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Denn die Liebe glüht auch in der tiefsten Finsternis! Der Urban-Fantasy-Roman »Bei Anbruch der Dunkelheit« von Bestseller-Autorin Shannon Drake als eBook bei dotbooks. Auf einer Schottlandreise gerät die junge Schriftstellerin Jade MacGregor in ein Blutbad: Vampire töten auf einem Friedhof unschuldige Menschen! Als ein Vampir seine Reißzähne auch in Jades Hals schlagen will, wird sie von einem geheimnisvollen Fremden gerettet – der daraufhin spurlos verschwindet. Jade kann ihren dunklen Retter, der sie bis in ihre Träume verfolgt, nicht vergessen. Ein Jahr später begegnet sie ihm in New Orleans wieder und fühlt sich augenblicklich zu ihm hingezogen. Doch welches Geheimnis hütet Lucian DeVeau? Als ihre Familie in größte Gefahr gerät, muss Jade ihm vertrauen – auch wenn es sie das Leben kosten könnte … New-York-Times-Bestseller-Autorin Shannon Drake bietet in ihren Erotic-Fantasy-Romanen alles, was die Fans dieses Genres lieben! »Die Autorin kombiniert Mystery mit knisternder Romantik.« Publishers Weekly »Eine unglaubliche Geschichtenerzählerin.« Los Angeles Daily News Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Urban-Fantasy-Roman »Blutrote Nacht« von Shannon Drake. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 621
Über dieses Buch:
Auf einer Schottlandreise gerät die junge Schriftstellerin Jade MacGregor in ein Blutbad: Vampire töten auf einem Friedhof unschuldige Menschen! Als ein Vampir seine Reißzähne auch in Jades Hals schlagen will, wird sie von einem geheimnisvollen Fremden gerettet – der daraufhin spurlos verschwindet. Jade kann ihren dunklen Retter, der sie bis in ihre Träume verfolgt, nicht vergessen. Ein Jahr später begegnet sie ihm in New Orleans wieder und fühlt sich augenblicklich zu ihm hingezogen. Doch welches Geheimnis hütet Lucian DeVeau? Als ihre Familie in größte Gefahr gerät, muss Jade ihm vertrauen – auch wenn es sie das Leben kosten könnte …
»Die Autorin kombiniert Mystery mit knisternder Romantik.« Publishers Weekly
»Eine unglaubliche Geschichtenerzählerin.« Los Angeles Daily News
Über die Autorin:
Hinter dem Pseudonym Shannon Drake verbirgt sich die New-York-Times-Bestseller-Autorin Heather Graham. Bereits 1982 veröffentlichte sie ihren ersten Roman. Seitdem hat sie über zweihundert weitere Romane und Novellen verfasst, die in über dreißig Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurden. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern in Florida.
Von Shannon Drake erscheinen bei dotbooks ebenfalls:
Blutrote Nacht
Verlockende Finsternis
Das Reich der Schatten
Der Kuss der Dunkelheit
Unter ihrem Namen Heather Graham veröffentlicht sie bei dotbooks:
In den Händen des Highlanders
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eBook-Neuausgabe März 2019
Dieses Buch erschien bereits 2007 unter dem Titel Bei Anbruch der Dämmerung in der Verlagsgruppe Weltbild GmbH
Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 2000 by Shannon Drake
Published by Arrangement with KENSINGTON PUBLISHING CORP., NEW YORK, NY 10018 USA
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2000 unter dem Titel When Darkness falls bei Zebra Books.
Copyright © der deutschen Ausgabe 2007 Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright © der Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Vector Tradition, Arthur Studio 10 und Sean Pavone
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ca)
ISBN 978-3-96148-751-6
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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags
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Shannon Drake
Bei Anbruch der Dunkelheit
Roman
Aus dem Amerikanischen von Angela Schumitz und Elisabeth Spang
dotbooks.
Das Grab
»Ihr wollt es also mit der Angst zu tun bekommen? So richtig? Na, dann los, tiefer ins dunkle Erdreich!«, feuerte der Fremdenführer sie an und warf sich theatralisch den schwarzen Umhang über die Schulter. Er hatte einen angenehmen, kultivierten Edinburgher Akzent – rollende Rs, deutliche Artikulation. »Jawohl. Tiefer! Weiter geht's für diejenigen von euch, die sich über die Geister einfacher Mörder und das gequälte Wimmern ihrer Opfer lustig machen.«
»Ich kann es kaum erwarten«, meinte Jeff Dean, ein dunkelhaariger, gut aussehender junger Student.
»Ja, weiter, führen Sie uns doch weiter, ich zittere schon wie Espenlaub!«, fügte seine Freundin, Sally Adams, hinzu, eine hübsche Blondine, die es allerdings geschafft hatte, ihre jugendliche Schönheit mit einer hautengen Bluse und einem allzu knappen Rock zu verunstalten. Ihr Lippenstift war viel zu rot für ihren Teint und übers ganze Gesicht verschmiert. Sie tat gelangweilt, klammerte sich jedoch an Jeffs Arm.
»Ja, bieten Sie uns endlich mal etwas, was uns wirklich Angst einjagt!«
Diese höhnische Aufforderung kam von einem weiteren Mitglied der Clique, einem großen, dürren Rothaarigen namens Sam Spinder.
Jade MacGregor war mit diesen drei und sechs weiteren Besuchern im Collegealter unterwegs. Sie war auf die Gruppe gestoßen, als sie die Burg besichtigt hatte. Die jungen Leute – reiche junge Leute, die Europa mit dem Geld ihrer Eltern bereisten – hatten den nächtlichen Ausflug vorgeschlagen. Jade war Schriftstellerin und hatte es vor Kurzem auch zur Herausgeberin gebracht. Sie arbeitete gerade an einem Sachbuch über das Leben im Mittelalter, weshalb sie diese Tour gereizt hatte; denn sie dachte sich, dass sie ihr etwas für ihre Arbeit bringen könnte. So hatte sie sich der Gruppe angeschlossen.
Sie war alleine nach Schottland gereist, was sie schon lange hatte tun wollen. Doch nun stellte sie fest, dass es manchmal ziemlich einsam war, wenn man auf sich gestellt in einem fremden Land unterwegs war. Die jungen Leute in der Gruppe waren Anfang zwanzig, sie fünfundzwanzig, also nicht wesentlich älter, doch inzwischen kam sie sich manchmal wie fünfzig vor und hatte das Gefühl, dass die anderen wohl noch nie einen Fuß aus ihrer Jugendkultur – Football, Studentenverbindungen, Drogen und Rockmusik – herausgesetzt hatten. Sie war einigermaßen entsetzt, wie viele Drogen sie konsumierten; sie schienen eine ganze Palette von Pillen und Sachen zum Rauchen dabeizuhaben. Besonders besorgniserregend fand sie die Tatsache, dass sie in einem fremden Land ein solches Risiko eingingen. Als sie erklärt hatte, dass sie keinerlei Interesse an Drogen habe, waren alle über sie hergezogen.
Trotzdem war die Tour ziemlich unterhaltsam. Die Nacht war wundervoll, soeben ging ein Vollmond auf. Zu dieser Jahreszeit, im Herbst, rüstete sich ganz Edinburgh entsprechend des uralten Aberglaubens, der um Halloween rankt, für dieses Fest.
Die Straßen waren herbstlich geschmückt, kleine Monster und Gespenster zierten die Schaufenster. Es machte Spaß, in einer solchen Nacht unterwegs zu sein.
Doch Jades Begleiter waren ziemlich wild.
Und ziemlich rüpelhaft.
Jade wusste nicht, was sie heute Nacht genommen hatten, aber es machte sie kühn und frech, ja, richtig grausam. Es schien ihnen ein ganz besonderes Vergnügen zu bereiten, ihren Reiseführer zu piesacken, auch wenn sich dieser offenbar kaum beeindrucken ließ.
»Ich mache mir gleich in die Hosen«, meinte Jeff und tat, als müsse er es sich verkneifen. »Woher haben Sie bloß diese großartige Gestik, diesen Akzent, diese Mimik? Waren Sie in Ihrer Schulzeit in der Theatergruppe? O, weh, ich zittere ganz erbärmlich!«
Dieser Sarkasmus war dem Fremdenführer gegenüber unfair, fand Jade, denn der Bursche legte sich wirklich ins Zeug. Er war um die dreißig, groß, schlank und – zugegeben – ziemlich theatralisch. Vielleicht würde er wirklich gern einmal den Hamlet spielen, musste sich jetzt aber als Reiseleiter für historische Führungen durchs Leben schlagen und würzte seine Berichte über die längst vergangenen Schrecknisse, die einst die schottischen Straßen unsicher gemacht hatten, mit dramatischem Pathos. In schillernden Farben und mit großem Genuss hatte er sich über die Grausamkeit der Menschen ausgelassen und ihnen vom Tod durch Seuchen, Hinrichtungen und grauenhafte Morde erzählt.
Er hatte sie in die tiefer gelegenen Viertel der Stadt geführt, wo sich die moderne Stadt über die uralten Gassen erhob, ein gespenstisches Straßennetz, einst voller Behausungen, Läden und Tavernen, in dem sich der Alltag der früheren Bewohner abgespielt hatte. Vor langer Zeit. Jetzt, in der Nacht, war es im Untergrund leer bis auf die Touren. In verschiedenen Räumen wurde von Geistern und schrecklichen Morden berichtet. Schließlich war Edinburgh die Stadt von Hare und Burke, von Königsmorden und Intrigen; hier hatte das grausamste Gemetzel des Mittelalters stattgefunden, das man sich nur vorstellen konnte, und so manches, das man sich lieber nicht vorstellen wollte. Der Fremdenführer kannte sich in der Geschichte ziemlich gut aus, das wusste Jade, weil sie sich selbst eingehend damit befasst hatte.
Vom Hinterhof der Saint-Giles-Kathedrale – wo man früher Kinder schon allein dafür, dass sie einen Laib Brot stibitzt hatten, gehenkt hatte – ging es weiter in dunkle, düstere Straßen und schließlich hinunter in die uralten, tiefer gelegenen Gassen, die Closes. Ein älteres Ehepaar, das sich ebenfalls der Tour angeschlossen hatte, stieß an den richtigen Stellen beifällige Ohs und Ahs aus. Ein jüngeres Paar mit zwei Jungs um die zehn stellte viele Fragen und bekam viele Antworten; offenbar hatten sie großen Spaß an diesem Ausflug. Es gab auch noch einen Mann in der Gruppe, der allein gekommen war. Er war älter als die Studenten, aber um wie viel älter war schwer zu sagen. Ein außerordentlich gut aussehender Mann mit faszinierenden dunklen Augen. In einem Moment wirkten sie fast ebenholzschwarz, im nächsten wieder heller, gelegentlich nahmen sie auch eine sehr sonderbare, vielleicht sogar rötliche Färbung an. Er war groß, sehr groß, so um die eins neunzig, und wirkte dadurch sehr schlank, doch Jade, die bei diversen Stopps hinter ihm gestanden hatte, war aufgefallen, dass er sehr breite Schultern hatte, und sie vermutete, dass sich unter seinem gut geschnittenen Jackett ansehnliche Muskeln verbargen. Er beobachtete den Führer interessiert, stieß zwar keine Bewunderungsrufe aus, lauschte aber allem, was der Mann zu sagen hatte, mit respektvollem Schweigen. Bislang hatte er noch gar nichts gesagt und hielt sich meist im Schatten am Rand der Gruppe auf. Nur die Studenten – neun an der Zahl – hatten sich mit Zischlauten und Spott und Zwischenrufen hervorgetan. Das junge Paar mit den beiden Söhnen war völlig fasziniert gewesen.
»Wohin gehen wir?«, wollte Tony, ein anderer junger Mann, wissen. Er war einer der schlimmsten Störenfriede, ein Footballspieler, dessen kahl rasierter Kopf ohne Hals auf unverhältnismäßig breiten Schultern zu ruhen schien. Angst schien ihm völlig fremd, offenbar hielt er sich für viel zu abgebrüht. Er und Jeff hatten sich freiwillig gemeldet, um sich als angebliche Verräter vom Führer mit einer neunschwänzigen Katze zum Schein auspeitschen zu lassen. Mit dem Rücken zum Rest der Gruppe hatten sie so getan, als würden sie gefoltert und gehängt. Aus all dem hatten sie einen einzigen Witz gemacht, doch der Führer hatte bei ihren albernen Scherzen mitgespielt.
»Vielleicht sollen wir das nicht fragen«, meinte Tonys Freundin Marianne zögernd. Seltsamerweise war sie die Schüchternste und auch die Netteste von allen.
»So ein Quatsch«, erwiderte Ann, eine große, dürre Rothaarige mit der ungeduldigen Ausstrahlung einer gelangweilten Gelehrten. »Wer nicht fragt ...« Sie verstummte und hob die Hände hoch.
»Der bekommt auch keine Antwort«, beendete Marianne den Satz für sie.
»Und weiß nicht, ob er wirklich dorthin will«, fügte Ann altklug hinzu.
»Hey!«, mischte sich Tony wieder ein. »Sie hat recht! Wohin gehen wir?«
»Ihr habt doch gesagt, dass ihr euch mal richtig gruseln wollt«, erinnerte sie der Führer.
»Stimmt. Jedenfalls mehr als bisher«, meinte Jeff. »Also sagen Sie schon, wohin gehen wir?«
»Hinunter zu den Toten«, erklärte der Führer theatralisch.
»Hinunter zu den Toten«, wiederholte Jeff in bester Frankensteinmanier.
Jade fiel auf, dass der große, schweigsame Mann leicht die Stirn runzelte. Er schien zu merken, dass sie ihn beobachtete. Ihre Blicke trafen sich. Seine Augen waren dunkel, unglaublich dunkel. Schwarz wie die Nacht. Nein, jetzt waren sie wieder heller, sie veränderten sich ständig, wie das Wetter. Nun waren sie wieder braun, ein Braun mit einem feurigen Schimmer. Einen Moment lang fühlte sie sich, als könnte sie sich nicht von ihm abwenden. Eine merkwürdige Wärme durchdrang sie. Nein, es war nicht nur ein Gefühl, sie konnte sich tatsächlich nicht abwenden. Oder wollte sie es gar nicht?
»Und wo liegt das Reich der Toten?«, fragte Sally, die Blonde mit der hautengen Bluse. Damit unterbrach sie Jades seltsames Gefühl, wie eine Motte vom Feuer angezogen zu werden.
Ja, wie eine Motte vom Feuer. Das Feuer in seinen Augen. Jetzt waren sie bernsteinfarben, Feueraugen, die Augen eines Wolfs in der Nacht. Fesselnd.
Sexy!
Du bist eine Fremde in einem fremden Land, gab sie sich zu bedenken. Plötzlich waren ihr diese merkwürdigen Empfindungen einem Fremden gegenüber unangenehm. Hey, warnte sie sich. Sie war klug, gewitzt, intelligent, freundlich; aber sie hatte auch schon genug vom Leben mitbekommen, um vorsichtig zu sein. Sie war keine Frau, die sich unter fragwürdigen Umständen in einen wildfremden Mann verliebte.
Aber dennoch war dieser Mann faszinierend.
Sehr sexy. Nicht nur gut aussehend, nein, auch sinnlich. Sexy eben.
Diese Augen ...
Hm, diese Augen. Sein Blick fiel wieder auf sie. Ja, sie beobachtete ihn.
Er wusste es. Amüsierte es ihn? Vielleicht nicht.
Denn richtig: auch er beobachtete sie.
»Das werdet ihr schon sehen«, meinte der Fremdenführer. »Erst machen wir jedenfalls einen kurzen Abstecher zur Ye Olde Hangman's Tavern auf einen winzig kleinen Schuss schottischen Whiskey oder ein Bier oder einen Gin Tonic oder auch ein Schlückchen guten Wein für die, die Lust auf Wein haben.«
Sally zeigte mit einem abfälligen Schniefen ihre Zweifel, ob es bei Ye Olde Hangman's Wein geben würde, den sie als trinkbar, geschweige denn genießbar erachten würde. Sie wandte sich ab. Jade, die inzwischen wieder den Führer beobachtete, war etwas beunruhigt über die Art, wie er Sally betrachtete.
Sein Blick hatte etwas Beängstigendes. Sehr merkwürdig. Bislang hatte er allen Spott recht gut verkraftet; wenn überhaupt, schien er gelegentlich ein wenig genervt, aber nicht richtig beleidigt. Und wütend wirkte er auch jetzt nicht, nein, eher irgendwie ... berechnend.
Wie ein Jäger, der hinter seiner Beute her ist.
»Folgt mir!«, meinte er.
Jade gab sich einen Ruck. Der Führer hatte wieder ein Lächeln auf dem Gesicht.
Während sie ihm folgten, sah Jade, wie der große Mann mit den Bernsteinaugen sich an das Paar mit den zwei kleinen Jungs wandte. Offenbar warnte er sie, dass der Friedhof etwas zu heftig sein könnte. Die Frau begann, mit ihm zu diskutieren. »Ach, unsere Jungs können Geschichten schon von Geschichte unterscheiden, die Vergangenheit von der Gegenwart ...« Sie hielt inne und betrachtete den Fremden nachdenklich, dann meinte sie zu ihrem Mann: »Peter! Wir gehen dann lieber.«
»Aber Mary! Das Beste kommt doch erst noch!«
»Ein großer Krug Bier ist das Beste für dich, Peter«, erwiderte Mary. »Und dann bringen wir die Jungs ins Balmoral Hotel zurück.«
Sie gelangten zu der Taverne, die gleich in der Nähe der Royal Mile lag. Der Besitzer nickte, als er ihren Führer erkannte, und wies eine seiner Bedienungen an, ihnen rasch etwas zu trinken zu bringen. Jade bestellte ein frisch gezapftes Bier, Sally und Jeff setzten sich ihr gegenüber an den schmuddeligen Tisch in der Mitte der Kneipe. »Denkt ihr, dass er uns mit den Toten Angst einjagen kann?«, fragte Sally kichernd. Dennoch glaubte Jade, ein gewisses Unbehagen zu spüren.
»Der hat doch überhaupt nichts auf Lager«, meinte Jeff geringschätzig. »Bestimmt bekommen wir nur ein paar alte Grabsteine zu sehen und vielleicht noch ein Denkmal von diesem kleinen Hund.«
»Ah, Freunde!«, meinte der Führer und wirbelte zu ihnen herum, umweht von seinem schwarzen Cape. »Ich habe euch die ganze Nacht lang enttäuscht. Angus!«, rief er dem Barkeeper zu. »Sei so gut und schenk diesen jungen Leuten ein Gläschen von deinem Besten ein, Johnnie Walker Black. Trinkt, Freunde, ich gebe eine Runde aus und verspreche euch, mit dem Geschmack des Besten, was Schottland zu bieten hat, in den Adern und dem, was ich euch gleich zeigen werde, werdet ihr erzittern! Bei allen Heiligen!« Er lachte laut auf.
»Wenn der Scotch auf dich geht, Kumpel, bin ich dabei!«, erklärte Jeff und hob das Schnapsglas, das vor ihm stand. Er leerte es in einem Zug und spülte mit einem großen Schluck Bier nach.
Jade ließ den Whiskey stehen.
Als sie spürte, wie der Führer sie anstarrte, lächelte sie und versicherte ihm: »Mich haben Sie bereits ausreichend geängstigt.«
Er neigte den Kopf ein wenig und wandte sich wieder den anderen zu. »Ich erzähle euch jetzt noch eine Geschichte über die Gruft, die wir erforschen werden. Es ist die Familiengruft der de Brus. Aha, ich sehe, die Historiker unter euch sind aufmerksam geworden«, stellte er fest und blickte zu Jade. »Aye, richtig, ein Teil der de Brus wurde zu Bruce, darunter unser berühmter guter König Robert the Bruce. Aber es gab noch einen anderen Zweig, und der hielt hartnäckig am Namen de Brus fest. Als sie den Fuß nach Schottland setzten, so heißt es, gab es unter ihnen einen unehelichen, von einer Seuche gezeichneten Cousin. Manche behaupten, der Familienfluch sei die Syphilis gewesen, andere meinen, er war ein Bluter. Wie dem auch sei – dieser Cousin wurde verrückt, und seine Familie brachte ihn um. Das war vor langer, langer Zeit, so um das Jahr 1080. Er hinterließ eine Tochter, eine seltene Schönheit, doch die Familie sperrte sie in einen Turm. Dennoch stellten sich Freier ein, wie es für junge Männer nicht ungewöhnlich ist, und manche verschafften sich Einlass ...«
»Und was passierte dann?«, wollte Sally ungeduldig wissen. als er eine Pause machte.
»Dann haben sie versucht, ihr an die Wäsche zu gehen«, meinte Jeff trocken. Die Gruppe lachte.
»Was hat man damals denn für Wäsche getragen?«, fragte Tom Marlow, ein weiterer junger Student, der Stillste der Gruppe. Es war das erste Mal, dass Jade ihn an diesem Abend etwas sagen hörte. Wahrscheinlich hätte er ohne Johnnie Walker Black nie den Mund aufgemacht.
»Psst!«, meinte Sam Spinder. Offenbar hatte Tom Marlow nicht oft Gelegenheit, etwas zu sagen. »Und dann?«, wollte Sam von ihrem Führer wissen und kippte seinen Scotch in einem Zug, eine Grimasse schneidend.
»Dann wurden sie nie mehr gesehen«, erklärte der Führer schulterzuckend. »Aber in den Sümpfen und auf der Heide wurden Knochen gefunden. Auch junge Frauen verschwanden. Es heißt, dass die arme, schöne de Brus weinte, und es klang wie ein Heulen in der Nacht, wie eine Million Dämonen, wie Banshees, Todesfeen, die sich die Toten holen wollen. Ach, sie weinte so jämmerlich, dass ihre Verwandten sich auf die Suche nach armen jungen Mädchen machten und sie ihr brachten, und auch die wurden fortan nicht mehr gesehen; denn es heißt, sie badete gern in Blut, je jünger, desto besser.«
»Das ist die Geschichte der Gräfin Bathory«, beschwerte sich Hugh Riley, auch ein Footballspieler. Er war nicht ganz so groß wie die anderen und vielleicht auch nicht ganz so zuverlässig auf dem Spielfeld, doch er schien sich in Geschichte auszukennen. Und er hatte auf diesem Ausflug immer aufmerksam zugehört. Ein interessanter Bursche.
»Und die Gräfin Bathory hat es tatsächlich gegeben, sie war eine grausame, unbarmherzige, gewissenlose Frau«, sagte Jade scharf. »Auf sie geht der Tod Hunderter, wenn nicht gar Tausender junger Frauen zurück. Sie hat tatsächlich in Blut gebadet, ihr grausamer Appetit war grenzenlos.«
Plötzlich wurde Jade seltsam warm, als ob jemand sie von hinten beobachtete. Sie drehte sich um. Ja, dort saß er, allein an einem Tisch in einer Ecke der Taverne, und trank ein Bier, so dunkel, dass es rot wirkte. Vielleicht war es ja auch Wein, ein großes Glas dunkelroten Weins. Er hob es und prostete ihr zu, als ob er ihr zustimmen wollte. Sie konnte ihn fast sprechen hören, mit einer tiefen, kultivierten Stimme. »Ja, es gibt das Böse in dieser Welt, Menschen können einander unvorstellbare Grausamkeiten antun.«
Doch er sagte nichts. Er nickte ihr nur zu und trank.
Sie wandte sich rasch ab.
»Tolle Geschichte. Diesem Luder hat also das Blut von Jungfrauen geschmeckt, eh?«, fragte Sam.
»Dann wärst du immerhin nicht gefährdet, Sally!«, meinte Jeff zu der Blondine.
»Ihr könnt mich mal!«, fauchte Sally und rutschte von Jeff weg.
»Ach, sei nicht so, Sall!«, meinte Jeff. »Wir machen doch nur Spaß. Aber mal ganz im Ernst: Wo bekommt man heute noch eine erwachsene Jungfrau her? Bis auf die Schlaubergerin dort drüben, oder, Schlaubergerin?«, fragte er Jade spöttisch.
Doch eine Antwort blieb ihr erspart, denn der Führer fuhr fort. »Unsere Lady mochte einfach junges Blut, meine Freunde, je verdorbener, desto besser. Aye, sie war ein sehr sinnliches Weib!« Er riss die Augen auf und zwinkerte ihnen zu. »Trinkt aus, Freunde! Es ist an der Zeit, uns in die Gruft zu wagen.«
Das junge Paar mit den Kindern verabschiedete sich. Mary gab dem Führer ein großzügiges Trinkgeld. »Den Jungs hat es wirklich sehr gut gefallen!«, meinte sie.
Er lächelte. »Träumen Sie was Schönes! Und vielen Dank!«
Auch das ältere Paar stand auf und ging.
Jade überlegte, ob sie es ebenfalls gut sein lassen sollte, doch sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass eine solche Tour nicht oft angeboten wurde und die Spötter den Führer zu einer ganz besonderen Exkursion angestachelt hatten. Vielleicht ergab sich ja doch die Gelegenheit, einmal etwas wirklich Ungewöhnliches zu erleben.
Der dunkeläugige Fremde blieb ebenfalls, wie Jade bemerkte.
Sie gingen hinaus und folgten ihrem Führer durch dunkle Straßen, um Ecken und Kurven. Jade hatte schon überlegt, zu welchem Friedhof er sie wohl führen würde, da sie die meisten Friedhöfe in dieser Stadt kannte. Schließlich kamen sie zu einer verfallenen Kirche auf einem Hügel, umgeben von vernachlässigten Gräbern: zersprungene Grabsteine, manche auch nur schief und flechtenüberwachsen, manche, die bleich wie Knochen waren und im Licht des Vollmonds schimmerten.
Jade sah sich um, als sie durch ein schmiedeeisernes Tor auf den Kirchhof traten. Ja, heute war tatsächlich Vollmond – perfekt für einen solchen Ausflug.
»Und es ist kurz vor Mitternacht!«, rief ein Mädchen namens Julie kichernd und klammerte sich an Hugh. Wie Sally trug auch sie eine ziemlich enge, tief ausgeschnittene Bluse, unter der sich ihre großen Brüste deutlich abzeichneten. Jade fand sie eigentlich ganz nett, nur etwas jung und hohl.
»Die Mitternachtstour!«, rief ihr Führer und reckte die Arme gen Himmel. »Seit alters die Zeit für Hexerei, Dämonen und die Blutgier der Untoten!«
Sally kicherte nervös. »Es ist wirklich ziemlich dunkel.«
»Wir haben doch Vollmond, die Sicht ist fast so gut wie am helllichten Tag!«, tröstete Jeff sie.
»Kommt und seht euch die Gruft an«, lud sie der Führer ein.
Der Boden war uneben. Jade warf noch einmal einen Blick nach hinten auf die alte Kirche. Ihrer Bauweise nach stammte sie wohl aus der Zeit der Kelten. Die Fenster wirkten geschwärzt, es war, als ob zahllose leere Augen in die Nacht starrten.
Plötzlich stolperte sie über einen Grabstein. Sie spürte, wie zwei starke Hände sie stützten. Überrascht drehte sie sich um – es war der große, zurückhaltende Fremde mit den seltsamen feurig-dunklen Augen.
»Alles in Ordnung?« Seine Stimme war tief, er hatte einen leichten Akzent. Schottisch? Sie war nicht sicher. Es kam ihr seltsam vor, dass er sprach. Die Stimme war wirklich ausgesprochen tief, kultiviert, rau – so sinnlich wie seine Augen. Und obwohl er ebenso faszinierend klang, wie er aussah, wirkte er gleichzeitig doch auch völlig normal.
Was hatte sie erwartet? »Ob alles in Ordnung ist?«, wiederholte sie und kam sich idiotisch vor. Sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. »Ich ... ja, natürlich, ich bin nur leider etwas tapsig.«
»In der Nacht ist dieser Friedhof kein guter Aufenthaltsort«, meinte er. Er starrte sie noch immer mit seinen merkwürdig bernsteinbraunen Augen an, ein verwirrender Blick. Er sah sie nicht nur an, er musterte sie eingehend. Dann streifte er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht – eine sehr intime Geste, wie ihr schien.
Sie hätte sich von ihm lösen sollen.
Sie tat es nicht.
»Warum?«, fragte sie stattdessen lächelnd. »Glauben Sie, dass die Geister aus ihren Gräbern aufsteigen und sich an den Lebenden rächen?«
»Ich glaube, dass es auf dieser Erde viele Dinge gibt, die sich nicht erklären lassen«, erwiderte er. »Sie sind Amerikanerin?«
Klang er etwa enttäuscht?
»Jawohl, ich bekenne mich schuldig. Ich bin Amerikanerin. Aber mit schottischen Vorfahren.« Sie zuckte die Achseln. »MacGregor«, fügte sie hinzu.
»Aus dem Süden?«
»Wieder schuldig. Aus Louisiana.«
»New Orleans?«
»Ja. Kennen Sie die Stadt?«
»Jawohl«, meinte er, dann deutete er auf den Grabstein, über den sie soeben gestolpert war. »Merkwürdig.«
»Was denn?« Sie sah nach unten. Der Grabstein war zersplittert, seine Einzelteile lagen neben einem überirdischen Sarkophag, ähnlich denen auf den Friedhöfen ihrer Heimatstadt. Auf dem Grab war, im Mondlicht gut zu erkennen, der Name MacGregor eingraviert.
Es überlief sie eiskalt, und das Blut wich ihr aus dem Gesicht. Noch nie hatte sie Angst vor den Toten gehabt, vor einem Friedhof, einer Kirche, einem Ort, an dem es angeblich spukte. Dafür war sie viel zu fasziniert von Geschichte und oft auch von der Eindringlichkeit des Todes. Aber in diesem Moment ...
Angst hüpfte ihr in heißen, kleinen Sätzen den Rücken hinab.
»Ich sollte ins Hotel zurück«, murmelte sie. »Bislang hat mir die Tour gut gefallen, doch eigentlich bin ich ziemlich müde. Ich achte nicht mehr auf meine Schritte.«
»Nein«, meinte der bernsteinäugige Fremde und nahm sie am Arm.
Sie blickte zu ihm hoch und runzelte die Stirn. »Ich wollte gehen.«
»Es ist zu gefährlich, jetzt zu gehen, noch dazu ohne Begleitung.«
»Zu gefährlich ...«, setzte sie an.
»Auch in Schottland gibt es finstere Gestalten«, erklärte er schulterzuckend. »Und das hier ist nicht gerade die sicherste Gegend.«
»Sind Sie denn von hier?«
»Ursprünglich ja. Aber das ist lange her, sehr lange her.«
»Nun kommt schon, kommt mit!«, rief der Führer ihnen zu.
Sie waren am anderen Ende des Friedhofs angelangt. Hier standen Gräber aus Stein und Eisen, wie von Geistern heimgesuchte Totenhäuser. An manchen Stellen waren die Steine ausgebrochen, schmiedeeiserne Tore standen halb offen, überall wucherte Efeu.
Jade drehte sich um.
Die gewundene Gasse, auf der sie hierher gelangt waren, war nicht mehr zu sehen. Man konnte nur noch die alte Kirche und die Grabumfriedungen erkennen, die im Licht des Vollmonds golden schimmerten.
Wie auf ein Stichwort hin stieg plötzlich Nebel auf.
»Seht euch das an!«, meinte Julie ehrfürchtig.
»Der hat hier bestimmt irgendwo 'ne Nebelmaschine«, meinte Tony. »Wahrscheinlich werden wir jetzt gleich den Titelsong aus Twilight Zone zu hören bekommen.«
»Oder aus Der weiße Hai«,sagte Jeff lachend. »Bestimmt taucht bald noch ein Friedhofshai auf.«
»Gleich sind wir da«, verkündete ihr Führer laut und wirbelte mit flatterndem Umhang zu ihnen herum.
Und tatsächlich standen sie kurz darauf vor einem prächtigen Grab, obwohl auch hier der Verfall deutlich zu sehen war. Wundervoll gearbeitete Wasserspeier beschützten die vier Ecken einer schmiedeeisernen, mit einem komplizierten Muster versehenen Umzäunung. Flechten und Efeu überwucherten die Wände und die zum Eingang führenden Stufen.
»Nun kommt schon!«, forderte der Führer sie auf und winkte ihnen zu, während er die Stufen erklomm.
Sie folgten ihm.
Von außen wirkte das Grabmal alt, verlassen und verfallen. Auf dem Boden lag trockenes Laub.
Sobald sie im Inneren der Kammer waren, sahen sie, dass Särge die Wände säumten. Sie waren nicht eingemauert, sondern standen in Nischen und waren mit Staub und Spinnweben bedeckt.
»Oh, wie unheimlich!«, höhnte Jeff.
»Drunten wird es besser«, versicherte der Führer. »Ich habe doch versprochen, euch Angst einzujagen«, fügte er dramatisch hinzu, warf seinen Umhang wieder um die Schultern und ging voraus in den rückwärtigen Teil der Grabstätte, wo feuchte, uralte Steintreppen nach unten führten.
Jade war nicht sicher, ob sie sich über den schützenden Griff des Fremden freuen sollte, als sie die feuchten Stufen in schauerliche Dunkelheit hinabstiegen – oder ob er ihre Angst nur vergrößerte. Sie dachte daran, sich ihm zu entziehen und hinter einem der breitschultrigen Footballspieler Schutz zu suchen. Aber nun entzündete der Führer ein Streichholz an der Wand und hielt es an eine Fackel, und schon war die unterirdische Gruft, in die sie nun gelangten, erleuchtet.
Julie war die Erste, die einen kleinen Schrei ausstieß.
Die Toten lagen in verschiedenen Stadien des Verfalls unter verblichenen Leichentüchern. Schädel starrten in den Abgrund der endlosen Nacht, knöcherne Finger umklammerten einander über Brustkörben, die mit Fetzen aus Seide oder Leinen bedeckt waren. Hier und da lagen ein paar Knochen auf dem Boden. Ratten quiekten erschrocken über die Eindringlinge, eine Fledermaus flatterte quer durch die riesige unterirdische Gruft und entlockte Sally einen überraschten Schrei. »Ziemlich cool, Mann, wirklich beeindruckend, aber ich habe noch immer keine richtige Angst«, erklärte Jeff dem Führer.
»Weil Sie Sophia noch nicht gesehen haben«, meinte der Führer. »Und ich glaube, dass Sie, mein junger Herr, sie als Erster treffen sollten. Kommen Sie her. Sie stellen sich doch bestimmt wieder als Opfer zur Verfügung, oder?«
Der Führer winkte Jeff zu sich.
Jeff stolperte vorwärts. »Na klar, geben Sie's mir! Schlagen Sie mich, foltern Sie mich!«
»Und Ihre Freundin?«, fragte der Führer.
»Ach, ich weiß nicht ...«, meinte Sally.
»Na komm schon, Sally, trau dich! Erfüll mir meinen Traum – Ménage à trois«, spottete Jeff.
»O Baby!«, buhte Tony.
Sally schnitt ihm eine Grimasse.
Der Führer lächelte und nahm sie mit zu einem Sarkophag in der Mitte der Gruft. Auf den ersten Blick schien er mit einer schweren Steinplatte versiegelt, doch diese wich mit einem nervtötenden Quietschen, als der Führer sie zur Seite schob. Im Inneren lag ein mit Schnitzereien reich verzierter hölzerner Sarg, der dem Zahn der Zeit offenbar widerstanden hatte. Die Schnitzereien zeigten allerlei Fratzen und dämonische Wesen.
»Sophia und ihre Gefährten!« Der Führer stellte sich hinter Sally und hob ihr blondes Haar. Seine Finger huschten über ihren Nacken, ihren Brustansatz, zurück zu ihrem Hals. »Der Ort, an dem die Toten ... speisen«, sagte er. »Denn hier pulsiert das Leben am stärksten.«
Jade kam es beinahe anstößig vor, wie er das Mädchen berührte. Sie wollte etwas sagen, ihm Einhalt gebieten. Sally wirkte wie hypnotisiert, offenbar wartete sie darauf, wieder berührt zu werden. Sie drehte sich zu dem Führer um und reckte den Kopf nach hinten. Er lächelte die anderen an, dann umfing er Sally mit einem Arm und berührte sie zart mit den Knöcheln, vom Hals bis zum Ausschnitt. Plötzlich riss er ihr die Bluse vom Leib. Niemand rührte sich. Sally lächelte noch immer. Jeff, ihr Freund, starrte den Führer an.
Jetzt reichte es aber! Jade trat einen Schritt vor.
Der Fremde zog sie wieder zurück.
»Tun Sie das nicht«, flüsterte er. »Mischen Sie sich jetzt nicht ein!«
Gehörte das dazu? War das die Erwachsenenversion der Tour?
Sie hätte sich gern von dem Fremden losgemacht, doch sie spürte wieder die Kälte auf ihrem Rücken. Eine innere Stimme warnte sie: Sag nichts! Beweg dich nicht! Du bringst dich sonst in Gefahr!
Sollte sie weglaufen?
Nein, sie konnte nicht weglaufen. Der Führer würde sie rennen sehen, er würde sie zurückzerren ...
»Öffne den Sarg!«, forderte er Jeff auf, und der folgte dem Befehl. Scheinbar hatte er gar nicht mitbekommen, dass der Mann, über den er sich den ganzen Abend lustig gemacht hatte, soeben seine Freundin fast ausgezogen hatte. Doch Sally lächelte ihn noch immer an, sie schnurrte fast, als er ihren nackten Körper streichelte.
Jade konnte sich vor Angst nicht mehr rühren.
Jeff klappte den Sargdeckel auf. Im Sarg lag eine Frau, eine junge, wunderschöne Frau mit rabenschwarzem Haar. Sie trug ein weißes, mit aufwendigen Spitzen verziertes Leinengewand und zeigte keinerlei Spur von Verfall. Ihre Augen waren weit geöffnet. Sie starrte Jeff an und lächelte – ein provokantes, verführerisches Lächeln.
Dann setzte sie sich auf.
Das ist alles nur ein Schauspiel.
Der Fremdenführer begann wieder zu reden. »Man hat sie gefürchtet, man hat Sophia gefürchtet, wie man weder Gott noch den Teufel fürchtete noch den englischen König Edward, den ›Schottenhammer‹, als er sich daran machte, Schottland zu plündern. O, Gott, wie man sie fürchtete! Auch ihre Verwandten fürchteten sie, und um sie glücklich zu machen und fernzuhalten, fütterten sie sie mit Jugend und Schönheit. Sie brachten ihr das Blut und die Gesellschaft jungen Fleisches. Jeff, Freiwilliger, zeig ihr das Blut, das dich durchströmt, gib ihr deinen Hals!«
Und Jeff folgte der Aufforderung. Er half der Frau aus dem Sarg, lächelte sie an wie ein Schwachsinniger und schmiegte sich an sie. Sie küsste ihn, der Kuss war sehr erotisch, und dann neigte er den Kopf zur Seite ...
... und sie biss ihn in den Hals. Er schrie.
»Habt ihr endlich Angst?«, fragte der Führer. »Habt ihr jetzt endlich Angst?« Er feixte. Und damit erreichte das Drama seinen Höhepunkt. Anstelle seiner Eckzähne entblößte er riesige, leuchtend weiße Reißzähne. Sie glühten im Fackelschein.
Dann begann er zu lachen, beugte sich vor und senkte die Zähne in Sallys Hals.
Sie schrie auf, es war der Schrei einer zu Tode geängstigten, todgeweihten Kreatur. Blut spritzte, tropfte auf den Sarg, den Boden.
Das ist kein Schauspiel, das ist echt, o mein Gott, viel zu echt.
Nun begannen auch die anderen zu schreien und zu kreischen, in Panik stürzten sie zur Treppe.
Aber in den Nischen der Gruft erwachten die Toten. Auf einmal erhoben sich Leichen, nur teilweise mit Tüchern verhüllt und mit Spinnweben bedeckt, und blockierten den Ausgang. Entsetzensschreie ertönten, die Toten griffen nach den Lebenden.
Jade war genauso panisch wie alle anderen, fassungslos versuchte sie, wegzurennen.
Doch der Fremde schubste sie unsanft in die Ecke zurück, in der sie gestanden hatte. »Nein! Bleiben Sie hier und warten Sie!«
Sie hätte ihm nicht gehorcht, wenn nicht plötzlich der Führer vor ihr aufgetaucht wäre. Er war von oben bis unten mit Sallys Blut besudelt und grinste. Sie wich zurück.
Plötzlich drängte sich der Fremde mit den dunklen Augen zwischen sie. Der Führer atmete rasselnd, es klang wie das Brodeln eines Vulkans. Er stürzte sich auf den Fremden und stieß etwas hervor, was Jade nicht ganz verstand, einen Namen.
»Ich dachte mir schon, dass du es bist. Schweinehund! Typisch, du musst dich wieder einmischen ...«
»Und du musst wieder alles zerstören.«
Der Führer begann, auf ihn einzuschlagen.
Der dunkeläugige Fremde parierte die Hiebe und versetzte ihm seinerseits einen heftigen Schlag. Der Führer segelte durch den Raum, hinter dem Hieb hatte eine unbändige Kraft gesteckt.
Die Leute schreien laut genug, um die Toten aufzuwecken, dachte Jade hysterisch.
Sie musste hier raus.
Aber wie?
Durch den Ausgang.
Wo ist der Ausgang?
Alles war düster.
Und alles war rot, voller Blut.
Eine Leiche stürzte sich auf Julie.
Eine Leiche!
Auf einmal erwachte Jade aus ihrer Schreckstarre. Sie packte die Fackel, die einzige Lichtquelle in dem unterirdischen Raum, und griff die Leiche an, die sich auf sie stürzen wollte. Die Leiche wich zurück.
Eine andere war hinter ihr. Sie wirbelte herum, fuchtelte mit der Fackel.
In diesem Moment hatte sie den Eindruck, als würden alle auf sie losgehen. Sie rückten näher, immer näher.
Doch eine nach der anderen wurde weggezerrt, flog durch die Luft, schrie, zischte wütend. Jade spürte ihre Blicke, ihre Gier, ihren Hass. Sie stand kurz davor, den Verstand zu verlieren.
War das alles wahr?
Sie sah, wie der Führer wieder auf sie zukam, noch immer lächelnd, hoch erfreut. Er wollte sie packen, sie rang mit ihm, er war unglaublich stark, sie konnte sich kaum rühren. Er lächelte, während sie schrie und sich zu wehren versuchte, er zerrte an ihrer maßgeschneiderten weißen Bluse.
»Pssst! Du bist die Krönung dieser mitternächtlichen Stunde«, erklärte er ihr.
Seine Reißzähne näherten sich ihrem Hals.
Und dann verschwand sein Grinsen.
Gerade war er noch direkt vor ihr gewesen, doch plötzlich war er weg. Er war mit einer unglaublichen Kraft von ihr fortgezerrt worden, einer Kraft, die ihn hoch in die Luft warf. Und sie kam frei. Sie fiel auf den Boden und schlug mit dem Kopf gegen einen Stein. Sie hörte den Führer noch wütend aufschreien, protestieren, Flüche ausstoßen gegen jemanden namens ...
Dann sah sie den Fremden wieder. Er beugte sich über sie. Sie sah ... seine Augen, tiefschwarze Augen. Augen, in denen sich die rote Flamme der Fackel spiegelte, Augen, die in dem Feuerschein und dem Licht des Mondes seltsam golden wirkten.
Der Schmerz in ihrer Schläfe wurde immer stärker. Stein, ja, sie war auf einen Stein gefallen. Allmählich verblasste die Welt.
Die Fackel, die ihr entglitten war, lag nun auf dem Boden, doch sie brannte noch.
Aus der Ferne vernahm sie noch immer Schreie.
Und dann begann sie zu fallen, tief, in ewiges Dunkel ... In schauerliches Dunkel. So wie seine Augen, aus denen der Feuerschein gewichen war.
***
Man fand sie auf dem Grab mit ihrem Familiennamen, MacGregor.
Sie lag nackt auf diesem Grab, doch jemand hatte sie mit einem weißen Tuch zugedeckt.
Einem Leichentuch.
Als sie allmählich wieder zu Bewusstsein kam, nahm sie kaum etwas von ihrer Umgebung wahr. Polizei war da, und sie hörte Sirenen. Sie dämmerte wieder weg, dann merkte sie, dass das Heulen der Sirenen jetzt von dem Fahrzeug stammte, in dem sie lag.
Immer wieder verlor sie das Bewusstsein. Sie versuchte, der Polizei zu erklären, was passiert war. Sie sprach von dem Fremdenführer, dem Pub, dem Ungeheuer, Sophia de Brus, die aus dem Sarg geklettert war.
Die Polizisten glaubten, dass sie Drogen genommen hätte, wie die anderen Überlebenden.
Ja, es gab Überlebende.
Ein paar.
Vier Menschen waren ermordet worden, Jade und fünf andere junge Leute hatten überlebt, Hugh Riley, Tom Marlow, Tony Alexander, Ann Thorson und Marianne Williams. Alle hatte man zwischen den Grabsteinen gefunden, manche nackt, andere mit zerfetzten Kleidern und Verletzungen, wirres Zeug stammelnd, halb von Sinnen, aber lebend.
Sie war froh, dass sie mit dem Leben davongekommen waren, und erfüllt von tiefem Mitleid mit den anderen. Siehst du? Das passiert, wenn man seinen Fremdenführer verhöhnt!
Aber niemand hatte einen solchen Tod verdient ...
Nach und nach erfuhr sie, was – den Behörden zufolge – passiert war.
Die Polizei hatte eingehende Nachforschungen angestellt und war zu dem Schluss gekommen, dass Anhänger eines Kults für das Massaker verantwortlich waren. Vermutlich hatten sie sich damit den Zutritt zu einer Satanssekte verschaffen wollen. Jeff, Sally, Julie und Sam waren verblutet, die Kehle war ihnen von Ohr zu Ohr aufgeschlitzt worden, der Kopf ...
Zwei Köpfe hatten sich noch an den Rümpfen befunden, an ein paar Fleischfetzen hängend.
Zwei Köpfe waren verschwunden. Jade fand nie heraus, wessen Köpfe das waren.
Die anderen, diejenigen, die das Glück gehabt hatten, aus der Gruft zu entkommen, waren ebenso aufgefunden worden wie Jade.
Bewusstlos.
Dann verwirrt.
Und schließlich hatten sie zugegeben, dass sie unter dem Einfluss von Drogen und Alkohol gestanden hatten.
Jade wies die Polizisten darauf hin, dass auch bei ihr Blut und Urin getestet worden waren und dass doch bekannt war, dass sie keine Drogen genommen hatte.
Aber niemand wollte ihr glauben. Sie wollten weitermachen, die Mörder suchen, beten, dass so etwas nie wieder passierte.
Jade wollte nur noch nach Hause und die Polizei ihre Arbeit tun lassen.
Sie hatte Glück gehabt. Unglaubliches Glück.
Ja, das schon. Aber die Polizisten irrten sich.
Sie konnte sich nicht an alles erinnern, weil das, woran sie sich erinnerte, so grotesk war. Es konnte einfach nicht wahr sein; das, was die Polizei sagte, dagegen schon. Ein Großteil war bestimmt ein ausgeklügeltes Schauspiel gewesen. Ein Schauspiel.
Natürlich. Was denn sonst? Leichen wurden nicht so einfach wieder lebendig.
So etwas wie Vampire gab es nicht. Oder doch?
Sie war unablässig befragt worden und hörte nicht auf, sich selbst weiterhin Fragen zu stellen. Etwas stimmte nicht. Sie hatte keine Drogen genommen. Ob die Ermittler es zugeben wollten oder nicht, sie wussten, dass sie keine Drogen genommen hatte.
Und der Mann mit den unheimlichen Augen hatte auch keine genommen.
»Was für ein Mann?«, hatten die Polizisten gefragt.
Sie hatte ihn beschrieben.
Die Polizei hatte ihn nicht gesehen. Ein solcher Mann, ob Held oder Dämon, war nirgends zu finden. Und sie hatte nicht gewusst, wie er hieß, und auch nicht, wo er sich aufhielt oder ob er tatsächlich ein Einheimischer war oder ein Fremder. Ja! Er hatte gesagt, dass er aus diesem Land gekommen sei ... vor langer Zeit. Wer er auch war, woher er auch kam, er hatte gegen die Leichen und den blutrünstigen Führer gekämpft, dessen war sich Jade sicher.
Die Polizisten wiederum waren sich sicher, dass die Schrecken dieser Nacht ihren Verstand verwirrt hatten.
Die Leichen in der Gruft waren nichts weiter als Leichen, versicherte ihr die Polizei, Staub, verfallende Skelette. In der Geschichte Schottlands gab es keine Sophia de Brus. Das, was passiert war, war schrecklich, ganz schrecklich. Sie musste dringend nach Hause, rasch alles vergessen.
Und sie mussten dringend die Mörder finden. Den Führer, den jungen Mann, der ein derart grässliches Gemetzel angerichtet hatte.
Die Wahrheit – die groteske Wahrheit, an die sie sich erinnerte – begann zu verblassen. Ihr Verstand sorgte dafür, dass sie ihn nicht verlor. Die Polizisten befragten sie endlos weiter, versuchten, das Gesagte zu verstehen. Wo war sie vorher gewesen? Warum hatte sie sich der Gruppe angeschlossen? Was für ein Mensch war der Fremdenführer gewesen?
In der Stadt fanden viele Exkursionen statt, aber keine unter dem Namen, den der Führer ihnen genannt hatte.
Und es gab keine Kneipe, die Ye Olde Hangman's Tavern hieß.
Die Polizisten mussten recht haben – das, woran sie sich erinnerte, war falsch. Das, was sie glaubte, gesehen zu haben, konnte einfach nicht geschehen sein. Ein Ritual, ja, ein abscheuliches Ritual. Tragische Morde, ausgeführt von Menschen, die durch und durch widerlich waren ...
Aber der Führer, der sie in Tod und Verderben geführt hatte, hatte es geschafft, ohne die geringste Spur seiner Identität oder seines Aufenthaltsortes zu verschwinden. Wenn ein Kult das Verbrechen verübt hatte, wo waren dann die übrigen, die dem Führer bei seinem mörderischen Unterfangen geholfen hatten?
Der Mann mit den bernsteinbraunen Augen.
Wenn sie den Polizisten bloß mehr erzählen könnte!
Aber das konnte sie nicht, und auch die anderen Überlebenden konnten es nicht.
Blut wurde von den Grabsteinen gekratzt, Leichen wurden einer Autopsie unterzogen. Die Mörder hatten keine Spuren hinterlassen, keinen Tropfen ihres eigenen Bluts, kein Haar, keinen Follikel.
Je mehr Zeit verging, desto irrealer wurde alles. Wirr, verhüllt in einen dichten Nebel surrealer Finsternis.
Es gab nichts, was sie den Behörden noch hätte sagen können, und auch die Behörden konnten ihr nichts mehr sagen. Sie würden den Fall weiter untersuchen, Scotland Yard einschalten, sogar das FBI bitten, noch einmal ein paar Tests durchzuführen. Jedem Hinweis würde nachgegangen, jedes ähnliche Verbrechen, ob im Inland oder sonstwo in der zivilisierten Welt, würde im Computer auf vergleichbare Punkte hin untersucht werden.
Man wollte ihre Meinung nicht mehr hören.
Sie hatte Glück gehabt, sie war verschont worden. Sie musste die Sache jetzt vergessen, sonst würde sie verrückt werden. Sie musste nach Hause, wieder in ihren Alltag zurück.
Ihre Schwester Shanna kam nach Schottland, um sie abzuholen. Sie nutzten einen Vielfliegerbonus und kehrten erste Klasse heim. Shanna war wunderbar, sie ließ Jade reden und reden in der Hoffnung, dass sie schließlich ein paar Dinge klarer sehen würde.
Natürlich war sich auch Shanna sicher, dass es Sektenmitglieder gewesen waren, schreckliche Menschen, denen ein Leben nichts wert war. Jade hatte Glück gehabt.
Sie musste so weit kommen, froh zu sein, dass sie noch lebte.
Und sie war nun auf dem Heimweg. Fort von all den Schrecken.
Und sie war wirklich froh, unendlich froh und dankbar.
Und ja – irgendwann würde sie bestimmt auch wieder ein normales Leben führen ...
Ein Jahr später war es fast so weit. Jade begann, sich mit einem Polizisten namens Rick zu treffen. Sie veröffentlichte ein kleines Buch mit Geschichten und Fotos von mittelalterlichen Kirchen.
Und es war fast genau ein Jahr her und auch wieder Vollmond, als sie anfing, von dem Mann zu träumen.
Von dem Mann.
Nicht von dem Fremdenführer, nicht von der Frau, die von den Toten auferstanden war, und auch nicht von den anderen Leichen, die in der Gruft zu neuem Leben erwacht waren.
Es war finster in ihrem Traum, und sie stand im Dunkel, das nur vom goldenen Schein des Mondes erhellt wurde. Schatten wanderten über das Land, Nebel stieg auf. Sie stand da und fröstelte, denn der Wind war kalt, und sie schwebte in Gefahr, das wusste sie; sie war nackt – nein, sie war in ein weißes Leintuch gehüllt, ein Leichentuch.
Und er kam auf sie zu.
Der Mann mit den Augen wie Feuer und Ebenholz.
Sie erwachte mit einem Ruck und zitterte.
Der Blick auf ihren Wecker zeigte ihr, dass es Punkt zwölf Uhr war.
Mitternacht.
»Ah, guten Morgen, Schwester Wunderbar!«
Jade musste nicht aufblicken, um zu wissen, dass Matt Durante vor ihrem Tisch stand. Sie kannte seine Stimme ebenso gut wie seine rundlichen Wangen, sein breites Grinsen und seine stets schalkhaft blitzenden blassblauen Augen. Matt schien aus Extremen zu bestehen. Jade kannte keinen, der dem Leben derart fröhlich und unbeschwert gegenüberstand wie Matt. Stets hatte er ein Lächeln auf den Lippen, er war nie deprimiert und allzeit bereit, jemandem einen Gefallen zu tun, egal, ob einem zerlumpten Penner auf der Straße oder einem guten Freund. Aber was er schrieb, war düster, düsterer als die schauerlichen Abgründe alter Mythen. Er schuf Geschichten aus der Schattenwelt, beängstigende, eindringliche Geschichten, die Art von Geschichten, die dem Leser Angst machten, nachts auf dunklen Gassen unterwegs zu sein oder allein daheim zu sitzen.
Sie legte die Zeitung weg, rückte ihre Sonnenbrille zurecht und sah zu ihm hoch. »Guten Morgen, Schwester Wunderbar? Soll das heißen, dass mein jüngeres Schwesterchen heute Morgen etwas angestellt hat? Hat sie etwa an deinem letzten Kapitel über das Leben der Bösen und der Glücklichen herumgemäkelt?«
Er grinste und setzte sich neben sie, als ob er geradewegs zu ihr hatte kommen wollen. Allerdings war es kein großes Geheimnis, dass sie morgens meist hier im Café du Monde zu finden war. Es war zwar ein beliebter Touristentreff für die Frühaufsteher in New Orleans, aber es gab auch herrlichen Kaffee und wundervolle Beignets, und noch dazu wirklich preiswert. Außerdem beobachtete sie gern die Touristen, die immer viel zu reden und zu tun hatten. Man bekam alle möglichen Sprachen zu hören. Sie liebte das geschäftige Treiben, das sich morgens hier abspielte, obwohl sie am liebsten allein herkam und ihre Zeitung las. Aber ebenso sehr schätzte sie die helle Morgensonne und das Treiben und Plaudern von Hunderten von Leuten um sie herum. Vor allem seit dem letzten Jahr.
Ihre Freunde wussten immer, wo sie zu finden war. Und viele ihrer Freunde waren Schriftsteller, wie Matt, obwohl sie ganz unterschiedliche Sachen schrieben: Jade hatte sich auf Reisen und Geschichte spezialisiert; Matt liebte das Makabre; Jenny Dansen schrieb witzige Geschichten, kleine Schnipsel aus dem Alltag; Jades Schwester hatte vor kurzem angefangen, Fantasy zu schreiben. Sie nannten sich »Mittwochgruppe«. Diesen schlichten Namen hatten sie sich gegeben, weil sie einzig aus Liebe zum geschriebenen Wort zusammenkamen; worum es im Einzelnen ging, war gar nicht so wichtig.
»Ich habe dein sündiges jüngeres Schwesterchen gestern Abend gesehen. Wir haben in der neuen Cajun-Kneipe am Highway gegessen und danach ein paar Sachen für Halloween eingekauft. Deine Schwester ist fantastisch, herrlich, süß wie ein Sahnebonbon – und hat eine Figur wie die Sünde. Und sogar zu mir, einem zugegeben wunderlichen Kauz, war sie ausgesprochen nett.«
»Aha. Nun, verzeih mir, aber wenn meine Schwester so verdammt gut klingt, warum bin ich dann auf einmal so wunderbar?«
»Na ja, auch du bist süß und fantastisch und hast eine Figur wie die Sünde, aber heute früh hast du auch noch Talent.«
»Wie bitte?«
Grinsend knallte er einen Stapel Ausdrucke auf den Tisch und fuhr sich durchs Haar. »Du weißt ja, wie besessen ich bin.«
Matt war kommerziell der Erfolgreichste ihrer Gruppe. Er verdiente einigermaßen und war auch einigermaßen bekannt. Seine Titel kletterten auf den wichtigen Bestenlisten, etwa in der New York Times oder in der USA Today, immer weiter nach oben. Aber er war zwanghaft. Jedes Mal, wenn eines seiner Bücher herauskam, ob als Hardcover oder Taschenbuch, führte er sich auf wie ein kleines Kind. Er war schier krank vor Sorge und sah ständig im Internet und anderen Quellen nach, wo sein Buch gerade stand.
Vor Jade lagen nun die Ausdrucke der aktuellen USA Today-Liste. Und zwar nicht nur die ersten fünfzig Titel, die in der Zeitung erschienen, sondern die Liste mit hundertundfünfzig Titeln, die es nur im Internet gab oder wenn man bei der Zeitung direkt anfragte.
Sie starrte auf die Seiten und dann auf ihn.
»Hundert«, meinte er.
»Hundert?«
»Dein kleines Buch Divinely Wicked über Kathedralen und Kirchen, das du im Eigenverlag herausgebracht hast, hat es auf Platz einhundert geschafft. Jade, so etwas ist fast noch nie da gewesen! Ein unglaublicher Coup!«
Sie konnte es kaum glauben. Erst sah sie ihn noch einmal prüfend an, dann nahm sie das Blatt in die Hand. Die Art von Büchern, die sie schrieb, hatte eigentlich nie besonders viel Erfolg, obwohl sie einigermaßen über die Runden kam, weil sie sie selbst veröffentlichte. Dank des Internets erreichte sie Märkte, zu denen sie sonst keinen Zugang gefunden hätte. Weil man per Internet auf ihren Verlag zugreifen konnte, lagen ihre Bücher auch in Buchhandelsketten aus und in einigen der noch verbliebenen unabhängigen Buchhandlungen, die sich auf Geschichte und Mittelalter spezialisiert hatten.
»Du glaubst mir nicht? Auch gut. Aber sieh selbst!«
Sie tat es. Und da war tatsächlich ihr Buch und ihr Name.
»Und du glaubst nicht, dass das ein Irrtum ist?«, fragte sie.
Er lachte. »Du klingst ja wie ich!«
»Nein«, erwiderte sie und lächelte ihn an. »Du bist durch und durch neurotisch. Weil du Erfolg hast, glaubst du nicht, dass du Talent hast. Und gleichzeitig hast du ständig Angst, nicht genug Talent zu haben, um erfolgreich zu sein. Wir können dir auf die Schulter klopfen, so oft wir wollen, du bist und bleibst ein Neurotiker.«
Er nickte fröhlich. »Ich weiß. Aber du klingst trotzdem genau wie ich.«
Sie seufzte und starrte wieder auf die Liste. »Ich wundere mich nur, aber natürlich freue ich mich auch.«
»Es ist ein tolles Buch. Fantastische Fotos. Und du hast es ganz allein gemacht.«
»Das meiste. Shanna hat auch ein bisschen geholfen.«
Der Kellner kam an den Tisch, und Jade bestellte noch eine Tasse Kaffee, Matt Beignets und Kaffee.
Jade konnte. den Blick kaum von der Liste wenden.
»Unglaublich!«, sagte sie schließlich.
»Also – wann findet die Party statt?«
»Was für eine Party?«
»Du musst uns selbstverständlich einladen, die Mittwochgruppe, und zwar gleich heute Abend.«
»Heute ist Donnerstag.«
»Das weiß ich. Aber du kaufst jetzt ein paar Kisten Champagner, kein billiges Zeug, und vielleicht sogar ein bisschen Kaviar.«
»Hast du mir nicht mal erklärt, dass du Kaviar hasst?«
»Das spielt jetzt keine Rolle. Bei einem solchen Anlass braucht man Kaviar. Und wir werden dir alle zuprosten und tolle Sachen sagen und feiern.«
»Ja, vielleicht sollten wir das tun. Aber glaubst du denn, die Zeit reicht, um allen Bescheid zu geben?«
»Jade, Jade, Jade!«, meinte er ungeduldig. »Warum glaubst du wohl, dass ich so früh hier bin? Wir machen uns jetzt gleich daran, alle anzurufen!«
»Wir?«
»Na ja«, meinte er beiläufig, »The Ripper of London, Hardcover, verfasst von dem jungen Mann direkt neben dir, hat es unter die ersten zehn geschafft.« Er kramte die Zeitung aus der Gesäßtasche seiner Jeans und warf sie auf den Tisch.
»Wirklich, Matt?«, fragte sie aufgeregt.
Er hatte das Feuilleton schon an der richtigen Stelle aufgeschlagen. Sein Buch, die Nummer acht, war knallrot umrandet, darum herum stand ›Yeah! Yeah! Yeah! ‹.
»Herzlichen Glückwunsch!«, meinte sie.
»Danke!« Er grinste glücklich.
»Aber du bist viel weiter oben als sich. Warum muss ich die Party schmeißen?«
»Weil du die nettere Wohnung hast.«
»Findest du?«
»Eine Stadtwohnung in einer hübschen alten Villa aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg, im Kolonialstil, und gleich daneben ein französisches Restaurant, in dem es die besten Desserts gibt, die man sich nur vorstellen kann. Ein wunderhübscher, efeuumrankter, mit Blumen vollgestopfter Balkon im ersten Stock mit Blick auf einen tollen Jazz-Club und bestens gepflegte Straßen. Hm, na ja, lass mich nachdenken. Ich bewohne ein Winzappartement im zweiten Stock in einem Teil der Stadt, vor dem man Touristen warnt. Ja, ich habe nachgedacht. Du hast die hübschere Wohnung. Bei dir findet die Party statt.«
»Warum ziehst du nicht um? Das könntest du dir leisten!«
»Ist das dein Ernst? Ich wohne neben den besten, verrücktesten Voodoo-Leuten, die ich je getroffen habe. Meine Nachbarn sind alle völlig durchgeknallt, ich liebe sie. Sogar den einäugigen Jack Russell mit nur einem Hoden, der der alten Mammy Louise über mir gehört.«
»Der pisst doch ständig auf deine Schuhe.«
»Wie böse kann man schon einem Hund sein, der nur einen Hoden hat?«
»Ich habe nichts gegen den kleinen Kerl, mich hat er noch nie angepinkelt. Und übrigens – ich habe nichts gegen deine Wohnung. Du hast dich beschwert, nicht ich.«
»Richtig beschwert habe ich mich ja nicht. Aber du hast schlicht und ergreifend die passendere Wohnung für eine Party.«
»Na gut. Ich freu mich auf die Party und ruf die anderen gleich an.«
»Du musst nur noch deine Schwester anrufen.« Er wurde rot. »Ich habe schon ein bisschen rumtelefoniert.«
Sie zog eine Braue hoch. Er grinste. »Na ja, du brauchtest nur noch einzuwilligen, begeistert zu sein und wirklich feiern zu wollen.«
Der Kellner kam mit dem Kaffee und den Beignets. Matt schob ihr den Korb hin. »Ganz frisch, sie sind noch warm.«
Sie schob den Korb zurück. »Nein danke, ich bin satt.«
Er insistierte nicht weiter und verschlang gierig eines der mit Puderzucker bestäubten Teilchen. Dann grunzte er wohlig und schleckte sich die Finger ab.
»Ich besorge den Kaviar«, erklärte er.
»Gut, das solltest du auch. Ich mag das Zeug nämlich genauso wenig wie du, aber wenn du es unbedingt haben willst, dann zieh los und treib es auf.«
»Kümmerst du dich um den Champagner?«
»Jawohl.«
Er stopfte sich ein zweites Beignet in den Mund, kaute und schluckte es in Rekordzeit. Dann kippte er seinen Kaffee hinunter und stand auf.
»Du hast es aber eilig«, meinte sie.
»Ich muss mit meiner Agentin reden. Man muss das Eisen schmieden, solange es heiß ist. Außerdem habe ich Arbeit zu Hause, muss Rechnungen begleichen und Kaviar besorgen.«
»Und um wie viel Uhr soll meine Party anfangen?«, fragte sie. »Um acht. Nach dem Abendessen – ich wollte dir die Kocherei ersparen.«
»Wie nett von dir!«
»Überhaupt nicht, nur gut durchdacht«, meinte er. »Dann also Chips und Dips und ...«
»Ein paar Nachspeisen aus dem französischen Restaurant wären noch ganz hübsch.«
»Das denke ich auch.«
»Vergiss die kleinen Eclairs nicht, okay?«
»Ich versuch's.«
Er grinste und begann, sich einen Weg zwischen den Tischen und Gästen hindurchzubahnen. Jade sah, dass er seine Zeitung vergessen hatte, und rief ihn noch einmal zurück.
»Matt! Deine USA Today!«
»Schon gut, behalt sie, ich habe zwanzig davon.«
Sie schaute noch einmal auf die Liste. Zugegeben, sie freute sich. Und natürlich war sie stolz auf Matt. Er arbeitete sich in einem harten Geschäft an die Spitze.
An diesem Morgen hatte sie es nicht besonders eilig. Sie nippte an ihrem frischen Kaffee und überlegte, ob sie Rick einladen sollte, Sergeant Rick Beaudreaux. Er kannte alle aus ihrer Gruppe, und sie kannten und mochten ihn. Seit drei Monaten ging sie nun mit ihm. Er hatte alles, was sie ihr Leben lang bei Männern gesucht hatte – bislang.
Was zum Teufel war nur mit ihr los?
Rick war wirklich wundervoll: strahlend blaue Augen, strohblondes Haar, ein bronzener Teint, muskulös. Doch neben diesen Äußerlichkeiten war er vor allem ein wundervoller Mensch; er war angenehm und ausgeglichen und hatte das unkomplizierte Wesen eines selbstbewussten Mannes. Bevor er nach New Orleans, seinen Geburtsort, zurückgekehrt war, hatte er im Drogendezernat in Miami gearbeitet. Eine Weile hatte er dann hier im Morddezernat gearbeitet, doch inzwischen war er wieder im Drogendezernat gelandet. Er machte Öffentlichkeitsarbeit mit Schülern, aber auch Pressearbeit für das Dezernat. Er war höflich, er war freundlich, er war sauber – und er roch stets appetitlich und einladend. Er tanzte, fuhr Fahrrad und Rollerblades, mochte sonntägliche Spaziergänge – zumindest zum Footballstadion, aber das war schon in Ordnung. Wenn es sein musste, konnte er auch mal auf ein Spiel verzichten. Er machte gern Ausflüge aufs Land und Picknicks an kühlen Herbsttagen. Er hatte ein umwerfendes Lächeln, und er mochte sie aufrichtig, er bewunderte ihre Arbeit und war stets hilfsbereit, egal, wie müde er war.
Zwar hatte er noch kein Wort darüber verloren, aber bestimmt fragte er sich, warum sie nicht mit ihm ins Bett ging. Warum sie dazu noch immer nicht bereit war.
Und auch sie fragte sich das.
»Ja, ich lade ihn ein«, murmelte sie halblaut.
Eine Frau am Nachbartisch, offenbar eine Touristin aus dem Norden – sie hatte sehr weiße Beine und auf der Nase einen Sonnenbrand, gegen den sie heute einen Strohhut aufgesetzt hatte –, bedachte sie mit einem merkwürdigen Blick. »Entschuldigung«, meinte Jade und grinste.
Die Frau erwiderte ihr Grinsen. »Keine Sorge, ich führe auch ständig Selbstgespräche, Schätzchen. Auf die Art und Weise bekommt man die besten Antworten.«
Jade nickte und wandte sich wieder der Zeitung zu. Ja, sie würde Rick heute einladen, und er würde bei ihr übernachten. Auch wenn er sie überhaupt nicht bedrängte, wollte sie ihn nicht verlieren. Sie hatte ihm erzählt, was in Schottland passiert war. Er war ein Cop. Er hatte sie verstanden. Es war alles höchst traumatisch gewesen.
Aber sie hatte ihm nichts von ihren Träumen erzählt.
Sie nahm einen großen Schluck Kaffee. Ja, er würde heute bei ihr übernachten. Vielleicht würde das auch etwas an ihren Träumen ändern. Vielleicht war sie ja nur das Opfer ihrer viktorianischen Prüderie. Zu schade, dass es in ihrer Clique keinen Psychologen gab.
Oder sollte Rick lieber doch nicht bei ihr übernachten? Sie wusste nicht, ob sie ihre Träume mit jemandem teilen wollte. Der Kaffee war gut. Noch schön warm.
Sie legte das Feuilleton weg und nahm sich die erste Seite der Zeitung vor.
Auf einmal blieb ihr das Herz stehen.
Die Schlagzeile lautete: »Blutbad in Big Apple. Ritualmorde schockieren Anwohner.«
Er beobachtete sie von der anderen Straßenseite.
Es war nicht weiter schwierig.
Sie saß auf der überdachten Freifläche des Cafés, in der Nähe der Straße, in der Nähe der Sonne, der sie immer wieder das Gesicht entgegenstreckte.
Sie liebte die Sonne, die Helligkeit. Sie lächelte, wenn die Sonnenstrahlen auf sie fielen, auf ihre zarten Züge, auf ihr klassisch schönes Gesicht. Er erinnerte sich noch gut an den Duft ihres Körpers, ihre weiche Haut, ihr Parfüm, das er in der Dunkelheit und den Schatten nur schwach wahrgenommen hatte. Ihm war sie vorgekommen wie ein Leuchtfeuer, er hatte ständig gewusst, wo sie sich aufhielt.
Sie hatte wunderschöne Augen, die jetzt, dem Tageslicht zugewandt, weit geöffnet waren. Tiefblaue Augen, ganz leicht ins Grünliche gehend. Meeresaugen, dachte er und wurde von einem seltsamen Schauer ergriffen. Sie waren umrahmt von herrlich geschwungenen Brauen und von Haaren in der Farbe von Licht und Schatten, einem hellen Braun, das von naturblonden und hier und da auch rötlichen Strähnen akzentuiert war. So vertraut. So anders, und dennoch ...
Vielleicht war es die Farbe ihrer Augen, die dem Meer so ähnlich war.
Wie eine Katze bewegte sie sich sachte – und sinnlich – dem Licht entgegen. Offenbar liebte sie das Freie, die Wärme der Sonne.
Er saß im Inneren eines kleinen Restaurants, dessen Türen geschlossen waren; die Klimaanlage surrte, und das Licht einer billigen Lampe fiel auf die Speisekarte. Eine dunkle Brille schützte seine Augen, vor dem grellen Tageslicht und vor der Frau. So konnte er sie beobachten, ohne dass sie ihn sehen konnte.
Er folgte ihr nun bereits seit einigen Tagen.
Die Versuchung, dies zu tun, hatte ihn schon lange geplagt.
Er hatte ihr widerstanden.
Bis jetzt.
Sie hatte ihn einmal gefragt, ob er diese Stadt kenne.
Kannte er sie? Ja, natürlich. Sehr gut sogar. Sie gehörte zu seinen Lieblingsorten. Es war ein Kinderspiel gewesen, sie zu finden. Er wusste, wo sie wohnte. Er wusste, wer ihre Freunde waren, wohin sie ging, was sie tat. Er kannte ihre Gewohnheiten. Aber wenn er all das wusste ...
Dann wussten es auch andere.
»Möchten Sie noch einen Kaffee?«
Er blickte auf. Die Kellnerin stand vor ihm, ein kleines Lächeln auf dem hübschen Gesicht. Sie war jung, mit kurzem blonden Haar, großen braunen Augen, wohlgeformten Beinen und einer Uniform, die diese Beine ins rechte Licht rückte. Vor langer Zeit wäre sie ihm so köstlich und verführerisch vorgekommen wie eine Trüffelpraline einem Alkoholiker. Sie war nicht aus New Orleans. Im Lauf der Jahre hatte er gelernt, amerikanische Akzente klar zu unterscheiden.
»Ja, sehr gern. Danke.«
Sie schenkte ihm ein und lächelte. »Sie kommen nicht aus dieser Gegend«, meinte sie.
»Nein«, pflichtete er ihr bei und gönnte ihr ein Lächeln. Er hob die Tasse. »Sie aber auch nicht. Pittsburgh?«, fragte er.
Ihre Augen wurden groß. »Woher wissen Sie das?«
»Das war nicht allzu schwierig.«
»Ja, Sie haben recht.« Ihre Überraschung schlug in Misstrauen um. »Hey, Sie haben doch nicht etwa von meinen Eltern den Auftrag bekommen ...?«
»Was für einen Auftrag?«
»Mich zu beobachten, mich zu verfolgen?«
Sie beäugte ihn argwöhnisch. Er grinste und schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe Sie weder beobachtet noch verfolgt. Und ich fürchte, ich kenne Ihre Familie nicht.«