Belles of London - Die Nähe, die uns trennt - Mimi Matthews - E-Book

Belles of London - Die Nähe, die uns trennt E-Book

Mimi Matthews

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Beschreibung

Eine Liebe gegen alle Vorurteile

Die einzige Chance, die Aufmerksamkeit heiratswilliger Gentlemen auf sich zu ziehen, sieht Evelyn Matravers darin, mit ihren Fähigkeiten als Reiterin zu glänzen. Dafür sucht sie den Schneider auf, der auch einige berühmte Londoner Kurtisanen mit spektakulären Reit-Outfits ausgestattet hat. Ahmad Malik besitzt ein besonderes Talent, die Schönheit jeder Frau zu betonen. Noch nie ist Evelyn einem Mann begegnet, der so tief in ihr Innerstes blicken kann, und schon bald keimen zarte Gefühle zwischen ihnen auf. Doch als Sohn einer indischen Mutter hat Ahmad es nicht leicht, Anerkennung zu finden. Kann Evelyns Traum, die Vorurteile der Gesellschaft gegen alle Widerstände zu überwinden, wirklich wahr werden?

"Eine exquisit geschriebene, gleichermaßen starke wie auch zarte Liebesgeschichte - eines meiner romantischen Highlights des Jahres." EVIE DUNMORE

Band 1 der BELLES OF LONDON

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

Zitat

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

Epilog

Anmerkungen der Autorin

Danksagungen

Die Autorin

Die Romane von Mimi Matthews bei LYX

Impressum

Mimi Matthews

Belles of London

Die Nähe, die uns trennt

Roman

Ins Deutsche übertragen von Stephanie Pannen

Zu diesem Buch

Evelyn Maltravers’ Familie ist verarmt und sie selbst gilt als »Blaustrumpf«. Ihre einzige Chance, die Aufmerksamkeit heiratswilliger Adeliger auf sich zu ziehen, sieht sie darin, mit ihren Fähigkeiten als Reiterin aufzufallen. Doch dazu braucht sie die richtige Ausstattung. Kurzerhand beschließt sie, denselben Schneider aufzusuchen, der auch einige berühmte Londoner Kurtisanen mit spektakulären Reit-Outfits ausgestattet hat. Ahmad Malik erhofft sich, durch seine Kreationen ein eigenes Atelier aufbauen zu können. Sein Talent, die Schönheit jeder Frau zu betonen, ist außergewöhnlich. Als Evelyn zu ihm kommt, ist er sofort fasziniert von der klugen und mutigen jungen Frau, und die Anziehung zwischen ihnen ist fast magisch. Die unvermeidliche Intimität bei den Anproben stellt sie beide auf eine harte Probe, doch Ahmad weiß, wie hart die Engländer mit denen umgehen, die sich über Standesunterschiede hinwegsetzen. Als Kind einer indischen Mutter, aufgewachsen in einem der ärmsten Viertel Londons, kennt er die hässlichen Seiten des Lebens nur zu gut. Evelyn jedoch lässt sich nicht so leicht entmutigen. Aber kann ihr Traum, die Vorurteile der Gesellschaft gegen alle Widerstände zu überwinden, wirklich wahr werden?

Für Centelleo

Wer reitet das beste Pferd in der Reihe? Wer führt die wildesten Ponys? Wen imitieren die schönsten Mädchen in Kleidung und Benehmen, und in Gespann, wenn sie können, ja, selbst in der Art, wie sie reden? … Natürlich eine unserer »Hübschen Bereiterinnen.«

– The Times (London), 29. Januar 1861

1. KAPITEL

London, England

März 1862

Evelyn Maltravers betrat den schwach beleuchteten Laden in der Conduin Street. Ein schlichtes Schild über der Tür verkündete Namen und Gewerbe der Inhaber: Messrs. Doye und Heppenstall, Herrenschneider. Das Innere des Ladens war ebenso schlicht – ein kleiner Ausstellungsraum, ausgestattet mit zwei bequem aussehenden Ledersesseln, einem Dreifachspiegel und einem hohen Tresen aus poliertem Mahagoni. Die Gaslampen an den Wänden warfen ihr diffuses Licht auf die dahinter lagernde Ware. Ballen feiner Wollstoffe in gedämpften Schwarz-, Braun- und Blautönen.

Es war Viertel vor sieben, kurz vor Ladenschluss. Eine tiefe männliche Stimme war gedämpft aus dem Hinterzimmer zu hören, das durch einen Vorhang vom Verkaufsraum getrennt wurde.

Evelyns Puls beschleunigte sich. Eine Herrenschneiderei war eine Männerdomäne. Eine, in der die Anwesenheit einer Dame so selten wie unwillkommen war. Aber sie ließ sich von dieser Tatsache nicht abschrecken. Sie richtete sich auf, trat an die Ladentheke und betätigte die Klingel.

Die Stimme im Hinterzimmer verstummte. Einen Moment später trat ein dünner, weißhaariger Herr hinter dem Türbehang hervor. Seine Augen waren wässrig und sein Rücken gebeugt, als hätte er sein ganzes Leben über einem Werktisch hockend verbracht.

»Kann ich Ihnen helfen, Madam?« Seine Stimme war so dünn wie seine Gestalt.

»Ja, vielen Dank. Ich würde gern mit Mr Doyle sprechen.«

»Ich bin Mr Doyle.«

Ihr sank der Mut. Sie hatte einen modisch gekleideten Mann erwartet. Jemanden mit einer Vision. Mit Magie in seinen Fingern. Nicht diesen betagten Herrn, der weder modisch noch besonders kompetent wirkte. Seine Finger waren gekrümmt, und seine Hände zitterten, als litte er an einer Art Lähmung.

Ihr kam ein hoffnungsvoller Gedanke. »Und Mr Heppenstall? Ist er auch zugegen?«

»Mr Heppenstall ist im vergangenen Herbst verstorben.«

»Oh.« Wieder sank ihr Mut. Die tiefe Männerstimme hinter dem Vorhang musste einem Gehilfen oder Zuschneider gehören. Jemandem ohne Bedeutung.

»Gibt es etwas, das ich für Sie tun kann?«, fragte Mr Doyle mit einer Spur Ungeduld.

Sie rief sich ins Gedächtnis, dass das Äußere einer Person oftmals täuschen konnte. In ihrem Fall traf das jedenfalls zu. Es war durchaus möglich, dass dieser Schneider trotz seines hohen Alters ein wahrer Zauberer mit Nadel und Faden war. »Das hoffe ich doch. Wissen Sie …« Evelyn schob das zierliche Silbergestell ihrer Brille fester ihre Nase hoch. »Sie wurden mir empfohlen. Von einem Freund.«

Nicht ganz die Wahrheit, aber auch keine glatte Lüge.

Er zog die buschigen weißen Augenbrauen hoch. »Einer meiner Kunden?«

»In der Tat«, sagte sie. »Ich würde gern einen Reitrock in Auftrag geben.«

Sein skeptischer Blick glitt zu ihrer Brille, dann über ihre schlichte Kleidung.

Plötzlich empfand sie Befangenheit.

Vielleicht hätte sie sich vor ihrem Besuch ein neues Kleid machen lassen sollen? Etwas Elegantes von einer angesagten Modistin, das ihr ein wenig Schick verliehen hätte? Stattdessen trug sie nun einen schmucklosen Rock mit einem Caraco. Ein vernünftiges Ensemble, angefertigt von der Dorfnäherin in Combe Regis. Zweifellos ließ es Evelyn wie eine Landpomeranze aussehen.

Doch es war müßig, sich darüber jetzt Gedanken zu machen …

Momentan mochte sie wie eine Provinzlerin wirken, doch nicht mehr lange.

»Jeder, der sich auch nur ein wenig mit Mode auskennt, weiß, dass Herrenschneider die besten Reitröcke für Damen anfertigen«, fuhr sie unbeirrt fort. »Und ich gedenke, den allerbesten zu haben.«

»Verständlich, aber mit Verlaub …« Er machte eine Pause. »Wir entwerfen keine Kleidung für Blaustrümpfe.«

Evelyn gelang es nicht, ihr Zusammenzucken zu überspielen, auch wenn die Anschuldigung wenig überraschend war. Dies war nicht das erste Mal, dass man sie einen Blaustrumpf nannte. Oder ein Mauerblümchen und sie mit einer Reihe anderer, nicht besonders origineller Bezeichnungen für junge Damen bedachte, denen es nicht gelang, sich anzupassen. Dennoch fühlten sich Mr Doyles Worte an, als hätte er ihr einen Eimer kaltes Wasser ins Gesicht geschüttet. »Sie verkennen mich, Sir.«

»Ich denke nicht, Ma’am. Dürfte ich Sie an Mr Inglethorpe in der Oxford Street verweisen? Er hat sich auf Damenkleidung spezialisiert und hätte keine Bedenken, Ihren Auftrag anzunehmen.« Mr Doyle verbeugte sich kurz und wandte sich zum Gehen. »Ich wünsche Ihnen einen guten Abend.«

Sie setzte zu einem Widerspruch an, doch bevor sie ihre Argumente formulieren konnte, war er bereits hinter dem Vorhang verschwunden. Sie stand allein im leeren Laden und verschränkte fest die behandschuhten Finger ineinander.

Es kostete Evelyn Kraft, die Worte des alten Schneiders nicht durch den Schutzpanzer dringen zu lassen, den sie sich geschaffen hatte. Sie wusste nur zu gut, was die Leute sahen, wenn sie sie betrachteten – wenn sie sie überhaupt bemerkten. Genau das war der Grund, warum sie sich ihren Plan in den Kopf gesetzt hatte. So leicht würde sie sich nicht abwimmeln lassen. Nicht von Mr Doyle. Von niemandem.

Sie dachte darüber nach, erneut zu klingeln. Nachdem sie so weit gekommen war, würde sie sich nicht so leicht entmutigen lassen. Aber was würde es nutzen, Mr Doyle zurückzurufen? Sie konnte den Mann schließlich nicht zwingen, ihren Auftrag anzunehmen. Außer …

Sie könnte ihm anbieten, einen höheren Preis zu zahlen.

Laut Evelyns Quellen hatte Miss Walters für ihre neueste Robe dreizehn Pfund bezahlt. Evelyn konnte doch bestimmt ein paar Schillinge mehr zusammenkratzen?

Lange Sekunden der Unentschlossenheit vergingen, begleitet vom lauten Ticken einer Wanduhr. Evelyn zählte die Minuten herunter, bis sie in das Haus ihres Onkels in Bloomsbury zurückkehren musste.

Nein, entschied sie schließlich. Sie würde Mr Doyle nicht bestechen. Das konnte sie nicht. Es war eine Frage des Prinzips. Des persönlichen Stolzes. Wenn er sie nicht für würdig erachtete, eine seiner Kreationen zu tragen, musste sie einfach einen anderen Schneider finden. Jemanden mit vergleichbarer Kunstfertigkeit.

Wenn solch eine Person überhaupt existierte.

Entschlossen wandte sie sich zum Gehen, doch der Klang einer tiefen Stimme hinter ihr ließ sie innehalten.

»Der Laden schließt um sieben.«

»Ja, dessen bin ich mir bewusst. Ich wollte gerade …« Sie drehte sich um, und die Worte erstarben auf ihren Lippen.

Hinter der Ladentheke stand ein Mann. Ein großer, kräftig gebauter Mann mit kupferfarbener Haut und kohlrabenschwarzen Haaren. Der schwache Schein der Gaslampen warf Licht und Schatten auf seine kantigen Gesichtszüge, was ihn fast unheimlich aussehen ließ.

Plötzlich hatte sie einen ganz trockenen Mund.

Dies war also der Besitzer der Stimme, die sie hinter dem Vorhang gehört hatte. Die Stimme, die ihr Herz hatte schneller schlagen lassen. Die es immer noch schneller schlagen ließ.

Sie befeuchtete ihre Lippen. »Ich wollte gerade gehen.«

Doch sie ging nicht.

Denn sie war von seinem unverschämten Blick wie gebannt. Er wanderte über sie und schien eine Bestandsaufnahme ihrer gesamten Person zu machen, von der Spitze ihres bereits dreimal überarbeiteten Filzhuts bis zum Saum ihres braunen Popelinerocks.

Ihr stockte der Atem. Noch nie in ihrem Leben hatte ein Mann sie so angesehen. So kühn und wissend. Sie hatte das beunruhigende Gefühl, er könne durch den Stoff ihrer Kleidung auf die nackte Haut darunter blicken.

Wärme schoss ihr in die Wangen. »Sind Sie Mr Doyles Assistent?«

Seine Augen blickten in die ihren. Sie waren so dunkel wie sein Haar. Schwarz und leuchtend, wie Obsidian.

Wenngleich sie wusste, dass dies nicht möglich war. Es musste sich um eine optische Täuschung handeln.

»So etwas in der Art«, sagte er mit einem fast amüsierten Unterton.

Ihre Verlegenheit wurde rasch durch Verärgerung ersetzt. Es war das eine, von Mr Doyle beleidigt und abgetan zu werden, doch von einem seiner Untergebenen verspottet zu werden war etwas ganz anderes. Sie bedachte ihn mit ihrem verächtlichsten Blick. »Mit Verlaub, Sir, der Service in diesem Geschäft ist grässlich.«

»Haben Sie eine spezielle Beschwerde?«

»Die habe ich.« So würdevoll wie möglich kehrte sie an die Theke zurück. »Bitte richten Sie Ihrem Arbeitgeber aus, nur weil eine Dame eine Brille trägt, gerade erst in London eingetroffen ist und sich daher noch keine neue Garderobe anfertigen lassen konnte, bedeutet dies nicht, dass sie ein Blaustrumpf ist.«

Einen angespannten Moment lang schwieg er. »Bei allem Respekt, Ma’am, ein Geschäft muss auf seinen Ruf achten.«

»Und ich auf meinen.« Sie beugte sich über die Theke. »Ich bin kein Blaustrumpf. Ich besuche keine intellektuellen Salons oder Vorträge über geziemende Kleidung. Ich schreibe nicht im Geheimen Romane oder Zeitungsartikel. Und ich beschäftige mich auch keinesfalls mit wissenschaftlichen Experimenten. Ich habe nur zwei Leidenschaften im Leben: Pferde und Mode. Was Erstere angeht, gebe ich bereits eine hervorragende Figur ab, doch für Letzteres brauche ich Mr Doyles Hilfe.«

»Selbst wenn das, was Sie sagen, wahr ist, müsste Doyle Sie dennoch abweisen. Seine weiblichen Kunden existieren in einer anderen Sphäre …«

»Er stattet die Hübschen Bereiterinnen aus«, unterbrach ihn Evelyn. »Ja. Ich weiß. Genau deshalb bin ich hier.«

Der Blick des Mannes wurde noch intensiver. »Diese ›Hübschen Bereiterinnen‹, wie Sie sie nennen, sind keine gewöhnlichen Frauen.«

Trotzig hob sie das Kinn. »Ich weiß, was sie sind.« Kurtisanen. Berühmt-berüchtigte, wunderschöne Kurtisanen, bei denen es sich zugleich um die bestgekleideten und versiertesten Reiterinnen handelte, die jemals die Rotten Row entlanggaloppiert waren. »Und ich bin fest entschlossen, sie alle zu übertreffen.«

»Sie?« Glücklicherweise lachte er sie nicht aus, sondern betrachtete sie nur auf die gleiche taxierende Art wie zuvor, als wäre sie ein Exemplar einer seltsamen Gattung, über das er unerwartet gestolpert war. »Haben Sie Miss Walters und ihresgleichen schon einmal gesehen?«

»Fast jeden Nachmittag, seit ich in London angekommen bin. Ihre reiterischen Fähigkeiten sind gut, aber nicht überragend. Und mit Sicherheit nicht so gut wie meine.« Evelyn straffte ihre Schultern. »Zugegeben, was die Kleidung angeht, übertreffen sie mich. Aber ich habe vor, dies zu korrigieren.«

»Mit Mr Doyles Hilfe?«

»Nicht unbedingt. Mr Doyle ist nicht der einzige Schneider in London.«

Er betrachtete sie nachdenklich. »Warum dann er?«

Sie hätte gedacht, dass die Antwort offensichtlich war. »Weil seine Reitkostüme wunderschön sind. Und weil sie die Damen, die sie tragen, ebenfalls wunderschön machen. Ich halte es für eine Art Magie. Kleidung zu erschaffen, die das für eine Person tun kann. Sie in etwas Außergewöhnliches zu verwandeln.« Und genau das wollte sie für sich. Ein bisschen von Mr Doyles Magie, um ihr Schicksal auf den richtigen Weg zu bringen. »Aber wie ich bereits sagte, ist Mr Doyle nicht der einzige Schneider in London. Ich bin sicher, ich kann …«

»Wo reiten Sie?«, fragte der Mann abrupt.

Sie blinzelte ihn durch die Gläser ihrer Brille an. »Wie bitte?«

»Sie behaupten, eine exzellente Reiterin zu sein – die allerbeste. Besser noch als Miss Walters. Wo demonstrieren Sie Ihr enormes Talent?«

Sie presste die Lippen zusammen. »Ich würde es nicht als Demonstration bezeichnen.«

»Wo?«, fragte er erneut.

»Ich bin in London noch nicht geritten. Mein Pferd ist erst heute Morgen eingetroffen. Ich wollte damit warten, bis ich meinen neuen Reitrock habe. Auf diese Weise …« Sie verstummte, als ihr bewusst wurde, wie berechnend sie klingen musste.

»Sie wollen Eindruck machen.«

»So etwas in der Art.« Sie warf ihm seine eigenen Worte entgegen.

Es schien ihm nichts auszumachen. »Morgen früh bei Sonnenaufgang werde ich entlang der Rotten Row spazieren gehen. Um diese Stunde sind noch nicht viele Leute unterwegs.«

Sie starrte ihn an. »Sie wünschen, mich reiten zu sehen?«

Unverwandt erwiderte er ihren Blick.

Und da dämmerte ihr die Wahrheit. Das Selbstbewusstsein, das er ausstrahlte. Die wissenden Blicke, mit denen er sie bedachte. Und die Art, wie er sprach. Nicht auf die unterwürfige Weise eines Ladengehilfen oder Dieners, sondern im Tonfall der Autorität.

»Wer sind Sie?«, fragte Evelyn.

»Ahmad Malik. Ich bin der Schöpfer der Reitröcke.«

»Sie?« Neue Hoffnung stieg in ihr auf. Sie machte unwillkürlich einen Schritt vorwärts und stolperte fast über ihre eigenen Füße. »Aber mir wurde gesagt, dass Mr Doyle …«

»Momentan ist Doyles Name noch anerkannter als meiner.«

Sie runzelte die Stirn. Malik war ein indischer Name, nicht wahr? Und doch kam ihr Mr Malik nicht indisch vor. Nicht völlig. Tatsächlich konnte er von überall her kommen – Indien, Persien, Italien oder Spanien. Er mochte sogar Roma-Blut in sich tragen, wie die Travellers, die manchmal durch ihr Dorf in Sussex gereist waren. Es war schwer zu sagen. Er hatte keinen hörbaren Akzent. Alles, was man bemerkte – das Einzige, was sie bemerkte –, war, dass er groß, dunkel und enervierend attraktiv war.

»Aber sie sind Ihr Werk?«, fragte sie. »Sie schneidern sie selbst?«

Er nickte.

»Und Sie erwägen, auch für mich einen davon anzufertigen? Wenn ich so gut reite, wie ich sage?«

»Ich kann nichts versprechen.«

Zum ersten Mal, seit Evelyn den Laden betreten hatte, wusste sie, dass alles gut werden würde. Sobald er sie reiten sah – sobald er einen Blick auf Hephaestus geworfen hatte –, würde er erkennen, dass sie würdig war. Mehr als würdig. »Dann also morgen? Bei Sonnenaufgang?« Sie streckte ihre behandschuhten Finger aus. »Ich werde Sie nicht enttäuschen, Mr Malik.«

Sein Gesicht nahm einen seltsamen Ausdruck an. Als hätte sie ihn überrumpelt. Ihn irgendwie überrascht … oder gekränkt. »Sie haben mir etwas voraus.«

Ihr Selbstbewusstsein geriet ins Wanken. »Es tut mir leid. Ich …«

»Ich kenne Ihren Namen nicht.«

»Ach so.« Sofort lächelte sie wieder und streckte ihm ihre Hand noch ein bisschen weiter entgegen. »Evelyn Maltravers.«

»Miss Maltravers.« Seine große und starke Hand legte sich um ihre.

Und … gütiger Himmel. Sie fühlte es überall. Diesen warmen, pulsierenden Kontakt. Sie hallte tief in ihr wider, die seltsamste Empfindung. Gleichzeitig beängstigend und aufregend. Als wäre ein Blitz zwischen ihnen übergesprungen. Der Funke von etwas Neuem. Etwas Wichtigem.

Erstaunt sah sie zu ihm auf, und da sah sie es in seinen Augen. Er fühlte es auch.

Seine schwarzen Brauen zogen sich zusammen. »Es ist doch Miss, oder?«

Sie nickte stumm und spürte ihr Herz bis zum Hals schlagen.

Er betrachtete sie prüfend. Dann ließ er ihre Hand los. »Morgen bei Sonnenaufgang«, sagte er. »Seien Sie pünktlich!«

Ahmad stieg die knarrenden Stufen zu seiner Junggesellenwohnung hinauf, die er über der Teehandlung in der King William Street gemietet hatte. Fern der eleganten Gegend um Mayfair, handelte es sich um eine gewöhnliche Adresse in einer Nachbarschaft voller Lagergebäude und Geschäfte. Eine Umgebung, in der sich ein Mann im geschäftigen Treiben der Kunden und übereifrigen Straßenhändler ungestört bewegen konnte.

Seine Wohnung befand sich am Ende eines schmalen Flurs. Unter der Tür drang Licht hervor. Ein schwerer Seufzer entfuhr ihm, denn er hatte gehofft, an diesem Abend ein wenig Ruhe zu haben, um an dem Kleid zu arbeiten, das er für Viscountess Heatherton anfertigte.

Es war der erste von hoffentlich vielen Aufträgen in dieser Saison. Eine Gelegenheit, um seine Kreationen nicht nur von den Kurtisanen der Rotten Row präsentiert zu sehen, sondern von einem hochrangigen Mitglied der eleganten Londoner Gesellschaft.

»Bist du das, Ahmad?«, drang Miras schwache Stimme durch die Tür.

»Wer sonst?« Er schloss auf und sah seine Cousine, die in der Stube am runden Holztisch saß. Sie nähte ein Stück Spitze an den Kragen von Lady Heathertons unfertigem Abendkleid aus eisblauem Musselin. Er sah sie verärgert an. »Was machst du denn hier?«

Mira sah von ihrer Näharbeit auf. Mit vierundzwanzig war sie sechs Jahre jünger als er. Sie hatte schwarzes Haar wie er, doch ihre Augen waren im Gegensatz zu seinen dunklen von einem überwältigenden Olivgrün. Ein Zeugnis ihrer gemischten paschtunisch-englischen Herkunft.

Ihre Mutter Mumtaz war Ahmads Tante gewesen, eine Inderin, die am Stadtrand von Delhi gewohnt hatte. Nach dem Tod seiner Mutter hatte Mumtaz Ahmad zu sich genommen und ihn wie ihr eigenes Kind behandelt. Diese gute und liebenswürdige Frau war im Sommer 1846 dem Schweißfieber erlegen. Auf ihrem Totenbett hatte sie Miras leiblichem Vater, einem britischen Soldaten, das Versprechen abgerungen, Mira bei seiner Rückkehr nach England mit sich zu nehmen. Und Ahmad, der versprechen musste, auf seine Cousine achtzugeben, hatte die beiden begleitet.

Und er hatte auf sie achtgegeben.

Kurz nach ihrer Ankunft in London hatte sich Miras Vater zu Tode gesoffen und sie allein und völlig mittellos auf den Straßen des East End zurückgelassen. Ihr Überleben war völlig von Ahmad abhängig. Er hatte alles in seiner Macht Stehende getan, doch er war erst fünfzehn gewesen, selbst noch ein Kind.

Zusammen hatten Mira und er einige der schlimmsten Erfahrungen gemacht, die die Metropole zu bieten hatte. Doch in letzter Zeit hatte sich ihr Glück gewandelt, was größtenteils Miras Arbeitgebern, dem Anwalt Tom Finchley und seiner Frau Jenny, zu verdanken war. Mira war Mrs Finchleys Gesellschafterin, und Ahmad hatte ebenfalls für die Finchleys gearbeitet, bis es ihm vor einem Jahr endlich gelungen war, auf eigenen Beinen zu stehen.

»Mrs Finchley hat mich heute Nachmittag nicht gebraucht«, sagte Mira. »Also hatte ich Zeit, dich zu besuchen.«

»Wie lange bist du denn schon hier?«

»Seit siebzehn Uhr.«

Natürlich. Im Kamin brannte ein Feur, die Kohlen glühten hell. Und aufgeräumt hatte sie auch. Die Kissen des fadenscheinigen Sofas aufgeschüttelt und seine Bücherstapel und halbfertigen Skizzen geordnet.

Sie hob das Abendkleid an. »Diesen Teil der Bordüre habe ich fast fertig.«

Ahmad ging zum Tisch, um ihre Arbeit zu prüfen. »Sehr gut.«

Sie lächelte selbstzufrieden. »Finde ich auch.«

Er tätschelte sie unterm Kinn. In den vielen gemeinsam verbrachten Jahren hatte er ihr fast alles beigebracht, was er über die Damenschneiderei wusste.

Anfangs war das herzlich wenig gewesen.

In Indien war er bei einem Herrenschneider in die Lehre gegangen. Bei seiner Arbeit auf dem Chandni-Chowk-Basar in Delhi hatte er gelernt, wie man mit Effizienz und Präzision Hemden, Jacken und Hosen im europäischen Stil anfertigte. Doch es war nicht die Garderobe der britischen Männer gewesen, die ihn inspiriert hatte. Sondern die Kleider der britischen Damen. Die Eleganz eines enganliegenden Mieders und der sinnliche Schwung eines voluminösen Rocks.

»Du solltest nicht hier sein«, sagte er.

Mira machte sich wieder an ihre Näharbeit. »Und wieso nicht? Wäre es dir lieber, deinen Abend allein zu verbringen?« Sie sah kurz zu ihm auf. »Du hattest doch vor, allein zu bleiben, oder?«

»Das geht dich nichts an, bahan.« Er legte seinen Gehrock ab und warf ihn über die Rückenlehne eines Stuhls. Dann streckte er sich. Das Nähen war eine Belastung für Nacken und Rücken. Und in letzter Zeit hatte er viel genäht und versucht, seine Bestellungen für Abendkleider und die für Reitröcke gleichzeitig zu erfüllen.

Das alles war Teil seines Plans. Ein notwendiges Opfer, das ihn einen Schritt näher an die Eröffnung seines eigenen Modegeschäfts bringen würde.

Er unterdrückte ein Gähnen.

»Warst du heute den ganzen Tag in der Schneiderei?«, fragte Mira.

»Fast. Doyle hatte zwei Aufträge für Anzüge, die er fertig bekommen musste.«

»Und du musstest sie fertigstellen, oder?« Ihre Missbilligung war klar ersichtlich. »Er glaubt, du arbeitest für ihn.«

Das tat Ahmad nicht. Jedenfalls nicht offiziell. Der alte Schneider und er hatten eine mündliche Abmachung getroffen, an die sie sich seit dem Herbst hielten.

Nach Heppenstalls Tod hatte Doyle nur ungern weitermachen wollen. Und genauso ungern hatte er einen Inder als Partner akzeptiert.

Mit Finchleys Hilfe hatten sie einen Kompromiss gefunden.

Ahmad würde vom Laden aus arbeiten und sein Talent der Herrenschneiderei widmen. Dafür hatte Doyle zugestimmt, dass er in einem Jahr in den Ruhestand gehen und Ahmad das Geschäft übernehmen lassen würde.

Seit sie diese Abmachung getroffen hatten, waren bereits sechs Monate vergangen. Das bedeutete, noch sechs Monate länger, und Doyle und Heppenstall würde ihm gehören. Das nötige Kapital hatte Ahmad bereits zusammen. Das Einzige, was noch fehlte, war die Klientel.

»Und die restliche Zeit?«, fragte Mira.

»Am Morgen war ich für eine Anprobe am Grosvenor Square«, antwortete er.

»Für Lady Heatherton?« Mira runzelte die Stirn. »Ich mag sie nicht.«

»Du musst sie auch nicht mögen.«

Viscountess Heatherton hatte angedeutet, mit dem Gedanken zu spielen, seine Patronin zu werden. Seit Beginn der Saison hatte sie bereits drei Abendkleider bei ihm bestellt. Und sobald die Damen der Gesellschaft seine Arbeit sahen, würden sie bestimmt auch Kleider von ihm haben wollen.

»Es ist die Art, wie sie dich ansieht«, sagte Mira. »Als würde sie dich am liebsten mit Haut und Haaren verschlingen.«

Er verzog das Gesicht. »Je weniger wir darüber reden, umso besser.«

Mira ignorierte ihn. »Ich nehme an, sie hat dich wieder gebeten, bei ihr Maß zu nehmen.«

Ja, das hatte sie. Und zwar in ihrem Boudoir. Wie immer hatte er ihre zweideutigen Bemerkungen und die vertrauliche Art, auf die sie ihn berührte, ignoriert. Was für eine andere Wahl hatte er denn? Er brauchte eine Patronin. Eine, die seine Kreationen den richtigen Leuten auf die richtige Weise präsentierte.

Mira schnalzte mit der Zunge. »So gefordert von ihr und deinen ruchlosen Täubchen ist es ja kein Wunder, dass du immer so erschöpft bist.«

»Meine ruchlosen Täubchen«, schnaubte er.

»Sind sie das denn nicht? Diese Kreaturen, die deine Reitröcke tragen?«

Er löste den Knoten seines Halstuchs. »Was weißt du denn schon über sie?«

»Ich lese die Zeitung. Ich höre, was die Leute über diese Miss Walters sagen. Sie nennen sie ›Inkognita‹ oder ›Anonyma‹, aber jeder weiß, wer gemeint ist.«

»So ist es wohl«, sagte er tonlos.

Catherine Walters war die berühmteste Kurtisane Englands und eine hervorragende Reiterin. Dadurch hatte sie die Gesellschaft auf dem Reitweg ebenso im Sturm erobert wie im Ballsaal. Ihre schlanke Gestalt, noch betont durch die hinreißenden Reitkostüme, die sie trug, war für jeden, der sich regelmäßig im Hyde Park aufhielt, zu einem gern gesehenen Anblick geworden. Jeden Tag versammelte sich zur angesagten Zeit eine Zuschauermenge entlang Rotten Row, um sie vorbeireiten zu sehen.

Nachdem Miss Walters in der letzten Saison eine von Ahmads Kreationen an Mrs Finchley gesehen hatte, war sie mit der Bitte an ihn herangetreten, ihr ebenfalls ein Reitkostüm anzufertigen. Zuerst hatte sie nur einen Reitrock bestellt, nach dessen Fertigstellung dann weitere fünf. Das war so etwas wie sein Durchbruch gewesen. In Anbetracht ihres Publikums die beste Art Werbung und fast die Kosten wert, die er in Zeit und Materialien gesteckt hatte.

Seit Miss Walters das erste Mal in einer seiner Schöpfungen aufgetreten war, hatten zwei weitere Kurtisanen ihre Reitkostüme bei ihm bestellt. Die »Hübschen Bereiterinnen« nannte die Presse sie. Ihrem Stil und ihren Reitkünsten eiferten alle Frauen der Gesellschaft nach.

»Du kannst beruhigt sein«, sagte er. »Miss Walters wird London bald verlassen.«

Mira hob die Augenbrauen. »Hat sie einen neuen Gönner gefunden?«

»Ich denke, ja. Mit ein bisschen Glück bezahlt er noch ihre Rechnungen, bevor er mit ihr verschwindet.«

»Sag nicht, sie hat dich noch nicht bezahlt?«

»Nicht für die Bestellungen dieser Saison.« In Wahrheit hatte Miss Walters erst jetzt die Rechnung für ihre Garderobe von letztem Jahr beglichen. Wie die meisten Damen der Gesellschaft hatte sie kein Problem damit, ihre Rechnungen monatelang unbezahlt zu lassen.

»Wie viel schuldet sie dir?«, fragte Mira.

»Eine beträchtliche Summe.«

»Wie beträchtlich?«

»Hundert Pfund.« Es laut auszusprechen ließ Ahmad ganz mulmig zumute werden. Das war keine kleine Summe, besonders nicht für einen Mann in seiner Position. Weil Miss Walters nicht bezahlte, sah er sich gezwungen, für die Begleichung seiner Ausgaben seine Ersparnisse anzutasten. Ebenjene Rücklage, die er für die Eröffnung seines eigenes Geschäfts brauchte.

»Einhundert Pfund?« Miras Gesicht verzog sich zu einer wütenden Miene. Als Gesellschafterin einer Dame erhielt sie nur dreißig Pfund im Jahr, und dabei handelte es sich bereits um einen großzügigen Lohn. »Ich wusste, dass du keine Bestellung von ihr hättest annehmen sollen. Sie hat den Ruf, ihre Schulden nicht zu begleichen. Erst gestern habe ich gelesen …«

»Weiß Mrs Finchley eigentlich von deiner Leidenschaft für das Lesen von Skandalblättchen?«

»Wechsle nicht das Thema.«

Er ging zum Kabinett, in dem er seinen Alkohol aufbewahrte. Auf dem Weg drückte er ihre Schulter. »Hast du schon gegessen?«

Sie nickte. »Und du?«

»Noch nicht.« Er nahm eine Flasche Brandy und ein Glas heraus. »Ein Drink«, sagte er. »Und dann rufe ich dir eine Droschke. Ich muss morgen früh raus.«

»Wieder Lady Heatherton?«

Er schüttelte den Kopf. »Eine potenzielle neue Kundin.« Er setzte sich an den Tisch und erzählte Mira von der sonderbaren jungen Frau, die heute in den Laden gekommen war.

»Eine weiteres ruchloses Täubchen?«, fragte Mira, als er geendet hatte.

»Ich weiß es nicht«, entgegnete er stirnrunzelnd. »Sie hat sich wie eine Dame verhalten und gesprochen, aber …«

»Aber?«

»Sie hatte keine Zofe dabei. Und es wartete auch keine Kutsche auf sie. Ich nehme an, sie ist mit dem Omnibus gekommen.«

»War sie sehr hübsch?«

Er starrte in seinen Brandy. »Möglich.«

Es war schwer zu sagen, denn was für Vorzüge Miss Maltravers besitzen mochte – wenn überhaupt –, sie waren gut verborgen gewesen.

Dennoch hatte er einen Blick auf ihr Potenzial erhaschen können.

Die großen, ausdrucksstarken Augen hinter ihrer Brille waren grünbraun gewesen und eingerahmt von unmöglich langen schwarzen Wimpern. Und die Locken, die unter ihrem schäbigen schmalkrempigen Hut hervorgeschaut hatten, schienen von einem schimmernden Braun zu sein, durchsetzt mit Strähnen aus Rot und Gold, die im Licht der Gaslampen gefunkelt hatten. Kastanienbraunes Haar. Lang und üppig, frisiert zu einem unvorteilhaften Knoten in ihrem Nacken.

Was ihre Figur anging, hatte diese unter ihrem schlecht sitzenden Caraco und dem unförmigen Rock gut proportioniert gewirkt. Sie war ungefähr ein Meter siebzig, eine respektable Größe für eine Dame, und schien über eine großzügige Büste zu verfügen.

Alles darüber hinaus wäre zu diesem Zeitpunkt nur geraten. Er würde es erst sicher wissen, wenn er sie unbekleidet sah.

Die Vorstellung ließ seine Wangen plötzlich heiß werden.

Miras Augen funkelten. »Du weißt es nicht genau? Du musst sie doch hübsch genug gefunden haben, um zuzustimmen, einen Reitrock für sie anzufertigen.«

»Ich habe noch nicht zugestimmt. Ich bin nur neugierig.«

»Sie ist wahrscheinlich nur eine dieser Damen, die den Stil der Kurtisanen kopieren will.«

Ahmad nahm an, dass sie damit recht haben könnte. Davon gab es heutzutage genug. Doch bis jetzt hatte keine dieser jungen Damen den Scharfsinn besessen, Doyle und Heppenstall zu besuchen.

Bis heute.

Miss Maltravers hatte erkannt, dass seine Kreationen etwas Außergewöhnliches waren. »Magie« hatte sie sie genannt. Er hatte sich lächerlich geschmeichelt gefühlt.

»Oder vielleicht hat sie vor, selbst ins Geschäft einzusteigen?«, sagte Mira.

»Als Kurtisane?« Das hielt er für unwahrscheinlich. Und doch …

Und doch hatte eine bloße Berührung ihrer behandschuhten Finger seinen Körper mit einer Schockwelle der Erregung erschüttert. Es hatte ihm den Atem verschlagen, und sein Blut war in Wallung geraten.

In jenem Moment hatte er sich gefragt, was für ein seltsames Geschöpf sie war, diese altbacken wirkende Frau, die doch die Macht hatte, einen Mann wie eine Sirene zu betören.

Ihn zu betören.

Gütiger Himmel.

Er hatte seine prägenden Jahre als Rausschmeißer in Mrs Pritchards Herrenclub in Whitechapel verbracht. Es war die erste Arbeit gewesen, die er in England gefunden hatte, die einzige, die es ihm ermöglicht hatte, Mira bei sich zu behalten. Dort war er von attraktiven Frauen umgeben gewesen – regelrechten Meisterinnen ihres Fachs –, und keine von ihnen hatte je so eine Wirkung auf ihn gehabt wie Miss Maltravers heute. Sicher nicht durch eine bloße Berührung.

Wenn dies eine Kostprobe ihrer erotischen Künste gewesen war, würde sie in kürzester Zeit ebenso gefragt sein wie Catherine Walters persönlich.

Die Vorstellung hinterließ einen bitteren Geschmack in seinem Mund. Er trank einen weiteren Schluck Brandy.

»Was sonst?«, fragte Mira.

Er warf ihr über den Rand seines Brandys einen fragenden Blick zu.

»Wenn sie keine Dame oder Kurtisane ist, was ist sie dann?«

»Ich weiß es nicht«, sagte er. »Aber ich habe vor, es herauszufinden.«

2. KAPITEL

Evelyn schlich sich durch die Hintertür des Stadthauses ihres Onkels am Russell Square. Onkel Harris gab seinem Personal mittwochs und sonntags einen halben Tag frei. So war es ihr an diesem Abend gelungen, unbeobachtet das Haus zu verlassen. Dennoch konnte man sich nie sicher sein, ob nicht zufällig doch ein Zimmermädchen oder ein Diener in der Nähe war. Es war besser, vorsichtig zu sein.

Sie schlich sich durch die leere Küche und ging auf Zehenspitzen die Gesindetreppe hinauf in den dunklen Flur im dritten Stock, der zu ihrer Schlafkammer führte. Dort angekommen, schloss sie die getäfelte Tür hinter sich und sank erleichtert seufzend dagegen.

Es war über eine halbe Stunde her, seit sie Doyle und Heppenstall verlassen hatte, und doch hatte sie immer noch Schmetterlinge im Bauch. Sie fühlte sich wie damals als junges Mädchen, wenn während der jährlichen Jagd in Babbington Heath ein besonders schweres Hindernis zu nehmen gewesen war. Es war eine Mischung aus ein wenig Angst und einer überwältigenden Vorfreude.

Dieser Sprung wird mich nicht besiegen, hatte sie oft gedacht.

Und London würde das auch nicht.

Sie zündete eine Lampe an und zog die schmutzige Kleidung aus. Da sie den Omnibus in der Bond Street verpasst hatte, war sie gezwungen gewesen, den Großteil des Heimwegs zu Fuß zurückzulegen. Es waren nicht mehr als anderthalb Meilen, keine große Entfernung für jemanden, der es gewohnt war, in der Landschaft von Sussex spazieren zu gehen. London hingegen war viel dreckiger als Combe Regis. Überall waren Rauch und Ruß, eine Mischung, die den Abendhimmel verdunkelte und die Sterne verschleierte. Ihr Rocksaum und ihre Ärmelaufschläge waren ganz schmutzig davon.

Sie wusch sich Gesicht und Hände und zog ein verwaschenes blaues Tageskleid an. Es brauchte nicht viel Zeit, ihr störrisches Haar zu bändigen und sich einen alten Kaschmirschal um die Schultern zu legen. Nachdem das erledigt war, verließ sie ihr Zimmer und ging nach unten.

Um ihre erste Saison zum Erfolg zu machen, brauchte sie mehr als ein, zwei elegante Reitkostüme. Sie brauchte eine komplette Garderobe. Keine umgearbeiteten Hüte und Mäntel, und keine Kleider aus langweiligen Stoffen, die im Angebot gekauft worden waren. Sie benötigte das Beste. Und das Beste würde viel Geld kosten.

Es war höchste Zeit, das Thema an Onkel Harris heranzutragen.

Das Studierzimmer ihres Onkels befand sich im ersten Stock neben der Bibliothek. Es handelte sich um sein kleines privates Reich. Die Tür war stets geschlossen, und ein Licht schimmerte Tag und Nacht darunter hervor. Er kam selten heraus, und bei den wenigen Gelegenheiten, wenn er es doch tat, erinnerte er Evelyn an einen Maulwurf, der den Kopf aus seiner Erdhöhle steckte und geblendet in die Sonne blinzelte.

»Denk daran«, hatte Tante Nora gesagt, bevor Evelyn Combe Regis verlassen hatte. »Mein Bruder ist ein Gelehrter. Du musst ihn täglich an deine Anwesenheit erinnern, sonst wird er vergessen, dass du da bist.«

Evelyn hatte versprochen, genau das zu tun, doch seit sie letzte Woche in London eingetroffen war, hatte sie es einfacher gefunden, ihren Onkel in Ruhe zu lassen. Sie bevorzugte ihre Unabhängigkeit. Die gleiche Unabhängigkeit, die sie zu Hause praktiziert hatte.

Leider gab es ein paar Dinge, für die Onkel Harris notwendig war.

Leise klopfte sie an die Tür seines Studierzimmers.

»Wer ist da?«

»Ich bin es, Onkel«, sagte sie und öffnete die Tür einen Spalt. »Evelyn.«

Harris Fielding saß an einem riesigen und sehr unordentlichen Mahagonischreibtisch, auf dem sich so viele Bücher und Papiere stapelten, dass er kaum zu sehen war. Nur die Spitze seiner Quastenmütze war sichtbar.

»Evelyn?« Er wiederholte den Namen, als hätte er ihn noch nie zuvor gehört. »Ach ja. Dianas Mädchen. Komm herein, komm herein.«

Evelyn betrat das Zimmer und stellte sich vor seinen Schreibtisch.

Ihre Mutter Diana war Onkel Harris’ jüngste Schwester gewesen. Sie war gestorben, als Evelyn erst fünfzehn gewesen war. An Erschöpfung, hatte die Dorfhebamme gesagt. Sie hatte zu viele Kinder in zu kurzer Zeit auf die Welt gebracht, nicht alle davon waren am Leben geblieben. Die letzte Geburt war ihr zum Verhängnis geworden. Die kleine Isobel hatte zwar überlebt, doch Mama hatte ihre Augen geschlossen, als würde sie sich nur einen Moment ausruhen wollen, und sie nie wieder geöffnet.

Ihr Tod war für Evelyn der Beginn all ihrer Probleme gewesen.

Sie war ihrer aller Leitstern gewesen. Ihr Anker. Stark und pragmatisch hatte sie jedem von ihnen den rechten Weg gewiesen. Ohne sie waren die Dinge schnell auseinandergefallen.

Natürlich war Papa gar keine Hilfe gewesen. Schuldzerfressen hatte er sich seinen Trost im Reisen gesucht und war nie für mehr als ein paar Tage nach Hause zurückgekehrt. Evelyn und ihre Schwestern waren der Obhut ihrer Tante Nora überlassen worden, einer alten Jungfer. Sie war eine liebenswürdige Frau, aber nicht die Klügste der Familie.

»Gerade wird mir klar, dass ich mal wieder das Abendessen verpasst habe«, sagte Onkel Harris. »Es ist dieser vermaledeite Artikel für die Antiquarische Gesellschaft. Der schreibt sich nicht von allein, weißt du?«

»Meinetwegen musst du dich nicht bemühen«, erwiderte Evelyn. »Ich komme sehr gut allein zurecht.«

Tatsächlich hatte sie seit ihrer Ankunft letzte Woche ihren Onkel erst zwei Mal beim Abendessen gesehen. Selbst dann war er früh vom Tisch aufgestanden, um sich – in Gedanken bereits wieder bei der Arbeit – in sein Studierzimmer zurückzuziehen.

Er sah sie über das Chaos auf seinem Schreibtisch hinweg an. Das Licht der Öllampe ließ die Gläser seiner Halbbrille funkeln. »Du gewöhnst dich gut ein, hoffe ich? Dein Zimmer und so weiter?«

»Vielen Dank, ja. Ich fühle mich recht wohl.«

»Und dein Pferd?«

»Er gewöhnt sich ebenfalls gut ein. Mein Stallbursche kümmert sich um ihn.«

»Gut, gut. Nora sagte, dass du da jemanden hast. Reitknecht, Diener, Mädchen für alles. Wie heißt der Bursche?«

»Lewis«, antwortete Evelyn. Lange bevor er ihr Stallbursche geworden war, hatte er ihrem Vater gedient. Es war Lewis gewesen, der den jungen Hephaestus nach England gebracht hatte, nachdem Papa vor vier Jahren in Spanien gestorben war.

»Und du hast mit Mrs Quick darüber gesprochen, eine … wie nennt man es noch mal … einzustellen?«

»Eine Zofe? Ja. Sie hat mir angeboten, während meines Besuchs Agnes’ Dienste in Anspruch zu nehmen.«

»Hm?«

»Agnes. Eines deiner Hausmädchen.« Evelyn hatte bereits eine Art Vereinbarung mit der jungen Frau getroffen. Agnes war zuvor in Mayfair in Anstellung gewesen und kannte dort viele Dienstboten in der Nachbarschaft – einschließlich eines Zimmermädchens im Stadthaus von Miss Catherine Walters in der Park Street. So hatte Evelyn in Erfahrung gebracht, wo die berühmte Kurtisane ihre Reitröcke kaufte.

»Ich hatte noch nie den Überblick über das Personal«, sagte Onkel Harris abgelenkt. »Das überlasse ich Mrs Quick. Sie ist eine hervorragende Haushälterin. Weiß immer genau, was zu tun ist.« Eine Pause. »War das alles?«

»Ich fürchte nicht. Da ist immer noch die kleine Angelegenheit meines Garderobenbudgets für diese Saison. Ich habe selbst ein bisschen Geld zurückgelegt, aber Tante Nora hat gehofft …«

»Dass ich etwas dazu beitrage? Ja, ja. Ganz recht. Sie hat so etwas erwähnt.« Er durchstöberte die Papiere auf seinem Schreibtisch. »Hab heute Morgen einen Brief von ihr bekommen, der mich daran erinnern sollte.«

»Ein Brief von Tante Nora?« Evelyn trat einen Schritt vor. »Was schreibt sie?«

»Eine ganze Menge, wenn ich mich richtig erinnere. Ah. Hier ist er.« Er hob ein Blatt fein gepresstes Papier ans Licht. Es war von oben bis unten mit Tante Noras vertrauter Krakelschrift bedeckt. »Ich soll dafür sorgen, dass du ordentlich mit Kleidung und Schuhen versorgt bist und so weiter und so fort. Und dass ich eine Zofe für dich engagieren soll und so weiter. Die gleichen Dinge, die sie schon in ihrem letzten Brief geschrieben hat. Nora wiederholt sich gern.«

Bei einem so zerstreuten Bruder wie Onkel Harris wunderte Evelyn das nicht. »Hat sie sonst noch etwas erwähnt?«

»Sie hat mich daran erinnert, dass ich noch Lady Arundell schreiben muss.«

»Das hast du noch nicht?« Es gelang Evelyn nicht, sich ihre Enttäuschung nicht anhören zu lassen.

Rosamond Deveril, Countess of Arundell, war eine Bekannte von Onkel Harris und wie er Mitglied der Antiquarischen Gesellschaft. Die reiche Witwe engagierte sich für eine Vielzahl wohltätiger Zwecke. Am bekanntesten war sie für den illustren Ball, den sie in jedem Frühling veranstaltete und den Onkel Harris in den Briefen an seine Schwester Nora stets erwähnte. Laut ihm war der Ball der Arundells der Höhepunkt der Saison.

Evelyn hatte geglaubt, dass Onkel Harris seine Freundin schon längst ihretwegen kontaktiert hätte. Dass Lady Arundell ihr schon in den nächsten Tagen einen Besuch abstatten und ihre Hilfe anbieten würde.

»Ich wüsste nicht warum. Außer …« Er runzelte die Stirn. »In letzter Zeit engagiert sie sich für eine Mädchenschule in Wimbledon. Ist immer auf der Suche nach Lehrkräften. Nora meint doch nicht, dass du dort anfangen sollst?«

»Das denke ich nicht. Ich habe weder den Wunsch noch die Begabung, Lehrerin zu werden.«

»Was könntest du dann sonst von ihr wollen?«

Evelyn zwang sich, ruhig zu bleiben. Es war nicht leicht. Nicht, wenn ihre gesamte Zukunft – und die ihrer Schwestern – von den Entscheidungen ihres Onkels abhing. »Tante Nora hatte gehofft, dass Lady Arundell vielleicht davon überzeugt werden könnte, mich unter ihre Fittiche zu nehmen, solange ich in der Stadt bin. Dass sie mir dabei helfen könnte, mich in die Gesellschaft einzuführen.«

Er brummte nachdenklich. »Und ich bin es, der sie überzeugen soll, richtig?«

»Ja, das wäre deine Aufgabe.«

»Kann mir nicht vorstellen, dass es dieses Jahr eine große Saison geben wird, mit oder ohne die Unterstützung Ihrer Ladyschaft. Nicht jetzt, wo der Prinzgemahl den Löffel abgegeben hat. Das wird allem einen Dämpfer versetzen.«

Damit hatte ihr Onkel nicht unrecht. Prinz Alberts Tod kam tatsächlich ziemlich ungelegen. Er war im Dezember verstorben, Berichten zufolge an Typhus. Eine Tragödie nicht nur für die Königin, sondern für das ganze Land. Eine Zeit lang hatten alle Geschäfte geschlossen gehabt, und öffentliche Veranstaltungen waren abgesagt worden. Selbst jetzt, drei Monate später, waren einige Schaufenster in London immer noch mit schwarzem Stoff ausgekleidet.

Doch das Leben musste weitergehen.

Und ihr blieb keine andere Wahl, als das Beste aus ihrer Situation zu machen. »Dennoch …«

»Brauchst du eine Gönnerin.«

»Es muss ja nichts Formelles sein.« Evelyn wünschte sich während ihres Besuchs ein gewisses Maß an Unabhängigkeit. Doch sie konnte nicht alles allein machen. »Tante Nora hat sich darauf verlassen, dass du mir zumindest eine Einladung zu Lady Arundells Ball nächsten Monat verschaffst.«

»Das kann ich wohl tun. Wenn Nora darum bittet.« Dann starrte er schweigend auf den Brief in seiner Hand.

»War das alles, was sie geschrieben hat?«

Er räusperte sich. »Sie sagt noch, ich solle darauf achten, dass du nicht den gleichen Weg wie deine Schwester einschlägst.«

Die Erwähnung der Schande ihrer älteren Schwester ließ Evelyn die Stirn runzeln. »Diese Gefahr besteht nicht, Sir.«

Er musterte sie mit einer Spur Geringschätzung. »Kann ich mir auch nicht vorstellen.«

Evelyn nahm an, dass sie dies als Beleidigung auffassen sollte. Sie war sich der Tatsache, dass sie nicht so hübsch war wie ihre Schwester, durchaus bewusst.

Fenella war die unangefochtene Schönheit der Familie gewesen. Auf ihr hatten sämtliche Hoffnungen geruht. Drei Jahre zuvor hatte Tante Nora einen Großteil ihrer Ersparnisse ausgegeben, um Fenny eine angemessene Saison in London zu ermöglichen. Damals hatte es wie eine vernünftige Investition gewirkt. Wäre Fenny eine hochkarätige Verbindung eingegangen, hätte sie sich in der Position befunden, auch Evelyn und ihre vier jüngeren Schwestern in die Gesellschaft einzuführen.

Doch Fenny hatte sich keinen reichen Ehemann geschnappt.

Stattdessen war sie mit Anthony Connaught durchgebrannt, dem liederlichen Sohn und Erben ihres Nachbarn Sir William.

Sir Williams Anwesen Babbington Heath lag nicht weit von Combe Regis entfernt. Die Familie Maltravers war seit Langem mit Sir William und dessen Söhnen bekannt gewesen. Evelyn hatte Anthonys jüngeren Bruder Stephen als Freund betrachtet. Mehr als einen Freund. Oft war sie mit ihm ausgeritten oder zu Dorfversammlungen gegangen.

Doch dann nicht mehr.

Der Skandal hatte von London bis Sussex Wellen geschlagen. Als Ergebnis hatte Tante Nora jeden Gedanken daran, Evelyn und ihre jüngeren Schwestern in die Gesellschaft einzuführen, beiseite geschoben. Schlimmer noch war gewesen, dass Evelyns mädchenhafte Schwärmerei für Stephen zu Staub zerfallen war. Stephen selbst hatte ihr ins Gesicht gesagt, dass Fenny seinen Bruder verführt hatte und dass Evelyn nun beabsichtigte, auch ihn in die Falle zu locken.

In die Falle zu locken. Als wäre sie irgendeine verzweifelte, habgierige Person! Ihr Vater mochte weder einen hohen Rang noch Reichtum besessen haben, dennoch war er ein Gentleman gewesen und sie somit die Tochter eines Gentlemans. Was spielte es für eine Rolle, dass ihr illustre Verbindungen fehlten? Dass sie über keine große Aussteuer verfügte? Dennoch war sie der Achtung würdig.

Zumindest dachte sie das jetzt.

Vor drei Jahren, mit gerade mal zwanzig Jahren, war sie nicht so vernünftig gewesen. Und Stephens Anschuldigung hatte ihr das Herz gebrochen. Es versetzte ihr immer noch einen Stich, wenn sie daran dachte.

Doch es hatte keinen Zweck, verpassten Chancen hinterherzutrauern.

Fenny war fortgegangen, womöglich für immer. Auf den Kontinent, sagten einige, um dort mit Anthony als seine Mätresse zu leben. Das Schicksal der Maltravers-Mädchen ruhte nun ganz und gar auf Evelyns Schultern.

Und sie war entschlossen, ihre jüngeren Schwestern nicht im Stich zu lassen.

»Eine üble Angelegenheit«, sagte Onkel Harris und faltete den Brief seiner Schwester zusammen. »Gott sei Dank konnte nichts davon auf mich zurückfallen.«

Es stimmte. Fenny war während ihrer Saison nicht bei ihm untergekommen, sondern bei Freunden – einer eleganten Dame der Gesellschaft und ihrer Tochter. Tante Nora hatte es für angemessener gehalten. »Was weiß mein Bruder schon darüber, wie man ein Mädchen in die Gesellschaft einführt?«, hatte sie damals gesagt. »Nicht das Geringste.«

Evelyns eigene Saison würde wohl völlig anders verlaufen. Nicht nur, weil sie am Russell Square relativ unauffällig logierte, sondern auch, weil der Skandal ihrer Schwester ihr noch immer nachhing. Und sie hatte viel weniger Geld zur Verfügung, als Fenny verprasst hatte. Die Summe, mit der sie ausgestattet war, würde bis August reichen – wenn sie sparsam damit umging. Hatte Evelyn bis dahin noch keinen Heiratsantrag bekommen, würde sie als gescheitert nach Combe Regis zurückkehren müssen.

Niemals.

Sie würde nicht scheitern. Nicht, wenn sie ein Wörtchen mitzureden hatte.

»Ich nehme nicht an, dass du etwas von Fenny gehört hast?«, fragte Onkel Harris.

»Nichts«, entgegnete Evelyn. »Nicht, seit sie London verlassen hat.«

»Eine Schande. Sie hätte eine achtbare Verbindung eingehen können.« Seine Stimme nahm einen frischen Tonfall an. »Doch Aussehen ist nicht alles. Viele Herren bevorzugen eine schlichte, vernünftige Frau.«

»Aber selbst schlichte, vernünftige Frauen müssen für die Saison angemessen gekleidet sein«, wandte Evelyn ein. »Man könnte sogar sagen, dass es in ihrem Fall unbedingt notwendig ist, da sie so wenig andere Vorzüge haben, die sie empfehlen.«

Onkel Harris nickte. »Ganz recht. Nora sagte schon, du seist pragmatisch.«

»Ach ja? Wie erfreulich.«

Er warf ihr einen scharfen Blick zu.

Sofort bereute sie ihre Spitze, denn dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich zu empören. Sie bemühte sich, Demut zu zeigen. »Mir wurde immer gesagt, ich würde in dieser Hinsicht meiner Mutter ähneln.«

»Fürwahr ein hohes Lob«, sagte Onkel Harris besänftigt. »Du darfst mein Konto für alles beanspruchen, was du benötigst. Natürlich in einem vernünftigen Rahmen.«

»Vielen Dank, Onkel«, sagte sie. »Und du vergisst nicht, Lady Arundell wegen des Balls zu fragen?«

»Ich werde ihr eine Nachricht schicken.«

»Magst du sie jetzt gleich schreiben?« Wenn nicht, hatte Evelyn nur wenig Hoffnung, dass er sie überhaupt verfassen würde. »Es macht mir nichts aus, zu warten.«

Onkel Harris schwieg einen Moment. »Meinetwegen«, brummte er schließlich. »Sonst bekomme ich doch keine Ruhe.«

Später an diesem Abend saß Evelyn in ihrer Kammer an ihrem kleinen Schreibtisch und beendete den letzten ihrer Briefe nach Hause. Sie hatte jeweils einen an ihre Tante Nora und an jede ihrer Schwestern geschrieben: Augusta, Caroline, Elizabeth und Isobel – liebevoll Gussie, Caro, Bette und Izzy genannt. Die jüngste war acht, die älteste achtzehn, und jede von ihnen war eine höchst einzigartige Persönlichkeit.

Gussies Talent waren Aquarelle und Handarbeiten. Caro liebte Geistergeschichten und Schauerromane. Bette war ein Wildfang, weigerte sich, im Damensattel zu reiten und hielt bereits große Reden über das Frauenwahlrecht. Und Izzy, die jüngste, kam nach Papa und war die geborene Abenteurerin.

»Ich werde deiner Reise auf der Karte folgen«, hatte sie am Tag von Evelyns Abreise aus Combe Regis verkündet.

»Und ich werde auf den Gesellschaftsseiten nach dir Ausschau halten«, hatte Gussie hinzugefügt und Evelyn fest umarmt.

Ihre Schwestern waren wegen Evelyns Londoner Saison fast ebenso aufgeregt gewesen wie sie selbst. Und das war es, was sie ihren Schwestern in ihren Briefen übermittelte: Aufregung. Die Pracht der Stadt, der Nervenkitzel einer Fahrt im Omnibus und die Aussicht auf die Teilnahme an einem Ball.

Alles wird gut. Auch wenn sie die Worte nicht niederschrieb, durchdrangen sie jede ihrer Zeilen. Ihr seid in Sicherheit. Ihr werdet geliebt. Ich habe alles unter Kontrolle.

Als sie die Tinte der letzten Seite ablöschte, klopfte jemand an ihre Tür.

»Ich bin es, Miss.« Agnes kam herein. Sie trug ein schlichtes schwarzes Kleid, ihr mausbraunes Haar war zu einem strengen Knoten frisiert. »Brauchen Sie noch etwas, bevor ich zu Bett gehe?«

»Nein, danke. Ich werde auch gleich schlafen gehen.« Evelyn sah auf. »Wie war der Besuch bei deiner Cousine?«

»Oh, es geht ihr gut. Nur ein bisschen erschöpft wegen des neuen Babys. Aber sie hat sich über die Gesellschaft gefreut.« Agnes sammelte Evelyns Kleidung von der Sitzbank am Ende des Himmelbetts ein. Sie runzelte die Stirn, als sie den dreckigen Saum entdeckte. »Waren Sie etwa bei diesem Schneider?«

Evelyn steckte den fertigen Brief in einen Umschlag. »Das war ich.«

Agnes sah sie streng an. »Allein?«

»Ich erledige meine Einkäufe oft allein. Das tun viele junge Frauen.«

»Aber keine Damen«, erwiderte Agnes. »Zumindest keine anständigen.«

»Vielleicht nicht, aber es ist ja nicht so, als hätte mich jemand gesehen. Im Laden war kein anderer Kunde, und auf der Straße hat mich niemand beachtet. Jeder ist viel zu sehr mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt.«

»Ja, Miss, aber Mrs Quick hat gesagt, dass ich Sie begleiten soll …«

»Doch nicht an deinem freien Nachmittag. Außerdem war ich völlig sicher.« Evelyn versiegelte den Umschlag mit Wachs. »In den kommenden Tagen habe ich noch sehr viel mehr einzukaufen. Dann kannst du mich begleiten.«

Dies schien Agnes für den Moment zufrieden zu stellen. Sie legte sich die schmutzigen Kleidungsstücke über den Arm. Sie mussten gereinigt und gebügelt werden, bevor Evelyn sie wieder tragen konnte. »Haben Sie bei Mr Doyle Ihre Bestellung aufgeben können?«

»Bei Mr Malik.«

»Wem?«

»Er ist derjenige, der die Reitkostüme entworfen hat, nicht Mr Doyle oder Mr Heppenstall.« Während sie die Schreibutensilien wegräumte, beschrieb Evelyn ihren Besuch im Geschäft und berichtete der Zofe alles, was sich dort zugetragen hatte.

Nun, fast alles.

Sie erwähnte nicht, wie attraktiv Mr Malik war. Außerdem ließ sie aus, was sein Blick und seine Berührung bei ihr ausgelöst hatten.

»Sie haben ihm wirklich gesagt, Sie wären kein Blaustrumpf?« Ein Lächeln umspielte Agnes’ Lippen.

Es war keine besonders schmeichelhafte Reaktion.

»Und warum sollte ich mich in eine Schublade stecken lassen?«, fragte Evelyn gereizt. »Zuerst heißt es Mauerblümchen, dann Blaustrumpf und schließlich alte Jungfer. Ich will mir nicht von der Gesellschaft einen Stempel aufdrücken und mich abtun lassen, als sei ich kein komplexer Mensch voller Geheimnisse. Noch kenne ich nicht die ganze Stärke und Tiefe meines Wesens – oder wozu ich fähig bin. Wie kann das dann ein Mann wissen? Wie überhaupt jemand?«

Agnes wirkte skeptisch.

»Und ja«, fügte Evelyn hinzu. »Ich bin mir bewusst, dass es genau diese Gedankengänge sind, die mich geradewegs in die Kategorie Blaustrumpf befördern.«

Doch das ging niemanden etwas an außer ihr.

Sie war nicht mehr in Combe Regis. Sondern in London – einem Ort, an dem keine Menschenseele sie kannte. Wenn man ihr ein Etikett aufdrücken musste, dann würde es eines sein, das sie selbst gewählt hatte. Nicht Mauerblümchen oder Blaustrumpf, sondern Reiterin.

Es war Mama, durch die sie auf diese Idee gekommen war. Sie hatte immer gesagt, dass man ein Problem am besten von einer Position der Stärke heraus anging.

An diesen Rat hatte Evelyn unzählige Male gedacht, seit sie sich entschlossen hatte, nach London zu reisen. Sie wusste, dass es für sie eher unwahrscheinlich war, in einem Ballsaal oder Salon einen wohlhabenden Verehrer für sich zu gewinnen. Anders als Fenny war sie weder in Tanz, Musik noch Konversation besonders begabt. Ihre Stärke lag im Reiten. Und es war die Rotten Row, wo sie vorhatte, ihren Plan in die Tat umzusetzen.

»Und wird Mr Malik es tun?«, fragte Agnes. »Wird er Ihnen die gleiche Art Reitrock anfertigen wie Miss Walters?«

»Was das angeht … weiß ich es noch nicht.« Evelyn erhob sich von ihrem Schreibtisch. »Das werde ich erst wissen, wenn er mich morgen früh hat reiten sehen.«

»Das gefällt mir nicht«, sagte Agnes. »Dass er Ihnen eine solche Prüfung auferlegt. Welches Recht hat er …«

»Er ist ein Künstler und noch dazu ein Mann. Wir werden ihm seine Impertinenz vorläufig nachsehen müssen.« Evelyn lächelte schwach. »Er wird es schon bald besser wissen.«

3. KAPITEL

Evelyn ließ Hephaestus im Trab gehen, als sie am folgenden Morgen in die Rotten Row einbog. Ihr Reitknecht folgte dichtauf. Sie spürte, wie der Hengst seine Muskeln anspannte. Er begann, nervös zu tänzeln, war bereit, bei der kleinsten Provokation loszupreschen.

Er war noch nie in London gewesen, geschweige denn im Hyde Park. Und das Wetter half auch nicht, ihn zu beruhigen. Es war diesig und nieselte. Hin und wieder brach das Sonnenlicht in hellen Strahlen durch die Baumkronen und stach Evelyn in die Augen. Sie war froh, ihre Brille nicht zu tragen. Das grelle Licht hätte sie unerträglich geblendet.

Lewis ritt neben ihr auf seinem zuverlässigen rotbrauen Wallach. Er war ein stämmiger Mann mittleren Alters, hinter dessen ausdrucksloser Miene sich eine Fülle an Pferdeverstand versteckte. »Er will durchgehen.«

»Das wird schon«, sagte sie. »Er ist ein wenig nervös, aber ich habe alles unter Kontrolle. Er will nur galoppieren, um seine Anspannung loszuwerden.«

Dafür blieb noch genug Zeit. Mr Malik schien noch nicht da zu sein. Sie schaute zum Zaun, der den Fuß- und Reitweg trennte. Dort blieben Spaziergänger gern stehen, um die vorbeiziehende Parade von Pferden und Reitern zu betrachten. Doch noch hatte sich dort niemand eingefunden. Auch der übrige Park war menschenleer.

Hephaestus reckte den Kopf, blähte die Nüstern und schnaubte eine große Dampfwolke aus. Um ihn zu beruhigen, kraulte sie ihn am Hals.

»Denken Sie, es gelingt Ihnen, ihn von einem Galopp wieder unter Kontrolle zu bekommen?«, fragte Lewis.

Bei jedem anderen hätte es Evelyn beleidigt, dass man ihre Fähigkeiten anzweifelte. Doch Lewis kannte sie seit ihrer Kindheit. »Natürlich kann ich das.«

Ganz leicht verlagerte sie ihr Gewicht im Damensattel, zog die Zügel an und übte mit Sattel und Bein leichten Druck aus. Hephaestus bäumte sich leicht auf und sprang dann wie aus der Kanone geschossen vorwärts.

Sie konnte niemanden sehen, der etwas dagegen einzuwenden gehabt hätte, dass sie die Zügel locker ließ und ihm erlaubte, in einen Galopp zu gehen.

Der Schleier ihres Huts peitschte ihr ins Gesicht, und der Rock ihres alten schwarzen Reitkostüms schlug gegen Hephaestus’ mächtige Flanken.

»Ganz ruhig«, murmelte sie. »Ganz ruhig.«

Hephaestus war ein in Spanien gezüchteter Andalusier. Diese Rasse war bekannt für ihr sensibles Temperament und die Geschmeidigkeit ihres Gangs. Papa hatte einst gesagt, dass man auf einem galoppierenden Andalusier eine Tasse Tee trinken könnte, ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten. Das war natürlich eine Übertreibung, aber näher an der Wahrheit, als man denken könnte. Hephaestus’ Gang war wirklich spiegelglatt.

Evelyn hielt die Zügel gerade fest genug, um den Kontakt aufrechtzuerhalten. Sie glaubte nicht daran, dass ein Pferd mit den Zügeln gelenkt werden musste. Die Kontrolle musste über den Sattel kommen. Das war mit Damensattel natürlich schwieriger, doch nicht unmöglich. Nicht bei einem so aufmerksamen Pferd wie ihrem.

Langsam ließ sie ihn wieder herunterkommen, zuerst in einen Trab, dann in den Schritt. Dabei lobte sie seinen Gehorsam durch ein Schulterklopfen. »Das ist besser«, sagte sie zu ihm.

Und dann sah Evelyn, dass sie nicht mehr allein waren.

Eine weitere Reiterin war vor ihnen zwischen den Bäumen hervorgekommen. Eine schlanke, junge Frau mit dunklen Haaren auf einem unmöglich großen schwarzen Jagdpferd. Sie hielt die Zügel locker, während sie ihnen entgegenkamen, als ließe auch sie ihr Pferd nach einer anstrengenden Übung abkühlen. Nicht weit dahinter folgte ihr Reitknecht.

»Guten Morgen«, rief die junge Frau.

Evelyn hob die Hand zu einem widerwilligen Gruß. Sie hatte gehofft, anderen Menschen an diesem Morgen aus dem Weg gehen zu können. Ihr erster Auftritt im Park sollte etwas Besonderes sein, kein turbulenter morgendlicher Galopp durch den Matsch in einem alten Wollrock. Sie betete, dass die andere Reiterin ihrer Wege ziehen würde.

Doch die junge Dame tat nicht, was Evelyn von ihr wollte. Ganz im Gegenteil. Sie brachte ihr Pferd zum Stehen und musterte Hephaestus. »Was für ein schöner Hengst! Ist er ein Spanier? Er sieht spanisch aus. Auch wenn ich noch nie einen grauen gesehen habe.«

»Diese Fellfarbe ist bei seiner Rasse eigentlich nicht üblich«, erklärte Evelyn. »Doch sie kommt gelegentlich vor.« Ihre Seltenheit machte diese Tiere umso wertvoller. Es war einer der Gründe, warum Papa Hephaestus gekauft und viel mehr für ihn ausgegeben hatte, als er sich leisten konnte.

»Und Sie reiten ihn mit einer Wassertrense? Wie außergewöhnlich. Ich betrachte mich selbst als Pferdekennerin, und ich würde Cossak nie mit etwas anderem als einem Pelham lenken. Nicht hier im Park.«

Das Kompliment zauberte Evelyn ein Lächeln ins Gesicht. »Hephaestus hat ein weiches Maul. Ich reite ihn regelmäßig mit nur einem Zügel.«

»Aber er ist doch ein Hengst!«

»Ein sanfter Hengst.«

»Lady Anne reitet ebenfalls einen Hengst. Doch Miss Hobhouse bevorzugt eine Stute. Momentan hat sie eine graue Vollblutkreuzung. Ein wunderschönes Tier – fast völlig weiß. Wir drei reiten morgens oft miteinander aus. Das ist angenehmer als nachmittags, wenn es so überlaufen ist.« Die junge Frau runzelte die Stirn. »Ich habe Sie hier noch nie gesehen. Daran würde ich mich erinnern.«

»Dies ist mein erster Ausritt. Mein Reitknecht hat mir mein Pferd erst gestern in die Stadt gebracht.« Evelyn drehte Hephaestus in einem Halbkreis. Er hatte immer noch zu viel Energie und könnte einen weiteren Galopp gebrauchen. »Bitte verzeihen Sie mir, aber ich muss weiter.«

»Aber natürlich. Er soll sich ja nicht verkühlen.« Die junge Frau begann neben ihnen her zu reiten. »Sind Sie für die Saison hier?«

»Das bin ich«, antwortete Evelyn.

»Genau wie ich.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Zum dritten Mal.« Ihre blauen Augen nahmen einen reumütigen Ausdruck an. »Ich bin Julia Wychwood.«

»Evelyn Maltravers.«

»Miss Maltravers.« Miss Wychwood schenkte ihr ein Lächeln. »Ich werde Sie jetzt nicht länger aufhalten. Mein Ritt ist vorbei, und Ihrer beginnt gerade erst.« Sie wendete ihr Pferd und verließ den Weg. »Ich nehme an, wir werden uns bald wiedersehen. Um diese Zeit reite ich hier regelmäßig aus.«

»Ich freue mich darauf«, sagte Evelyn aufrichtig.

Bevor Miss Wychwood davonritt, hob sie grüßend die Hand. »Einen schönen Tag noch!«

»Ihnen auch!«, rief Evelyn ihr hinterher.

Wie seltsam diese junge Frau gewesen war. Und wie redselig. Dennoch freute sich Evelyn, sie getroffen zu haben. Sie hatte hier in London keine Freunde. Noch nicht. Mit Sicherheit niemanden, der ihre Leidenschaft für das Reiten teilte. Und Miss Wychwood sah auch, als würde sie sich auskennen.

Heutzutage war es selten, einen wirklich guten Reiter zu finden. So viele verließen sich auf grausame Trensen, Hilfszügel und andere Strafmethoden, um ihr Pferd unter Kontrolle zu halten.

Evelyn brachte Hephaestus wieder in einen Trab, dann in einen Galopp. Seine Hufe stampften auf den Boden. Sie hielt ihn eine Weile in dieser Gangart und genoss die mühelose Bewegung. In einiger Entfernung hinter ihnen hallten die Hufschläge von Lewis’ Pferd wider.

Erneut schaute Evelyn hinüber zum Zaun. Dort war es immer noch ebenso leer wie bei ihrer Ankunft. Mr Malik war nicht gekommen. Gerade hatte sie sich mit dieser Tatsache abgefunden, als sie vor sich eine Bewegung bemerkte.

Ihre Augen weiteten sich überrascht.

Gütiger Himmel, es war er.

Er stand im Schatten einer Ulme und war auf den ersten Blick kaum zu bemerken. Doch sobald sie ihn entdeckt hatte, war er nicht zu verkennen. Er trug einen makellosen schwarzen Mantel und sah zugleich attraktiv und gefährlich aus. Wie ein gefallener Engel, der widerwillig zur Erde zurückgekehrt war.

Verlegenheit überkam Evelyn, sie wusste selbst nicht, warum. Mit dreiundzwanzig war sie durchaus nicht mehr grün hinter den Ohren. Und es war auch nicht so, als wäre er besonders nett zu ihr gewesen. Selbst jetzt hatte die Art, wie er sie ansah, etwas Düsteres an sich. Als wäre er sich noch nicht ganz sicher, was er von ihr halten sollte.

Sie galoppierte zu ihm. Hephaestus piaffierte ein wenig – ein kraftvolles Traben auf der Stelle –, bevor er zum Stehen kam. »Mr Malik«, sagte sie ein wenig atemlos. »Guten Morgen.«

Er verneigte sich. »Miss Maltravers.«

»Sind Sie schon lange hier?«

»Seit Sie in die Rotten Row eingebogen sind.«

Fast hätte ihr vor Überraschung der Mund offen gestanden. »So lange schon? Aber … ich habe Sie nicht gesehen.«

»Warum sollten Sie auch? Sie sind geritten.«

»Und Sie haben zugesehen? Die ganze Zeit?«

»Das habe ich.«

Sie spürte Frustration in sich aufsteigen. Bis jetzt hatte sie noch nicht mehr getan, als auf gerader Strecke zu galoppieren, was weder von ihr noch von Hephaestus besonderes Können erforderte. Kaum die Art von Demonstration, die Mr Malik erwartet hatte. »Ich kann noch ein bisschen länger reiten, wenn Sie mögen«, sagte sie. »Um Ihnen zu zeigen, was er kann. Er ist gut in Dressurreiten geschult und kennt die meisten Aufgaben der Hohen Schule. Ich habe ihn selbst trainiert.«

»Ich habe genug sehen«, sagte Mr Malik.

Ihr wurde schwer ums Herz.

Verflixt! Es war nicht gerecht, dass sie ihre Reitkünste nicht angemessen hatte präsentieren können. Doch wann war das Leben je gerecht gewesen? Ihr Plan konnte immer noch aufgehen. Sie würde nicht zulassen, dass seine Ablehnung sie ihrer Hoffnung beraubte.

Wenn es denn eine Ablehnung war.

Schließlich war er immer noch hier. Das musste doch irgendetwas zu bedeuten haben.

»Nun?«, fragte sie angespannt vor Erwartung.

»Sie sind eine versierte Reiterin.«

»Das weiß ich«, erwiderte Evelyn ungeduldig. »Was ich meine, ist … haben Sie sich entschieden? Werden Sie mir Ihre Zeit widmen?«

Mr Maliks Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. Zu spät wurde ihr die Doppeldeutigkeit ihrer Worte klar. »Wissen Sie, Miss Maltravers, ich denke, das werde ich.«

Ahmad steckte die Hände in die Manteltaschen, als Miss Maltravers davonritt.

Sie wirkte anders auf einem Pferd. Elegant und selbstbewusst. Vollkommen entspannt.

In Wahrheit hatte er so etwas wie sie noch nie gesehen.

Sie hatte nicht übertrieben, als sie behauptet hatte, besser zu sein als die Hübschen Bereiterinnen. Nach allem, was er an diesem Morgen gesehen hatte, waren Miss Maltravers’ Reitkünste unvergleichlich. Als sie auf diesem großen spanischen Hengst, der die meisten Männer einschüchtern würde, die Rotten Row entlanggaloppiert war, waren sie und ihr Pferd eins gewesen. Sie war Herrin der Lage, scheinbar ohne eine Spur körperlicher Kraft aufwenden zu müssen.

Beeindruckend, zweifellos. Doch es war mehr als das.

Ihr Reiten hatte eine faszinierende feminine Anmut an sich gehabt, die seinen Blick gefesselt hatte. Es war fast sinnlich gewesen, wie ihr Körper mit jeder Bewegung harmoniert hatte. Gelassen und sicher, mit sanften Händen und ruhigem Sitz.

Er hatte ihr mit wachsender Ehrfurcht zugesehen. War ihr bewusst, wie viel Potential sie hatte? Alles, was sie noch brauchte, war die richtige Garderobe, die richtige Frisur, das richtige Korsett.

Den richtigen Schneider.