – 10 erwartet uns auf Hickam AFB.«
»Akutbedrohung?« wollte Jackson wissen. Seine permanente Stellung – soweit irgendeine Stellung für Uniformierte permanent war – war Deputy J-3, was bedeutete: Planungsoffizier Nummer zwei für den Vereinigten Generalstab.
Seaton zuckte die Achseln. »Theoretisch nichts. Im IO ist Ruhe eingekehrt. Die Japaner sind aus dem Kriegsgeschäft raus …«
Jackson beendete den Satz: »Aber Amerika ist noch nie so hart getroffen worden.«
»Das Flugzeug wartet. Sie können sich an Bord umziehen. Korrekte Uniform zählt im Augenblick nicht, Robby.«
Wenn ihr – selten genug – Zeit zur Überlegung geblieben wäre, hätte sie daran gedacht, daß die Welt durch Zeit und Raum, vor allem Zeit, unterteilt wird. Sie war jetzt über sechzig, ihre kleine Figur durch Jahre der selbstlosen Arbeit gebeugt, und das Schlimme war, daß es sowenig Jüngere gab, die sie ablösen konnten. Wirklich, fair war es nicht, aber für sie gab es keine Ablösung. Sie bemühte sich, den Gedanken beiseite zu tun. Unwürdig – für sie wie auch für ihre Stellung, gewiß auch für die Versprechen, die sie vor mehr als vierzig Jahren vor Gott abgegeben hatte. Wenn ihr jetzt Zweifel über jene Versprechen kamen, sprach sie sie nicht aus, nicht mal in der Beichte. Das belastete ihr Gewissen mehr als die Zweifel selbst, obwohl sie wußte, daß ihr Beichtvater diese ihre Sünde – wenn es denn eine war – mit Milde ansprechen würde. Er würde sie deswegen nur sanft tadeln, denn wahrscheinlich hegte auch er seine Zweifel im Alter wie sie, wo man zurückblickt auf das, was ist und was hätte sein können, allen Erfolgen eines produktiven und nützlichen Lebens zum Trotz.
Ihre Schwester, keinen Deut weniger religiös als sie, war der häufigsten aller Berufungen gefolgt und jetzt Großmutter; Schwester M. Jean Baptiste fragte sich nun, wie das war. Die eigene Entscheidung hatte sie vor langem gefällt, in einer Jugend, an die sie sich noch erinnern konnte, und wie jede solche Entscheidung war sie unüberlegt, wenn auch richtig. Den Damen in Schwarz brachte man Achtung entgegen. Aus der fernen Jugend erinnerte sie sich, daß ihnen deutsche Truppen höflich zunickten, denn auch wenn man vermutete, daß die Nonnen alliierten Fliegern oder gar flüchtenden Juden halfen, so wußte man, daß sie jedermann unterschiedslos fair behandelten, weil Gott es so wollte. Außerdem brauchten auch die Deutschen das Krankenhaus, wenn sie verwundet waren, weil die Chancen dort besser waren als irgendwo anders. Es war eine stolze Tradition, und wenn auch Stolz eine Sünde war, wurde sie von den Damen in Schwarz gelassen begangen, denn sie sagten sich, Er würde es verstehen, weil die Tradition in Seinem Heiligen Namen entstanden war. Und so hatte sie zur rechten Zeit ihre Entscheidung getroffen, und damit hatte es sich. Manche waren gegangen, aber als für sie die kritische Zeit gekommen war, sprachen der Zustand des Landes nach einem Krieg und der Bedarf für ihre Fähigkeiten und eine Welt, die sich noch nicht genug geändert hatte, dagegen. So hatte sie kurz darüber nachgedacht, zu gehen, hatte den Gedanken verworfen und war bei ihrer Arbeit geblieben.
Schwester M. Jean Baptiste war eine erfahrene und tüchtige Krankenschwester. An diesen Ort gekommen war sie, als er noch zu ihrem Heimatland gehörte, und sie war geblieben, nachdem sich der Status geändert hatte. In all dieser Zeit hatte sie ihre Arbeit immer auf die gleiche Art verrichtet, mit derselben Hingabe, trotz der stürmischen politischen Veränderungen, die sich um sie herum vollzogen hatten, ganz gleich, ob ihre Patienten Afrikaner oder Europäer waren. Doch vierzig Jahre, mehr als dreißig davon hier an ein und demselben Ort, sie hatten ihren Tribut gefordert.
Nicht, daß sie es satt gehabt hätte. Das war es ganz gewiß nicht. Es war nur, daß sie mittlerweile fast fünfundsechzig war, und das war einfach zu alt, um als Krankenschwester, so gut wie ohne Hilfen, meistens vierzehn Stunden am Tag zu arbeiten, mit ein paar wenigen Stunden dazwischen zum Beten, was zwar gut für ihre Seele sein mochte, für den Rest aber sehr ermüdend war. In jüngeren Jahren war ihr Körper sehr robust – um nicht zu sagen, derb – und gesund gewesen, und mehr als einer der Ärzte hatte sie damals Schwester Fels genannt, doch die Ärzte waren wieder gegangen, und sie war geblieben und geblieben und geblieben, und selbst Felsen können sich abnutzen. Und mit der Erschöpfung schlichen sich Fehler ein.
Sie wußte, worauf man zu achten hatte. Man konnte in Afrika nicht Gesundheitsexperte sein und nicht wissen, daß man vorsichtig sein mußte, wenn man überleben wollte. Jahrhundertelang hatte das Christentum sich bemüht, sich hier zu etablieren, doch während es sich auf einigen Gebieten durchgesetzt hatte, war ihm das auf anderen nicht gelungen. Eines der diesbezüglichen Probleme war die sexuelle Promiskuität, die hier gang und gäbe war und Schwester Jean Baptiste bei ihrer Ankunft vor etwa zwei Generationen aufs äußerste entsetzt hatte, jetzt aber einfach … normal war. Jedoch allzuoft mit tödlichen Folgen. Ein volles Drittel aller Patienten, die im Hospital lagen, hatten, wie es hier hieß, ›die Auszehrung‹, und woanders, AIDS. Schutzvorkehrungen gegen diese Krankheit waren in Stein gemeißelt, und Schwester Jean Baptiste trug sie immer wieder im Unterricht vor. Doch die traurige Wahrheit in bezug auf diesen modernen Fluch war, wie bei Seuchen des Altertums, daß sich das Wirken des Gesundheitspersonals im Grunde auf den Selbstschutz beschränkte.
Glücklicherweise war das bei diesem Patienten kein Thema. Der Junge war erst acht, zu jung, um sexuell aktiv zu sein. Ein hübscher Junge, wohl gewachsen und aufgeweckt, er war Stipendiat an der nahe gelegenen katholischen Schule und Akoluth. Vielleicht würde er eines Tages den Ruf vernehmen, Priester zu werden – für Afrikaner war das leichter als für Europäer, denn die Kirche erlaubte hier, in stillschweigender Verbeugung vor afrikanischen Sitten, den Priestern zu heiraten, ein Geheimnis, das in der übrigen Welt nicht breitgetreten wurde. Doch der Junge war krank. Er war gerade erst vor ein paar Stunden eingeliefert worden, um Mitternacht, von seinem Vater hergebracht, ein feiner Mensch, höherer Beamter der hiesigen Regierung, der ein eigenes Auto besaß. Der diensthabende Arzt hatte zerebrale Malaria diagnostiziert, doch die Bestätigung durch den üblichen Labortest fehlte in der Akte. Vermutlich war die Blutprobe verlorengegangen. Heftige Kopf- und Gliederschmerzen, Erbrechen, Desorientierung, hohe Fieberzacken. Zerebrale Malaria oder Malaria tropica. Sie hoffte, die Krankheit war nicht wieder im Vormarsch. Sie konnte behandelt werden; das Problem war nur, die Leute der Behandelung zuzuführen.
Sonst war es ruhig auf der Station, so spät am, nein, so früh am Morgen, eigentlich – in diesem Teil der Welt eine angenehme Zeit. Die Luft war kühl und ruhig und still – wie die Patienten auch. Was dem Jungen im Augenblick am meisten zu schaffen machte, war das Fieber, und so zog sie ihm die Zudecke weg und befeuchtete seine Haut mit dem Schwamm. Das schien seinem aufgewühlten jungen Körper gut zu tun, und so nahm sie sich Zeit, auf weitere Symptome zu achten. Die Ärzte waren Ärzte und sie nur eine Krankenschwester – doch war sie immerhin schon sehr lange hier und wußte, worauf man achten mußte. Eigentlich war da nicht viel, außer einem alten Verband an seiner linken Hand. Wie hatte der Doktor den nur übersehen können? Schwester Jean Baptiste ging zum Schwesternzimmer, wo ihre beiden Gehilfen vor sich hin dösten. Was sie jetzt vorhatte, war eigentlich deren Aufgabe, doch warum sollte sie sie extra aufwecken? Mit frischem Verbandszeug und einem Desinfektionsmittel kehrte sie zu ihrem Patienten zurück. Gerade hier mußte man sich bei Infektionen besonders vorsehen. Behutsam, langsam löste sie den alten Verband. Ein Biß, sah sie, wie von einem kleinen Hund … oder einem Affen. So etwas konnte gefährlich sein. Eigentlich hätte sie sich jetzt noch im Schwesternzimmer Gummihandschuhe holen sollen, doch dorthin waren es vierzig Meter, und ihre Beine waren müde, und der Patient lag ruhig, die Hand bewegte sich nicht. Sie schraubte das Fläschchen mit Desinfektionsmittel auf, drehte dem Jungen dann langsam und sanft die Hand um, so daß die Verletzung freilag. Als sie mit der anderen Hand die Flasche schüttelte, spritzte dem Patienten etwas Flüssigkeit ins Gesicht. Er hob den Kopf und nieste im Schlaf, und es ergossen sich die üblichen Tröpfchen in die Luft. Schwester Jean Baptiste erschrak, machte aber weiter; sie goß etwas Desinfektionsmittel auf einen Wattebausch und tupfte damit sorgsam die Wunde ab. Sie legte dem Jungen den neuen Verband an, und erst dann wischte sie sich mit dem Handrücken übers Gesicht, ohne zu wissen, daß, als der Patient nieste, sich seine Hand in ihrer bewegte und sie dabei etwas Blut abbekam und daß das Blut noch immer an ihrer Hand war, als sie sich damit über die Augen fuhr. Die Gummihandschuhe, wenn sie sie geholt hätte, hätten in diesem Falle wohl gar nichts genützt, was nur ein schwacher Trost gewesen wäre, wenn sie sich drei Tage später überhaupt noch daran erinnert hätte.
Hätte bleiben sollen, wo ich war, sagte sich Jack. Zwei Sanitäter hatten ihn einen freien Gang die Osttreppe hinaufgeführt, mitsamt seiner Rotte aus Marines und Secret-Service-Leuten, alle noch mit gezückten Waffen, eine auf makabre Weise ulkige Szene, denn keiner wußte so recht, was er tun sollte. Dann stießen sie auf eine ziemlich geschlossene Linie von Feuerwehrleuten, die mit ihren Strahlrohren den Flammenherd bespritzten. Massenhaft wehte Wasser zurück und ihnen ins Gesicht. Durch den Wassernebel war das Feuer hier eingedämmt, und da man nicht aufhörte, alles einzuweichen, war es für die Bergungsmannschaften verhältnismäßig sicher, in die Überreste vom Plenarsaal hinabzusteigen. Man mußte kein Experte sein, um zu wissen, was sie vorfanden. Keine gehobenen Köpfe, kein heftiges Gestikulieren, keine Schreie. Die Männer – und Frauen, auch wenn man sie aus dieser Entfernung nicht unterscheiden konnte – bahnten sich vorsichtig ihren Weg, mehr auf die eigene Sicherheit bedacht als auf alles andere, denn es gab offenkundig keinen Grund, das eigene Leben für Tote aufs Spiel zu setzen.
Lieber Gott, dachte er. Jack konnte sehen, wo ein ganzer Abschnitt der Galerie in den Plenarsaal hinabgestürzt war. Die Diplomatengalerie, wenn er sich recht erinnerte. Leute von Rang und Namen, von denen er viele gekannt hatte, waren mit ihren Angehörigen ins Capitol gekommen, um zu sehen, wie er vereidigt wurde. War er damit schuld an ihrem Tod?
Ryan hatte das CNN-Gebäude verlassen, weil er meinte, etwas tun zu müssen. Jetzt war er sich dessen nicht mehr so sicher. Hatte er nur den Ortswechsel gebraucht? Oder hatte ihn der Schauplatz nur ebenso angezogen wie all die anderen Leute, die ums Capitol herumstanden, genauso schweigsam wie er, nur schauend und nichts tuend wie er? Seine Benommenheit war immer noch nicht weg. Er war in der Erwartung hergekommen, etwas zu sehen und zu fühlen und dann zu tun zu finden, entdeckte aber nur etwas, vor dem seine Seele noch mehr erschrak.
»Es ist kalt hier, Mr. President. Gehen Sie zumindest aus diesem verdammten Sprühregen weg«, drängte Price.
»Okay.« Ryan nickte und ging wieder die Treppe hinunter. Der Feuerwehrmantel, fand er, war auch nicht gerade sehr warm. Er erschauerte erneut und hoffte, daß es wirklich nur an der Kälte lag.
Es hatte gedauert, die Kameras in Position zu bringen, aber jetzt waren sie da, sah Ryan. Die kleinen, tragbaren – alles japanische, wie er mit einem Grunzen feststellte – mit ihren kleinen, aber starken Leuchten. Irgendwie war es ihnen gelungen, an den Polizeisperren und den Feuerwehrkommandeuren vorbeizukommen. Vor jeder von ihnen stand ein Reporter – die drei, die er sehen konnte, waren alles Männer – mit Mikrofon in der Hand und bemühte sich, so zu klingen, als wüßte er mehr als jeder andere. Einige Lampen waren auch auf ihn gerichtet, bemerkte Jack. Im ganzen Land und der ganzen Welt sahen Leute auf ihn und erwarteten, daß er wußte, was zu tun war. Wieso geben sich Leute immer der Illusion hin, die in der Regierung seien klüger als etwa ihr Hausarzt, ihr Rechtsanwalt oder ihr Steuerberater? Seine Gedanken schweiften zurück zu seiner ersten Woche als Second Lieutenant im Marine Corps, als in ähnlicher Weise erwartet wurde, daß er ganz genau wußte, wie man einen Zug führt – und wie ein Sergeant, zehn Jahre älter als er, mit einem Familienproblem zu ihm kam, in der Erwartung, daß der ›ElTih‹, selbst ohne Frau und Kinder, ihn, der mit beiden Probleme hatte, gut beraten könnte. Heute, erinnerte sich Jack, wurde eine solche Situation »Gelegenheit zum Nachweis der Führungsqualität« genannt, was bedeutete, daß man nicht die geringste Ahnung hatte, wie’s weiterging. Doch dort liefen die Kameras, und er mußte etwas tun.
Nur, daß er noch immer keine Ahnung hatte, was. Er war in der Hoffnung hierher gekommen, einen Handlungskatalysator zu finden, und hatte nur eine Intensivierung seines Gefühls der Hilflosigkeit erfahren. Und vielleicht eine Frage gefunden.
»Arnie van Damm?« Er brauchte Arnie, das stand fest.
»Im House, Sir«, antwortete Price und meinte damit das White House.
»Okay, fahren wir dorthin«, befahl Ryan.
»Sir«, wandte Price ein, nachdem sie einen Augenblick nachgedacht hatte, »da ist es vielleicht nicht sicher. Wenn …«
»Ich kann doch nicht weglaufen, verdammt noch mal! Ich kann nicht nach Kneecap davonfliegen! Ich kann nicht nach Camp David wegschleichen! Ich kann mich nicht in irgendeinem verdammten Loch verkriechen! Sehen Sie das denn nicht ein?« Er war mehr frustriert als wütend. Mit dem rechten Arm zeigte er auf die Überreste des Capitol. »Die Leute da sind tot, und ich bin jetzt die Regierung, Gott steh mir bei, und die Regierung läuft nicht davon!«
»Das sieht doch dort aus wie Präsident Ryan«, sagte ein Nachrichtenmoderator in seinem warmen, trockenen Studio. »Er schaut vermutlich nach den Rettungsmaßnahmen. Wie wir alle wissen, ist Ryan ein Mann, für den Krisensituationen nichts Ungewohntes sind.«
»Ich kenne Ryan nun seit sechs Jahren«, gab der dienstältere Kommentator von sich und schaute dabei bewußt nicht in die Kamera, so als instruiere er den höher bezahlten Moderator, der sich bemühte, über das Ereignis zu berichten. Ins Studio waren beide gekommen, um Präsident Durlings Rede zu kommentieren, und hatten natürlich auch alles verfügbare Material über Ryan gelesen, den der Kommentator in Wirklichkeit gar nicht kannte, obwohl er ihm in den letzten Jahren ein paarmal beim Dinner begegnet war. »Er ist ein bemerkenswert zurückhaltender Mensch, aber zweifelsohne einer der klügsten Köpfe in der Regierung.« Eine solche Bemerkung konnte man nicht unangefochten durchgehen lassen. Tom, der Moderator, beugte sich vor und schaute halb zu seinem Kollegen, halb in die Kameras.
»Aber, John, er ist kein Politiker. Er hat weder einen politischen Hintergrund noch Erfahrung. Er ist Spezialist für nationale Sicherheit und das zu einer Zeit, da nationale Sicherheit nicht mehr den Stellenwert hat, wie das einmal der Fall war«, dozierte er.
John, der Kommentator, unterdrückte mit Mühe die Antwort, die diese Bemerkung so reichlich verdient hätte. Ein anderer tat das nicht.
»Yeah«, brummte Chavez. »Und die Maschine, die das Gebäude geplättet hat, war wohl ein Flug von Delta auf Irrwegen. Jesu Christo!«
»Es ist ein großes Land, dem wir dienen, Ding. Wo sonst kriegt jemand für Dummheit fünf Mill’ im Jahr geboten?« John Clark beschloß, sein Bier auszutrinken. Es hatte keinen Sinn, nach Washington zurückzufahren, ehe Mary Pat anrief. Er war eine Arbeitsbiene, und jetzt würden dort die obersten CIA-Typen herumschwirren. Vollbringen würden sie nicht viel, aber zu solchen Zeiten vollbrachte man ohnehin nicht sehr viel, man sah nur gehetzt und wichtig aus … und für die Arbeitsbienen, ineffektiv.
Da es nicht viel zu zeigen gab, ließ der Sender noch einmal das Band mit Präsident Durlings Rede laufen. Die C-SPAN-Kameras im Plenarsaal waren ferngesteuert gewesen, und die Techniker im Kontrollraum hielten verschiedene Bilder für eine Weile an, um so alle jetzt toten Regierungsmitglieder zu katalogisieren, die in der vordersten Reihe gesessen hatten: bis auf zwei alle Minister, den gesamten Vereinigten Generalstab, Direktoren aus verschiedenen Behörden, den Vorsitzenden des Zentralbankrats, FBI-Direktor Bill Shaw, den Direktor von OMB, den Administrator der NASA, alle neun Richter des Supreme Court. Die Stimme des Moderators listete die Namen und Positionen auf, die sie innegehabt hatten, und das Band lief Bild für Bild weiter bis zur Stelle, wo man Secret-Service-Agenten in den Plenarsaal stürmen sah, die Präsident Durling erschreckten und für kurze Verwirrung sorgten. Köpfe drehten sich, um zu sehen, von wo Gefahr drohte, und diejenigen unter ihnen, die etwas schneller von Begriff waren, fragten sich vielleicht noch, ob auf der Galerie ein Attentäter lauerte. Doch dann kamen drei Bilder von einer Weitwinkelkamera, die verschwommen erkennen ließen, wie sich die hintere Mauer verschob, und dann Dunkelheit. Moderator und Kommentator waren wieder im Bild, zunächst, wie sie ihre Desktop-Monitore und dann einander anstarrten, und erst jetzt begann ihnen die ganze Tragweite der Katastrophe aufzugehen wie dem neuen Präsidenten.
»Präsident Ryans vornehmlichste Aufgabe wird es sein, die Regierung neu aufzubauen, wenn er das schafft«, sagte John, der Kommentator, nach einer langen Pause. »Mein Gott, so viele hervorragende Männer und Frauen … tot …« Ihm war gerade in den Sinn gekommen, daß er noch vor ein paar Jahren, bevor er Chefkommentator des Senders geworden war, ebenfalls im Plenarsaal gewesen wäre, zusammen mit so vielen seiner Berufskollegen und Freunde; seine Hände begannen unter der Tischplatte zu zittern. Ein erfahrener Profi wie er, der seiner Stimme nicht erlaubte zu beben, vermochte er doch nicht ganz, die Kontrolle über seinen Gesichtsausdruck zu behalten, der plötzlich entsetzliche Trauer zeigte.
»Gottes Urteil«, murmelte Mahmoud Haji Daryaei über sechstausend Meilen entfernt vor sich hin, griff zur Fernbedienung und stellte den Ton ab, um das unnütze Geschwafel auszublenden.
Strafe Gottes. Das ergab doch Sinn? Amerika. Der Koloß, der so vielen einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte, gottloses Land eines gottlosen Volkes, am Gipfel seiner Macht, Sieger eines neuerlichen Waffenganges – jetzt schmerzlich getroffen. Wie, außer durch Gottes Wille, hätte so etwas geschehen können? Und was sonst könnte es bedeuten als Gottes Strafe und Gottes Segen? Segen, mit welchem Ziel? fragte er sich. Nun, das würde sich wohl nach einiger Überlegung erweisen.
Ryan war er schon einmal begegnet, hatte ihn als nachtragend und arrogant empfunden – typisch amerikanisch –, jetzt aber nicht. Für einen Augenblick zoomten die Kameras ihr Objekt näher heran und zeigten einen Mann in Feuerwehrmontur, der seinen Kopf nach links und rechts drehte, den Mund etwas geöffnet. Nein, arrogant nicht. Fassungslos, sich nicht einmal gewahr genug, um ängstlich zu sein. Das war ein Gesichtsausdruck, den er schon öfter gesehen hatte. Wie interessant.
Dieselben Worte und dieselben Bilder überfluteten jetzt die Welt, übertragen von Satelliten zu über einer Milliarde Augenpaare, die gerade die Nachrichtensendung gesehen oder vom Vorfall gehört hatten. Es wurde Geschichte geschrieben, und das mußte man verfolgen.
Insbesondere traf das für die Mächtigen zu, für die Information der Rohstoff ihrer Macht war. An einem anderen Ort schaute einer auf die elektronische Uhr, die neben seinem Fernseher stand, und beschäftigte sich mit einfacher Arithmetik. In Amerika ging ein schrecklicher Tag zu Ende, während der Morgen, dort wo er saß, gerade angebrochen war. Durchs Fenster hinter seinem Schreibtisch sah man auf einen riesigen Platz, den Menschen überquerten, die hauptsächlich mit dem Fahrrad unterwegs waren, obgleich die Anzahl der Autos jetzt auch schon beträchtlich war – hatte sie sich doch in den letzten Jahren verzehnfacht. Dennoch war das Fahrrad immer noch das Hauptverkehrsmittel, und das war nicht fair, oder?
Er hatte sich einst vorgenommen, das zu ändern, rasch und entschlossen, und die Amerikaner hatten sein Vorhaben im Keim erstickt. An Gott glaubte er nicht, hatte es nie getan und würde es nie tun. Aber er glaubte an das Schicksal, und Schicksal war es, was sich da vor seinen Augen ereignete, auf dem Bildschirm eines in Japan hergestellten Fernsehapparates. Das Schicksal war ein launenhaftes Weib, sagte er sich, während er nach einer Schale grünen Tees griff. Erst vor wenigen Tagen hatte sie die Amerikaner mit Glück begünstigt und jetzt das … Was mochte die Dame Schicksal wohl vorhaben? Doch seine eigenen Intentionen, seine Bedürfnisse und sein Wille gingen vor, entschied er und griff fast nach dem Telefon, bis er sich eines Besseren besann. Es würde schon zeitig genug klingeln, und dann würden andere nach seiner Meinung fragen, und er würde etwas antworten müssen, und darum war es Zeit, weiter nachzudenken. Er nippte an seinem Tee. Das heiße Wasser brannte an seinen Lippen, und das war gut. Er mußte hellwach sein, und der Schmerz lenkte sein Denken nach innen, wo wichtige Gedanken stets ihren Ursprung hatten.
Erfolgreich oder nicht, sein Plan war nicht schlecht gewesen. Mangelhaft ausgeführt durch unwissende Agenten, hauptsächlich weil die Dame Schicksal einen Augenblick lang Amerika begünstigt hatte – aber es war ein guter Plan gewesen, sagte er sich noch einmal. Und das zu beweisen, würde er wieder Gelegenheit bekommen. Durch die Dame Schicksal. Der Gedanke verursachte ein schmales Lächeln und einen Blick in die Ferne, als er in Gedanken die Zukunft sondierte und ihm gefiel, was er sah. Er hoffte, das Telefon würde nicht gleich klingeln, denn er mußte noch ein Stück weiter sehen, und das geschah am besten ohne Störung. Als er weiter überlegte, fiel ihm ein, daß das Ziel seines Plans ja eigentlich erreicht worden war. Gewünscht hatte er, Amerika zu schwächen, und geschwächt war es jetzt. Nicht so, wie er geplant hatte, aber immerhin geschwächt. Um so besser? fragte er sich.
Ja.
Und so konnte das Spiel doch weitergehen.
Das ganze Auf und Ab der Geschichte, wie Ebbe und Flut, war nichts als ein Spiel der Dame Schicksal. Sie war wirklich keines Menschen Freund oder Feind – oder doch? Er prustete lachend. Vielleicht hatte sie bloß Sinn für Humor.
Das Gefühl einer anderen Person war nichts als Wut. Erst ein paar Tage zuvor hatte sie eine Demütigung erfahren, die bittere Demütigung, sich von einem Ausländer – simpler ehemaliger Provinzchef! – sagen lassen zu müssen, was ihr souveränes Land zu tun hatte. Natürlich war sie vorsichtig gewesen. Alles war mit großem Geschick erledigt worden. Die Regierung selbst war nicht involviert gewesen, außer in ausgedehnte Seemanöver auf offenem Meer, außerhalb jeglicher Hoheitsgebiete. Keine Noten mit Gewaltandrohung waren übergeben worden, keine offizielle Demarche unternommen, keine Position bezogen, und die Amerikaner ihrerseits hatten nicht mehr getan als – wie sie es arrogant nannten – ›am Käfig zu rütteln‹ und eine Sitzung des UN-Sicherheitsrats zu verlangen, auf der eigentlich nichts zu sagen war, da ja nichts Offizielles stattgefunden hatte und ihr Land nichts hatte verlautbaren lassen. Was sie getan hatten, waren doch lediglich Übungen gewesen. Friedliche Übungen. Gewiß hatten die Übungen dazu beigetragen, einen Teil der amerikanischen Kräfte zu binden und so gegenüber Japan zu schwächen – aber das hatte sie ja nicht vorhersehen können, oder? Natürlich nicht!
Genau in diesem Augenblick hatte sie das Dokument auf ihrem Schreibtisch: die erforderliche Zeit, die Flotte wieder instand zu setzen. Doch nein, sie schüttelte den Kopf, das würde nicht genügen. Weder sie noch ihr Land konnten jetzt allein handeln. Dazu würde es einiger Zeit bedürfen und Freunde und Pläne, doch ihr Land hatte Bedürfnisse, und es war ihre Aufgabe, sich um diese Bedürfnisse zu kümmern. Jedenfalls war es nicht ihre Aufgabe, von anderen Befehle entgegenzunehmen, nicht wahr?
Nein.
Auch sie trank Tee, aus einer hübschen Porzellantasse, mit Zucker und ein wenig Milch, auf englische Art, was ein Ergebnis ihrer Geburt, ihrer Herkunft und ihrer Erziehung war. Und all das, in Verbindung mit viel Geduld, hatte sie in dieses Amt gebracht. Von allen Leuten auf der ganzen Welt, die jetzt über Satelliten dieselben Bilder sahen, verstand sie vielleicht am besten, welche Gelegenheit sich hier bot. Dies war doch viel zu schön, um ungenutzt verstreichen zu dürfen, oder?
Ja.
»Es kann einem angst machen, Mr. C.« Domingo Chavez rieb sich die Augen – er war schon etliche Stunden länger wach, als sein vom Jetlag beeinträchtigtes Gehirn berechnen konnte – und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Er lümmelte auf der Wohnzimmercouch, hatte die Schuhe ausgezogen und die Füße auf den Couchtisch gelegt. Das Frauenvolk im Haus war bereits zu Bett gegangen.
»Sag mir, wieso, Ding«, befahl John Clark. Für ihn war die Zeit, über die relativen Fähigkeiten diverser Fernsehgrößen bekümmert zu sein, vorbei, aber sein junger Partner strebte immerhin einen Magister im Fach Internationale Beziehungen an.
Chavez antwortete, ohne die Augen zu öffnen. »Ich glaube nicht, daß sich in Friedenszeiten schon so etwas abgespielt hat. Die Welt ist ja nicht soviel anders als vorige Woche, John. Vorige Woche war’s wirklich kompliziert. Wir gewannen wohl den kleinen Krieg, den wir hatten, aber die Welt hat sich kaum verändert, und wir sind auch jetzt nicht stärker als vorher, oder?«
»Die Natur verabscheut ein Vakuum?« fragte John ruhig.
»Oder so ähnlich.« Chavez gähnte. »Verdammich, wenn wir nicht hier und jetzt eines haben.«
»Ich schaffe nicht gerade sehr viel, oder?« fragte Jack mit ruhiger Stimme, in der öde Düsternis mitschwang. Ein Glühen war noch vorhanden, obwohl das, was jetzt in den Himmel stieg, mehr Dampf war als Rauch. Was ins Gebäude gelangte, war der deprimierendste Anblick. Leichensäcke. Gummierter Stoff mit Tragschlaufen an den Enden und langem Reißverschluß in der Mitte. Viele kamen schon wieder heraus, getragen von jeweils zwei Feuerwehrleuten, die zwischen den Brocken zerstörten Mauerwerks die Treppe herabstiegen. Das fing gerade an und würde so schnell nicht aufhören. In den paar Minuten da oben hatte er eigentlich gar keine Leiche gesehen. Die ersten dieser Säcke zu sehen war sogar irgendwie schlimmer.
»Nein, Sir«, erwiderte Price, deren Gesichtsausdruck seinem glich. »Dies ist nicht gut für Sie.«
»Ich weiß.« Ryan nickte und schaute weg.
Ich weiß nicht, was ich tun soll, sagte er zu sich selber. Wo ist das Handbuch, der Trainingkurs für diesen Job? Wen kann ich fragen? Wohin soll ich gehen?
Ich will diesen Job nicht! schrie es in seinem Innern. Ryan warf sich die Eigennützigkeit des Gedankens vor, aber er war an diesen schrecklichen Ort gekommen, um seine Führungsrolle irgendwie vorzuführen, vor den Fernsehkameras zu paradieren, als wüßte er, was er tat – und das war gelogen. Vielleicht nicht aus bösem Willen. Nur dumm. Geh zum Feuerwehrhauptmann hin und frag ihn, wie’s läuft, als ob das nicht jeder mit Augen und mehr als zwei Jahren Schulbildung von selbst erkennen würde!
»Ich bin für Vorschläge offen«, sagte er schließlich.
Special Agent Andrea Price atmete tief durch und tat das, wovon jeder Special Agent des United States Secret Service, bis Pinkerton zurück, geträumt hatte: »Mr. President, Sie sollten wirklich zusehen, daß Sie, äh, Ihr Zeugs« – so weit durfte sie nun doch nicht gehen – »auf die Reihe kriegen. Manches können Sie selbst tun, manches aber nicht. Sie haben Leute, die für Sie arbeiten. Für den Anfang, Sir, finden Sie raus, wer die sind, und lassen sie ihre jeweiligen Jobs tun. Dann können Sie sich vielleicht dranmachen, Ihren zu tun.«
»Zurück zum Haus?«
»Dort sind die Telefone, Mr. President.«
»Wer ist Leiter des Detail?« Ryan meinte die Schutztruppe des White House.
»Das war Andy Walker.« Price müßte nicht hinzufügen, wo der sich jetzt befand. Ryan musterte sie und traf seinen ersten Präsidialentscheid.
»Sie sind gerade befördert worden.«
Price nickte. »Folgen Sie mir, Sir.« Es freute die Agentin zu sehen, daß dieser Präsident, wie alle anderen auch, lernen konnte, Befehlen zu folgen. Manchmal zumindest. Kaum drei Meter weiter, rutschte Ryan auf Glatteis aus und ging zu Boden. Zwei andere Agenten halfen ihm wieder auf die Beine. Die Szene ließ ihn nur noch verletzlicher aussehen. Ein Fotograf hatte dies festgehalten und lieferte Newsweek damit das Titelfoto für die folgende Woche.
»Wie Sie sehen, verläßt Präsident Ryan jetzt Capitol Hill in einem, wie es aussieht, Militärfahrzeug statt in einem Secret-Service-Wagen. Was meinen Sie, was hat er jetzt vor?« fragte der Moderator.
»Bei aller Fairneß dem Mann gegenüber«, sagte John, der Kommentator, »ist kaum anzunehmen, daß er selbst es im Augenblick weiß.«
Den Bruchteil einer Sekunde später hatte diese Meinung den ganzen Erdball erreicht und traf auf die Zustimmung aller Arten von Menschen, Freund und Feind gleichermaßen.
Manche Dinge müssen rasch getan werden. Er wußte nicht, ob es die richtigen Dinge waren – nun, das wußte er schon, und sie waren es nicht –, doch ab einer gewissen Wichtigkeitsstufe geraten ja die Regeln ein bißchen durcheinander, nicht wahr? Als Sproß einer politischen Familie, die seit ein paar Generationen im Dienst der Öffentlichkeit tätig war, stand er praktisch seit Erhalt seines Juradiploms im öffentlichen Leben, was nur auf andere Art ausdrückte, daß er sein ganzes Leben lang keinen echten Job gehabt hatte. Mochte er nur wenig praktische Erfahrung in der Wirtschaft haben, außer als ihr Nutznießer – für seine Familie führten Finanzexperten diverse Anlagen- und Wertpapiergeschäfte so geschickt, daß er sich fast nie mit ihnen treffen mußte, nur mal zum Ausfüllen der Steuererklärung. Mochte er auch nie als Jurist praktiziert haben – so war doch seine Hand bei der Verabschiedung von buchstäblich Tausenden von Gesetzen im Spiel gewesen. Mochte er auch seinem Land nie in Uniform gedient haben – er hielt sich für einen Experten in Sachen nationaler Sicherheit. Mochte auch vieles dagegen sprechen, daß man irgend etwas unternahm. Doch im Regieren wußte er Bescheid, denn im ganzen aktiven Leben – um nicht ›Arbeitsleben‹ zu sagen – war das sein Beruf, und in Zeiten wie dieser brauchte das Land einen, der wirklich regieren konnte. Das Land bedurfte der Heilung, dachte Ed Kealty, und darin kannte er sich aus.
Die FBI-Einsatzzentrale für den Krisenfall ist im vierten Stock des Hoover Building, ein seltsam geformter Raum, etwa dreieckig und überraschend klein. Nummer sechzehn traf gerade ohne Krawatte und in Freizeitkleidung ein: Deputy Assistant Director Daniel E. Murray. Leitender Wachoffizier war sein alter Freund, Inspektor Pat O’Day. Ein großer, vierschrötiger Mann, der zu Hause im Norden von Virginia als Hobby Schlachtrinder züchtete – der ›Cowboy‹ war in New Hampshire geboren und zur Schule gegangen, doch seine Stiefel waren maßgefertigt –, hatte einen Telefonhörer am Ohr, und im Raum war es seltsam ruhig für einen Krisenraum während einer echten Krise. Mit einem knappen Nicken und einer erhobenen Hand gab er zu verstehen, daß er Murrays Ankunft bemerkt hatte. Der dienstältere Agent wartete, bis O’Day sein Telefonat beendet hatte.
»Was ist los, Pat?«
»Ich hab’ gerade mit Andrews telefoniert. Sie haben dort Bandaufzeichnungen vom Radar und so. Habe Beamte vom Washington Field Office hingeschickt, um mit den Leuten im Tower zu sprechen. Auch das National Transportation Safety Board hat zur Unterstützung Leute geschickt. Ausgangspunkt: Eine 747 der Japan Air Lines hat beim Capitol Kamikaze gespielt. Die Andrews-Leute sagen, der Pilot meldete als außerplanmäßiger KLM-Flug einen Notfall, fuhr direkt über ihre Landebahnen hinweg, bog etwas nach links ab, und … ja …« O’Day zuckte die Schultern. »Das WFO hat jetzt auch Leute auf Capitol Hill, die mit Ermittlungen anfangen. Ich gehe von einem Terroristenanschlag aus, somit sind wir zuständig.«
»Wo ist der ADIC?« fragte Murray und meinte damit den Assistant Director in Charge des Washingtoner FBI-Büros, das sich auf Buzzard’s Point am Flußufer des Potomac befindet.
»Mit Angie auf St. Lucia im Urlaub. Pech für Tony«, brummte der Inspektor. Tony Caruso war gerade erst drei Tage weg. »Ist für viele ein schwerer Tag. Die Zahl der Toten ist ungeheuer hoch, Dan, viel schlimmer als in Oklahoma. Für Gerichtsmediziner habe ich allgemeinen Alarm gegeben. Nach dem Einschlag werden wir viele Leichen nur durch ihr DNA identifizieren können. Ach, und die Leute vom Fernsehen fragen immerzu, wie die Air Force es nur zulassen konnte, daß so was passierte.« Den letzten Satz fügte er mit einem Kopfschütteln hinzu. O’Day brauchte jemanden, den er niedermachen konnte, und im Augenblick waren die Fernsehkommentatoren das geeignete Objekt. Andere würden noch folgen; beide hofften, das FBI würde nicht mit dazugehören.
»Wissen wir sonst noch was?«
Pat schüttelte den Kopf. »Nein. Das braucht seine Zeit, Dan.«
»Ryan?«
»War auf dem Hill; sollte jetzt auf dem Weg ins White House sein. Sie haben ihn im Fernsehen gezeigt. Sieht ein bißchen mitgenommen aus. Für unsere Brüder und Schwestern vom Secret Service ist es auch eine schlimme Nacht. Es kommt vielleicht noch zum Kompetenzstreit darüber, wer die Ermittlungen leitet.«
»Großartig!« schnaubte Murray. »Das lassen wir vom AG aussortie …« Doch es gab keinen Attorney General und keinen SecTreas, den der anrufen konnte.
Inspektor O’Day war klar: Ein Bundesgesetz ermächtigte den US Secret Service, im Falle eines Angriffs auf den Präsidenten die Leitung der Ermittlungen zu übernehmen. Aber in Terrorismusfällen erklärte ein anderes Bundesgesetz das FBI für zuständig. Die Statuten der Stadt brachten natürlich die Washington Metropolitan Police mit ins Spiel. Wirf noch die Nationale Verkehrssicherheitsbehörde NTSB in den Topf – solange nichts anderes bewiesen war, konnte es ja auch nur ein schreckliches Flugzeugunglück sein. Jede Behörde besaß Autorität und Fachkompetenz. Der Secret Service, kleiner als das FBI und mit geringeren Ressourcen, hatte hervorragende Ermittlungsbeamte und die besten technischen Experten. Das National Transportation Safety Board wußte mehr über Flugzeugabstürze als sonst jemand auf der Welt. Doch das Bureau mußte bei dieser Ermittlung die Führung haben, sagte sich Murray. Nur, daß Director Shaw tot war, und ohne dessen Gewicht hinterm Autoritätsknüppel …
Mein Gott! dachte Murray. Er und Bill hatten zusammen die Academy besucht. Dann waren sie zusammen frischgebackene Bordkantenlatscher in Philadelphia gewesen, auf Bankräuberjagd …
Pat sah sein Gesicht und nickte. »Ich weiß, Dan, es dauert, bis es einen einholt, nicht? Hat uns das Eingeweide rausgerissen, Mann.« Er reichte ihm ein handgeschriebenes Blatt mit der Liste der bisher bekannten Toten.
Ein Atomschlag hätte uns auch nicht schlimmer treffen können, mußte sich Murray eingestehen, als er die Namen durchging. Eine sich entwickelnde Krise hätte genügend Zeit gelassen, sich darauf einzustellen, und nach und nach, in aller Stille, hätten die wichtigsten Leute Washington verlassen und sich an verschiedenen Orten in Sicherheit