Bell und Harry - Jane Gardam - E-Book

Bell und Harry E-Book

Jane Gardam

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Beschreibung

London ist laut und anstrengend, die Batemans sehnen sich nach Ruhe und haben sich für den Sommer auf dem Land in Yorkshire eingemietet. Vor allem der Vater, ein nervöser Journalist, hofft auf Entspannung in der bäuerlichen Umgebung. Hier trifft sein kleiner Sohn Harry auf Bell, den jüngsten Sohn der Vermieter, und eine tiefe Jungenfreundschaft beginnt. Sommer für Sommer und mit jedem gemeinsam erlebten Abenteuer wird diese Freundschaft erneuert, so unterschiedlich die Sphären, in denen sie mit ihren Familien leben, auch sind. Ein hell leuchtendes Ferienbuch von Jane Gardam, in dem die Spannung zwischen Stadt- und Landmenschen mit so viel Weisheit und Humor eingefangen ist.

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Über das Buch

London ist laut und anstrengend, die Batemans sehnen sich nach Ruhe und haben sich für den Sommer auf dem Land in Yorkshire eingemietet. Vor allem der Vater, ein nervöser Journalist, hofft auf Entspannung in der bäuerlichen Umgebung. Hier trifft sein kleiner Sohn Harry auf Bell, den jüngsten Sohn der Vermieter, und eine tiefe Jungenfreundschaft beginnt. Sommer für Sommer und mit jedem gemeinsam erlebten Abenteuer wird diese Freundschaft erneuert, so unterschiedlich die Sphären, in denen sie mit ihren Familien leben, auch sind. Ein hell leuchtendes Ferienbuch von Jane Gardam, in dem die Spannung zwischen Stadt- und Landmenschen mit so viel Weisheit und Humor eingefangen ist.

Jane Gardam

Bell und Harry

Aus dem Englischen von Isabel Bogdan

Hanser Berlin

Bewahre, Christ, das Hohle Land

In holder Frühlingszeit,

Wenn Apfelblüten segnen sanft

Der Hügel weiche Seit’.

Bewahre, Christ, das Hohle Land

Auch in der Sommerzeit,

Wo keine Seele je verstand

Woher das Wasser dräut:

Nur vage sieht man, wie es kühl

Aus einem Höhlenmaul

Mit grünen Lippen rinnt und fließt,

Wo alle Berge blau.

William Morris

Bell und Harry

Ich heiße Bell Teesdale. Ich bin ein Junge. Ich bin acht.

In dem Tal, in dem ich wohne, stehen überall kleine Häuschen, bei denen das Gras zwischen den Steinen rauswächst und die seit Jahren niemand haben will. Sie sind zu alt oder zu weit weg von allem oder liegen ein bisschen zu hoch für die Bauern heute. Es gab hier mal Bergbau — deswegen wird die Region auch »Hohles Land« genannt —, aber jetzt nicht mehr. Also sind die ganzen kleinen Häuser verlassen.

Sie haben große Gärten drum herum, und Weiden für Schafe und so, und riesige Heufelder. Vielleicht ein bisschen zu viel Löwenzahn, der im Juni silbern wird, aber richtig gutes Heu ergibt, eine gute Woche oder zwei nachdem die Schafe im Räudebad waren.

All diese kleinen Bauernhäuser standen jahrelang leer, die alten Bauernfamilien sind weg, die Dächer fallen ein, die Schwalben und Mauersegler sausen rein und raus, und ihr Dreck läuft innen an den Wänden runter.

Und jetzt kommen neue Leute. Sie kaufen diese kleinen Häuser, wenn sie können, oder sie mieten oder pachten sie. Leute aus Manchester oder sogar aus London, mit großen Kombis voller abgepackter Lebensmittel, die man hier sonst gar nicht hat, und großen Sofahunden, die noch nie ein anderes Tier gesehen haben.

In Mallerstang kommen überall kleine Bäche aus den Hochmooren herunter. Sieht hübsch aus. Die Abbruchkanten hinunter, trocken im Sommer, bis ein einziger Regentropfen sie wieder wie Seidenfäden die Abbruchkanten hinunterrinnen, -plätschern und -pladdern lässt. Wie Spinnweben. Und wenn der Wind durchs Tal weht, schnappen diese Bächlein nach Luft, sie erheben sich von ganz allein, wie die Wildpferde in Wateryat Bottom. Sie erheben sich auf die Hinterbeine. Oder steigen auf wie Rauch von ganz vielen Lagerfeuern, es ist gar kein Wasser, sondern Rauch im Wind zwischen Castledale und dem Moorcock Richtung Wensleydale. Sieht hübsch aus.

Und jetzt kommen Leute aus der Stadt und gucken sich das alles an, obwohl sie früher immer nur in den Lake District gefahren sind. Sie kommen und mieten und pachten. Und reden so südenglisch. »Warum kommen die?«, habe ich unseren Grandad gefragt, der das Farmhaus verpachtet hat, in dem er früher gewohnt hat (meine Gran ist gestorben). »Hier gibt’s doch gar nichts für die. Was wollen die denn mit ’ner Farm? Die sitzen da nur drin rum. Die machen gar nichts.«

»Sie ruhen sich aus«, sagt mein Grandad. »Die nehmen die Häuser zum Ausruhen von London.«

Also, die Familie, die in das alte Haus von meinem Grandad kommt, Light Trees, die ruht sich jedenfalls nicht aus. Kein Stück. Da ist eine Mutter und ein Vater und vier oder fünf große Jungs, von denen manche nur Freunde sind, und ein kleiner Junge, Harry, und sie machen einen Lärm, den man bestimmt bis Garsdale hört.

Die haben jetzt das Wohnhaus — also das alte von Gran und Grandad —, aber wir haben immer noch die ganzen Farmgebäude und arbeiten da und haben das Recht auf das Heu von dem Feld am Haus. Es gibt gute Kuhställe, einen Bullenstand, Räudebäder zum Dippen der Schafe und eine Box zum Scheren. Also scheren wir immer noch dort und dippen und verabreichen Medikamente und bringen die Kühe zum Bullen. Manchmal haben wir gut hundert Schafe auf dem Hof, und die Leute kommen mit dem Auto nicht mal bis zum Tor. Aber so steht’s halt im Vertrag. Mein Dad sagt immer: »Wir holen gleich die Schafe rein, Mr Bateman« — so heißen die, Bateman — »wir holen die Schafe rein. Wollen Sie erst Ihren Wagen rausfahren? Dann warten wir so lange.« Vielleicht vier oder fünf oder sechs von unseren Schäferhunden in Habtachtstellung, und denen ihr Sofahund beobachtet unsere Hunde, kommt ihnen aber nie näher. Dann dudelt ihre Musik aus dem Haus, und die Jungs rufen irgendwas und lachen, und man hört Stimmen aus dem Radio, manchmal sogar aus zwei, und die Mutter aus London kocht so italienisches Abendessen, und das Telefon klingelt (sie haben sich ein Telefon geholt, wie sie sich auch einen Kühlschrank geholt haben), und sie alle sagen, die ganze Londoner Bagage: »Was für ein wunderschöner Abend, Mr Teesdale« — mein Dad —, »was machen Sie denn heute mit den Schafen? Wir lernen ja hier so viel!«

Der kleine Junge, Harry, steht dabei und sagt gar nichts.

Und dann kommt diese eine Nacht, die erste Nacht vom Heumachen, und wir sind alle draußen, sogar mein Dad. Es ist perfekt. Ein heißer Sommer und eine heiße Nacht und ein leuchtend heller Mond. Gestern hat mein Dad gesagt: »Morgen machen wir Heu. Wir mähen den ganzen Tag, und wenn es sein muss, auch die ganze Nacht. Vielleicht regnet es am Sonntag.«

Mein Dad hat immer recht. Also sind wir alle — meine Mum, und unsere Eileen und Eileens Freund und Grandad und alle — draußen und mähen, bis wir ungefähr zur Teazeit fertig sind mit High Field und Miner’s Acre. Und dann machen wir uns ans Home Field — das ist ein großes, gutes Feld um Light Trees rum. Light Trees steht mittendrin.

Unser Trecker und der Mäher rattern ordentlich, viel lauter als ihre Radios — ratter, ratter, ratter, immer und immer und immer wieder im Kreis —, und nach einer Weile, also vielleicht nach zwei Stunden, werden Köpfe aus den Fenstern gesteckt. Dann, so um zehn, elf Uhr, als das Sommertageslicht schwindet und es immer noch ratter, ratter macht, gehen in Light Trees die Lichter an und aus, und dann kommt der Londoner Vater raus.

Erst steht er nur da. Dann stromert er herum und guckt. Ratter, ratter, ratter. Eine Runde und noch eine und noch eine. Dann winkt er ein bisschen. Dann ruft er was. Schließlich, gegen Mitternacht, brüllt er, aber wir können nicht aufhören. Wenn man einmal anfängt, Heu zu machen, muss man es auch zu Ende bringen.

Und dann geht der Trecker kaputt, und es ist Stille. Stille wie zu Anbeginn der Welt oder an ihrem Ende, und der Londoner Vater und ein paar von den großen Jungs kommen rüber (die Mutter ist bestimmt drinnen und hat sich Ohropax reingemacht oder so, weil der Mäher alle zwei, drei Minuten am Haus vorbeirattert, so dicht allerdings auch wieder nicht. Und immer weiter weg, je näher wir dem Ende kommen), und er sagt: »Geht der Lärm noch lange, Teesdale?«

»Wenn ich die Karre repariert krieg, nicht«, sagt mein Dad und frickelt mit irgendwelchen Schraubenschlüsseln herum.

»Das bedeutet Krach«, sagt der Londoner Vater.

»Meinetwegen nicht«, sagt mein Vater. »Ich streite mich nicht.«

»Nein, nein«, sagt der Londoner Vater. »Es macht Krach. Sie machen verdammt viel Krach.«

»Ich mache gar nichts«, sagt mein Dad, schiebt den Unterkiefer vor und bringt den Trecker wieder ans Laufen. Er macht mehr Lärm denn je, und blauer Qualm steigt im Mondlicht aus dem Auspuff auf.

Sie haben nämlich aneinander vorbeigeredet. Krach heißt bei uns vor allem, dass man sich streitet. Bei denen heißt es aber anscheinend Lärm, oder jedenfalls heute Nacht ist das so. Ich habe das verstanden, aber mein Dad hatte zu tun und war müde und wollte dem Regen zuvorkommen, also hat er nicht weiter achtgegeben. Mein Dad hätte auch Chinesisch sprechen können und der Londoner die Eskimosprache, dann hätten sie sich genauso gut verstanden. Die großen Jungs schienen auch nichts zu kapieren, und sie fingen an zu murmeln und kickten mit den Füßen in dem frisch geschnittenen Gras herum, das der Mäher hinterlassen hat. »Ruhe und Frieden auf dem Land«, sagt einer. »Ruhe und Frieden. Schlimmer als am Piccadilly Circus.«

Ich trete etwas zurück. Ich war zum Scherschuppen geschickt worden, ein Stück John Robert holen, und dann musste ich nachsehen, ob das Moortor für die Nacht geschlossen war, und wie ich auf dem Rückweg so übers Feld komme, sehe ich den kleinen Jungen, Harry, aus dem Schlafzimmerfenster gucken, und unsere Blicke begegnen sich. Und irgendwie weiß ich, der ist schon okay, Londoner hin oder her. Ich weiß, dass er versteht, dass wir so viel Lärm machen müssen, um vor dem Regen das Heu einzubringen. Vielleicht müssen wir noch die ganze Nacht weiterarbeiten. Vielleicht sogar mit Beleuchtung. Ich winke ihm kurz, aber er zieht den Kopf zurück und verschwindet. In der Versenkung. Hätte man auch nicht gedacht, dass Londoner so schüchtern sind.

Na ja, so gegen Morgen sind wir fertig. Am nächsten Tag wenden und schwaden wir das Heu. Und am übernächsten — weil es so ein wunderbar heißer Sommer ist — machen wir schon Ballen und bringen sie in die Scheunen, extra denen zuliebe das vom Light Trees Home Field zuerst, damit sie es hinter sich haben. Das ist natürlich eine lautstarke Angelegenheit, und die Londoner hauen einfach ab, allesamt! In Stiefeln quer über den Hof, mit Rucksäcken für eine Tageswanderung. Aber am Samstagabend sind wir fertig. Wir sind wieder in unserer eigenen Bauernhausküche, unten im Dorf, alle Felder fertig und wir rundum zufrieden. Uns tut alles weh. Wir sprechen langsam. Wir werden uns eine Woche lang nicht mehr bewegen. Fertig mit dem Heu für ein Jahr. Mein Dad sagt: »Ich bin dann mal im Bett«, und dann legt er die Hand auf den Knauf am Ende des alten Treppengeländers und sagt: »Du hast das Moortor doch zugemacht, Bell?«

Ich sage, das habe ich.

»Sicher?«

»Ja, sicher.«

»Gut, ich bin im Bett.«

Und dann frage ich mich. Jeden einzelnen Abend, seit meine Gran gestorben ist und Grandad zu uns gezogen ist und mein Dad das Land um Light Trees bewirtschaftet, hat er dieses Tor überprüft. Es ist ein breites, altes Tor in der letzten Steinmauer, bevor es ins offene Hochmoor hinausgeht. Der Weg wird auch von Spaziergängern benutzt. Sie kommen immer in Klumpen — große, dicke, orange Leute mit langen, roten Nasen und vor ihren Bäuchen herumflatternden Landkarten in Plastikhüllen. Manchmal haben sie auch Transistorradios dabei, und sie sehen überhaupt nichts außer ihren eigenen Füßen. Manchmal lassen die Wanderer, die vorweggehen, das Tor offen für die, die noch hinter ihnen herstolpern. Und die Stolperer meinen dann, das Tor gehört so, und lassen es offen. Und dann ziehen die Rinder von der Weide raus ins Moor und immer weiter zwischen die Schafe und Kühe anderer Leute, und vielleicht ist ein Bock dabei und ganz bestimmt ein Bulle. Und dann ist die Hölle los. »Besser, wir überprüfen das Tor jeden einzelnen Tag unseres Lebens«, sagt mein Dad. »Sonst bereuen wir das noch.«

Neuerdings — seit ich acht geworden bin — ist das meine Aufgabe. Ich gehe also ins Bett, und dann frage ich mich.

Habe ich es wirklich zugemacht?

Ich ziehe mich aus und rolle mich im Bett zusammen, und es ist warm und weich. Ich schmiege mich in meinen Körperabdruck in der Mitte der Matratzenfedern. Wenn man die Kuhle mit Kerzenwachs ausgießen und es abkühlen lassen würde und dann rausnehmen, dann hätte man eine Skulptur von mir im Schlaf. Der Mond scheint zum Fenster herein, und ich bin fix und fertig, und mein ganzer Körper ist zerkratzt vom Heu. Mir fallen die Augen zu, und alle meine Muskeln sind steinhart.

Habe ich?

Das Tor zugemacht?

Er würde ausflippen, wenn …

Also stehe ich wieder auf und ziehe mich wieder an und gehe die Treppe runter. Lautes, dröhnendes Schnarchen. Meine Mum und mein Dad schlafen nach dem Heumachen so fest, dass sie oft nicht mal den Wecker hören, obwohl er extra in einem Blecheimer neben dem Bett steht. Weg bin ich, die Straße hoch und die zwei Meilen bis Light Trees und die halbe Meile dahinter bis zum Moortor.

Dad hat sich geirrt, diesmal. Es ist Mitternacht, also ist es Sonntag, und er hat gesagt, bis Sonntag regnet es. Es regnet aber nicht. Der Mond ist so groß und hell wie die letzten drei Nächte, und das Moor schillert in allen Farben. Überall Kaninchen. Und Kühe, die auf die Knie hochgehen, als ich näher komme, und die die Augen verdrehen und im Schatten zwischen den kleinen schwarzen Weißdornbüschen verschwinden. Und meine eigenen drei Leicester-Schafe sind auch da und starren mich an mit ihren grün leuchtenden Augen und ihren Kamelgesichtern, so hochnäsig. Und die Brachvögel rufen die ganze Nacht hindurch, und den ganzen Tag auch, als würden sie niemals schlafen. Sonst hört man hier oben kein Geräusch, nur die plätschernden Bäche.

In Light Trees ist kein Lebenszeichen zu sehen. Müde vom Wandern sind sie für sich geblieben, die Londoner, und haben mit niemandem gesprochen. Sie haben heute zweimal den Hof überquert, als wir noch da waren, und haben kein Wort gesagt. Haben die Lippen aufeinander gepresst und weggeguckt.

»Demnächst hauen sie bestimmt ab«, hat mein Grandad heute Nachmittag gesagt.

»Nicht, bevor sie die Miete gezahlt haben«, sagt mein Dad. »Ich finde, die haben sich jetzt eh genug ausgeruht.«

»Sie haben Ferien«, sagt Eileen, die auf die großen Londoner Jungs steht, auch wenn sie das nie zugeben würde. »Ist doch echt schade für die. Versaut ihnen den Sommer. Sie wollten für mindestens fünf Jahre immer wieder kommen. Und das ganze Geld, das sie ins Telefon und so gesteckt haben.«

»Sie müssen ja nicht weg«, sagt Dad. »Jetzt isses ja ruhig. Das Heu ist gemacht. Jetzt können sie in Frieden ihr Radio auf volle Lautstärke drehen.«

»Sie hauen ab und kommen nie wieder!«, heult Eileen.

»Dann kommen andere«, sagt mein Dad. »Gerade kommen endlose Mengen Leute ohne Bauernhäuser her. Die müssen halt lernen, wie es hier zugeht. Auf dem Feld zu stehen und einen Krach vom Zaun zu brechen!«

Mein Grandad meint, vielleicht verstehen sie nicht, wie wichtig die Heuzeit ist, und vielleicht haben sie auch Sachen, die wir nicht so richtig verstehen.

Ich sage: »Und außerdem wollte er gar keinen Krach vom Zaun brechen, der Londoner Vater, also nicht im Sinne von Krach«, und mein Dad sagt: »Sei still.«

Ich bin jetzt am Moortor — und was soll ich sagen? Es ist offen! Sperrangelweit offen, sogar das John Robert ist weg, mit dem es zugebunden wird. Genau, was Dad immer gesagt hat, was eines Tages passieren würde und was bisher nie passiert ist. Ich steh da und fühle mich großartig, weil ich noch mal nachgeguckt habe. Sieht nicht so aus, als wäre schon Vieh durchspaziert, Gott sei Dank. Und mir sei noch viel mehr Dank, dass ich mich vergewissert habe.

Ich mache das Tor zu, aber es hält nicht, ohne festgebunden zu werden, und unten im Scherschuppen in Light Trees ist noch jede Menge John Robert, also gehe ich los, die Abkürzung, den Hang von Hartley Birket runter, über die Mauer und durch das Home Field, wo Light Trees mittendrin steht. Das Feld sieht ganz weich aus, jetzt, wo das Heu reingeholt ist — so leicht wie mein Kopf, wenn Grandad mir die Haare geschnitten hat. Heu gemacht, ein heißer Sommer vor uns, mein Schatten zwölf Fuß lang vom Mond. Ich bin gut gelaunt und wie betrunken.

Die würden einen schönen Schreck kriegen, wenn sie jetzt rausgucken und mich sehen, die Londoner, denke ich. Geister und Vampire, denke ich, und wedle mit den Armen. Ich bin jetzt an der Rückseite von Light Trees und gucke direkt in das kleine hintere Schlafzimmerfenster (das Haus ist ein bisschen ins Moor eingekuschelt, sodass es hinten sozusagen mit dem Kinn im Gras liegt). Am liebsten würde ich zum Fenster reingucken und wuuhuu machen und die Weicheier erschrecken.

Aber als ich näher komme, sehe ich, dass es offen ist und dass der kleine Junge, Harry, da steht und rausguckt. Er steht ganz still. Und es ist weit nach Mitternacht.

Fast wäre ich tot umgefallen. Ich stand einfach da.

Aber er hatte überhaupt keine Angst.

Er muss mich schon meilenweit vorher gesehen haben, wie ich Vampir gespielt habe. Und er hat kein bisschen Angst.

Nach einer Weile sehe ich, dass er weint.

Er ist wirklich noch klein. Vielleicht vier oder fünf. Oder sechs.

Ich denke, vielleicht sieht er nur aus, als hätte er keine Angst, weint aber in Wahrheit vor Angst, und als ich mich ein bisschen erholt habe, sage ich — ich flüstere eher, weil das kleine Haus hinter ihm voller Leute ist, großer Londoner Bescheidwisser: »Ich bin’s nur, Bell Teesdale.«

Schnief, macht er, schnief.

»Ich tu dir nichts«, sage ich.

Schnief.

»Ich hab nur das Moortor überprüft. Das war offen.«

Schnief.

»Ich will nur schnell bisschen John Robert holen.«

Schnief.

Schnief. Dann schließlich: »Was ist denn John Robert?«

»Na ja, so Bindeband. Für Landwirte. Für Mähdrescher und so. Das heißt schon immer so. Du weißt nicht viel, was?«

Er fängt wieder an zu weinen. »Was hast du denn?«, frage ich. »Heul doch nicht so.«

»Wir fahren morgen nach Hause. Ich will nicht nach Hause.«

»Warum fahrt ihr denn dann?«

»Mein Vater sagt, er lässt sich nicht von deinem Vater rumkommandieren, und es ist ihm zu laut. Er schreibt. Er braucht seine Ruhe. Eigentlich wollten wir sechs Wochen bleiben. Die ganzen Schulferien.«

»Das ist nur einmal im Jahr«, sage ich. »Wir machen nur einmal im Jahr Heu. Normal ist es hier so ruhig wie sonst was. Außer wenn wir scheren oder dippen oder wenn die Lämmer den Mutterschafen weggenommen werden und rumblöken, hört man hier eigentlich gar nichts. Nicht mal ein Auto, außer einmal am Tag, wenn der Postbote kommt.«

Er sagt: »Mein Vater sagt, er kann nicht mit Qualm und Rauch und Getöse leben. Er ist hergekommen, weil er davon wegwollte.«

»Es ist ja jetzt vorbei, bis nächstes Jahr.«

»Wir fahren trotzdem«, sagt Harry und fängt wieder an zu weinen. »Meine Mutter hat deiner Mutter einen Brief geschrieben, dass es ihr leidtut, falls wir euch gekränkt haben, aber mein Vater lässt sie ihn nicht abschicken. Ich will nicht nach Hause«, sagt er. »Da sind nur Straßen und noch mehr Straßen. Warum hat dein Vater denn nicht gesagt, dass ihr nur einmal im Jahr Heu macht?«

»Wahrscheinlich ist er gar nicht drauf gekommen, dass irgendwer auf der Welt das nicht wissen könnte. Er war fix und fertig. Habt ihr nicht gemerkt, wie fertig er war? Und dann war noch der Trecker kaputt. Und Regen im Anmarsch. Egal — Lärm! Was ist denn mit euren ganzen Radios und Stereoanlagen und tragbaren Fernsehern?«

Dazu fällt ihm nichts ein, also fängt er wieder an zu weinen.

»Städter«, sage ich.

Er hebt irgendetwas Schweres auf — vielleicht ein Transistorradio. Nicht mal Eileen hat ihr eigenes, und sie ist schon siebzehn, und ich sage: »Denk mal nach. Halt still. Überlegen wir mal. Wo ist der Brief von deiner Mutter?«

»Weggeworfen. Im Müll unter der Spüle.«

»Zerknüllt?«

»Nein, nur im Müll.«

»Kannst du ihn holen?«

»Könnte ich schon.«

»Dann tu das«, sage ich. »Ich hole solange das John Robert aus dem Schuppen. Dann komme ich wieder hier vorbei und du kannst ihn mir geben.«

Als ich wieder am Fenster vorbeikomme, überreicht er mir den Brief.

»Willst du mit raus?«, frage ich. »Wenn du willst, kannst du mit hochkommen, das Moortor zumachen. Musst dir nur Schuhe anziehen.«

In einer halben Minute ist er mit Schuhen und einem Pulli über dem Schlafanzug über das Fensterbrett geklettert, und wir flattern wie stumme Vampire über das Home Field. Am Bach verwandeln wir uns in Astronauten, und während ich das Moortor richtig zumache, sind wir der Special Air Service und beschießen uns stumm aus Maschinengewehren. Ich sorge dafür, dass er durch sein Fenster wieder reinkommt, denn jetzt fängt es an zu regnen, große, kalte Tropfen zuerst, dann in Scharen, wie rennende Mäuse, und ganz plötzlich ist der Mond weg. Harry lässt sich aus dem Stand kopfüber in sein Fenster fallen. Guter Typ.

Und dann bin ich weg. Über den Hügel und die Straße runter, am Steinbruch vorbei, unter der Brücke durch ins Dorf und klatschnass bei uns zur Tür rein. Ich lasse die Tür unverschlossen und lege den Brief, den ich unter meinem Hemd trocken gehalten habe, auf die Fußmatte. Schade, dass sie keine Zeit hatte, ihn in einen Umschlag zu stecken. Die Familie sieht aus, als hätten sie sonst Briefumschläge. Aber wir werden sehen.

Ich trockne mich ein bisschen ab und schlüpfe ins Bett und wache erst lange nach dem Melken auf.

Als ich runterkomme, haben sie schon gefrühstückt, und meine Mum hat gebacken. Sie gähnt, aber sie backt. Eileen ist noch im Bett, und von Grandad ist auch nichts zu sehen. »Grandad hat in seinem Leben reichlich Heu gemacht«, sagt mein Dad, »aber jetzt sitzt es ihm länger in den Knochen.«

Meine Mum hat sieben oder acht große Teekuchen in eine Papiertüte gesteckt, und mein Vater hat Eier in der Hand und ein bisschen frische Milch in einer Kanne.

»Was habt ihr denn vor?«, frage ich. »Für die oben in Light Trees«, sagt meine Mum. »In London kriegen sie nichts Ordentliches zu essen. Da können sie hier ruhig mal was Gutes haben.«

Später treffe ich Harry hinter dem Moortor. Er leistet mir Gesellschaft hinter Dads Trecker, der mit toten Schafen beladen ist, die schon ein bisschen anfangen zu gammeln und in eine Erdspalte geworfen werden sollen. Es ist grauenhaft, tote Schafe in ein Erdloch zu werfen. Man wartet Ewigkeiten, bis sie unten aufschlagen. Die Vorstellung, da selbst reinzufallen! Harry findet es toll. Unsere vier Hunde springen um ihn herum und lecken ihm das Gesicht.

»Ist jetzt alles wieder gut?«, frage ich.

»Scheint so«, sagt er.

»Dann bleibt ihr hier? Fahrt nicht zurück nach London?«

»Wir bleiben hier. Sie haben gar nichts mehr gesagt.«

»Gar nichts?«

»Nein. Dein Dad war da und hat uns Teilchen gebracht.«

»Teekuchen.«

»Teekuchen. Und Milch und Eier.«

»Was hat deine Mummy gesagt?«

»Als sie weg waren, hat sie gesagt: ›Das beschämt uns ja richtig. Ich hab den Brief nicht mal abgeschickt.‹«

»Hoffentlich merkt sie nicht, dass er weg ist.«

»Tut sie nicht. Rechnet sie nicht mit. So weit denkt sie nicht.«

»Und das war alles?«

»Nein. Danach ist mein Vater über den Hof gegangen zu deinem Vater, und sie haben sich die Hände geschüttelt.«

Harry und ich gehen noch weiter — über die Green Fell Crag stapfen wir hinter dem Trecker her durch den matschigen Torf. Dann und wann regnet es, wie Dad gesagt hat, die Wolken sind dick und lila, immer wieder kommt die Sonne durch, und mein Vater singt schmetternd auf seinem Traktor, weil er das Heu vor dem Regen gemacht hat und andere drum herum sich noch nicht mal getraut haben anzufangen.

Ich sage: »Harry, jetzt kommt ihr bestimmt richtig hier an. Das hab ich im Gefühl. Das tun nicht viele. Nicht so Leute, die neu auf die alten Bauernhöfe kommen und die so anders sind, solche wie ihr. Aber ich glaube, ihr kommt jetzt bestimmt öfter in den Ferien.«

Und Harry sagt: »Ich bin schon angekommen.«

Die Eierhexe

Harry saß zufrieden auf Jamie, dem alten Pferderechen, der auf dem Hof stand und zwischen dessen runden, rostigen Rippen die Brennnesseln wuchsen. Er hüpfte auf dem geschwungenen Eisensattel auf und ab, klapperte mit Griffen und Getriebe und sang vor sich hin. Hinter ihm standen alle Fenster und Türen von Light Trees offen, und Harrys Mutter lag hingegossen auf dem Sofa, tupfte sich gegen die Hitze Wasser ins Gesicht und sah alle zwei Minuten besorgt über den Hof zu Harry. Um den Hof stand die quadratische Befestigungsanlage aus gemauerten Scheunen und Schafställen, und darüber, in der Ferne, lag das Hochmoor in leuchtendem Rosa-Gelb, ganz verschwommen von der Hitze. Der Horizont flirrte wie in der Wüste. Kein Schaf und keine Kuh schien sich zu bewegen, sie kauerten auf der Suche nach Schatten an den Steinmauern. Keine Wanderer auf dem Pennine Way. Nicht mal die Brachvögel hatten Lust auf Konversation.

Der Rest der Batemans hatte sich ins Auto gezwängt und war weggefahren. »Ins Auto gezwängt«, sang Harry. Sie waren zum High Cup Nick gefahren, weil sie hofften, dass es da kühler war. Harrys Mutter war dageblieben, um sich um Harry zu kümmern, weil er eher im Zickzack wanderte oder überhaupt ging, was bedeutete, dass er bei halber Geschwindigkeit die doppelte Strecke zurücklegte. Sie war außerdem dageblieben, um ein bisschen zur Ruhe zu kommen, denn mit Ausnahme von Harry war ihre Familie gerade in einer lautstarken und streitlustigen Phase, sie fuchtelten oft mit den Fingern voreinander herum und überschrien das Radio.

Nachdem das Auto über die lange, schmale weiße Straße davongebraust war und sie der Staubwolke hinterhergesehen hatten, die sich langsam legte, als der Wagen hinter der Kuppe von Quarry Hill verschwand, senkte sich Stille über Light Trees wie Kalkstaub. Harrys Mutter seufzte erleichtert auf, ging hinein und fiel mit einem Buch aufs Sofa, und Harry kletterte auf Jamie und sang.

Es war vielleicht eher ein Brummen als ein Singen, und es ging immer weiter. Er brummte die Brennnesseln an, das unsichtbare Pferd in der dünnen, alten, zu Boden gesunkenen Deichsel des Rechens, auf der immer noch verblichene blaue Farbe zu sehen war. Er brummte die staubigen Kirschbäume an, deren Äste über die Obstgartenmauer hingen. Er brummte das rosa Hochmoor an und die Felsspalte, die zu dem verwunschenen Bergsee führt, die alten Minen und die holprigen Linien auf dem Hartley Birket, die angeblich eine alte Bahntrasse sein sollen.

Harry war glücklich. Aber seine Mutter nicht. Sie war angespannt und nervös und konnte sich nicht auf ihr Buch konzentrieren. Sie sah zu Harry hin, und gleich noch einmal. Sie fragte sich, ob es nicht seltsam war, dass er ganz allein dasaß und sich niemanden zum Spielen wünschte.

So viel jünger als James, dachte sie. Ich sollte nicht hier liegen. Ich sollte ihm einen Spielkameraden suchen. Sonst wird er schüchtern und schrullig. Das ist doch nicht normal — auf einem Pferderechen zu sitzen und zu brummen.

Außerdem war Sonntag, und das bedeutete, dass es zum Abendessen Rührei gab, und sie hatte keine Eier mehr. Sie würde zu den Teesdales müssen, Eier kaufen. Vielleicht würde Bell Teesdale Harry einladen, zum Spielen dazubleiben.