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Es ist Abscheu auf den ersten Blick, der Edward Feathers und Terry Veneering, die glänzendsten Juristen des British Empire, ein Leben lang verbindet. Als ebenbürtige Gegner in zahllosen Prozessen hassen sie einander schon, bevor sie sich beide in dieselbe Frau verlieben. Und es wird ein Leben lang dauern, bis sie bemerken, dass sie ebenso gut Freunde sein könnten. Was hat Feathers’ Frau Betty so angezogen an Veneering, dem Mann mit dem weißblonden Haar, der selbst mit der schönsten Frau Hongkongs verheiratet ist? Worum beneiden die erbitterten Feinde sich mit solcher Intensität? Mit weiser Gelassenheit erzählt Jane Gardam, eine der bekanntesten Schriftstellerinnen in England, von der Fähigkeit zur Liebe und einer späten Freundschaft.
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Seitenzahl: 271
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Es ist Abscheu auf den ersten Blick, der Edward Feathers und Terry Veneering, die glänzendsten Juristen des Empire, ein Leben lang verbindet. Als ebenbürtig brillante Gegner in zahllosen Prozessen hassen sie einander schon, bevor sie sich in dieselbe Frau verlieben. Und es wird ein Leben lang dauern, bis sie bemerken, dass sie ebenso gut Freunde sein könnten. Was hat Feathers Frau Betty so angezogen an Veneering, dem Mann mit dem weißblonden Haar, der mit der schönsten Frau und Tochter der reichsten Familie Hongkongs verheiratet ist? Worum beneiden die erbitterten Feinde sich mit solcher Intensität? Mit weiser Gelassenheit entfaltet Jane Gardam ihre Geschichte und lässt vor unseren Augen das Leben ihrer Figuren entstehen. Nie erklärend, nur klug beschreibend erzeugt sie auf wunderbare Weise die befriedigende Illusion, diese Menschen und vielleicht sogar das Leben selbst verstanden zu haben.
Hanser Berlin E-Book
Jane Gardam
Letzte Freunde
Roman
Aus dem Englischen
von Isabel Bogdan
Hanser Berlin
Die englische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel Last Friends bei Little, Brown in London.
ISBN978-3-446-25427-5
© Jane Gardam 2013
Alle Rechte der deutschen Ausgabe
© Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2016
Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München
Satz: Greiner & Reichel, Köln
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Datenkonvertierung E-Book:
Kreutzfeldt digital, Hamburg
Für Peter Burton.
Außerdem für Harland Walshaw und für Mary Sill.
Freunde für immer.
Teil eins:
Dorset
Die Titanen waren nicht mehr. Sie hatten ihre letzte Reise angetreten. Edward Feathers, unter dem liebevoll gemeinten Spitznamen Filth (Failed in London, Try Hongkong) bekannt, und Sir Terence Veneering, die beiden größten Koryphäen im englischen und internationalen Baurecht und erfahrensten Experten im rechtlichen Umgang mit Umweltschäden. Ihre gut eingetragenen Rüstungen waren ohne großes Scheppern von ihnen abgefallen, und das beschauliche Dorf in Dorset, in dem sie sich mit wenigen Jahren Abstand zur Ruhe gesetzt hatten (rein zufällig, denn sie hatten einander mehr als fünfzig Jahre lang gehasst), trauerte um sie und fragte sich, wer wohl vornehm genug sein würde, um ihre Häuser zu kaufen.
Wie sie sich gehasst hatten! Mehr als ein halbes Jahrhundert lang hatten sie Gift und Galle gespien, Aug in Auge, Hector und Achilles, meist auf Schlachtfeldern fern der Heimat, wo sie – je nach Mandanten – große, kaputte Brücken, umkippende Stauseen, bröckelnde neue Passstraßen, Kläranlagen, Windparks, Staustufen oder die lecken Swimmingpools irgendwelcher Mogule verteidigten oder verhinderten. Dass sie im hohen Alter zufällig Nachbarhäuser in einem Dorf kauften, in dem sonst überhaupt nichts los war, mussten sich gelangweilte Götter an einem tristen Tag auf dem Olymp ausgedacht haben, um die juristische Welt zum Lachen zu bringen.
Es war allerdings ein leicht betretenes Lachen, denn es hieß seit Jahren – nun ja, jeder wusste –, dass Edward Feathers’ verstorbene Frau Sir Terrys Geliebte gewesen war. Oder vielleicht nicht gerade die Geliebte. Aber irgend so etwas. Etwas war zwischen ihnen gewesen. Liebe.
Elizabeth – Betty – Feathers war, ein paar Jahre bevor Sir Terry nebenan einzog, gestorben.
Ihr Mann, Old Filth, Sir Edward, ein Baum von einem Mann, hatte derweil auf der Terrasse gesessen, einen Gin Tonic neben sich auf dem Tisch, und so getan, als würde er mit seinem Spazierstock auf Krähen schießen. Ihm brach schlicht und ergreifend das Herz.
Vögel und andere Tiere waren Old Filth wichtig. Der Leiter seiner alten Prep School hatte ihm vor Urzeiten viel über Vögel beigebracht. Es waren die Vögel und die Sprache der Natur und dieser Schulleiter – »Sir« – gewesen, die ihn vom Stottern seiner grässlichen Kindheit erlöst und ihn befähigt hatten, Rechtsanwalt zu werden.
Sein Haus, »Dexters«, lag in einer kleinen Senke abseits des Hügels, auf dem das Dorf lag, und war von Vögeln umschwirrt und von Bäumen umstanden. An derselben Abzweigung von der Straße, aber jenseits des Tores zu seiner Einfahrt und außer Sicht stand Veneerings Haus oben auf dem Hügel. Veneerings Bäume waren größer und dunkler, aber die Krähen ignorierten sie. Krähen, dachte Old Filth, suchen sich ihre Freunde aus. Sie lassen einen Freund nur dann im Stich, wenn sie eine Vorahnung von Unglück haben. Abends vor dem Einschlafen und morgens nach dem Aufwachen lag Filth stocksteif in seinem Bett, den gestreiften Thermo-Pyjama ordentlich zugeknöpft, das Taschentuch in der Brusttasche akkurat gefaltet, lauschte dem energischen Geschrei der Krähen und ließ sich davon trösten. Solange er ihre leidenschaftlichen Dispute hörte, vermisste er sein Leben vor Gericht nicht.
Er wünschte sich nur manchmal, sie wären etwas sauberer. Ihre Nester waren alt und riesig, baufällig und verdreckt. Filth hingegen war ostentativ sauber. Seine Finger- und Fußnägel schimmerten wie Perlmutt (alle sechs Wochen kam die Fußpflege ins Haus; fünfundzwanzig Pfund), und sein Haar war immer noch nicht grau, sondern lockig und bronzefarben. Seine Haut hatte noch das alte Strahlen und kaum Falten. Er roch – ziemlich aufregend – nach Teerseife, die in manchen Teilen des Landes immer schwerer zu bekommen war.
»Er muss irgendetwas zu verbergen gehabt haben«, sagten die jungen Anwälte. »Eine Leiche im Keller.« – »Was, Old Filth? Niemals!«, riefen andere. Sie hatten natürlich unrecht. Eddie Feathers QC hatte so viel zu verbergen wie jeder andere auch.
Aber was auch immer es war, es hatte bestimmt nichts mit Geld zu tun. Er sprach nie darüber. Er war durch und durch ein Gentleman. Er musste eimerweise Geld gehabt haben. Eimer um Eimer um Eimer, dank seiner langen internationalen Karriere. Und er gab nichts aus, oder jedenfalls nicht viel. Vielleicht ein bisschen mehr als der mysteriöse Veneering nebenan. Filth war nicht eitel. Er ging in teuren Tweedanzügen spazieren, aber sie waren sehr alt. Er war kein besonders vergnügter Mensch, aber auch nie aufgeblasen. Falls er je über seine gutorganisierten Millionen nachdachte, die von unfehlbaren Brokern verwaltet wurden, dann jedenfalls nicht viel. Er witzelte gelegentlich darüber. »Oh ja, ich habe den ganzen hinreißenden Osten besessen«, sagte er manchmal, »ha-ha«, was ein Zitat von Sir war, seinem Schulleiter.
Er ging nie ins Theater, und er las keine Gedichte, denn er weinte zu leicht.
Nach einer Weile befiel ihn eine Lethargie. Filth hatte keine Energie, auch nur über einen Umzug nachzudenken. Und vielleicht ging es seinem alten Feind am Ende der anderen Einfahrt genauso. Sie begegneten sich nie. Wenn sie einander gelegentlich von weitem bei ihren Nachmittagsspaziergängen auf den Feldwegen sahen, schauten sie weg.
Dann, nach einem Jahr oder so, musste etwas passiert sein. Es wurde nicht darüber gesprochen, nicht mal im Dorfladen, aber es gab ein paar erstaunliche Sichtungen, und man hörte das alte Oberschichts-Englisch, ein Stakkato zwischen den Glockenhyazinthen im Wald. Es war an einem verschneiten Weihnachtstag passiert. Und es dauerte nicht lang, da wurde berichtet, die beiden alten Zausel würden donnerstags zusammen Schach spielen. Als Terry Veneering nach einem lächerlichen Abenteuer starb – auf Malta mit dem Fuß in ein Loch geraten, in der Folge eine Thrombose –, sagte Edward Feathers: »Alter Trottel. Viel zu alt für sowas. Habe ich ihm auch gesagt«, aber er war selbst überrascht, wie sehr er ihn vermisste.
Dennoch weigerte er sich, Veneerings Trauerfeier in der Temple Church in London zu besuchen. Es hätte Bemerkungen gegeben, und Bettys Name wäre gefallen. Bei allem rekordverdächtigen Benehmen war Old Filth doch kein Schauspieler. Nie gewesen. Er blieb an dem Tag allein zu Hause, machte sich Notizen zur Neuausgabe von Hudson über Baurecht, mit dessen Überarbeitung man ihn schmeichelhafterweise einige Jahre zuvor beauftragt hatte. Zum Abendessen nahm er einen Whisky und eine Scheibe Braten zu sich und hörte die Nachrichten. Als er die Autos der Trauergäste aus dem Dorf von Tisbury Station zurückkehren hörte, spürte er ihre Missbilligung wegen seiner Abwesenheit wie einen nassen Lappen im Gesicht. Er blätterte um.
Niemand kam an diesem Abend zu ihm, nicht mal die alte Sexbombe Chloe, die ständig mit Shepherd’s Pies auf seiner Schwelle stand. Auch nicht sein Gärtner oder die Zugehfrau, die gemeinsam im Pick-up des Gärtners zur Trauerfeier nach London und zurück gefahren waren. Und auch Dulcie nicht, die auf Privilege Hill wohnte und inzwischen seine älteste Freundin war, die Witwe eines reizenden alten Anwalts aus Hongkong, der schon vor Jahren gestorben war, viel beklagt und viel betrauert. Dulcie war eine winzige, etwas einfältige Frau und die Grande Dame des Dorfes.
»Sollen sie doch denken, was sie wollen«, sagte Old Filth in seinen doppelten Whisky. »So etwas ficht mich nicht mehr an.«
Im Jahr darauf flog er ganz allein an seinen Geburtsort, den er immer noch Malaya nannte, und starb, als er aus dem Flugzeug trat.
Und so machte sich das Dorf Donhead St. Ague an einem Morgen im März auf den Weg zur zweiten Trauerfeier innerhalb eines Jahres. Die erste war für Veneering gewesen, die zweite für Filth, wieder in der Temple Church, und so standen sie wieder in Tisbury Junction auf dem Bahnsteig und warteten auf den Zug nach London. Auf den vorderen Plätzen standen eine Gruppe von vier und eine Gruppe von drei Leuten, alle dunkel und korrekt gekleidet, aber an entgegengesetzten Enden des Bahnsteigs, denn sie waren zwar Nachbarn, aber nicht gerade Freunde.
Die Vierergruppe hatte kürzlich Veneerings Haus gekauft, das von der Straße aus nicht zu sehen war, aber man wusste, dass es ebenso dreist, extravagant und hässlich war wie sein alter Besitzer und sich – ebenfalls so wie er – außer Sichtweite hielt. Die Gruppe bestand aus Vater, Mutter, Sohn und Tochter, ganz gewöhnliche Leute, wobei man aus irgendeinem Grund davon ausging, dass der Vater so etwas wie ein Intellektueller war.
Am vorderen Ende des Zuges wartete die Dorfälteste: Dulcie, die Witwe, mit ihrer Tochter Susan und ihrem zwölfjährigen Enkel Herman, einem ernsthaften amerikanischen Jungen, der seine Meinung immer sehr frei äußerte. Dulcie war halb so groß wie er, eine winzige Frau in grauem Moleskin und einem Hut, der auch aus den Federn der Dorfkrähen hätte gemacht worden sein können. Sie hatte ihn vierzig Jahre zuvor auf der Bond Street gekauft, für die Geburtstagsfeier der Queen in Daressalam, wo Dulcies Mann damals, selbst wenn es um Hinrichtungen ging, ein entspannter und zufriedener Richter gewesen war.
Susan, Dulcies stämmige Tochter, war eine lustlose Person und mit einem unsichtbaren Mann verheiratet, der sich nur selten aus Boston, Massachusetts wegbewegte. Großmutter, Mutter und Sohn würden erster Klasse und auf reservierten Plätzen reisen.
Die Vierergruppe, die in ihrem ganzen Leben noch keinen Platz für irgendetwas reserviert hatte, stapfte geräuschvoll herum und wartete darauf, sich im letzten Waggon einen Platz zu erkämpfen und notfalls die ganze Strecke bis Waterloo zwischen all den Leuten zu stehen, die über den Feiertag in Weymouth gewesen und betrunken waren oder unter Drogen standen oder sangen und Smoothies tranken. Einige der tätowierten jungen Männer trugen Frauenkleider. Die würden der alten Dulcie jedenfalls erspart bleiben. Sie hatte Herzgeräusche.
Die Dreiergruppe machte es sich in der ersten Klasse bequem. Susan vernichtete das Kreuzworträtsel im Daily Telegraph, warf es schon Minuten später vollständig ausgefüllt beiseite und sagte: »Ich weiß gar nicht, warum wir da hinfahren. Uns steckt doch noch Veneerings Feier in den Knochen.«
»Also, mir nicht«, sagte Dulcie. »Das war doch ganz nett.«
»Es ist nicht gut für dich, Ma. So viel Tod. In deinem Alter.«
»Ach, ich weiß nicht«, sagte Dulcie. »Da bleibt man mit den anderen in Kontakt!«
»Ich bin ja nicht so scharf auf Kontakt.«
»Ich weiß, Schatz«, sagte Dulcie, sah ihren Enkel an und fragte sich, wie er eigentlich entstanden war.
»Ich glaube kaum, dass da irgendjemand sein wird, an den wir uns überhaupt erinnern. Filth war ja deutlich älter als du. Und du hast direkt aus der Schule weg geheiratet.«
»Hab ich das? Du lieber Himmel«, sagte Dulcie.
»Ma«, sagte Susan und berührte erstaunlicherweise die Hand ihrer Mutter. »Nimm es dir nicht zu Herzen, wenn niemand da ist. In seinem Alter. Veneering war jünger.«
Aber die Kirche war überraschend voll. Es waren junge Leute da – wer auch immer sie sein mochten – und Leute, die überhaupt nicht wie Anwälte aussahen. Gruppen schienen sich zusammenzufinden, nickten und lächelten einander zu. Manche wirkten höflich überrascht, andere glotzten unverhohlen. Ein Zwerg war da. Natürlich. Er war jahrzehntelang Filths beratender Anwalt gewesen. Der musste doch längst tot sein? Aber er saß hier, die Beine von sich gestreckt, das Gesicht so runzlig wie eine alte Walnuss, einen großen, braunen Filzhut auf den Knien. Er saß auf einem der Plätze, die für die höhere Anwaltschaft reserviert waren, und weigerte sich, den Platz zu wechseln.
Der intellektuelle Familienvater flüsterte seiner Frau zu, der Zwerg sei ein Promi und sie solle es den Kindern sagen und ihnen einschärfen, ihn sich gut anzugucken. »Der muss bald hundert sein. Da können sie noch ihren Enkeln von erzählen. Er soll schon zehnmal tot gewesen sein. Hatte irgendeine Art von Macht über Filth.« Die Kinder wirkten nicht weiter beeindruckt, das Mädchen fragte, ob die Queen ebenfalls komme.
Eine Bank war besetzt von mehreren Generationen einer Familie mit der sonderbaren Pigmentierung von Expats. Käsebleiche Briten. Eine Reihe mit Straits-Chinesen und ein paar Japaner, die wegen ihrer Handys ermahnt wurden. Ganz hinten in der Kirche streifte ein sehr großer, trauriger Mann herum, zwischen den mittelalterlichen Rittern, die dort mit gebrochenen Schwertern und Nasen auf dem Boden lagen. »Kronanwälte?«, fragten die Kinder, aber der intellektuelle Vater war sich nicht sicher. Der alte Mann weigerte sich, sich auf einen ehrenvolleren Platz setzen zu lassen; wie sich herausgestellt hatte, war er mal Vizekanzler in Cambridge gewesen.
Old Filths Gärtner und die Zugehfrau waren da, sie hatten den Pick-up diesmal im Temple Inn geparkt und gerade im Cheshire Cheese in der Strand ein Mittagessen mit allen Schikanen zu sich genommen. Und dann war da eine sehr alte, großgewachsene Frau in einem langen, blassrosa Seidenmantel, die gerade erst ankam und zwischen die Orientalen schlüpfte, als der Chor und die Orgel das Eingangslied anstimmten.
»Das war bestimmt seine Geliebte«, sagte der Intellektuelle.
»Das ist höchstens noch ihr Geist«, sagte seine Frau.
Und dann sangen sie alle »I vow to thee my country«, auch wenn das für Old Filth, der an einem schwarzen Fluss im Urwald von Malaysia geboren und in den Armen einer kindlichen Ayah großgeworden war, von den nächtlichen Klängen des Wassers und der Bäume und unsichtbarer Kreaturen gewiegt und von verschiedensten Göttern behütet, niemals England gewesen war.
Nach dem Gottesdienst wollte die alte Dulcie nicht mehr lange beim Beerdigungskaffee in der Parliament Chamber auf der anderen Seite des Temple Yard bleiben. Die Gespräche schwollen zu einem ganzen Chor an, als sie alle aus der Kirche strömten. Der Zwerg wurde in einem protzigen Wagen davongefahren und warf seinen Hut in die Menge wie ein Held. Menschenströme schoben sich die Treppe zur Inner Temple Hall hinauf Richtung Champagner. Dulcie hielt sich an Susans Arm fest; drinnen, in der Anwaltskammer, beobachtete sie die Leute, wie sie einander verunsichert betrachteten, bevor sie sich ins Getümmel stürzten. Sie beobachtete sie, wie sie einander beobachteten, verstohlen, aus der Ferne. Sie registrierte, wie sie einander mit durchaus unterschiedlicher Emphase nach dem Namen fragten. Sie sah ein paar Dinge, die ihr in letzter Zeit Sorgen gemacht hatten. Und nebenbei spielte sich noch vieles ab, was sie zum ersten Mal bemerkte oder zum ersten Mal analysierte, obwohl sie wusste, dass es alltäglich war – Gewohnheiten wie der Blick auf die Uhr oder das Ausstrecken einer Hand. Aber was um alles in der Welt bedeutete es?
Sie war sicher, dass sie viele der in ihrem Blickfeld auftauchenden plaudernden Gesichter gekannt hätte, wenn sie den Schleier aus Runzeln und Falten hätte heben können. Und diese komische papierartige, trockene Haut! »Ich fürchte, das waren die ganzen Zigaretten«, sagte sie zu einer vorbeikommenden Frau in rosa Seide. Die Frau verschwand auch gleich wieder von der Bühne. In einer Ecke schienen ein paar Rüpel den Hut des Zwergs herumzureichen, und es wurde gejubelt. »Cowboys«, sagte sie. »Hier geht es ja zu wie im Saloon.« Sie ging zu den herrlichen, hohen Fenstern und hörte überall halb vertraute Stimmen und die Namen alter Freunde, von denen bedauert wurde, dass sie schon so lange nicht mehr da waren.
Aber für sie waren sie noch nicht verschwunden. Niemals! Dulcie hatte nach dem Vorbild ihrer Mutter seit der Schulzeit sämtliche Adressbücher und Geburtstagskalender aufbewahrt, ebenso wie ein verschlissenes Vorkriegs-Autogrammbuch. Einige Namen waren auf den Seiten schon verblichen. Manche hatte Susan rigoros durchgestrichen. (»Aber in Wingfield waren immer Vansittarts!« – »Susan, streich die nicht durch! Ich schicke ihnen eine Weihnachtskarte.«) Ich muss mal dieses E-Mail lernen, dachte sie. Morgen. »Susan – können wir bitte nach Hause fahren?«
Susan holte den Mantel ihrer Mutter. Den Hut hatte Dulcie natürlich aufbehalten. Er warf einen angenehm fedrigen Schatten, aber sie wünschte sich, zur jungen Generation zu gehören, die den Hut in der Garderobe gelassen hätte, um zu zeigen, dass ihr Haar nicht, wie bei den meisten anderen, oben dünn wurde. Aber das wagte sie nicht. Ihr Pelzmantel war teuer und leicht wie Wolle und roch nach »Evening in Paris«, was den ein oder anderen alten Nasenflügel beben ließ, als sie vorbeiging.
Ein Taxi zur Waterloo Station war gerufen worden, und Herman wurde gefunden. Der Junge stand groß und schwerfällig da und sah in Richtung der Themse über die Temple Gardens hinweg, »wo sie«, erklärte er seiner Großmutter, »wie du ja sicher weißt, die Rosenkriege organisiert haben«.
»So ein hervorragender Limonensaft«, sagte Dulcie. »Den haben wir im Krieg vielleicht vermisst!«
Herman sah sie finster an und sagte, heutzutage hätten wohl wirklich nur noch Amerikaner ein Geschichtsbewusstsein.
»Dabei haben die ja nicht mal besonders viel Geschichte«, sagte Dulcie.
»Genießen Sie die romantische Aussicht?«, fragte der ehemalige Vizekanzler, der gerade vorbeikam. »Hallo, Dulcie. Ich bin Cumberledge. Eddie und ich waren zusammen in Wales.«
»Wie schön«, sagte Dulcie. »Das soll ja jetzt Cumbria heißen. So affig. Herman, Schatz, ich denke, wir gehen.«
»Die Themse hat mal so gestunken, dass sie aus dem House of Commons ausziehen mussten«, sagte Herman.
»Heute stinkt es da auch manchmal ziemlich«, sagte ein neuer Queen’s Counsel, der gerade mit einem schwappenden Glas Wein in der Hand vorbeikam.
»Das müssten Sie schon näher erläutern«, sagte Herman, aber der Anwalt war schon vorbei. »Granny, niemand spricht mit mir!«
»Warum sollten sie?«
»Und Musik gibt es auch nicht.«
»Ich glaube kaum, dass Old Filth ein großer Musikliebhaber war, Schatz.«
»Veneering schon. Ich mochte Mr Veneering sowieso lieber.«
»Das sagst du immer«, sagte seine Großmutter. »Ich weiß gar nicht, wieso du ihn überhaupt kanntest. Und er hieß Sir Terence. Sir Terry Veneering.«
»Granny, ich war neun. Er war bei euch zu Hause. Seine Haare waren wie Bindfäden und knallgelb. Er hat auf eurem Klavier Blues gespielt. Weißt du nicht mehr? Da war noch so ein schrecklicher Typ da, Winston Smith oder so. Wie in 1984. Ich hoffe, der hat es auch hinter sich, wie die meisten hier. Warum ist Mr Veneering denn schon tot? Der hat mich wenigstens wahrgenommen. Er war bestimmt Amerikaner. Amerikaner vergessen einen nicht. Old Filth«, (»Sir Edward«, sagte Dulcie), »wusste nie, wer ich bin.«
»Ab ins Taxi, Herman. Halt mal den Mund.«
Ein kleiner, alter Mann begleitete sie, als sie die Feier verließen.
Sie hatte ihn schon in der Kirche gesehen, ihm guckte ein Zweiter-Klasse-Ticket für die Bahn aus der Brusttasche.
Als sie sich ins Taxi setzten, stieg er mit ein. »Dulcie«, sagte er. »Ich bin Fiscal-Smith.«
Sein Name und sein Gesicht waren schon den ganzen Tag am Rande ihrer Wahrnehmung gewesen, wie das verlöschende Licht eines weit entfernten Planeten. Fiscal-Smith!
»Aber«, sagte sie, »Sie haben doch nach Veneerings Party … ich meine, nach seiner Trauerfeier, gesagt, Sie würden nie wieder nach London kommen? Leben Sie nicht irgendwo im Norden?«
»Frühzug. Darlington«, sagte er. »Mein Ghillie hat mich zum Zug gebracht, zwei Stunden nach King’s Cross. Praktisch.«
»Was ist denn ein Ghillie?«, fragte Herman.
»Ich lasse keine Trauerfeier aus. Für etwas anderes wäre ich sicher nicht nach London gekommen. Gut, vielleicht für die Verleihung des Hosenbandordens … Sie erinnern sich ja sicher, dass ich Filths Trauzeuge war. In Hongkong. Sie waren doch auch da. Mit Willy.«
»Ja«, sagte Dulcie nach einer Pause mit glasigem Blick, weil ihr mit erschreckender Deutlichkeit einfiel, dass Veneering nicht bei der Hochzeit gewesen war, natürlich nicht. Nicht in Fleisch und Blut.
Fiscal-Smith war eigentlich nie einer von uns, dachte sie. Heute weiß niemand mehr irgendetwas über ihn. Er ist aus dem Nichts aufgetaucht. Wie Veneering. Sein ganzes Leben lang hinterm Geld her. Er wird jetzt jeden Moment fragen, ob er mit uns nach Dorset kommen kann, ein paar Tage kostenloses Bed and Breakfast. Als Nächstes macht er mir noch einen Heiratsantrag.
»Ich bin fast dreiundachtzig«, sagte sie und verwirrte ihn.
Er zog sein billiges Rückfahrticket aus der Brusttasche und las es. »Gerade dachte ich«, sagte er, »ob ich mit Ihnen nach Dorset fahre? Für ein paar Tage? Der alten Zeiten wegen? Uns an Willy erinnern? Für eine Woche? Oder zwei? Möglicherweise?«
Im Zug setzte er sich sofort auf Hermans reservierten Platz. »Das«, sagte Herman, »ist illegal.«
»Gerechtigkeit«, sagte Fiscal-Smith, »hat mit der Gesetzgebung nichts zu tun.«
»Sie werden mir helfen müssen, Mutter hier hinauszubekommen. In Tisbury ist die Bahnsteigkante so niedrig, sie müssen sie runterheben.«
»Einen heben würde ich sowieso gern«, sagte Fiscal-Smith. »Gibt es dort einen Kofferkuli?«
Es gab keinen. Die Reise war langwierig. Fiscal-Smith hatte einen Disput mit dem Schaffner, der ihm nicht recht zugestehen wollte, dass er mit dem Rückfahrt-Anteil seines Fun-Day-Special-Tickets ein Anrecht auf einen Erster-Klasse-Platz in einen ganz anderen Teil des Landes hatte. Fiscal-Smith gewann den Fall, wie er es auch früher schon immer wieder geschafft hatte, indem er unnachgiebig immer weiter die Verteidigung demontierte. Der Schaffner gab sich schließlich zitternd geschlagen. »Lächerlicher Mensch. Sagenhaft schlecht ausgebildet«, sagte Fiscal-Smith.
Schließlich hielt der Zug in Tisbury, musste aber zunächst auf einem Nebengleis warten und den Zug aus der Gegenrichtung durchlassen. »Na, das ist ja hervorragend gelöst«, sagte Fiscal-Smith, als sie ans Gleis fuhren und das abenteuerliche Aussteigen aus luftiger Höhe begann, wie auf der Titanic. Die Leute sprangen praktisch in die Luft und hofften, unten aufgefangen zu werden. »Sehr gefährlich«, sagte Fiscal-Smith. »In Kauf genommenes Risiko, bewusste Fahrlässigkeit, diese Linie. Rette sich, wer kann.« Dann verschwand er komplett.
Dulcie und Susan wurden von dem Intellektuellen gerettet, der den Bahnsteig heruntergelaufen kam und Dulcie aus dem Zug hob.
»Wie schnell Sie rennen können«, sagte sie. »Sie haben ja genauso lange Beine wie Edward. Früher erkannte man einen englischen Gentleman an seinen langen Beinen. Wobei sie mit dem Alter alle etwas wacklige Schenkel bekamen.« Plötzlich hatte sie Filths sterbliche Überreste auf dem englischen Friedhof von Dhaka vor Augen, wo niemand war, der ihm Blumen aufs Grab gelegt hätte, und ihr kamen die Tränen. Jetzt waren alle tot, dachte sie. Niemand mehr übrig.
»Kommen Sie doch mit uns zurück«, sagte der Familienvater. »Es ist so ein scheußlicher Abend. Ich bringe Sie zu Hause vorbei. Wir haben eine Decke im Auto.«
Aber sie sagte: »Nein, die Familie soll lieber zusammenbleiben. Sie können Fiscal-Smith mitnehmen«, aber das schien er nicht zu hören.
Fiscal-Smith hatte Susans alten Morris Traveller auf dem Parkplatz bereits gefunden und scharwenzelte drum herum.
»Fahren Sie einfach unseren Rücklichtern hinterher!«, rief der Familienvater, der durch den Regen und den Nebel gleich wieder unsichtbar wurde.
Susan fuhr vorsichtig hinter ihm her, und sie schwiegen. Sie kamen an Old Filths leerem Haus in der Senke vorbei, aber Dulcie schaute nicht hin. Sie dachte an seine treue Freundschaft und seine edle Seele. Schwer zu sagen, was Fiscal-Smith dachte. Der Wagen rauschte durch große Regenpfützen auf der Straße, durch Dunkelheit und Sintflut. Dulcie blickte starr geradeaus.
Sie sprachen erst wieder, als sie Dulcies repräsentatives Haus auf Privilege Hill erreichten, wo innerhalb von Minuten Lichter erstrahlten, Zentralheizung und heißes Wasser hochgedreht wurden, wo Suppe, Brot und Käse auf dem Tisch auftauchten und im Fernsehen die Nachrichten kamen.
Der Duft der dunkelblauen Topfhyazinthen verwirrte ihnen die Sinne, und bevor die Vorhänge zugezogen wurden, sah man in der blankgeputzten Finsternis der Fenster, wie die nasse und sternlose Welt in den endlosen Raum entschwand. Dulcie dachte noch einmal an die letzte Szene des letzten Akts.
»Warum waren denn in seinem Haus die Lichter an?«, fragte Herman.
»Wessen Haus? Filths?«, fragte Susan. »Waren sie doch gar nicht. Das ist seit Weihnachten verriegelt und verrammelt. Mit einer Kette vor dem Tor.«
»Das Tor habe ich gar nicht bemerkt«, sagte der Enkel, »aber es war hell erleuchtet. Licht in jedem Zimmer. Das Haus hat gestrahlt wie früher, nur noch viel mehr. In allen Fenstern Festbeleuchtung.«
»Dann hat es wohl gebrannt«, sagte Fiscal-Smith und durchforstete Dulcies Hausbar, wie es alten Freunden zustand.
Am nächsten Morgen wachte Dulcie in ihrem bequemen, teuren, gepolsterten Bett auf und war irgendwie unruhig. Das Fenster war oben einen Spaltbreit offen, damit ein bisschen frische Luft hereinkam (davon hatten sie all die Jahre in Hongkong geträumt!), wie es in England schon lange vor Erfindung der Zentralheizung üblich gewesen war. Dulcie und Willy hatten Zentralheizung im Schlafzimmer stets abgelehnt, das war etwas für die Arbeiterklasse.
Draußen herrschte ländliche Stille mit Ausnahme des gelegentlichen Geräuschs eines hölzern wirkenden Magnolienblatts, das vom Baum auf die Steinterrasse fiel. Ihre Uhr zeigte fünf Uhr morgens. Herrlich! Das hieß, sie hatte durchgeschlafen. Sie würde das Morgengebet auf dem treuen Sender BBC Four noch mitbekommen, den sie immer noch »Home Service« nannte.
Wo war sie? Musste sie heute nach London zu Eddies … nein, nein. Das war schon erledigt. Flammen, dachte sie, Flammen. Asche zu Asche … dann schlief sie wieder ein.
Aber sie wachte bald wieder auf, die Flammen hatten sich zurückgezogen. Sie schlurfte in Pantoffeln und ihrem alten Morgenmantel aus lila Seide nach unten und spürte ein leichtes Ziehen in einem hinteren Backenzahn. Zeit für einen Kontrollbesuch beim Zahnarzt. Was das wieder kosten würde. All ihre Zähne waren noch ihre eigenen. Dank Nannie. Volle fünf Minuten Zähneputzen, morgens und abends. Sie hatte noch mehr Zähne im Mund als die gesamte Party gestern zusammengenommen. Wie grässlich sie da mit offenem Mund gegrinst hatten! Man konnte die Brücken sehen! Queen Elizabeth die Erste hat nie gelächelt, vernünftige Frau. Die alte Queen Mother hörte nie damit auf, hätte das aber tun sollen. Morgentee.
Willy hatte morgens immer den ersten Tee gekocht. In Hongkong natürlich nicht. Dort hatten sie eine schlanke Maid gehabt, die lächelnd mit einem Tablett kam. Die Chinesen und die Amerikaner fanden es geschmacklos, im Bett Tee zu trinken. Ach, Willy! Sie versuchte, nicht an Willy zu denken, um nicht wieder festzustellen, dass sie gar nicht mehr wusste, wie er ausgesehen hatte. Oh, alles war gut. Da sah sie ihn ja schon die Treppe heraufkommen, vorsichtigen Schrittes, weil er die Teetassen balancierte und in Gedanken versunken war. Ach, Willy! So viele Jahre! Ich habe doch nicht vergessen, wie du aussahst. »Pastry Willy« haben sie dich genannt – aber nachdem wir hierhergezogen waren, hast du richtig wettergegerbt ausgesehen. Nur in letzter Zeit bist du ein bisschen unscharf geworden. Macht aber nichts. Es ändert nichts. Ich würde so gern mal wieder richtig mit dir sprechen, Willy. Über Geld. Es scheint nicht viel da zu sein. Ich lege die Briefe von der Bank immer in deinen Schreibtisch. Dumm von mir. Die meisten mache ich gar nicht auf.
Er sah von der Küchendecke aus auf sie herab, sehr freundlich, aber unverbindlich. Es war nie nötig gewesen, die wichtigen Dinge zu besprechen. Er wusste, dass sie, nun ja, oberflächlich war. Hoffnungslose Schülerin. Männer lieben das, hatte Nannie gesagt. Aber scharfsinnig, hatte sie gedacht. Oh ja, ich bin schlau. Ein unerschütterlicher Glaube an die Church of England und Gottes Erbarmen, an Pflichten und Gepflogenheiten. Morgentee. Uhren überall im Haus (inzwischen ein paar weniger, seit ich die Reiseuhren verkauft habe), die jeden Sonntag nach dem Evensong aufgezogen werden. Jesus hat wahrscheinlich nie eine Uhr gesehen. Gab es damals schon welche? Sie versuchte, sich den Menschensohn mit einer Armbanduhr vorzustellen, nur um die Tatsache aus ihrem nebligen Morgengehirn zu verdrängen, dass sie sich nicht mehr an Willy erinnern konnte. »Ich sehe dein Gesicht nicht mehr!«, rief sie zur Decke hinauf.
»Ach komm, sei ein bisschen nett!«, sagte seine Stimme von hinter dem Vorhang.
Etiketten und Parolen, dachte sie. Das wird am Ende aus Liebe und Leidenschaft. Wir haben nie wirklich miteinander gesprochen.
Und Sex, was für eine Vorstellung! Donnerwetter! Ich nehme an, wir haben es getan? Susan war wirklich ein reizendes Baby.
Sie kochte Tee aus losem Darjeeling aus der schwarzgoldenen Dose und trug ihn zusammen mit der Zuckerdose und dem Milchkännchen auf einem hübschen Tablett nach oben.
Wozu tue ich das alles, Willy? Kein Wunder, dass Susan einfach einen Becher hinknallt. Unsere verdammte Kinderstube. Hohe Standards. Aber wozu? Was für Standards, Willy? Ach, er war schon wieder verschwunden.
Gut. Er konnte nicht antworten.
Dann also Fiscal-Smith. Rockingham-Porzellan für Fiscal-Smith, der zu Hause in Yorkshire bestimmt aus Steingut aß. Und sicherlich aus Bechern trank. Und ich versuche immer noch, ihm Manieren beizubringen.
Sie trottete zum Gästezimmer und stellte fest, dass es leer war.
»Fiscal-Smith?«, rief sie.
(Wie heißt er denn bloß mit Vornamen? Das hatte wohl niemand je gewusst.)
»Hallo?«
(Wie traurig für ihn. Dass niemand je gefragt hat.)
»Hallo?«
Stille.
Das Bett in seinem Zimmer war ordentlich zurückgeschlagen, sein rosa-weißer Flanellpyjama lag korrekt gefaltet auf dem Kissen, sein Morgenmantel hing über einem Sessel, die Pantoffeln standen ordentlich daneben.
Dann hat er also alles mitgebracht, was er zum Übernachten braucht. Er hat von Anfang an beabsichtigt, hierzubleiben. Der alte Opportunist.
Nur war er jetzt nicht da.
Sie setzte sich auf sein Bett und dachte: Er sagt, er kommt Filth zu Ehren, aber dann will er nur bedient werden. Das ist das Einzige, was er will. Dass man sich um ihn kümmert. Du warst ganz anders, Willy. Und ich will jetzt einfach nur jemanden, der sich um diese Briefe kümmert. (Meine Pantoffeln! Ich brauche neue Pantoffeln.) Und Ruhe und Frieden. Und absolute Stille.
Von unten ertönte ein fürchterliches Krachen.
Sie schrie auf, dann fiel ihr ein, dass sie nicht allein im Haus war, es waren noch andere da. Von gestern übrig geblieben. Sie konnte sich gar nicht mehr erinnern, wie der Tag gestern geendet hatte. Wie immer. An jedem Morgen war der letzte Abend schon wieder verschwunden. King Lear, der arme Mann …
Aber war gestern Abend nicht noch irgendetwas passiert? Etwas Schreckliches? Ach du liebe Güte, ja. Filths leeres Haus war bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Oder etwas in der Art.
Sie betrachtete ihre Füße. Es war wirklich Zeit für neue Hausschuhe. Dann sah sie durchs Fenster Fiscal-Smith den Hügel zu ihr heraufwandern, aus der Richtung von Filths Haus, immer noch im Beerdigungsanzug von gestern, und er wirkte vergnügt. Über achtzig. Weit drüber. Morgens um halb sechs. Es fing an zu regnen.
Er sah sie und rief: »Alles gut! Es ist noch da.«
»Was?«
»Filths hübscher alter Kasten. Der Junge hat sich getäuscht. Nichts von einem Brand zu sehen. Ich habe das Gefühl, der Junge ist ein Unruhestifter. So war er schon vor Jahren bei diesem einen Lunch. Ein Schlingel!«
»Vergessen Sie nie irgendwas, Fiscal-Smith? Was für ein Lunch?« Ein ganzes Leben voller Lunches. Und mit – für einen wackligen Augenblick fiel ihr der Name ihres Enkels nicht ein. Wann sollte das gewesen sein? Und wo?
»Mit den beiden dicken Schwestern. Und einem Priester. Und Veneering natürlich. Ich vergesse nie etwas, mein Gehirn lässt mich nie im Stich. Das belastet mich manchmal ziemlich, Dulcie.«
»Sie sind ganz schön arrogant, Fiscal-Smith.«
»Ich sage nur, wie es ist«, sagte er.
Sie waren jetzt beide in der Küche. Sie sagte: »Ihre Sachen sind jedenfalls oben. Brauchen Sie Hilfe beim Packen?«, und erschrak über sich selbst.
Es wurde still, als er mit seinem Tee auf die Terrasse hinaustrat.
Im gleichen Moment drehte Isobel Ingoldby ein Stück weiter in Filths altem Haus in der Senke, jetzt nicht mehr in ihren rosa Seidenmantel gehüllt, sondern in seinen Morgenmantel, alle Lichter aus, die sie über Nacht hatte brennen lassen. Wie dumm, dachte sie, immerhin bin ich jetzt diejenige, die die Stromrechnung bezahlt. Bis ich das Haus verkaufe. Warum habe ich überhaupt die ganze Nacht die Festbeleuchtung angelassen? Irgendetwas Naives wie »damit seine Seele den Weg nach Hause findet«? Aber sie wird nicht hier danach suchen. Seine Seele ist frei. Sie ist wieder an seinem Geburtsort. Vielleicht ist sie dort nie ganz weggegangen.
Sie setzte Teewasser auf, vergaß dann aber, sich Tee zu machen. Sie schlenderte umher. Bettys Lieblingssessel, über den sie alle geredet hatten – weiß Gott, warum –, stand in der Eingangshalle, in Plane eingewickelt. Filths Geschenk für Fiscal-Smith. Niemand machte Fiscal-Smith Geschenke.
Dieses Haus – das Haus, das sie geerbt hatte – beobachtete sie, wie sie darin umherging. So ordentlich. So nüchtern. So tot. Bettys Foto auf dem Kaminsims war umgefallen.