Behinderung und Anerkennung -  - E-Book

Behinderung und Anerkennung E-Book

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  • Herausgeber: Kohlhammer
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2009
Beschreibung

Das Enzyklopädische Handbuch der Behindertenpädagogik "Behinderung, Bildung, Partizipation" tritt mit dem Anspruch auf, das Gesamtgebiet der Behindertenpädagogik hinsichtlich ihrer konstitutiven Begriffe, Aufgaben und Problemstellungen, Konzepte und Handlungsansätze darzustellen. Dabei wird der grundlegende, auf aktuellen Wissensbeständen beruhende Forschungs- und Entwicklungsstand der Disziplin aus interdisziplinärer Perspektive berücksichtigt. Getragen von einem Bildungsverständnis, das Bildung als Möglichkeit zur selbst bestimmten Lebensführung, zur umfassenden Persönlichkeitsentwicklung und gesellschaftlichen Teilhabe betrachtet, werden in 10 Bänden mit mehr als 400 Einzelartikeln die Grundfragen nach Bildung und Partizipation angesichts behindernden Bedingungen geklärt. Im Mittelpunkt von Band 2 steht die Kategorie Behinderung, die durchgängig in der Perspektive von "Partizipation und Anerkennung" unter sozial- und kulturwissenschaftlichen, ethischen und rechtlichen Aspekten betrachtet wird. Die Auseinandersetzung mit grundlegenden Dimensionen von sozialer und personaler Anerkennung, aber auch historische, philosophische, psychologische und sozialwissenschaftliche Analysen von Mechanismen, die zu Diskriminierung und sozialem Ausschluss führen, zeichnen ein fundiertes sozial- und humanwissenschaftliches Bild von Behinderung als sozialer Konstruktion. Eine vergleichbar interdisziplinäre sowie kompakte Bestandsaufnahme und Diskussion humanwissenschaftlicher Grundlagen der Behindertenpädagogik liegt bisher nicht vor.

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Das Enzyklopädische Handbuch der Behindertenpädagogik ''Behinderung, Bildung, Partizipation'' tritt mit dem Anspruch auf, das Gesamtgebiet der Behindertenpädagogik hinsichtlich ihrer konstitutiven Begriffe, Aufgaben und Problemstellungen, Konzepte und Handlungsansätze darzustellen. Dabei wird der grundlegende, auf aktuellen Wissensbeständen beruhende Forschungs- und Entwicklungsstand der Disziplin aus interdisziplinärer Perspektive berücksichtigt. Getragen von einem Bildungsverständnis, das Bildung als Möglichkeit zur selbst bestimmten Lebensführung, zur umfassenden Persönlichkeitsentwicklung und gesellschaftlichen Teilhabe betrachtet, werden in 10 Bänden mit mehr als 400 Einzelartikeln die Grundfragen nach Bildung und Partizipation angesichts behindernden Bedingungen geklärt. Im Mittelpunkt von Band 2 steht die Kategorie Behinderung, die durchgängig in der Perspektive von ''Partizipation und Anerkennung'' unter sozial- und kulturwissenschaftlichen, ethischen und rechtlichen Aspekten betrachtet wird. Die Auseinandersetzung mit grundlegenden Dimensionen von sozialer und personaler Anerkennung, aber auch historische, philosophische, psychologische und sozialwissenschaftliche Analysen von Mechanismen, die zu Diskriminierung und sozialem Ausschluss führen, zeichnen ein fundiertes sozial- und humanwissenschaftliches Bild von Behinderung als sozialer Konstruktion. Eine vergleichbar interdisziplinäre sowie kompakte Bestandsaufnahme und Diskussion humanwissenschaftlicher Grundlagen der Behindertenpädagogik liegt bisher nicht vor.

Prof. Dr. Markus Dederich lehrt ''Theorie der Pädagogik und Rehabilitation bei Behinderung'' an der Universität Dortmund. Prof. Dr. Wolfgang Jantzen lehrte ''Allgemeine Behindertenpädagogik'' an der Universität Bremen.

Behinderung, Bildung, Partizipation Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik

Herausgegeben von Iris Beck, Georg Feuser, Wolfgang Jantzen, Peter Wachtel

Gesamtherausgeber: Wolfgang Jantzen

Redaktion: Birger Siebert

Band 2

Markus Dederich/Wolfgang Jantzen (Hrsg.)

Behinderung und Anerkennung

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigung, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung in elektronischen Systemen. Alle Rechte vorbehalten © 2009 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart Printed in Germany

Print: 978-3-17-019631-5

E-Book-Formate

pdf:

978-3-17-022907-5

epub:

978-3-17-027728-1

mobi:

978-3-17-027729-8

Inhaltsverzeichnis

Vorwort der Gesamtherausgeber

Vorwort

Teil I

Behinderung als sozial- und kulturwissenschaftliche Kategorie(Markus Dederich)

Sinn/sinnhaftes Handeln und der Aufbau der sozialen Welt(Wolfgang Jantzen)

Ethische Grundlagen der Behindertenpädagogik: Konstitution und Systematik(Markus Dederich & Martin W. Schnell)

Teil II

Isolation und Partizipation(Ingolf Prosetzky)

Sozialer Tausch(Kerstin Ziemen)

Vielfalt(Annedore Prengel)

Interkulturelle Pädagogik (Yasemin Karakaşoğlu)

Disability Studies(Anne Waldschmidt)

Menschenwürde(Georg Antor)

Person/Persönlichkeit(Volker Schürmann)

Anerkennung(Detlef Horster)

Menschenrechte und Behinderung(Theresia Degener)

Legitimations- und Kontingenzprobleme(Vera Moser)

Teil III

Identität(Anke Langner)

Literatur

Selbstbestimmung/Autonomie(Barbara Fornefeld)

Isolation(André Frank Zimpel)

Bindung(Bodo Frank)

Praxis(Volker Schürmann)

Normalität(Ulrike Schildmann)

Stigma/Vorurteil(Günther Cloerkes)

Behinderung/Institution(Dietmut Niedecken)

Behindertenbewegung(Swantje Köbsell)

Geschlecht(Ulrike Schildmann)

Rassismus(Wolfgang Jantzen)

Naturalistische Dogmen: Unerziehbarkeit, Unverständlichkeit, Bildungsunfähigkeit(Georg Feuser)

Recht auf Leben(Michael Wagner-Kern)

Bildungsrecht(Lutz Dietze)

Prävention(Günther Opp)

Professionalität(Andrea Dlugosch)

Grenzbereiche/Grenzsituationen(Andreas Zieger)

Sterben/Hospiz(Johann-Christoph Student)

Syndrom und Symptom(Wolfgang Jantzen)

Medizinisierung(Swantje Köbsell)

Bioethik/Biomedizin(Sigrid Graumann)

Eugenik(Michael Wunder)

Euthanasie(Michael Wunder)

Anthropologie/Anthropologiekritik(Hajo Jakobs)

Tugenden (Dieter Gröschke)

Leid/Mitleid(Claudia Gottwald & Markus Dederich)

Heiligkeit des Lebens(Dietmar Mieth)

Stichwortregister

Die Autoren

Vorwort der Gesamtherausgeber

Das Enzyklopädische Handbuch der Behindertenpädagogik „Behinderung, Bildung, Partizipation“ ist ein Lexikon in Stichwörtern, die jedoch nicht alphabetisch, sondern thematisch in 10 Bänden strukturiert wurden. Insgesamt wurden ca. 20 Haupt-, 100 mittlere und 300 kleine Stichwörter erarbeitet. Sie suchen zum einen in ihrer Gesamtheit einen Zusammenhang des Fachwissens herzustellen, in dem jedes Stichwort und zugleich jeder Band verortet ist. Zum anderen aber bilden die Einzelbände aufeinander bezogene thematische Einheiten. Somit ist das Gesamtwerk in zwei Richtungen lesbar und muss zugleich auch so gelesen werden: als Bestand aufeinander verweisender zentraler Begriffe des Faches zum einen und als thematischer Zusammenhang in den Einzelbänden zum anderen, der aber jeweils auf die weiteren Bände verweist und mit ihnen in engstem Zusammenhang steht. Dementsprechend wurden Verweise sowohl innerhalb der Einzelbände als auch zwischen den Bänden vorgenommen, wobei einzelne Überschneidungen unvermeidbar waren.

Der Anspruch, das Gesamtgebiet der Behindertenpädagogik darzustellen, kann angesichts der Differenzierung und Spezialisierung der Einzelgebiete und ihrer schon je komplexen Wissensbestände nicht ohne Einschränkung vorgenommen werden. So ging es uns nicht darum, diese Komplexität aller Theorien, Methoden, Handlungsansätze und Einzelprobleme in Theorie und Praxis einzufangen, sondern den Wirklichkeits- als Gegenstandsbereich der wissenschaftlichen Behindertenpädagogik hinsichtlich seiner konstitutiven Begriffe, Aufgaben und Problemstellungen zu erfassen. Dabei sollte der grundlegende, auf aktuellen Wissensbeständen beruhende und der zugleich erwartbar zukunftsträchtige nationale und internationale Forschungs- und Entwicklungstand im Sinne einer synthetischen Human- und Sozialwissenschaft berücksichtigt werden. Reflexives Wissen bereit zu stellen ist also die wesentliche Intention. Dies gelingt nur, wenn aus anderen Wissenschaften resultierende Forschungsstände und Erkenntnisse möglichst breit und grundlegend verfügbar gemacht werden. Aufgrund der komplexen biopsychosozialen Zusammenhänge sowohl von Behinderung als auch von Persönlichkeitsentwicklung und Sozialisation müssen das gesamte humanwissenschaftliche Spektrum Berücksichtigung finden und insbesondere Philosophie, Psychologie und Soziologie, aber auch Medizin und Neurowissenschaften einbezogen werden. Gerade der neurowissenschaftliche Bezug, der selbstverständlich äußerst kritisch betrachtet wird, ist notwendig, um gegen neue Formen der Biologisierung die entsprechenden Argumente für Vielfalt und Differenz auf jeder Wissenschaftsebene, also auch auf der neurowissenschaftlichen, in die Debatte führen zu können. Vorrangig mit Blick auf die disziplinäre Verortung ist jedoch die Erziehungswissenschaft, Behindertenpädagogik ist eines ihrer Teilgebiete.

Für die Konzeption ist ein Bildungsverständnis tragend, das Bildung als Möglichkeit zur selbst bestimmten Lebensführung, zur umfassenden Persönlichkeitsentwicklung und gesellschaftlichen Teilhabe betrachtet; mit Wolfgang Klafki: Entwicklungen der Fähigkeiten zur Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidarität, entwicklungspsychologisch mit Wolfgang Stegemann als Entwicklung auf höheres und auf höherem Niveau. Die erziehungswissenschaftliche Begründung von Bildungs- und Erziehungszielen muss über gesellschaftliche Erwartungen, wie sie sich in Forderungen nach einem Wissenskanon als Zurüstung auf die berufliche Eingliederung niederschlagen können, notwendigerweise hinausreichen und die Lebensbewältigung insgesamt umfassen. Bildung und Erziehung eröffnen Optionen für die Lebensgestaltung, und das bedeutet, die eigene Identität nicht nur schicksalhaft oder einzig von außen determiniert zu erleben, sondern auch über Möglichkeiten der Selbstverwirklichung und der Auswahl von Handlungsmöglichkeiten zu verfügen, Zwänge und Grenzen ebenso wie Handlungs- und Veränderungsmöglichkeiten erkennen und nutzen zu können. Nicht in jedem Fall, in dem diese Möglichkeiten nicht per se aufscheinen, ist diese Problematik begrifflich quasi automatisch mit Behinderung zu fassen. Umgekehrt heißt Bildung aber auch, solche Strukturen und Prozesse zu gestalten, die „Bildung für alle, im Medium des Allgemeinen“, unabhängig von Kriterien, ermöglichen. Behinderungen im pädagogischen Sinn liegen dort vor, wo die Teilhabe an Bildung und Erziehung gefährdet oder erschwert ist oder wo Ausgrenzungsprozesse drohen oder erfolgt sind, und zwar aufgrund eines Wechselspiels individueller, sozialer und ökonomischer Bedingungen. Hier tritt die Frage der Ermöglichung von Partizipation in den Vordergrund. „Wo Menschen aus ihren Lebenszusammenhängen herausgestoßen werden, da wird lernender und wissender Umgang mit bedrohter und gebrochener Identität zur Lebensfrage“ (Oskar Negt) und ebenso die Ermöglichung von Lebenschancen. Damit werden zugleich eine Abgrenzung zu sozial- oder bildungsrechtlichen Definitionen und eine weite Begriffsbestimmung von Behinderung vorgenommen, im Bewusstsein der Problematik, die diese mit sich bringt. Doch fasst auch der schulrechtliche Begriff des sonderpädagogischen Förderbedarfs, der wiederum nur partiell deckungsgleich mit dem sozialrechtlichen Behinderungsbegriff ist, äußerst heterogene, darunter auch rein sozial bedingte Benachteiligungsprozesse zusammen. Pädagogik heißt für uns somit auch nicht einseitige und ständige Förderung. Emil E. Kobi hat dies in der Gegenüberstellung einer ‚Pädagogik des Bewerkstelligens‘, der es immer um den Fortschritt geht, die sich nur auf den Defekt richtet und das So-Sein nicht anzuerkennen in der Lage ist, und einer ‚Pädagogik der Daseinsgestaltung‘ beschrieben, die anerkannte Lebensbedingungen zwischen gleichberechtigten und als gleichwertig anerkannten Subjekten und eine befriedigende Lebensführung auch bei fortbestehenden Beeinträchtigungen zu schaffen vermag. In diesem pädagogischen Verständnis von Behinderung liegt eine Begründung für die Beibehaltung des Begriffes der Behindertenpädagogik. Wir respektieren Benennungen wie Förder-, Rehabilitations-, Sonder-, Heil-, Integrations- und Inklusionspädagogik; der Begriff der Behinderung hebt jedoch wie kein anderer nicht nur die intransitive Sicht des behindert Seins, sondern auch die transitive Sicht des behindert Werdens hervor und lässt sich pädagogisch sinnvoll begründen. Ebenso entgeht er Verengungen mit Blick auf den Gegenstandsbereich; behindertenpädagogisches Handeln greift weit über den Bereich der institutionalisierten Erziehung und Bildung hinaus und findet lebensphasen- und lebensbereichsübergreifend statt; auch innerhalb des schulischen Bereiches ist das Handeln weitaus vielfältiger als allein unterrichtsbezogene Tätigkeiten; gleichwohl bleiben diese prominente Aufgaben. Behindertenpädagogik, in diesem weiten Sinne intransitiv verstanden, ist zwar einerseits Teilgebiet der Erziehungswissenschaft, andererseits trägt sie in transitiver Hinsicht zu deren Grundlagen bei. Denn behindert werden und eingeschränkt zu sein sind alltäglich und schlagen sich keineswegs nur in der sozialen Zuschreibung von Behinderung nieder. Entgegen der noch vorfindbaren Gliederung nach Arten von Beeinträchtigungen bzw. schulischen Förderschwerpunkten und einer institutionellen Orientierung ist für uns ein an den Lebenslagen und an der Lebenswirklichkeit der Adressaten von Bildungs- und Erziehungsangeboten orientiertes Verständnis pädagogischen Handelns leitend. Diese Perspektive auf den individuellen Bedarf an Unterstützung für eine möglichst selbst bestimmte Lebensführung ist der Bezugspunkt der personalen Orientierung, aber dieser Bedarf impliziert immer auch den Bedarf an Überwindung der sozialen Folgen, also der behindernden Bedingungen des Umfeldes. Traditionell wird der Lebenslauf- und Lebenslagenbezug der Pädagogik durch die Gegenstandsbezeichnungen der einzelnen Teildisziplinen angezeigt (Pädagogik, Andragogik, Geragogik einerseits; Sozial-, Berufs-, Freizeitpädagogik usw. andererseits). Hiermit können aber auch Abgrenzungen und Abschottungen einhergehen, so dass der Bezug zur Lebenslage als Ganzer und zum Lebenslauf in seiner biographischen Gewordenheit verloren geht. Lebenslagen- und Lebenslauforientierung stellen demgegenüber die notwendige Gesamtsicht her, die allerdings in ihrer Bezugnahme auf die Chancen und Grenzen selbstbestimmter Lebensführung einer Pädagogisierung im Sinne der andauernden intentionalen Erziehung entgehen muss. Sie hebt die spezifischen Gegenstandsbestimmungen und Handlungskonzepte der erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen nicht auf, sondern wird als konzeptionelle und methodische Leitperspektive tragend. Ebenso hat jedes Verständnis von individueller Teilhabe- und Bildungsplanung die Deutungshoheit der auf Unterstützung und pädagogisches Handeln angewiesenen Menschen zu respektieren und zentral von politischer Mitwirkung und der Gewährleistung der Menschen- und Bürgerrechte auszugehen. Dies verlangt die Demokratisierung und Humanisierung der Handlungsprozesse und Strukturen in Theorie und Praxis sowie die Auseinandersetzung mit Ethik, Moral und Professionalität.

Die aus diesem Verständnis von Bildung, Behinderung und Partizipation resultierenden Fragen lassen sich zusammenfassen in die nach dem Verhältnis von Ausschluss und Anerkennung, Vielfalt und Differenz, Individuum und Gesellschaft, Entwicklung und Sozialisation, System und Lebenswelt, Institution und Organisation, über die Lebensspanne hinweg und immer bezogen auf die Grundfrage nach Bildung und Partizipation angesichts behindernder Bedingungen.

Von diesen Grundgedanken ausgehend wurde die Konzeption und Anlage der Stichwörter von Iris Beck und Wolfgang Jantzen erarbeitet und dann durch das Team der Bandherausgeber kritisch überprüft und ergänzt. Es ergibt sich folgende Gesamtanlage: die Bände 1 und 2 dienen der wissenschaftlichen Konstitutionsproblematik mit Blick auf die wissenschaftstheoretische Begründung des Faches einschließlich der erziehungswissenschaftlichen Verortung und dem Verhältnis von Behinderung und Anerkennung. Die Bände 3 bis 6 repräsentieren Aufgaben und Probleme der Bildung und Erziehung im Lebenslauf mit den Kernfragen nach Bildung, Erziehung, Didaktik und Unterricht zum einen, Lebensbewältigung und gleichberechtigter Teilhabe am Leben in der Gemeinde zum anderen. Die Bände 7 bis 10 behandeln Entwicklung und Lernen, Sprache und Kommunikation, Sinne, Körper und Bewegung sowie Emotion und Persönlichkeit. Sie stellen grundlegende pädagogische Auseinandersetzungen über Persönlichkeitsentwicklung und Sozialisation angesichts behindernder und benachteiligender Bedingungen dar, und zwar in übergreifender Sicht, die zugleich die notwendigen speziellen und spezifischen Aspekte zur Geltung bringt. Allgemeines und Besonderes sind insgesamt, über alle Bände hinweg, vielfach aufeinander bezogen und haben gleichsam ihre Bewegung aneinander. Dort, wo sich gemeinsame Probleme quer zu speziellen Gebieten stellen, sind diese auch allgemein und mit der Absicht der Grundlegung behandelt, auch um Redundanzen zu vermeiden. Dort, wo ohne Spezifizierung zu grobe Verallgemeinerungen und damit unzulässige Reduktionen erfolgt wären, sind die Besonderheiten aufgenommen. Angesichts der zahlreichen Publikationen, die spezielle und spezifische Fragen en detail und mit Blick auf Einzelprobleme behandeln, ist diese Entscheidung auch vor dem Hintergrund einer ansonsten nicht zu gewährleistenden Systematik getroffen worden.

Wir sind uns bewusst, dass dieser Versuch der Systematik nicht ohne Lücken, Widersprüche und Redundanzen auskommt. Die allfällige Kritik hieran verstehen wir im Sinne des „Runden Tisches“, als den wir die Zusammenarbeit unter den Herausgebern und Autoren verstehen, als Motivation zu neuen Fragen und neuer Forschung.

Wir danken allen Bandherausgebern und Autoren für ihre konstruktive Arbeit, die in Zeiten der Arbeitsverdichtung und Effizienzsteigerung nicht mehr selbstverständlich erwartet werden kann.

Iris Beck

Georg Feuser

Wolfgang Jantzen

Peter Wachtel

Vorwort

Im Mittelpunkt dieses Bandes steht die Kategorie Behinderung, die durchgängig in der Perspektive von Anerkennung und Partizipation unter sozial- und kulturwissenschaftlichen, ethischen und rechtlichen Aspekten betrachtet wird. Dabei tritt Behinderung nicht als zu beschreibender Sachverhalt, sondern als herausfordernder Problemtitel auf, der unter historischen, sozialen, gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen, pädagogischen und psychologischen Gesichtspunkten untersucht und auf seine wirklichkeitsmächtigen Implikationen und Folgen hin befragt wird. Ohne medizinische Aspekte zu leugnen wird Behinderung radikal kontextualisiert und historisiert und als soziale Konstruktion, als Ausdruck ökonomischer und institutioneller Wirklichkeiten, ebenso als Deutungs- und Sinnphänomen verstanden. Bei deren kritischer Rekonstruktion kommen kulturelle und gesellschaftliche Rahmenbedingungen, Macht und Herrschaft, Ausgrenzung und Stigmatisierung sowie Sinnhorizonte, sich wandelnde Mentalitäten, Figurationen und Wandlungen von Wissen, auf Normen und Werten beruhende (sowie Normen und Werte hervorbringende) gesellschaftlichen Praxen, sich wandelnde Menschen- und Gesellschaftsbilder, Vorstellungen von Normalität und Abweichung, von Idealkörpern und abweichenden Biologien usw. in den Blick.

Auswahl, Gewichtung und Anordnung der Stichwörter soll dieser Komplexität und Vieldeutigkeit gerecht werden. Zugleich weist das weitgefasste Spektrum an Stichwörtern gewisse Schwerpunkte auf:

Verschiedene Theorien und Rekonstruktionen von Behinderung. Hier reicht das Spektrum von der Erörterung sozialwissenschaftlicher Grundfragen über die Untersuchung eugenischer und rassistischer Ideologien bis hin zu entwicklungspsychologischen und persönlichkeitstheoretischen Fragen.

Behandlung von Vielfalt und Differenz unter Bedingungen von Partizipation und Anerkennung, unter Aufnahme rechtlicher Aspekte ebenso wie unter Aufnahme der Stimme behinderter Menschen selbst.

Diskussion und Kritik anthropologischer und ethischer Fragestellungen.

Diskussion exemplarischer Problemfelder von sozialem Ausschluss und Reduktion auf nacktes Leben und bloße Natur, die insbesondere im Kontext der sog. Bioethik eine zentrale Rolle spielen.

Reflexion der Rolle helfender Berufe.

Obgleich die Beiträge zu diesem Band der eingangs umrissenen Grundperspektive verpflichtet sind, zeichnen sie keineswegs ein homogenes Bild. Vielmehr wird eine methodische und wissenschaftstheoretische Vielfalt sichtbar, die den Diskurs über Behinderung in den verschiedenen beteiligten Disziplinen und Professionen gegenwärtig kennzeichnet. Das zeigt sich in den unterschiedlichen methodologischen und philosophischen Ausrichtungen der verschiedenen Beiträge; hier reicht das Spektrum von materialistischen über systemtheoretische bis hin zu phänomenologischen Zugängen. Es zeigt sich auch darin, dass manche Beiträge eher historisch systematisch, einige eher kritisch-analytisch und wieder andere eher ethisch-normativ ausgerichtet sind.

Unabhängig von wissenschaftlichen Kontroversen, die es auch innerhalb der Behindertenpädagogik gibt und geben muss, sind wir der Überzeugung, dass allein eine Pluralität der Perspektiven und Zugänge der außerordentlichen Mehrdimensionalität, Vielschichtigkeit und Komplexität des Themas gerecht werden kann. Wissenschaft muss zwar nach ihr entsprechenden methodologischen Regeln, aber zugleich in demokratischen Diskursen ohne Ausgrenzung betrieben werden. Es muss betont werden, dass auch ein Werk mit enzyklopädischem Anspruch nicht ohne Komplexitätsreduktion auskommt. Dementsprechend beruht die Festlegung und Gewichtung der Stichwörter auf einer Auswahl, die auf der Basis theoretischer und systematischer Kriterien erfolgt ist. Sie ist überdies das Resultat eines andauernden und prinzipiell unabschließbaren Diskussionsprozesses und insofern auch im Bewusstsein einer gewissen Kontingenz vorgenommen.

Wie die gesamte Enzyklopädie prägt auch diesen Band die Überzeugung, dass sich hinter der Problematik ‚Behinderung‘ ein Themenkomplex von großer gesellschaftlicher Relevanz verbirgt.

Wir hoffen, mit dieser Enzyklopädie und mit diesem Band einen Beitrag zu leisten, die Behindertenpädagogik aus ihrem bisherigen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Nischendasein herauszuholen, indem wir die hohe Interdisziplinarität dieses Faches als wichtigen Prüfstein für alle Humanwissenschaften herausstellen.

Markus Dederich

Wolfgang Jantzen

Teil I

Behinderung als sozial- und kulturwissenschaftliche Kategorie

Markus Dederich

1 Definition

Eine allgemein anerkannte Definition von Behinderung liegt bis zum heutigen Tage nicht vor, obwohl der Begriff seit einigen Jahrzehnten im allgemeinen Sprachgebrauch gängig und wissenschaftlich etabliert ist. Ein wesentlicher Grund hierfür liegt darin, dass es sich um einen medizinischen, psychologischen, pädagogischen, soziologischen sowie bildungs- und sozialpolitischen Terminus handelt, der in den jeweiligen Kontexten seiner Verwendung unterschiedliche Funktionen hat und auf der Grundlage heterogener theoretischer und methodischer Voraussetzungen formuliert wird. Zu der Unklarheit trägt der metaphorische Gehalt des Begriffs ebenso bei wie sein ungeklärtes Verhältnis zu teilweise angrenzenden, teilweise synonym verwendeten, teilweise ergänzenden Termini wie Krankheit, Schädigung, Beeinträchtigung, Gefährdung, Benachteiligung oder Störung. So wird beispielsweise bei Bach (1999) Beeinträchtigung zu einem Oberbegriff, der in Behinderungen, Störungen und Gefährdungen unterteilt wird, während bei Bleidick (1999) Behinderung die allgemeine Kategorie ist.

Betrachtet man das semantische Feld des Begriffs, so ergibt sich ein ganzes Spektrum sinn- und sachverwandter Termini, etwa Hindernis, Erschwernis, Barriere, Hemmung, Hürde, Einschränkung oder Engpass. Der gemeinsame Nenner dieses Bedeutungsspektrums ist, dass etwas entgegen einer vorhandenen Erwartung nicht geht (vgl. Weisser 2005). Damit verweist der Begriff, allerdings auf höchst unspezifische Weise, auf „Negativphänomene menschlichen Daseins oder dinglichen Seins“ (Lindmeier 1993, 22). Bereits diese sehr weit gefasste Annäherung macht deutlich, dass es Behinderung nicht per se gibt. Vielmehr markiert der Begriff eine von Kriterien abhängige Differenz und somit eine an verschiedene Kontexte gebundene Kategorie, die eine Relation anzeigt.

Die Relativität und die mit ihr gegebene Unschärfe zeigen sich in allen bisher vorgenommenen Definitionsversuchen. So heißt es in den „Empfehlungen der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates“ (1973, 30): „Als behindert im erziehungswissenschaftlichen Sinne gelten alle Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, die in ihrem Lernen, im sozialen Verhalten, in der sprachlichen Kommunikation oder in den psychomotorischen Fähigkeiten so weit beeinträchtigt sind, dass ihre Teilhabe am Leben der Gesellschaft wesentlich erschwert ist, deshalb bedürfen sie besonderer pädagogischer Förderung.“

Eine gewisse Verbreitung hat eine von Bleidick vorgelegte Definition erfahren: „Als behindert gelten Personen, die in Folge einer Schädigung ihrer körperlichen, seelischen und geistigen Funktion so weit beeinträchtigt sind, dass ihre unmittelbaren Lebensverrichtungen oder ihre Teilnahme am Leben der Gesellschaft erschwert werden“ (Bleidick 1999, 15).

Das SGB IX definiert: „Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist.“

Eine neue, mittlerweile häufig rezipierte Annäherung lehnt sich an die von der WHO entwickelte „International Classification of Functions“ [→ VI ICF] an. Dieses Klassifikationssystem soll ‚dimensions of disablement and health‘ unterscheiden. Gegenüber der älteren Fassung von 1980 wurden die Begriffe ‚impairment‘, ‚disability‘ und ‚handicap‘ durch die Begriffe ‚impairment‘, ‚activity‘ und ‚participation‘ ersetzt. Ein wesentlicher Grund für diese Veränderung liegt in der stärkeren Beachtung sozialer und gesellschaftlicher Aspekte von Behinderung. Während die frühere Klassifikation vom individuellen Defekt bzw. der individuellen Schädigung ausgegangen war, rückt die neue Klassifikation unterschiedliche Rahmenbedingungen und Kontexte stärker in den Blick und betrachtet das Individuum als Mitgestalter seiner Situation. Die Dimension des ‚impairment‘ bezieht sich auf Strukturen und Funktionen des Körpers, ‚activity‘ bzw. ‚activity limitation‘ sollen das Maß der persönlichen Verwirklichung auch angesichts einer Schädigung oder Störung erfassen und ‚participation‘ bzw. ‚participation restriction‘ sind auf die Dimension der Teilhabe am Leben der Gesellschaft und kulturellen Angeboten bzw. deren Einschränkungen bezogen. Die Kontextfaktoren schließlich fokussieren Umwelten und Milieus, aber auch personelle Bedingungen, Lebensumstände und Lebenshintergründe, die wichtig für das Individuum sind und seine Entwicklung bzw. seinen Lebensweg sowohl fördern als auch behindern können. Auch wenn dieses Modell nicht unwidersprochen geblieben ist und eine Reihe von Problemen mit sich bringt, so scheint es gegenwärtig in der Behindertenpädagogik zumindest einen Minimalkonsens darstellen zu können.

2 Begriffs- und Gegenstandsgeschichte

Erstmals verwendet wurde der Begriff ‚Behinderung‘ im Zusammenhang mit der ‚Krüppelfürsorge‘ für Körperbehinderte im frühen 20. Jahrhundert. Hier taucht er als deskriptiver Begriff auf, ohne sich allerdings durchzusetzen. Seit dem späten 18. und im gesamten 19. Jahrhundert gab es eine ganze Reihe von Vorläuferbegriffen, die aus der Medizin übernommen oder stark durch medizinisches und defektorientiertes Denken eingefärbt waren. Seit den Anfängen der Behindertenpädagogik und Behindertenhilfe hat es immer wieder Versuche gegeben, sich vom Einfluss der Medizin und defektorientierten Sichtweisen zu befreien. Dem versuchten zahlreiche Heilpädagogen, etwa Hanselmann und Moor, ‚einheimische‘ pädagogische Begriffe und eine konsistente Fassung des Gegenstandes des Faches gegenüber zu stellen. Diese Versuche werden jedoch heute als gescheitert angesehen. Bis heute besteht keine Einhelligkeit darüber, ob ein pädagogischer Behinderungsbegriff notwendig ist und wie dieser Begriff definiert und theoretisch unterbaut sein könnte.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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