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Der Macht der Erzählung kann sich niemand entziehen. Ob in Social-Media-Kanälen, in einer Presseerklärung, bei der Kampagnenplanung oder auf der Stadtteilversammlung – die passende Erzählung zu finden, ist eine Kunst. Und die Macht von Erzählungen ist zu wichtig, um sie nur PR-Profis, Kommunikationswissenschaftler*innen oder Donald Trump zu überlassen. Dieses Wissen kann allen Basisaktivist*innen helfen, effektiver für gesellschaftliche Emanzipation und den Erhalt unserer Lebensgrundlagen zu streiten. In Befreiung neu denken untersuchen Canning und Reinsborough, wie die Macht von Narrativen, Kultur und Imagination für eine Strategie der sozialen Veränderung fruchtbar gemacht werden kann. Dieses einzigartige Praxishandbuch stellt einen theoretischen Rahmen, praktische Werkzeuge und eine Innenansicht der Methode des Center for Storybased-Strategy (CSS) zur Verfügung, die in den letzten 15 Jahren viele erfolgreiche soziale Bewegungen der USA mit geprägt hat. Erstmals ist dieser Erfahrungsschatz – wie unterdrückerische Narrative herausgefordert und progressive Kampagnen verstärkt werden können – in deutscher Sprache zugänglich. Herausgeber Timo Luthmann ("Politisch aktiv sein und bleiben") ergänzt das Buch mit praktischen Beispielen aus Deutschland und Europa, die dazu beitragen können, die Verhältnisse hier zu verändern.
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Seitenzahl: 376
Doyle Canning ist Graswurzelaktivistin im kanadischen Vermont, Trainerin für strategische Gewaltfreiheit und erzählungsbasierte Kampagnenführung. Mitgründerin des Center for Story-based Strategy (CCS).
Patrick Reinsborough, Aktivist, Stratege und kreativer Provokateur, ist seit mehr als 25 Jahren in den verschiedensten US-amerikanischen sozialen Bewegungen aktiv und Mitgründer des Center for Story-based Strategy (CCS).
Timo Luthmann (Hrsg.), Aktivist in sozialen Bewegungen seit den 1990er Jahren, Trainer und Autor des Handbuchs Nachhaltiger Aktivismus (2019). Er berät Kampagnen und Initiativen – schwerpunktmäßig aus sozialen Bewegungen –, hält Vorträge, gibt Workshops, wandert gerne, liebt Kräuter und Bücher zu sozialer Bewegungsgeschichte.
https://timoluthmann.net
Doyle Canning & Patrick Reinsborough
Befreiung neu denken
Mit erzählungsbasierten Strategien Kampagnen gewinnen und die Welt verändern
Aus dem amerikanischen Englisch von Felix SchüringHerausgegeben, mit einem Vor- und einem Nachwort versehen und ergänzt von Timo Luthmann
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar
Canning & Reinsborough:
Befreiung neu denken
1. Auflage, August 2020
eBook UNRAST Verlag, Juni 2022
ISBN 978-3-95405-119-9
Titel der Originalausgabe:
Doyle Canning & Patrick Reinsborough:
Re-Imagine Change
© 2017 PM Press
© UNRAST Verlag, Münster
www.unrast-verlag.de | [email protected]
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sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner
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Umschlag: Yasmin Abit, Osnabrück
Satz: UNRAST Verlag, Münster
Vorwort zur deutschsprachigen Ausgabe
Einführung zur zweiten Auflage
Zur Benutzung dieses Buches
1 Warum Erzählung?
1.1 Das erzählende Tier
1.2 An den Wurzeln ansetzen
1.3 Die Ära der überholten Erzählungen
1.4 Bewegung als Narrativ
1.5 Von Optimierung zu Innovation
1.6 Der Ansatz der erzählungsbasierten Strategie
2 Narrative Macht
2.1 Wahrheit vs. Bedeutung
2.2 Narratives Denken
2.3 Narrative Machtanalyse
2.4 Den Rahmen setzen (Framing)
2.5 Designer-Erzählungen und die vermarktete Welt
2.6 Memes
2.7 Macht und Mythos
2.8 Basisdemokratie und Narrative
2.9 Gründungsmythen der USA
2.9.1 Gründungsmythos der BRD
2.9.2 Gründungsmythen: Wiedervereinigung & Aufbau Ost
2.10 Kontroll-Mythen & Memes
2.11 Narrative Filter
2.12 Elemente einer Erzählung
3 Den Kampf um die Erzählungen gewinnen
3.1 Auf den Grundsteinen aufbauen
3.2 Über die Erzählung des Kampfes hinaus
3.3 Der Kampf um die Erzählungen
3.4 Framing des Konflikts
3.5 Narrative Frames entwerfen
3.6 Überzeugende Charaktere verbreiten
3.7 Das Dramadreieck
3.7.1 Das Dramadreieck und die egalitäre Herausforderung, gute Geschichten zu erzählen
3.8 Bildsprache: zeigen, nicht beschreiben
3.9 Vorausdeutung
3.10 Annahmen offenlegen
3.11 Ein Framing-Narrativ entwerfen
3.12 Handlungslogik und Meta-Verben
4 Interventionspunkte
4.1 Gesellschaftlicher Wandel durch Intervention
4.2 Der Interventionspunkt der Produktion
4.2.1 Der Interventionspunkt der Reproduktion
4.3 Interventionspunkte der Zerstörung
4.4 Interventionspunkte des Konsums
4.5 Interventionspunkte der Entscheidung
4.6 Interventionspunkte der Annahme
4.7 Das Reframing von Debatten
4.8 Neue Zukunftsvisionen anbieten
4.9 Subversiv sein und eigene Spektakel schaffen
4.10 Das Verborgene sichtbar machen
4.11 Pop(ulär)kulturelle Narrative umfunktionieren
4.12 Brand-Busting
5 Die Erzählung verändern
5.1 Strategisches Improvisieren
5.2 FallbeispielGreenpeace: Rettet die Wale
5.3 FallbeispielRural Vermont: Jede kontaminierte Farm ist eine zu viel
5.4 FallbeispielProtect Our Waters: Schützt das Wasser, unsere kostbarste Ressource
5.6 Fallbeispiel#Healthy Hoods: Umweltgerechtigkeit für alle
5.7 FallbeispielDeutsche Wohnen & Co enteignen (DWE)
5.8 FallbeispielOur Power: Ein neues Klima-Narrativ
5.8.1 Erzählungen von der alten Klimagerechtigkeitsbewegung zur neuen Klimabewegung
6 Mit Innovationen durch Krisen und Veränderungen
6.1 Das große Ganze in den Blick nehmen
6.2 Apokalypse in Zeitlupe
6.3 Erschütterung der Normalität
6.4 Momente in Bewegungen verwandeln
6.5 Erzählungen von Veränderung
6.6 Eine Bewegung der Erzähler*innen
Nachwort zur deutschsprachigen Ausgabe
Die Synergie der Erzählungen
COVID-19-Krise, Resilienz und die Frage, wie wir leben wollen
Es ist nicht die Zeit für Reformen, sondern für große Veränderungen
Konkretes Framing zu COVID-19
Von der gemeinsamen ›Story‹ zur Strategie und Struktur der Veränderung
Anhang
Glossar
Literatur
Leseempfehlungen zur deutschsprachigen Ausgabe
Danksagung der Autor*innen
Über das Center for Story-based Strategy
Anmerkungen
von Timo Luthmann
Erzählungen sind die grundlegende universale Form, wie wir Erfahrungen weitergeben. Die im vorliegenden Buch von Doyle Canning und Patrick Reinsborough dargelegte Methode der erzählungsbasierten Strategie stellt Erzählungen ins Zentrum des politischen Organisierens. Als Autor des Handbuchs Nachhaltiger Aktivismus[1] hat mich dieser Ansatz geprägt und ist ein wichtiger Bestandteil der ersten Säule des Nachhaltigen Aktivismus, der »Reflexion über soziale Veränderung & Strategie«[2]. Nachdem ich 2010 auf die erste US-Ausgabe dieses Buches aufmerksam geworden bin, war ich davon beeindruckt, wie Reinsborough und Canning hier Inhalte praktisch verknüpft haben, die ich vorher nur überall verstreut gelesen und gesehen hatte. Hier fand ich auch plausible Antworten auf so komplexe Fragen wie die, warum Fakten alleine nicht ausreichen, um Menschen zu überzeugen, und wie wir unsere Kommunikation in Kampagnen effektiver gestalten können.
In dieser praktischen Methode sah ich ein essenzielles Handwerkszeug auch für die sozialen Bewegungen im deutschsprachigen Raum. Deshalb fing ich an, Workshops über erzählungsbasierte Strategie beispielsweise auf der Linken Medienakademie zu geben, und empfahl zudem das Buch Freund*innen, die sich mit Pressearbeit und Storytelling in der Klimagerechtigkeitsbewegung beschäftigen. Aus diesen Zusammenhängen ist glücklicherweise ein zweiter Bewegungsschatz entstanden, das Handbuch Pressearbeit. Soziale Bewegungen schreiben Geschichte*n[3].
Dass ich nun – zehn Jahre später – als Herausgeber der zweiten erweiterten Auflage dieses Buchs in deutscher Sprache fungieren darf, ist mir eine besondere Freude. Gleichzeitig sind die gesellschaftlichen und diskursiven Herausforderungen in den letzten Jahren durch die Zuspitzung der sozial-ökologischen Krise mit Phänomenen wie der Klimaerhitzung, dem Artensterben sowie zunehmendem Rechtspopulismus rasant gestiegen. Unter dem Brennglas der akuten COVID-19-Pandemie haben sich Ausgrenzungs- und Unterdrückungsmechanismen aufgrund von Hautfarbe, Geschlecht oder Klasse noch einmal verdichtet. Gerade in diesen Krisenzeiten sind erzählerische Kompetenzen zur Verteidigung unserer Rechte wichtig. Darüber hinaus können erzählungsbasierte Strategien ein wichtiger Baustein sein, um politisch in die Offensive zu kommen, und so zu langfristigen Erfolgen emanzipativer sozialer Bewegungen beitragen. Ich wünsche mir für das Buch eine weite Verbreitung auch über diejenige Leser*innen hinaus, die sich in Presse-AGs von Kampagnen engagieren oder bei Nichtregierungsorganisationen in diesem Bereich arbeiten. Wir brauchen an der Basis ein Grundlagenwissen zur Bedeutung und Gestaltung von Erzählungen, um so zu einer Bewegung von Geschichtenerzähler*innen zu werden, die authentisch inspiriert. Denn, so die Journalistin und Buchautorin Julia Fritzsche: »Das Besondere am Konzept der ›Erzählung‹ im Gegensatz zum – im Zusammenhang mit sinnstiftenden Ideen für eine Gemeinschaft auch am meisten gebrauchten – Konzept der ›Ideologie‹ ist, dass sich an einer Erzählung, am Erzählen, viele beteiligen können.«[4]
Nicht erst seit Edward Bernays Klassiker Propaganda[5] wissen wir, dass Manipulation und Täuschung zum politischen Kerngeschäft der Herrschaftssicherung gehören. Erfolgreiche Erzählungen knüpfen am Alltag der Menschen an und beziehen sich auf gemeinsame Erfahrungen. Dieses Wissen nutzen die Presseabteilungen der Konzerne und Polizei ebenso geschickt wie Rechtspopulist*innen und Verschwörungsanhänger*innen. In Zeiten von Fake-News können wir nur mit demokratisierten erzählerischen Kompetenzen, die ethisch fundiert sind, der Herrschaft ein Schnippchen schlagen. Damit diese demokratisierten Erzählungen aus dem Grundrauschen der Gesellschaft hervortreten und besser wahrgenommen werden können, braucht es zudem eine kollektive Entwicklung von gemeinsamen Narrativen und deren Bündelung. Im zweiten Schritt folgt dann deren mediale Aufbereitung, um mit professioneller Pressearbeit die gesellschaftliche Wahrnehmung zu erhöhen.[6]
Ebenso ist es notwendig, die Werkzeuge des Center for Storybased Strategy (CSS) zu inkulturieren und für uns praktisch weiterzuentwickeln. Ob wir z. B. eine bundesweite Klimagerechtigkeitskampagne oder eine lokale Antifagruppe sind, stehen wir bei den verschiedenen Politikstilen und Bedürfnissen vor unterschiedlichen Herausforderungen.
Wenn wir z. B. der Tradition des Community Organizings nach Saul Alinsky folgen, die sich auf lokale, realpolitische Reformen konzentriert, fällt es uns wesentlich leichter, konkrete Ziele zu benennen, als wenn wir uns an die momentumbasierende Organisierung halten, die einen Bewegungs- und Kapazitätenaufbau für einen tiefgreifenderen Wandel im Fokus hat. Hier brauchen wir den Mut, Sachen auszuprobieren und mit Experimentierfreude daran zu basteln, wie wir praktischen Diskursverschiebungen näherkommen.
Das richtige Narrativ zur richtigen Zeit kann durch geschickte Interventionen schneller wirkmächtig werden, als wir denken. Mit der Forderung den Climate Emergency anzuerkennen, als Zeichen, die Dringlichkeit des Klimawandels ernst zu nehmen, gelang Extinction Rebellion (XR) die Diskursverschiebung in UK, was zur Folge hatte, dass dann auch viele bundesdeutsche Städte für sich den »Klimanotstand«[7] ausriefen. Doch wenn die Diskursverschiebung nicht mit ausreichend Gegenmacht unterfüttert ist, besteht die Gefahr von »business as usual« und der Erodierung der Bewegung. Die diskursive oder erzählerische Gegenmacht alleine reicht nicht, um die Verhältnisse zu ändern, sondern sie muss in einer Kampagne durch physische oder ökonomischer Gegenmacht gestützt werden, damit sie nicht von Lobbyist*innen der Industrie oder innerhalb parteipolitischer Spielchen aufgerieben wird. Wenn wir dies im Kopf behalten, können uns die Ideen in diesem Buch sehr nützlich sein. Befreiung neu denken erläutert die diskursive Macht von Erzählungen und zeigt an vielen Beispielen, wie sie in direkte Aktionen eingebettet werden kann.
Timo Luthmann,
Juni 2020
Dieses Buch ist all den Menschen auf der Welt gewidmet, die jemals von einer besseren Welt geträumt haben und den Mut aufbrachten, für ihre Vision zu kämpfen.
Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann trommlekeine Menschen zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen,sondern lehre die Menschen die Sehnsuchtnach dem weiten, endlosen Meer.
– Antoine de Saint-Exupéry –
No necesitamos pedir permiso para ser libres.
– Vierte Erklärung aus dem Lakandonischen Urwald der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) –
Die Dichterin Audre Lorde erinnert uns daran: »Es gibt keine neuen Ideen. Es gibt lediglich neue Arten, sie spürbar zu machen.« Was könnte weniger neu sein als die Macht von Geschichten? Das Erzählen von Geschichten ist eine der Grundlagen menschlicher Kultur und war für erfolgreiche Kampagnen und Bewegungen mit dem Ziel sozialer Veränderungen schon immer von zentraler Bedeutung.
In diesem Sinne sind wir den Bewegungen, die vor uns für Gerechtigkeit, Würde und eine saubere Umwelt gekämpft haben, zu Dank verpflichtet. Beide Autor*innen dieses Buches haben Wurzeln in der irischen Diaspora, einer Gemeinschaft, welche die Macht einer guten Erzählung zu schätzen weiß (und es erfüllt uns mit etwas Stolz, dass das moderne Wort »Slogan« dem gälischen Wort für Schlachtruf entstammt), allerdings verbindet dieses Buch die Erkenntnisse unterschiedlicher Strategien zur Erreichung von sozialem Wandel: von Alinsky bis zum Zapatismus; von der kritischen Pädagogik bis zu Werbung, Branding und Kommunikationsstrategien; von Graswurzelorganisator*innen an der Basis bis zu Akademiker*innen der Harvard Kennedy School. Die Methode der erzählungsbasierten Strategie kombiniert dabei Elemente aus einer Vielzahl von Praktiken für sozialen Wandel – Community Organizing, gewaltfreie direkte Aktion, Bündnispolitik, Machtanalyse, Kampagnenarbeit –, um ein neues strategisches Denken und neue Formen der kreativen kulturellen Intervention zu ermöglichen.
Wir sind insbesondere dem amerikanischen pan-indigenen Widerstand, seiner Organisation und seiner Tradition des Geschichtenerzählens für die Erkenntnisse zu Dank verpflichtet, die wir durch ihn gewinnen konnten. Unser Denken wurde dabei besonders von den Ideen und Praktiken der mexikanischen EZLN – besser bekannt als zapatistische Bewegung – beeinflusst. Der von Indigenen angeführte Aufstand von 1994, der oft als erste »postmoderne Revolution« bezeichnet wird, begann am ersten Tag des Inkrafttretens des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) und offenbarte die Macht, die Spektakel, Symbole und narrative Interventionen haben können, um die pathologische neoliberale Weltordnung infrage zu stellen. Die zapatistische Forderung nach einer »Welt, in der viele Welten Platz haben« half dabei, weltweite Netzwerke des Widerstandes und der Transformation zu entfachen, die weiterhin eine Vielfalt von Initiativen animieren, sich der unterdrückerischen Monokultur in all ihren Formen zu widersetzen.[8]
Die erzählungsbasierte Strategie ist ein sich entwickelnder Ansatz, der von Menschen in zahlreichen Bereichen vorangetrieben wird. Sie vereint unter ihrem Dach unterschiedliche Praktiken, die schon immer Teil von erfolgreichen Veränderungen waren, deren zeitlose Kunst des Geschichtenerzählens für den sozialen Wandel jedoch an den gegenwärtigen Kontext angepasst werden. Diese Werkzeuge und Techniken wurden durch das gemeinsame Nachforschen, Experimentieren und Anwenden einer Gruppe von Aktivist*innen herausgearbeitet, die mit dem Center for Story-based Strategy (CSS) zusammenarbeiten, einem Projekt für Bewegungsstrategie, das 2002 gegründet wurde, um die Erzählung als einen Schauplatz der Kontrolle, Auseinandersetzung, Intervention und möglicher Transformation zu erkunden. Dieses Buch basiert auf dieser machtvollen Grundlage.
Unsere ersten Untersuchungen basierten auf drei einfachen Annahmen, die weiterhin den Ansatz der erzählungsbasierten Strategie prägen:
1. Wir leben in einer einzigartigen Zeit in der Geschichte unseres Planeten, die es erfordert, dass wir die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Systeme grundlegend verändern, die unsere Leben strukturieren. Das auf der Grundlage von Extraktion und Ausbeutung basierende wirtschaftliche Modell der Gegenwart befindet sich auf direktem Kollisionskurs mit den lebenserhaltenden Systemen unseres Planeten. Zu dem Zeitpunkt, an dem wir dies schreiben, beträgt die Kohlenstoff-Konzentration in der Atmosphäre 406 ppm, was weit über dem liegt, was Wissenschaftler*innen als sicher erachten und die Tendenz ist weiter steigend.[9] Nicht zufälligerweise führt dieses System auch dazu, dass sich auf Kosten von Demokratie, Menschenrechten und dem Wohlergehen der meisten Menschen auf diesem Planeten Reichtum und Macht in den Händen einiger Weniger konzentriert. Zu dem Zeitpunkt, an dem wir dies schreiben, besitzen acht Männer mehr Reichtum als die 3,6 Milliarden Menschen, welche die ärmste Hälfte der Weltbevölkerung ausmachen.[10] Selbstverständlich wird ein solch ungerechtes System zunehmend instabiler und zieht daher immer mehr Repression, Militarismus und soziale Kontrolle nach sich, um sich selbst zu erhalten. Daher rührt auch der Aufstieg der extremen Rechten und des Neofaschismus. Zu dem Zeitpunkt, an dem wir dies schreiben, wurde gerade in den Vereinigten Staaten ein autoritärer Demagoge und milliardenschwerer Fernsehstar als 45. Präsident ins Amt eingeführt. Wir müssen also verstehen, dass die strukturellen Wurzeln unserer gemeinsamen Probleme über einzelne Kämpfe hinausgehen und wir diese verbinden müssen: Wenn wir dafür kämpfen, das Klima wieder zu stabilisieren, müssen wir auch den Kampf gegen Rassismus voranbringen; wir können keine Kriege beenden, ohne mit unterbezahlten Arbeiter*innen die Wirtschaft zu transformieren. Mit den Worten des Slogans, der durch den People’s Climate March 2014 in New York populär gemacht wurde: »Um alles zu verändern, brauchen wir alle!«
2. Gesellschaftliche Veränderung geschieht, wenn gewöhnliche Menschen zusammenkommen und sich unter einem gemeinsamen Ziel als Teil einer größeren sozialen Bewegung organisieren. Die Geschichte des menschlichen Fortschritts zeigt, dass tief verwurzelte Probleme überwunden und außergewöhnliche Veränderungen – wie die Abschaffung repressiver Institutionen, die Erlangung neuer Rechte, die Umverteilung von Ressourcen, der Sturz von Diktatoren – erreicht werden können, wenn Menschen sich organisieren und den Rahmen dessen erweitern, was politisch möglich ist. Wir glauben, dass die schärfste Analyse sozialer Probleme von denjenigen kommt, die unmittelbar davon betroffen sind und dass Bewegungen, die von dieser Basis aus angeführt werden, die verlässlichsten Kräfte für strukturelle Veränderung sind. Unsere Praxis basiert auf der Annahme, dass Momente historischer sozialer Konfrontation, die Freiheit und Gerechtigkeit voranbringen, nicht bloß zufällige Ereignisse sind, die »einfach geschehen«. Vielmehr sind diese Konfrontationen von den Strateg*innen sozialer Bewegungen geplant oder aber sie werden von ihnen genutzt. Sie verstehen, dass Narrative die Macht besitzen, die öffentliche Meinung zu formen und dass politische Macht durch kollektive Handlungen manifestiert wird. Dieses Buch ist konzipiert, um die Organisator*innen von heute zu unterstützen, die aktiv daran arbeiten, den Lauf der Geschichte zu verändern.
3. Um Strukturen zu verändern, müssen wir die Narrative verändern. Damit soziale Bewegungen über ihren eigenen Kreis hinaus Gehör finden, müssen sie größere Narrative kommunizieren und eine kritische Masse innerhalb der Gesellschaft davon überzeugen, dass grundlegende Veränderungen nicht bloß möglich, sondern dringend notwendig sind. Das Narrativ ist der zentrale Schauplatz des Kampfes und der Auseinandersetzung: ein mächtiges Werkzeug emanzipatorischer sozialer Bewegungen, aber auch eine Waffe zur Aufrechterhaltung elitärer Kontrolle oder zur Entfesselung von reaktionären Wellen der Intoleranz und Gewalt. Insbesondere in den Vereinigten Staaten des 21. Jahrhunderts, wo die Maschinerie narrativer Kontrolle ein völlig neues Niveau erreicht hat (durch Konsumkultur, Unternehmenspropaganda, politische Manipulation und Informationskriege im großen Stil), brauchen soziale Bewegungen bessere Werkzeuge, um die Narrative anzufechten, die strukturelle Veränderung verhindern, und um unsere eigenen Geschichten darüber zu erzählen, was tatsächlich möglich ist.
Die anfänglichen Bemühungen des CSS in den frühen 2000er Jahren führten zu einigen vorläufigen Einsichten, wie die Macht von Narrativen verstanden und genutzt werden kann. Trainingsprogramme, kreative Experimente und die direkte Unterstützung von Graswurzelbewegungen und Massenaktionen führten auf natürliche Weise zu Partnerschaften mit Organisationen, um die Ideen in der Praxis auszuprobieren. Im Verlauf der darauffolgenden anderthalb Jahrzehnte hat sich das CSS mit Hunderten bedeutenden Graswurzelorganisationen zusammengetan, um neues Licht auf Probleme zu werden, Bündnisse zu schmieden und Kampagnen zu gewinnen. Das CSS hat über 5.000 Organisator*innen und Basisaktivist*innen ausgebildet und veranstaltet seit 2011 jährlich ein fünftägiges Trainingsprogramm für Fortgeschrittene. In diesen Jahren des angewandten Experimentierens wurde die Methode der erzählungsbasierten Strategie, wie sie in diesem Buch dargelegt wird, erschaffen, ausprobiert und in großem Umfang eingesetzt.
Zu Beginn unserer Arbeit begegnete uns die Welt der nichtkommerziellen, professionellen Lobbyarbeit und der humanitären Hilfsorganisationen häufig mit Skepsis. Viele verstanden Narrative als ein Nischenunterfangen, eine Nebensächlichkeit oder gar eine Ablenkung von der Lobbyarbeit, bei der Entscheidungsträger*innen mit wohldurchdachten, faktenbasierten Argumenten überzeugt werden sollen. Viel zu häufig gewinnen Progressive den Kampf um die Fakten, nur um dann den Kampf um die Erzählungen zu verlieren, ganz zu schweigen vom größeren Kampf um die Ideen. Doch wir sind ermutigt, berichten zu können, dass sich diese Dynamik in den letzten Jahren langsam verändert. In der Zeit seit dem Bestehen unserer Organisation (2002) bis zur Veröffentlichung des Prototyps dieses Buchs als viel genutztes Online-Handbuch (2008) bis hin zum Erscheinen der zweiten Ausgabe (2017) ist das Interesse für Narrative und Geschichten exponentiell gestiegen. Zu dem Zeitpunkt, an dem wir dies schreiben, mobilisieren aufrichtige Menschen aus allen Gesellschaftsschichten den Kampf gegen das neue US-Regime, dessen Weg zur Macht von Angstmache, Rassismus, Frauen- und Fremdenfeindlichkeit geprägt war. Wir glauben heute mehr als je zuvor, dass Strategien zur Anfechtung narrativer Macht, wie sie in diesem Buch formuliert werden, für den Widerstand gegen das Trump-Regime und für die umfassenderen Versuche der Veränderung der US-amerikanischen Gesellschaft eine grundlegende Rolle spielen.
Die vergangenen 15 Jahre waren eine Zeit der rapiden Veränderungen, in der die Gesellschaft gezwungen war, mit grundlegenden Verschiebungen im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie sowie der Medien umzugehen. Insgesamt führt das Ende der klassischen Medien zu Veränderungen in der politischen Ökonomie der Repräsentation, Veränderungen, mit denen alle, einschließlich sozialer Bewegungen, versuchen mitzuhalten. Die Erkenntnis dieser Veränderungen führte zu dem ursprünglichen Interesse des CSS an Viralität und Memes – selbstreproduzierenden Kultureinheiten, die Ideen und Narrative mit sich tragen, während sie sich verbreiten (siehe dazu Kapitel 2.6).
Der ursprüngliche Name der Organisation – das smartMeme Strategy and Training Project – war inspiriert durch die Rolle, die wohldurchdachte und strategisch eingesetzte Memes in der Verbreitung transformativer Ideen und sozialer Bewegungen spielen können. Im Verlauf der Zeit änderte sich der Name der Organisation, um den größeren Schwerpunkt auf die Methode der erzählungsbasierten Strategie besser abzubilden. Dennoch war es spannend zu sehen, wie das, was wir zuvor »Meme Kampagnenarbeit« genannt haben, in den letzten Jahren mit der durch die sozialen Medien wiedererstarkten Organisierung an immensem Einfluss gewonnen hat. Von #BlackLivesMatter bis hin zu Klimabewegungen und dem Kampf für die Rechte von Migrant*innen zeigen wirkmächtige neue Formen dezentralisierter Bewegungsarbeit, wie Narrative vernetzte Gemeinschaften zum Handeln und zur Veränderung von Diskursen motivieren können.[11]
Die Jahre des Experimentierens im CSS haben unsere ursprünglichen Vermutungen über das transformative Potential von narrativen Strategien für gesellschaftliche Veränderung nur noch weiter verstärkt. Wie wir im Verlauf der Jahre gelernt haben, gibt es immer noch mehr Ideen zu entdecken, mehr Geschichten zu erzählen und mehr Interventionen zu erdenken.
Befreiung neu denken ist ein Hilfsmittel für Menschen, die positive Veränderung gestalten und unsere Gesellschaft in eine gerechtere und nachhaltigere Zukunft führen wollen. Dieses Buch ist als eigenständige Einführung in die Methode der erzählungsbasierten Strategie konzipiert und kann als Hilfsmittel für Workshops zur erzählungsbasierten Strategie begleitend verwendet werden.
Der Ansatz der erzählungsbasierten Strategie ist für alle relevant, die daran interessiert sind, Narrative, Macht und den Horizont des Möglichen zu verstehen. Auch wenn Kommunikationsspezialist*innen sicherlich eine unserer Zielgruppen darstellen, ist dieses Buch für alle gedacht, die in irgendeiner Art und Weise an gesellschaftlicher Veränderung arbeiten. Ein grundlegendes Verständnis von Narrativen und davon, wie effektive erzählungsbasierte Strategien umgesetzt werden können, sind themenübergreifende Kompetenzen, die alle Aktivist*innen für gesellschaftliche Veränderung im 21. Jahrhundert brauchen, um erfolgreich zu sein.
Im Verlauf seiner ständigen Weiterentwicklung wurde der Ansatz der erzählungsbasierten Strategie konzeptionell sowie sprachlich immer präziser. Sprache strukturiert das Denken und die erzählungsbasierte Strategie ist in erster Linie eine bestimmte Art zu denken. Daher beinhaltet der Text teilweise eine spezielle Terminologie. Dabei ist es keineswegs unsere Absicht, mittels Jargon irgendetwas zu mystifizieren, sondern vielmehr die Kraft präziser Bezeichnungen zu nutzen, um Ideen zu verdeutlichen und wichtige Praktiken hervorzuheben. Wir haben am Ende dieses Buches ein Glossar zusammengestellt, um Schlüsselbegriffe des Handbuchs zu definieren. Begriffe aus diesem Glossar sind bei ihrer ersten Nennung innerhalb eines Kapitels hervorgehoben gedruckt. Wo es sich anbietet, haben wir Anmerkungen ergänzt, in denen Hintergrundinformationen und Verweise zu finden sind, um allen Neugierigen die Möglichkeit zu geben, weniger bekannte Themen weiter zu verfolgen oder den unterschiedlichen Strängen zu folgen, die im Text aufgenommen wurden.
Wir haben unser Bestes gegeben, um ein schnelles Nachschlagen und eine einfache Verwendung zu ermöglichen. Das Buch beginnt mit einer grafischen Übersicht zum Kampagnenmodell erzählungsbasierter Strategie und ist danach in sechs Hauptabschnitte gegliedert. Kapitel 1 beschreibt, wie tief das Narrativ in der menschlichen Erfahrung verwurzelt ist, und legt dar, warum alle Bemühungen um gesellschaftliche Veränderung sich mit Narrativen befassen müssen, um strukturelle Fortschritte zu erzielen. Kapitel 2 untersucht die unterschiedlichen Aspekte narrativer Macht und führt in den theoretischen Rahmen der narrativen Machtanalyse ein, dies beinhaltet auch die Elemente einer Erzählung als Rahmen zur Dekonstruktion oder Erschaffung neuer Geschichten. Kapitel 3 stellt den Rahmen des Kampfes um die Erzählungen dar, mit dem Narrative gesellschaftlicher Veränderung erschaffen und angefochten werden können. Kapitel 4 umreißt das Modell der Interventionspunkte mit einem Schwerpunkt auf direkten Aktionen an Punkten der Annahme als Mittel zur Verschiebung von Narrativen. Kapitel 5 stellt sechs[12] kurze Fallbeispiele der angewandten erzählungsbasierten Strategie in Graswurzelkämpfen der jüngsten Zeit vor. Kapitel 6 ist schließlich ein Aufruf zur Innovation, der zu einer weitergehenden Erforschung der besonderen Relevanz und der Möglichkeiten einer erzählungsbasierten Strategie angesichts unserer aktuellen politischen Situation einlädt.
Dieses Buch ist als Einstieg in diese Praktiken gedacht. Das CSS hat zahlreiche Werkzeuge und Materialien entwickelt, um Basisaktivist*innen und Organisator*innen in der Anwendung dieser Konzepte zu unterstützen, entweder als individuelle Strateg*innen oder innerhalb eines partizipativen Rahmens aus Gruppen und Bündnissen. Viele dieser Materialien können auf der Internetseite des CSS unter www.storybasedstrategy.org gefunden werden. Darüber hinaus finden sich im Text immer wieder Reflexionsfragen, um der Leserin oder dem Leser dabei zu helfen, diese Ideen anzuwenden und in die eigene Arbeit zu integrieren.
Wenn du dieses Buch liest, ist es gut möglich, dass du bereits zu den erzählungsbasierten Strateg*innen gehörst – du weißt es möglicherweise nur noch nicht. Dieses Buch wurde für dich geschrieben und wir hoffen, dass es dir ein Hilfsmittel sein wird, um deine eigenen Interventionen zu strukturieren und zu schärfen. Falls du deine eigene Arbeit also bisher noch nicht im Hinblick auf Narrative betrachtet hast, hoffen wir, dass wenn du das Ende dieses Buches erreichst, du bereit bist, dich den Reihen derjenigen anzuschließen, die sich als erzählungsbasierte Strateg*innen verstehen und auf der ganzen Welt an den drängendsten Fragen und Probleme unserer Zeit arbeiten.
Noch ein letzter Hinweis zur Orientierung: dieses Buch wurde hauptsächlich für ein US-amerikanisches Publikum geschrieben. Um die oft flüchtige Welt narrativer Macht durch geteilte Referenzpunkte greifbar zu machen, beziehen wir uns häufig auf politische Dynamiken und Beispiele aus dem US-amerikanischen Kontext. Der Grund dafür ist sicher nicht, weil die besten Beispiele für erzählungsbasierte Strategie ausschließlich in den USA zu finden sind oder weil wir denken, dass US-amerikanische Bewegungen nichts von unseren internationalen Brüdern und Schwestern zu lernen hätten. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Die historische Rolle von sozialen Bewegungen in den USA – ja selbst die Definition davon, was eine ausmacht – wurde aus der herrschenden Kultur zum Großteil gelöscht und die noch übriggebliebenen Hinterlassenschaften von ihnen wurden durch Sentimentalität und Verzerrung gezähmt. Währenddessen sind die USA ein Epizentrum des finanziellen, militärischen, diplomatischen und kulturellen Systems, das buchstäblich die Zukunft allen Lebens auf diesem Planeten bedroht. Dieses Buch ist Teil unserer Strategie – als Bewohner*innen dieser Erde, die gleichzeitig auch Bürger*innen der USA sind –, die transformative Organisierung innerhalb der USA zu stärken. Wir hoffen, dass internationale Kolleg*innen in unseren Ideen etwas Relevantes finden werden und diese in ihren eigenen politischen und kulturellen Kontexten anwenden können.
Weil wir vor allem praxisorientiert sind, nähern wir uns dieser Arbeit weiterhin mit einem offenen und experimentierfreudigen Geist. Selbst nach 15 Jahren der Entwicklung und Anwendung dieser Ideen haben wir noch immer weit mehr Fragen als Antworten. Es ist unsere aufrichtige Hoffnung, dass Befreiung neu denken den Beginn eines Austauschs zwischen Menschen aus allen Gesellschaftsschichten markiert, die willens sind, groß zu denken, wild zu träumen und wie verrückt für eine bessere Welt zu kämpfen. Befreiung neu denken ist unsere Einladung an Aktivist*innen aus allen Lebensbereichen, ihre Visionen der Veränderung ernst zu nehmen und sich ihrer Macht als Strateg*innen und Geschichtenerzähler*innen bewusst zu werden. Bitte teile deine Erfahrungen, Kritik, Weiterentwicklungen, Fragen und Geschichten mit der größeren Gemeinschaft, die diese Arbeit macht. Beteilige dich an der Debatte unter www.storybasedstrategy.org.
Viele Geschichten sind wichtig. Geschichten wurden benutzt, um zu enteignen und zu verleumden. Aber Geschichten können auch genutzt werden, um zu befähigen und zu humanisieren. Geschichten können die Würde einer Bevölkerung brechen. Aber Geschichten können diese gebrochene Würde auch wiederherstellen.
– Chimamanda Ngozi Adichie –
Das Universum besteht aus Geschichten,nicht aus Atomen.
– Muriel Rukeyser –
Es gibt keine vergleichbare Qual,als eine unerzählte Geschichte in dir zu tragen.– Zora Neale Hurston –
Erzählungen sind zentral für die menschliche Erfahrung, seit wir Menschen sind. Evolutionsbiolog*innen glauben zunehmend, dass es unsere Fähigkeit zum Narrativ ist, die uns dabei geholfen hat, überhaupt zu Menschen zu werden.[13] Wie Lisa Cron in Wired for Story schreibt: »Mit unseren Daumen konnten wir uns festhalten; mit Geschichten wussten wir auch woran.«[14] In der wissenschaftlichen Gemeinschaft existiert ein wachsender Konsens darüber, dass das Erzählen von Geschichten sowie das Genießen von Erzählungen auf neurologischer Ebene an unsere soziale Kognition und die Art und Weise geknüpft ist, wie Individuen sich zu Gruppen zusammenschließen.[15] Es ist eben diese erweiterte Fähigkeit des Erzählens, die uns Menschen im Tierreich wahrlich einzigartig macht.
Menschliche Gehirne sind auf Narrative ausgerichtet. Hirnforscher*innen haben entdeckt, dass das Hören einer bewegenden Geschichte über eine bestimmte Erfahrung die gleichen neurologischen Regionen stimuliert, wie die tatsächliche Erfahrung selbst. In einer Studie aus dem Jahr 2006 wurde außerdem herausgefunden, dass wenn Forschungsteilnehmer*innen Wörter mit starken Geruchsassoziationen wie »Kaffee« oder »Parfüm« lesen, ihre olfaktorischen Kortexe aufleuchten, als würden sie diese Gerüche tatsächlich wahrnehmen.[16] Wenn uns eine Erzählung in eine andere Welt entführt (was von Erzähltheoretiker*innen »Transport« genannt wird), dann ist diese Erfahrung auf der Ebene unserer Gehirnchemie tatsächlich real.[17]
Narrative sind so tief in unserem Denken verankert, dass wir sie sogar dann erkennen, wenn sie eigentlich gar nicht da sind. Im Jahr 1944 haben die Psycholog*innen Fritz Heider und Marianne Simmel in einer experimentellen Studie Teilnehmer*innen eine Animation von zwei Dreiecken und einem Kreis, die sich um ein Viereck bewegen, gezeigt und sie aufgefordert zu beschreiben, was geschehen war. Die überwiegende Mehrheit der Teilnehmer*innen beschrieb nicht das tatsächliche Ereignis von sich bewegenden Formen auf einem Bildschirm. Stattdessen offenbarten ihre Antworten, wie sie auf die geometrischen Formen ein Narrativ projizierten, um eine Geschichte über ihre Beobachtung zu erzählen. Sie beschrieben den Film als soziale Interaktion zwischen drei menschenähnlichen Charakteren mit eigenen Persönlichkeiten, Emotionen und Absichten. Der große Kreis war ein Fiesling, der die Dreiecke »jagte«, das Viereck war ein »Haus« und die Ereignisse waren ein »Kampf«. Zahlreiche Folgestudien haben wiederholt gezeigt, wie wir Menschen als soziale Wesen Erzählungen und narrative Eigenschaften auf nahezu alles projizieren, was wir wahrnehmen.[18]
Der Mensch ist das erzählende Tier, das seine soziale Realität durch die Fähigkeit konstruiert, Erzählungen zu erschaffen, zu interpretieren und zu hinterfragen. Wir erinnern uns an unsere erlebten Erfahrungen, indem wir sie in Erzählungen verwandeln und sie in unser persönliches und kollektives Netz aus Narrativen einweben. Wir denken, träumen und glauben durch die Brille des Narrativs.
Reflexionsübung: Storytelling
Namenserzählungen: Was ist dein vollständiger Name? Warum trägst du diesen Namen? Erzähle die Geschichte!
Familienerzählungen: Gibt es Geschichten, Fabeln oder Legenden, die dir als Kind erzählt wurden? Wähle eine davon aus und erzähle sie erneut. Woher kommt sie? Gibt es Lehren, die du aus ihr gezogen hast? Hat sie noch heute Auswirkungen auf dich?
Dies veranlasste den Erzähltheoretiker Walter Fischer zu dem Vorschlag, uns wissenschaftlich statt als Homo Sapiens, was grob übersetzt »verstehender Mensch« bedeutet, vielmehr als Homo Narrans, den »geschichtenerzählenden Mensch«, zu klassifizieren.[19] Tatsächlich sind diese zwei Konzepte – Verstehen und Erzählen – in der menschlichen Erfahrung schon immer eng miteinander verbunden. Das Wort Narrativ selbst leitet sich von der indogermanischen Wurzel gnō- ab, was »wissen« bedeutet, denn etwas zu wissen, bedeutet, die Geschichte darüber zu kennen.
Das Gesetz sperrt ein Männer und Frau’nDie der Allmende Gänse klau’nDoch dem größ’ren Schurken es erlaubt,Dass der Gans er die Allmende raubt.– Englisches folkloristisches Gedicht aus dem 17. Jahrhundert –
Im Juli 1846 stand der Philosoph und Schriftsteller Henry David Thoreau vor einer Wahl: entweder seine Steuern zahlen und damit Amerikas expansionistischen Krieg gegen Mexiko unterstützen oder ins Gefängnis gehen. Er folgte seinem Gewissen – gegen den Imperialismus nach außen und die Sklaverei im Inneren – und entschied sich für die Gefangenschaft. Diese eine Nacht im Gefängnis inspirierte ihn zu seinem Essay »Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat«, in dem er für zivilen Ungehorsam angesichts ungerechter Regierungen eintritt.[20] Seine Schrift sollte später Mahatma Gandhi, Dr. Martin Luther King Jr. und Generationen von Menschen beeinflussen, die ihren Gewissen folgten.
Thoreau beklagte sich darüber, dass die meisten Aktivist*innen seiner Zeit ihre Energie in die Bekämpfung der Symptome von Problemen steckten, anstatt die Wurzeln anzugehen. Darüber besorgt, dass seine abolitionistischen und kriegsgegnerischen Ansichten im politischen Diskurs seiner Zeit nicht reflektiert würden, schrieb er: »Tausende hacken an den Ästen des Übels herum, doch nur einer trifft die Wurzel.«
Thoreaus Metapher der Äste und Wurzeln veranlasst noch heute zu der grundsätzlichen Frage: Warum gibt es keinen größeren Aufschrei bezüglich der Wurzeln der Ungerechtigkeit? Warum fließt nicht mehr Energie in die Bekämpfung der Wurzeln unserer Probleme statt in die der Symptome?
Eine Antwort darauf ist, dass die von Thoreau angeprangerten Arten der Ungerechtigkeit oft unsichtbar sind, vor aller Augen verborgen. Strukturelle Übel, die innerhalb der täglichen Abläufe von Institutionen unsichtbar gemacht werden und durch repressive kulturelle Normen oder den absichtlich begrenzten Rahmen der politischen Debatte verschleiert werden. Als »System« zusammengenommen, sind die institutionellen Machtbeziehungen, aus denen die moderne Gesellschaft besteht, oftmals undurchsichtig. Innerhalb einer Kultur werden sie durch die dominierenden Erzählungen verborgen, die den Status quo der Machtbeziehungen rechtfertigen und definieren, was als ›normal‹ gilt. Diese Erzählungen werden so oft wiederholt, dass die meisten Menschen in privilegierten Situationen (für die das System gut funktioniert) nicht auf die Idee kommen, sie zu hinterfragen. Auf diese Weise entstehen unhinterfragte Mythen (wie in Kapitel 2 gezeigt wird, stellen Mythen die wirkmächtigste Form des Narrativs dar), die historisch gewachsene Machtstrukturen unterfüttern und gleichzeitig die Wurzeln struktureller Probleme verschleiern.
Damit wir als Aktivist*innen an den Wurzeln ansetzen können, müssen wir die Fähigkeit entwickeln, die Erzählungen – und nicht nur die institutionellen Machtstrukturen – zu identifizieren, zu analysieren und zu verändern, welche der dringend notwendigen Veränderung im Weg stehen. Durch geschicktes Handeln können erfolgreiche soziale Bewegungen mehr verändern als nur die Gesetzgebung – wir erfinden die Erzählung darüber, was in unserer Gesellschaft überhaupt möglich ist, neu. Dieses Buch soll denjenigen, die sich der drängenden Notwendigkeit als auch der einzigartigen Möglichkeit dieses historischen Momentes bewusst sind, zeigen, dass wir in unseren Bewegungen dem Narrativ mehr Priorität geben müssen, wenn es darum geht, unsere Strategien zu entwickeln. Eben dies ist die Arena der erzählungsbasierten Strategie.
Die Vergangenheit ist niemals tot. Sie ist nicht einmal vergangen.– William Faulkner –
Fünf Jahrhunderte europäischer kolonialer Expansion und organisierter weißer Vorherrschaft haben unzählige Kulturen ausgemerzt, ganze Ökosysteme zugrunde gerichtet und uns ein Erbe voller Rassismus, wirtschaftlicher Ungleichheit, Militarismus und globaler Ungerechtigkeit hinterlassen. Über zweihundert Jahre der intensiven Ausbeutung natürlicher Ressourcen, Industrialisierung und des durch fossile Brennstoffe angetriebenen Wirtschaftswachstums haben die lebenserhaltenden Systeme unseres Planeten an die Grenze ihrer Belastbarkeit geführt.
Im Laufe der Zeit haben sich die Gier, der Rassismus und die Gewalt der Vergangenheit in die Institutionen und die Annahmen eingeschrieben, die das globale System bestimmen: von nationalen Gesetzgebungen und dem Einfluss multinationaler Konzerne über internationale Finanz- und Handelsregime bis hin zum kollektiven Gefühl dafür, was politisch überhaupt möglich ist. All diesen sich überschneidenden Systemen liegt die Logik der Vergangenheit zugrunde: sie rationalisiert, rechtfertigt und normalisiert. Die Mythen des Konquistadors, des Sklavenhalters und des »Pioniers«, der Indigene ermordet, leben weiter fort in Ökonom*innen, die geplünderte Ökosysteme lediglich im Licht einer positiven Unternehmensbilanz betrachten, Politiker*innen, die Angst und Rassismus benutzen, um ihre Macht auszubauen, oder Vorstandsvorsitzenden, die ihre Profite maximieren, indem sie ihren Arbeiter*innen einen Hungerlohn zahlen.
Wenn wir unsere gegenwärtige Welt der miteinander verzahnten sozialen und ökologischen Krisen aus diesem Blickwinkel betrachten, können wir sehen, dass wir in einer Ära der überholten Erzählungen leben; in einer Zeit, in der viele unserer vorherrschenden politischen und wirtschaftlichen Institutionen von destruktiven Erzählungen geprägt sind, die ihren Ursprung in der über viele hundert Jahre hinweg verübten Gewalt und Ausbeutung haben. Diese Erzählungen waren zwar niemals wahr, doch wurden sie durch konzentrierte Macht normalisiert und viele Menschen waren gezwungen, sie zu akzeptieren. Doch nun lässt ihr Einfluss immer mehr nach.
Riesige Öl-, Kohle- und Gas-Unternehmen (sowie ihre Unterstützer*innen in den Regierungen) erzählen uns noch immer, dass wir auch den allerletzten Rest fossilen Brennstoffs brauchen, selbst wenn wir dafür Berggipfel in die Luft sprengen, unsere Kinder vergiften und die Stabilität unseres Klimas aufs Spiel setzen müssen. Das ist eine überholte Erzählung.
Riesige Unternehmen wie McDonald’s oder Walmart behaupten, dass sie trotz Profiten in einer Höhe, die das Bruttoinlandsprodukt vieler Länder winzig erscheinen lassen, ihren Mitarbeiter*innen keinen existenzsichernden Lohn zahlen können. Das ist eine überholte Erzählung.
Politiker*innen wiederholen alte rassistische Lügen: dass von der Polizei ermordete Menschen den Tod verdient hätten und dass Schwarze Menschen, die für Freiheit, Würde und gegen rassistische Ungerechtigkeit kämpfen, eigentlich Gangster seien. Das ist eine überholte Erzählung.
Reflexionsübung: Überholte Erzählungen
Was sind Beispiele für überholte Erzählungen, die dir in deiner Arbeit begegnen?
Wer glaubt noch immer daran?
Was unternimmst du, um diese veralteten Erzählungen infrage zu stellen?
Fangen sie an, sich zu verändern?
Und natürlich die allgegenwärtige und immer stärker personalisierte Werbung, die uns weismachen will, dass es Glück und Fortschritt bedeute, immer mehr und mehr zu konsumieren, unabhängig von dem Preis, den die Menschen und der Planet dafür zu zahlen haben. Das ist eine überholte Erzählung.
Hinter diesen überholten Erzählungen stehen mächtige und rücksichtslose Interessen, aber das bedeutet nicht, dass sie unveränderbar sind. Tatsächlich können sie mit ihrer offen zur Schau getragenen Heuchelei und ihren Widersprüchen dem prüfenden Blick der Öffentlichkeit oft nicht standhalten. Der Ansatz der erzählungsbasierten Strategie hilft uns dabei, sie als Schwachstellen (was wir später Interventionspunkte nennen werden) in unserem ungerechten System auszumachen.
Während der Einfluss der überholten Erzählungen auf das Bewusstsein der Massen schwindet, öffnet sich ein Raum für neue Erzählungen. Die alten Narrative werden tagtäglich von einer transformativen Organisierung angefochten, die in Gemeinschaften auf der ganzen Welt stattfindet. Diese überholten Erzählungen werden von einer inspirierenden neuen Generation von Bürgerrechtsaktivist*innen angefochten, die aus der BlackLivesMatter-Bewegung hervorgegangen ist. Sie werden von Arbeiter*innen angefochten, die für einen existenzsichernden Lohn, das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung und viele andere Ziele kämpfen, um Arbeitsplätze sicherer, würdevoller und gerechter zu gestalten. Sie werden von Aktionen rund um den Globus angefochten, mit dem Ziel fossile Brennstoffe in der Erde zu lassen und Investitionen in saubere, erneuerbare und dezentrale Energielösungen umzuleiten.
Immer mehr Menschen helfen unserer globalen Gemeinschaft dabei, diese Erzählungen hinter sich zu lassen, mit denen die Beschränkungen menschlicher Freiheiten und die Zerstörung des Planeten gerechtfertigt wurden. Der Widerstand gegen diese toxischen Erzählungen hat zu neuen Bündnissen geführt und neue Bewegungen entwerfen neue Wege hin zu alternativen und besseren Zukunftsvisionen. Dieses Buch versucht, eine bessere Zukunft etwas näherzubringen, indem es die Aufmerksamkeit darauf lenkt, wie Macht durch Narrative wirkt, und indem es grundlegende Vorgehensweisen anbietet, wie um Macht im Reich der Narrative gerungen werden kann.
Eine soziale Bewegung erzählt eine neue ›Geschichte‹.– Marshall Ganz –
Die Auswirkungen von gesellschaftlichen Veränderungen sind leicht zu entdecken, sobald organisierte Gruppen diese in der bestehenden Machtstruktur erkämpft haben: Streikende Arbeiter*innen erhalten höhere Gehälter, ein korrupter Politiker wird aus dem Amt gewählt, eine Bürgerinitiative erreicht eine Veränderung der Richtlinien, nach denen eine Polizeibehörde arbeitet. Der Weg hin zu diesen Erfolgen ist dagegen meist weniger sichtbar.
Der Kampf um gesellschaftliche Veränderung wird in vielen verschiedenen Arenen ausgetragen, aber unabhängig von der Art des Vorhabens gibt es eine gemeinsame Arena, in der sich alle behaupten müssen: das Feld der öffentlichen Meinung. Diese oft unsichtbare Arena umfasst den schwer fassbaren Bereich der Erzählungen, Konzepte und Annahmen, mit denen die Sachverhalte, Zusammenhänge und Institutionen definiert und gestaltet werden, die wir zu ändern versuchen.
Es gibt viele Instrumente, um die öffentliche Meinung zu erfassen, und sie alle können für eine Kampagne wichtige Hilfsmittel darstellen. Erzählungsbasierte Strateg*innen reagieren allerdings nicht nur auf die öffentliche Meinung, sie formen sie. Um erfolgreich zu sein, müssen wir Strategien entwickeln, die den Rahmen einer Debatte verschieben, und dann die Zeit und Ressourcen aufbringen, um die Erzählung zu verändern und die Öffentlichkeit für unsere Sache zu gewinnen
Betrachten wir beispielsweise die Veränderungen der öffentlichen Meinung in den USA bezüglich der Rechte von LGBTQ-Personen und insbesondere der Frage nach gleichgeschlechtlicher Ehe. Jahrzehnte des Organisierens, des Widerstands gegen gewaltvolle Homophobie und der Kampagnenarbeit in politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereichen führten schlussendlich zu Veränderungen in der Einstellung der Menschen. Doch auf dem Weg dorthin antworteten reaktionäre Kräfte in 30 Staaten mit Veränderungen der jeweiligen Verfassung, mit denen gleichgeschlechtlichen Paaren explizit ihre Rechte abgesprochen wurden. Diese Welt der Gerichte und insbesondere des Verfassungsrechts, hinter dem die gesamte Autorität des Staates steht, ist eine tief verwurzelte und scheinbar unumstößliche Form der Macht.
Dieser von der Fellowship of Reconciliation produzierte Comic aus dem Jahr 1958 erzählt die Geschichte des Montgomery-Bus-Boykotts auf zugängliche Weise und ermutigte seine Leser*innen sich der Bürgerrechtsbewegung anzuschließen. Der Comic erscheint immer wieder in neuen Auflagen und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. (Die deutsche Ausgabe des Comics ist beim Versöhnungsbund erhältlich: https://www.versoehnungsbund.de/buch/1502; A. d. Hrsg.)
Während die Bewegung weiterhin verschiedene juristische Strategien verfolgte, war der bedeutendere Kampf, der in anderen Arenen ausgefochten wurde, wo sie als breitere und vielschichtigere Kraft auftrat, bereits weiter fortgeschritten. Es gab Aufmerksamkeit erregende Kampagnen gegen die homophobe Praxis des »Don’t Ask, Don’t Tell« (»Frag nicht, sag nichts«) im US-Militär, die Hassverbrechen und Schikanierungen zu nationalen Angelegenheiten machten. Immer mehr Menschen, darunter prominente Persönlichkeiten, professionelle Sportler*innen und bekannte Geschäftsleute, bekannten sich öffentlich als LGBTQ-Personen, wodurch sie einen bereits jahrzehntelangen Trend wachsender Sichtbarkeit weiterführten. Währenddessen wurden LGBTQ-Charaktere, ihre Rechte sowie die Frage nach gleichgeschlechtlicher Ehe selbst zu prominenten Themen in Popsongs,[21] Film und Fernsehen.[22]
Im Juni 2015 entschied schließlich der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten im Fall Obergefell v. Hodges, dass gleichgeschlechtliche Paare das Recht haben zu heiraten, wodurch all die staatlichen und bundesstaatlichen Gesetze, die Diskriminierung bisher legalisierten, außer Kraft gesetzt wurden. Auch wenn dieser Sieg in der gerichtlichen Arena erkämpft wurde, wäre es ein schwerer Fehler zu glauben, dass er allein von klugen Anwält*innen errungen wurde. Wie der langjährige Aktivist für gleichgeschlechtliche Ehe und Gründer von Freedom to Marry Evan Wolfson es ausdrückt hat: »Wir haben das Land überzeugt und die Gerichte haben nachgezogen.«[23]
Die LGBTQ-Bewegung und der Kampf für gleichgeschlechtliche Ehe haben gezeigt, was zahlreiche andere soziale Bewegungen bereits demonstriert haben: Fortschritte bei der Veränderung des Narrativs führen auch zu strukturellen Veränderungen in anderen Bereichen. Wenn die Kultur in Bewegung ist, ist es die Macht ebenso. Wenn sich die Erzählung ändert, eröffnen sich neue Möglichkeiten.
Historisch betrachtet standen die Macht von Erzählungen und das Storytelling schon immer im Zentrum von Versuchen gesellschaftlicher Veränderung. Mit wirkungsvollen Erzählungen wie denen von Rosa Parks Weigerung den Sitzplatz zu wechseln, dem AIDS Quilt auf dem Boden der National Mall in Washington oder den mutigen undokumentierten Jugendlichen, die mit Hüten und Talaren bekleidet für eine Reform des Einwanderungsgesetzes demonstrieren, haben Bewegungen die Öffentlichkeit auf ihre Seite geholt. Ein einzelnes weit geteiltes Bild kann eine neue Erzählung verbreiten und die Gefühlslandschaft um ein Thema völlig verändern, was zu dramatischen Veränderungen in der öffentlichen Meinung und damit auch in der Gesetzgebung führen kann: das Bild eines vom Krieg traumatisierten syrischen Flüchtlingskinds; ein hilfloser Eisbär inmitten von schmelzendem Eis;[24] Menschen aus allen Schichten, die gemeinsam ihre Hände hochhalten, um auf das Töten unbewaffneter Schwarzer Personen durch Polizist*innen aufmerksam zu machen.
Doch neben diesen großen öffentlichen Narrativen, die massenhafte Unterstützung wecken, sind Erzählungen auch wichtig für die tägliche, kleinteilige Arbeit für gesellschaftliche Veränderung. Organisator*innen von Bewegungen brauchen das Storytelling, um Beziehungen aufzubauen, Unterstützerkreise zu vereinen und Menschen zu mobilisieren. Wenn Menschen zusammenkommen und ihre Geschichten teilen, erkennen und benennen sie gemeinsame Probleme und schaffen ein Narrativ davon, wie es besser sein könnte. Diese Erzählungen motivieren Handlungen und die Erzählungen von diesen Handlungen werden wiederum erzählt, um zu inspirieren, Strategien zu schärfen und Menschen für weitere Handlungen zu gewinnen. Wenn sich die Erzählung verbreitet und mehr Menschen darin ihre eigenen Erfahrungen und Wünsche erkennen, wächst die Bewegung.
Der Widerstand gegen die Globalisierung der Unternehmen, der mit der eindrucksvollen Blockade des Treffens der Welthandelsorganisation 1999 in Seattle ins Auge der Öffentlichkeit rückte, vereinte viele unterschiedliche Gruppen unter einem geteilten Narrativ, mit dem ›globale Gerechtigkeit‹ gefordert wurde.
Ein gemeinsames Narrativ ist ein prägendes Merkmal einer sozialen Bewegung – es verbindet Menschen über Raum und Zeit durch ein geteiltes Gefühl für Identität und Sinnhaftigkeit. Dieses gemeinsame Verständnis lässt die Teilnehmer*innen die Macht einer Gesamtheit spüren, die größer ist als die Summe all ihrer einzelnen, unterschiedlichen Teile.
Allerdings braucht es mehr als nur gute Geschichten, um eine kollektive Macht aufzubauen, die in der Lage ist, Gesellschaften zu verändern. Auf der anderen Seite der Gleichung steht die Notwendigkeit, die bereits existierenden Erzählungen zu verändern, welche die allgemeine Vorstellungskraft über das, was überhaupt möglich ist, beschränken (was wir in Abschnitt 2.7 als Konzept der »Hegemonie« behandeln). Der Ansatz der erzählungsbasierten Strategie ist eine Einladung dazu, die Arbeit an der Veränderung der Gesellschaft durch die Brille von Erzählungen zu betrachten und dabei zu verstehen, wie Macht und Narrative miteinander verwoben sind.
Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen,durch die sie entstanden sind.– Albert Einstein –
Befreiung neu denken ist eine Einführung in die Methode der erzählungsbasierten Strategie – ein Ansatz für gesellschaftliche Veränderung, der aus den Experimenten und Innovationen einer Gemeinschaft unterschiedlicher Aktivist*innen entstanden ist, die seit 15 Jahren mit dem Center for Story-based Strategy (CSS) verbunden sind.
Dieser Ansatz entstand aus der drängenden Frage, wie Strategien für gesellschaftliche Veränderung angesichts neuer Bewegungen und Herausforderungen des globalisierten Informationszeitalters erneuert werden können. Der Kern einer jeden Bewegungsarbeit – Aufbau enger sozialer Beziehungen, kritische Machtanalyse, Ergreifen strategischer Maßnahmen, Reflexionen, die in die künftige Arbeit einfließen – bleibt gleich, aber wie passen sich diese Praktiken an die sich wandelnde Landschaft politischer Auseinandersetzungen im 21. Jahrhunderts an? Wie gestalten sich Versuche kollektiver Selbstorganisierung im Kontext von sich immer schneller verändernden Medientechnologien? Wie können Stimmen, die für Gerechtigkeit einstehen, in der plattformübergreifenden Medienlandschaft des 24-Stunden-Infotainments bestehen, wo Algorithmen und Clickbaits[25] dominieren?
Das Erzählen von Geschichten ist eine zeitlose Kunst und war für gesellschaftliche Veränderung schon immer relevant, doch in der Gesellschaft von heute ist die Macht von Narrativen für die Aufrechterhaltung sozialer Kontrolle noch viel relevanter geworden. Die alten Narrative, die seit Generationen Ungleichheit und Ausbeutung legitimiert haben, leben heute in subtilerer Form weiter, dabei sind sie speziell auf sorgfältig ausgewählte Zielgruppen zugeschnitten. Sie werden durch die neuesten Techniken aus den Bereichen PR, Perception Management (Wahrnehmungsmanipulation) und Informationskrieg ergänzt. Wie können Graswurzelorganisationen und soziale Bewegungen auf diesem Spielfeld konkurrierender Narrative gleiche Ausgangsbedingungen schaffen?
Diese kollektive Untersuchung des sich verändernden Terrains von Narrativen, Bewegungsarbeit und gesellschaftlicher Veränderung mündete schlussendlich in der erzählungsbasierten Methode, wie sie in diesem Buch dargestellt wird. Den ersten Anstoß dazu brachten zwei bedeutsame politische Momente in der jüngeren US-amerikanischen Geschichte, die weltweit nachhallten. Den ersten stellen die massenhaften Mobilisierungen gegen die Ministerkonferenz der Wirtschafts- und Handelsminister der Welthandelsorganisation (WTO) 1999 in Seattle dar, die ein Schaufenster für die Macht gemeinsamer Narrative waren, mit denen zersplitterte Einzelkämpfe überwunden und unterschiedliche politische Gruppen um größere Ziele vereint werden können. Der zweite Moment war die doppelte Tragödie des 11. Septembers 2001. Die Anschläge waren eine Tragödie von entsetzlicher Zerstörung und einem schrecklichen Verlust von Menschenleben, deren Tragik mit der Instrumentalisierung durch die US-amerikanische Regierung noch verdoppelt wurde. Diese nutze die Anschläge zur Rechtfertigung ihrer Angstmache, ihrer Angriffskriege und ihrer innerstaatlichen Repression.
Die Organisierung und die massenhaften gewaltfreien direkten Aktionen gegen die WTO in Seattle führten zu einem eindrucksvollen Aufeinanderprallen von Weltanschauungen. Die undemokratische Vorstellung einer durchweg kommerzialisierten und unternehmensgesteuerten Zukunft traf auf Tausende, die sich zusammenschlossen, um Gerechtigkeit zu fordern und klarzumachen: »Eine andere Welt ist möglich.« Die spektakulären Aktionen und das dargebotene Drama staatlicher Repression beschleunigten eine Welle der gruppenübergreifenden Organisierung in den USA. Diese neuen politischen Netzwerke – die sich selbst als Bewegung für »globale Gerechtigkeit« bezeichneten – schlossen sich (wenn auch etwas spät) dem weltweiten Widerstand gegen die neoliberale Ideologie des »freien Handels« an.